Commissaire Le Floch und das Phantom der Rue Royale - Jean-François Parot - E-Book
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Commissaire Le Floch und das Phantom der Rue Royale E-Book

Jean-François Parot

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Beschreibung

Der dritte Roman in der Commissaire-Le-Floch-Reihe.

Paris 1770: Mit einem großen Feuerwerk lässt König Ludwig XV. die bevorstehende Hochzeit des Thronfolgers mit der österreichischen Prinzessin Marie-Antoinette feiern. Als einige Feuerkörper fehlgeleitet werden, bricht Panik auf der Place Louis XV. aus. Dutzende von Menschen werden zu Tode getrampelt. Commissaire Nicolas Le Floch stößt auf eine Leiche, die am Hals auffällige Spuren aufweist und in der erstarrten Hand eine Perle aus Obsidian hält: Diese Frau ist offensichtlich mit einem Strick ermordet worden.

Es handelt sich um die hübsche 19-jährige Élodie Galaine, Mitglied einer Pelzhändlerfamilie, die erst vor Kurzem wieder aus Quebec zurückgekehrt ist. Eine genauere Untersuchung des Leichnams ergibt, dass sie schwanger gewesen sein muss und vermutlich erst kurz vor ihrem Tod entbunden hat. Élodies Familie wirkt seltsam unbeührt vom Tod der Nichte, scheint sich aber auf Naganda, einen Indianer aus Quebec, der Élodies Diener war und jetzt wie vom Erdboden verschwunden ist, als Hauptverdächtigen zu einigen.

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Seitenzahl: 516

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ZUM BUCH

Zehn Jahre sind inzwischen vergangen, seit Nicolas Le Floch das Geheimnis um den mit geschmolzenem Blei aus dem Wege geräumten Adelssohn Ruissec gelöst hat. Seine Freundschaften mit dem Marinewundarzt Semacgus und seinem treuen Inspektor Bourdeau haben gehalten. Der Generalleutnant der Pariser Polizei, der vom König berufene Gabriel de Sartine, hat Konkurrenz bekommen: Der Stadtvogt von Paris hat eigene Stadtwachen aufgestellt, die sich durch ihre Uniform von den offiziellen Garden der Stadt optisch deutlich abheben. Besonders fühlbar wird diese Rivalität bei dem Großereignis, mit dem dieser Roman, der dritte Band der erfolgreichen Reihe um Commissaire le Floch, anhebt.

Am 30. Mai 1770 feiert König Ludwig XV. die Hochzeit seines Sohns mit der österreichischen Prinzessin Marie-Antoinette mit einem großen Feuerwerk. Im Auftrag von Sartine beobachtet Nicolas auf der Place Louis XV das Geschehen. Einige Feuerwerkskörper detonieren zur falschen Zeit am falschen Ort, ein Feuer bricht aus, es entsteht eine Massenpanik. Nicolas möchte eingreifen, aber auf den Straßen herrscht das nackte Chaos. Als er später die Verletzten und die Toten in Augenschein nimmt, entdeckt der Commissaire den toten Körper einer jungen Frau, die eine schwarze Perle in der verkrampften Hand hält und Kratzpuren am Hals hat. Eine Autopsie zeigt endgültig, dass diese junge Frau ermordet und zur Vertuschung der Tat unter die Opfer des Feuerwerks gelegt wurde.

ZUM AUTOR

Jean-François Parot, 1946 geboren, studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und Ethnologie, absolvierte eine Ausbildung als Ägyptologe und spezialisierte sich auf das 18. Jahrhundert. 1969 verfasste er eine Arbeit über die Strukturen dreier typischer Pariser Stadtviertel der Aufklärungsepoche. Nach dem Militärdienst schlug er die diplomatische Laufbahn ein. Seine Romanreihe um Commissaire Nicolas Le Floch wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Ländern ein großer Erfolg. Jean-François Parot verstarb am 23. Mai 2018. »Jean-François Parot Krimis sind unglaublich gut recherchiert und voller Details über das 18. Jahrhundert.« (Für Sie)

Jean-François Parot

CommissaireLE

FLOCH

und das Phantom der Rue Royale

Roman

Aus dem Französischen von

Michael von Killisch-Horn

BLESSING

Originaltitel: Le fântome de la Rue Royale

Originalverlag: Édition Lattès, Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2001 by Jean-Francois Parot und Édition Lattès, Paris

Copyright © 2018 der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin unter Verwendung Abbildung akd-images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-22653-4V002

www.blessing-verlag.de

Für Monique Constant

Inhalt

Liste der Personen

I  Die Place Louis XV

II  Sartine und Sanson

III  Aux Deux Castors

IV  Mäander

V  Staatsangelegenheiten

VI  Ängste

VII  Pfingsten

VIII  Christophe de Beaumont

IX  Exorzismus

X  Licht und Wahrheit

XI  Anhörung

XII  Auflösung

Danksagung

Anmerkungen

Verzeichnis der im Roman auftretenden oder genannten historischen Persönlichkeiten

Glossar

Liste der Personen

NICOLAS LE FLOCH: Polizeikommissar im Châtelet

MONSIEUR GABRIEL DE SARTINE: Polizeipräfekt

MONSIEUR DE SAINT-FLORENTIN: Minister der Maison du roi

PIERRE BOURDEAU: Polizeiinspektor

LE PÈRE MARIE: Amtsdiener im Châtelet

TIREPOT: Spitzel

RABOUINE: Spitzel

AIMÉ DE NOBLECOURT: ehemaliger Staatsanwalt

MARION: seine Köchin

POITEVIN: sein Diener

CATHERINE GAUSS: ehemalige Marketenderin, Köchin von Monsieur de Noblecourt

GUILLAUME SEMACGUS: Marinewundarzt

AWA: seine Köchin

CHARLES HENRI SANSON: Henker von Paris

LA PAULET: Bordellbesitzerin

PATER GRÉGOIRE: Apotheker der Unbeschuhten Karmeliter

MONSIEUR DE LA BORDE: Erster Kammerdiener des Königs

CHRISTOPHE DE BEAUMONT: Erzbischof von Paris

PATER GUY RACCARD: Exorzist der Diözese

JÉRÔME BIGNON: Prévôt des marchands

LANGLUMÉ: Kommandant der Stadtwache

MONSIEUR BONAMY: Historiograph und Bibliothekar der Stadt

CHARLES GALAINE: Pelzhändler und Kürschner, 43 Jahre

ÉMILIE GALAINE: seine zweite Frau, 30 Jahre

JEAN GALAINE: sein Sohn aus erster Ehe, 22 Jahre

GENEVIÈVE GALAINE: seine Tochter aus zweiter Ehe, 7 Jahre

CHARLOTTE GALAINE: seine ältere Schwester, 45 Jahre

CAMILLE GALAINE: seine jüngere Schwester, 40 Jahre

ÉLODIE GALAINE: seine Nichte und sein Mündel, 19 Jahre

NAGANDA: Micmac-Indianer, Diener von Élodie

LOUIS DORSACQ: Ladenjunge, 24 Jahre

MARIE CHAFFOUREAU: Köchin der Galaines, 63 Jahre

ERMELINE GODEAU, genannt MIETTE: Dienstmädchen der Galaines, 17 Jahre

Namen, Orte oder Begriffe, die bei der ersten Nennung im Text kursiv gesetzt sind, werden im Anhang (Verzeichnis der historischen Persönlichkeiten und Glossar) näher erläutert.

I

Die Place Louis XV

Aber durch ihn wird ein Feiertag

Zu einem traurigen Trauertag.

Der Platz, wo Freude herrschen soll,

Ist bald nur noch ein riesiger Sarg.

ANONYMUS 1770

Mittwoch, den 30. März 1770

Ein höhnisch grinsendes Gesicht mit einer roten Mütze tauchte an der Wagentür auf. Hände mit schwarzen Fingernägeln klammerten sich an der heruntergelassenen Fensterscheibe fest. Nicolas erkannte das früh verwelkte Gesicht eines Jungen. Diese plötzliche Erscheinung versetzte ihn zehn Jahre zurück, in eine Karnevalsnacht, unmittelbar bevor Monsieur de Sartine, der Polizeipräfekt, ihm seine erste Untersuchung anvertraut hatte. Die Masken, die seine Ermittlungen umgeben hatten, sollten für immer Gesichter des Todes für ihn bleiben. Er verscheuchte diese Gedanken, die eine Traurigkeit, welche er seit dem Morgen empfand, nur noch verstärkten. Er warf eine Handvoll Kupfermünzen himmelwärts. Entzückt über den Geldsegen, verschwand die Erscheinung; sie hatte sich auf das Trittbrett gestellt, und nach einem Purzelbaum rückwärts fiel sie wieder auf die Füße und schlüpfte auf der Suche nach den Münzen durch die Menge.

Nicolas schüttelte sich wie ein müdes Tier und seufzte, um die Niedergeschlagenheit loszuwerden, die ihn peinigte. Vermutlich hatten ihn die vergangenen zwei Wochen erschöpft. Zu viele schlaflose Nächte, der Zwang, ständig hellwach sein zu müssen, und die quälende Angst vor einem unvorhersehbaren Zwischenfall. Seit dem Attentat von Damiens waren die Sicherheitsmaßnahmen für den König und seine Familie verstärkt worden. Manche Ereignisse, die in der Verschwiegenheit der Amtsstuben begraben waren und in die der junge Kommissar im Châtelet aufs Engste verstrickt gewesen war, hatten ihn seit zehn Jahren an die vorderste Front in diesem Kampf und dieser täglichen Überwachung katapultiert. Monsieur de Sartine hatte ihm den Personenschutz für die königliche Familie anlässlich der Heirat des Dauphins mit Marie-Antoinette, Erzherzogin von Österreich, übertragen. Sogar Monsieur de Saint-Florentin, Minister der Maison du Roi, hatte ihn ermahnt, sein Bestes zu geben, und ihn leutselig an seine Erfolge in der Vergangenheit erinnert.

Ab der Schranke von Vaugirard überschwemmte die Menge der Fußgänger eng gedrängt die Fahrbahn und hemmte immer wieder den chaotischen Strom der Wagen. Nicolas’ Kutscher brüllte unentwegt Warnrufe, begleitet vom lauten Knallen seiner Peitsche. Manchmal kippte der Kutschkasten bei einem plötzlichen Halt nach vorn, und Nicolas musste seinen Arm beschützend ausstrecken, um zu vermeiden, dass sein Freund Semacgus sich die Nase an der Wand platt drückte. Er hätte nicht sagen können, warum, doch nichts hatte ihn je so sehr beunruhigt wie diese Schaulustigen, die wie ein wirrer Haufen der Place Louis XV zustrebten. Diese Masse, die vor Ungeduld bebte, stürmte zum versprochenen Festvergnügen; denn die Stadt organisierte anlässlich der Heirat des Dauphins ein großes Feuerwerk. Jeder hatte seine eigene Meinung, und Nicolas spitzte die Ohren, um die Kommentare mitzubekommen, die zu ihm drangen. Der Prévot des marchands, der die Feierlichkeiten ausrichtete, hatte versichert, dass nach dem pyrotechnischen Schauspiel die Boulevards beleuchtet würden. Als hätte er die Gedanken seines Nachbarn gelesen, erwachte Semacgus nach mehrmaligem Aufstoßen und nickte, die Hand nach der Menge ausstreckend.

»Sie haben großes Vertrauen in die Großzügigkeit ihres Prévôts! Mögen sie nicht enttäuscht werden!«

»Zweifeln Sie etwa daran, mein Freund?«, fragte Nicolas.

Nach all diesen Tagen der Unruhe hatte er sich darauf gefreut, Doktor Semacgus aus Vaugirard herauszuholen. Er wusste, wie sehr er diese besonderen Gelegenheiten liebte, und hatte ihm vorgeschlagen, ihn zur Place Louis XV zu begleiten, um von den Kolonnaden der auf beiden Seiten der Rue Royale neu errichteten Gebäude aus dem Fest beizuwohnen. Sartine wünschte einen Bericht über ein Ereignis, zu dem die Stadt wider Erwarten nicht seine Polizei hinzugezogen hatte.

»Jérôme Bignon ist nicht gerade dafür bekannt, dass er sich um das Volk Gedanken macht, und ich fürchte, dass die Erwartungen dieser braven Leute bitter enttäuscht werden. Ach, die Zeiten ändern sich! Sie machen sich keine Vorstellung, wie man bei der zweiten Hochzeit des Vaters unseres jetzigen Dauphins geschlemmt hat. Der damalige Prévôt ließ Wagen mit Füllhörnern zirkulieren, aus denen sich Lyoner und Knoblauchwürste ergossen, ganz zu schweigen von süffigen Getränken … Verdammt, damals wussten alle zu leben, und wir haben nach Herzenslust geschlemmt!«

Bei diesen köstlichen Erinnerungen schnalzte Semacgus mit der Zunge, und sein schon von Natur aus rotes Gesicht rötete sich noch ein wenig mehr. Er sollte auf sich aufpassen, dachte Nicolas. Der Mann blieb sich treu, stets begierig nach den Freuden des Lebens, doch Jahr für Jahr wurde er dicker, und er nickte immer häufiger am helllichten Tag ein. Seine Freunde machten sich Sorgen um seine Gesundheit, ohne sich zu trauen, ihm mit ihren Ratschlägen auf die Nerven zu gehen. Er hätte im Übrigen niemals eingewilligt, ein solideres und seinem Alter entsprechendes Leben zu führen. Nicolas bemaß die Freundschaft, die er für Semacgus empfand, an den Sorgen, die er sich um ihn machte.

»Es ist sehr gütig von Ihnen, Nicolas, dass Sie einen alten Bären, der immer bereit ist, den Galan zu spielen, aus seiner Höhle geholt haben …«

Die buschigen weißen Augenbrauen hoben sich ratlos und fragend.

»Aber … Sie machen einen sehr düsteren Eindruck auf mich an diesem Feiertag«, fuhr er fort. »Ich wette, dass Sie eine Sorge quält.« Hinter seiner ausschweifenden Vergnügungssucht verbarg der Marinewundarzt eine stets wache Sensibilität und Fürsorglichkeit seinen Mitmenschen gegenüber. Er beugte sich zu Nicolas und fügte, während er die Hand auf seinen Arm legte, hinzu, wobei seine Stimme jetzt nicht mehr spöttisch klang:

»Man darf die Dinge nicht für sich behalten, ich spüre, dass Sie etwas bedrückt …«

Doch sogleich verfiel er wieder in seinen üblichen Ton.

»Vielleicht eine Schönheit mit Tripper, die Ihnen eine Erinnerung hinterlassen hat!«

Nicolas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Leider nein, das überlasse ich meinen ausgelasseneren Freunden. Aber Sie haben recht, ich bin besorgt. Einerseits, weil ich gleich einem großen Volksauflauf beiwohnen werde als Beobachter ohne Mission und Mittel, und auch …«

Semacgus unterbrach ihn.

»Wie? Was wollen Sie mir da weismachen? Die beste Polizei Europas, die in Potsdam und in Sankt Petersburg als Vorbild gepriesen wird, soll mundtot, kampfunfähig, machtlos sein? Und Monsieur de Sartine hat nicht seinen besten Ermittler abkommandieren können? Das glaube ich nicht!«

»Wenn ich schon alles gestehen muss«, erwiderte Nicolas, »sage ich Ihnen, dass Monsieur de Sartine, der zu Recht besorgt ist, denn immerhin gibt es Präzedenzfälle …«

Semacgus hob überrascht den Kopf.

»Ja, als der Vater unseres Dauphins die Prinzessin von Sachsen heiratete. Monsieur de Noblecourt hat es sich, wie Sie sich denken können, nicht nehmen lassen, mir die Sache zu erzählen. Es geschah 1747, und er ist dabei gewesen. Auf der Place de l’Hôtel de Ville war erfolgreich ein Feuerwerk organisiert worden, doch aufgrund der überraschenden Menge an Zuschauern kamen die Kutschen in ziemliche Bedrängnis, und zahlreiche Personen wurden überfahren oder sind erstickt. Monsieur de Sartine, der sich stets die Akten aus dem Archiv bringen lässt, blieb die Sache natürlich nicht verborgen, und er zog die entsprechenden Schlüsse daraus, wie Sie sich vorstellen können.«

»Zum Teufel, ja! Und wo liegt das Problem?«

»Dass niemand radikal durchgreifen will.«

Der Wagen machte ein Ausweichmanöver und streifte einen alten Mann, der auf einem Bein hüpfte, laut sang und dazu einer Vogelorgel begleitende Töne entlockte Er wurde von einer kleinen Menge umringt, die den Refrain im Chor wiederholte.

Wir werden Frankreich Untertanen geben

Und ihr gebt ihnen Könige.

Ein Pfiff ertönte im Publikum, und es kam zu einer Schlägerei. Nicolas wollte eingreifen, doch der Schuldige hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.

»Mein Assistent Bourdeau sagt oft, dass der Pariser zum Besten wie zum Schlimmsten fähig ist und dass an dem Tag, an dem seine Geduld … Kurz, Seine Majestät wollte nicht zugunsten von Monsieur de Sartine entscheiden.«

»Der König wird älter, und wir auch. Die Pompadour wachte über ihn; ich weiß nicht, ob die neue Favoritin so viel Feingefühl hat. Er verfällt, das ist eine Tatsache. Letztes Jahr bei der Parade der Gardes françaises haben alle einen Schreck bekommen, als sie ihn so verändert und gebeugt auf seinem Pferd sahen – er, der immer so aufrecht war. Im Februar ist er bei der Jagd schlimm vom Pferd gestürzt. Es ist eine schwierige Zeit. Aber was ist der Grund für eine so merkwürdige Haltung?«

»Nichts sollte eigentlich den reibungslosen Ablauf der Hochzeit stören. Zu viele unheilvolle Voraussagen lasteten auf dieser Heirat. Kennen Sie das Horoskop von Doktor Gassner, dem Tiroler Magier?«

»He, wissen Sie nicht mehr, dass ich Philosoph bin? Was geht mich dieser Unsinn an?«

»Die Voraussage, die bei der Geburt der Dauphine gemacht wurde, kündigt ein unheilvolles Ende an. Hinzu kommen kleine Vorfälle. Monsieur de La Borde, der Erste Kammerdiener des Königs und unser gemeinsamer Freund, hat mir erzählt, dass das Häuschen, in dem die Prinzessin wohnen sollte, mit Gobelins geschmückt war, die die blutige Hochzeit von Jason und Kreusa darstellten.«

»Das ist gelinde gesagt eine unglaubliche Ungeschicklichkeit: eine betrogene Frau, die sich rächt, Kreusa verbrannt von einer magischen Tunika und die beiden Kinder von Jason getötet.«

»Um auf den Polizeipräfekten zurückzukommen, er wollte – was seine Rolle und sein Vorrecht ist – die Kontrolle über das von der Stadt ausgerichtete Fest haben. Bignon hingegen hatte bereits alles unternommen, um diese Verantwortung an sich zu reißen, und der König wollte nicht die Staatsbeamten einer Stadt gegen sich aufbringen, die er hasst und die es ihm entsprechend heimzahlt.«

»Allerdings sollte man die Stadt nicht unterschätzen, bevor man sie in Aktion erlebt hat.«

»Ich bewundere Ihr Vertrauen. Das Anagramm von Jérôme Bignon, dem Prévôt des marchands, lautet wohl nicht zufällig Ibi non rem, damna gero, Ich tue nicht Gutes, sondern Böses. Er gilt als unfähig, eingebildet und stur. Monsieur de Sartine erinnerte mich, dass sein Onkel, Monsieur d’Argenson, zu ihm, als er zum Bibliothekar des Königs ernannt wurde, gesagt haben soll: ›Ausgezeichnet, mein Neffe, das wird eine gute Gelegenheit sein, lesen zu lernen.‹ Dass er einer der Vierzig der Académie française ist, hat seine Überheblichkeit nur noch verstärkt. Aber das ist nichts angesichts der Inkonsequenz bei der Vorbereitung dieser Feier.«

»Einverstanden. Aber ist das so schlimm, dass es Sie in einen so elenden Zustand versetzt?«

»Urteilen Sie selbst. Erstens, diese Herren der Stadt haben nicht eine einzige Sicherheitsmaßnahme ergriffen. Das Feuerwerk droht das ganze Blut der Hauptstadt zum Herzen zurückfließen zu lassen. Es sind überhaupt keine Zufahrtsmöglichkeiten für die Wagen organisiert worden, während wir für jede einzelne Vorstellung in der Oper sorgfältig den Verkehr in der unmittelbaren Umgebung regeln. Erinnern Sie sich – wir waren beide dabei – an die Einweihung des neuen Saals und die außergewöhnlichen Sicherheitsmaßnahmen, die ergriffen wurden, um Staus und Chaos zu vermeiden. Ein Gutteil des Regiments der Gardes françaises war aufgeboten worden. Die Posten erstreckten sich vom Pont Royal bis zum Pont-Neuf, und die Kutschen konnten problemlos bis in die Nähe des Gebäudes fahren. Wir hatten alles bis ins kleinste Detail durchdacht.«

Semacgus lächelte angesichts dieses Pluralis Majestatis, den der Polizeipräfekt ebenso benutzte wie sein treuer Assistent.

»Zweitens?«

»Zweitens hat der Architekt, der für die Errichtung der Bühne zuständig ist, es unterlassen, ein Gelände zu planieren, das noch eine halbe Baustelle ist. An verschiedenen Stellen gibt es noch Gräben, die uns stark beunruhigen, da sie Fallen für die Füße der Schaulustigen sind. Drittens ist nichts vorgesehen worden, um den Ehrengästen, Botschaftern, Schöffen und der Stadtverwaltung den Zugang zu ermöglichen. Wie sollen sie durch diese Menschenmassen kommen? Und schließlich hat sich der Prévôt geweigert, dem Regiment der Gardes françaises, wie es Brauch ist, eine allgemeine Sonderzulage von tausend Écus zu gewähren. Folglich werden also die Kompanien der Stadtwache, deren einzige Sorge es in den letzten Tagen war, sich in ihren funkelnden Uniformen, die die Stadtverwaltung ihnen aus gegebenem Anlass spendiert hat, bewundern zu lassen, allein für die Straßen verantwortlich sein.«

»Jetzt machen Sie sich mal nicht verrückt. Das Schlimmste ist nicht das Wahrscheinlichste, und das Volk wird diesen Abend fröhlich mit den Speisen und dem Wein ausklingen lassen, die der Prévôt gespendet hat.«

»Leider ist das bereits das nächste Problem! Laut meinen Informanten soll die Stadt, weil sie ein Feuerwerk, prächtiger als das des Königs in Versailles, bieten wollte, an Speis und Trank gespart und letztlich ganz darauf verzichtet haben.«

»Dem Volk die Schlemmerorgie vorenthalten! Was für eine Dummheit!«

»Sie wird durch einen Markt auf den Boulevards ersetzt, aber die Standbesitzer mussten für ihre Standplätze teuer bezahlen, um die Kosten für das Feuerwerk hereinzubekommen. Sie wissen ja, wie kostspielig dieser märchenhafte Lichterregen ist. Kurz, all das verheißt nichts Gutes, und es ärgert mich wahnsinnig, dass ich nichts tun kann. Ich bin hier, um zu berichten, das ist alles.«

»Wollen Sie mir sagen, was für eine Funktion dieser Prévôt eigentlich hat?«

»Keine wichtige. Seit der Urgroßvater Seiner Majestät die Stelle des Polizeipräfekten geschaffen hat, hat dieser seine wesentlichen Privilegien verloren. Es bleibt ihm nur Firlefanz, und vor allem die Verwaltung der Besitztümer der Stadt und die Organisation der Anleihen. Außerdem hat er eine repräsentative Funktion bei den Zeremonien. ›Rote Satinrobe, darüber ein geschlitzter Talar, halb rot, halb rotbraun, und ein Barett von gleicher Art.‹«

»Ich verstehe!«, sagte Semacgus. »Es gibt gewisse Personen, die an ihrem Platz sind wie Zapfen und Nägel, die man für absolut notwendig erachtet, um alle Teile des Gebäudes zusammenzufügen, obwohl sie eigentlich wertlos sind.«

Nicolas lachte aus vollem Halse über diese Bemerkung. Es folgte ein langes Schweigen, in dessen Verlauf der Lärm der Wagen, die Schreie der Kutscher und das Getrampel der Menge die Kutsche mit einer Flut von Geräuschen erfüllte, die immer stürmischer wurden.

»Sie haben mir nichts über diese beiden Wochen erzählt, Nicolas. Und auch nicht, welchen Eindruck unsere zukünftige Herrscherin auf Sie gemacht hat.«

»Ich habe Seine Majestät zum Pont de Berne im Wald von Compiègne begleitet, um dort die Dauphine zu empfangen.«

Er hob den Kopf, nicht ohne einen gewissen Stolz.

»Und später bin ich neben der königlichen Karosse galoppiert und habe sogar ein amüsiertes Lächeln der Prinzessin aufgeschnappt, als mein Pferd sich aufbäumte und ich beinahe zu Boden gestürzt wäre. Worauf der König mit seiner Jagdstimme gerufen hat: ›Fest im Sattel, Ranreuil, fest im Sattel!‹«

Semacgus lächelte über den jungenhaften Tonfall, mit dem sein Freund diesen Bericht vortrug, und sagte:»Es ist schwierig, angesehener als Sie zu sein!«

»Am Abend der Hochzeit wurde beim König gespielt, und das Feuerwerk wurde wegen des Gewitters auf den folgenden Samstag verschoben. Es war ein voller Erfolg. Stellen Sie sich die Pracht eines Feuerwerks aus zweitausend riesigen Raketen und ebenso vielen Feuerwerkskörpern vor. Sie haben den Park bis ans Ende des großen Kanals erleuchtet. Dort hatte sich eine Fassade von hundert Fuß, die den Sonnentempel darstellte, in tausend Fantasiegebilde aufgelöst. Es herrschte ein unglaubliches Gedränge, und der Introducteur des ambassadeurs musste unzählige Streitigkeiten um den Vorrang unter den Ehrengästen schlichten, die auf die Balkone des Palastes eingeladen waren.«

»Und die Dauphine?«

»Sie ist noch ein Kind. Hübsch, gewiss, aber körperlich wenig entwickelt. Sehr anmutiger Gang. Schönes blondes Haar. Das Gesicht ist ein wenig länglich, mit blauen Augen und einem wunderschönen Porzellanteint. Der Mund gefällt mir weniger mit der dicken, hängenden Unterlippe. Monsieur de La Borde behauptet, sie sei sehr ungepflegt, was den Dauphin immens störe …«

»Das ist nicht sehr galant, Nicolas!«, sagte Semacgus und lachte lauthals. »Ich glaube, der Polizist in Ihnen gewinnt diesmal die Oberhand über den Ehrenmann. Und der Dauphin?«

»Duc de Berry ist ein sehr großer, schlaksiger Junge mit abrupten Bewegungen. Er hat einen schwankenden Gang und vermittelt den Eindruck, nichts zu sehen und nichts zu hören, als ob ihn nichts etwas anginge. Am Abend seiner Hochzeit hat der König ihn nachdrücklich ermuntert, sich … na ja,Gedanken über die Nachfolge zu machen …«

»Der Erste Minister Choiseul schont unseren zukünftigen König nicht und beschreibt ihn als unfähig«, bemerkte Semacgus. »Es heißt, dieser weigere sich, mit ihm zu sprechen, weil der Herzog seinen verstorbenen Vater gekränkt haben soll.«

»Die Kränkung grenzte an Majestätsbeleidigung: Choiseul betete zum Himmel, er möge es ihm ersparen, dem zukünftigen König als Untertan zu dienen!«

Die Kutsche hielt so plötzlich, dass die beiden Männer darin nach vorn geschleudert wurden. Nicolas richtete sich wieder auf, öffnete die Wagentür und sprang hinaus. Eines dieser typischen Kutschenprobleme, vermutete er. Tatsächlich hatte eine Berline, die aus der Rue de Belle-Chasse kam, versucht, sich in die lange Schlange von Fahrzeugen in der Rue de Bourbon einzufädeln. Nicolas hatte Mühe, sich einen Weg durch die Ansammlung der Schaulustigen zu bahnen. Hätte er nur auf Semacgus’ klugen Rat gehört, der vorgeschlagen hatte, den Pont de Sèvres zu nehmen und über das rechte Seineufer zur Place Louis XV zu fahren! Stattdessen hatte er darauf bestanden, einen direkteren Weg am linken Seineufer und über den Pont Royal zu nehmen. Schließlich durchbrach er einen Kreis von Neugierigen, die auf den Boden starrten, wo sich ein trauriger Anblick bot.

Ein alter Mann, der mit Sicherheit von dem Fiaker überfahren worden war, lag da in seinem Blut, mit bleichem Gesicht und verdrehten Augen. Perücke und Hut waren vom Kopf geglitten und entblößten einen kahlen, elfenbeinfarbenen Schädel. Neben dem Körper kniend, weinte eine alte, bürgerlich gekleidete Frau mit verrutschtem Mantelet stumm und versuchte den Kopf des Verletzten hochzuheben. Es gelang ihr nicht, und sie begann zärtlich die Wange des alten Mannes zu streicheln. Die Umstehenden betrachteten erstarrt die Szene. Dann ertönten wütende Schreie, denen sogleich Drohungen und Beschimpfungen gegen den Kutscher des Wagens folgten, der noch halb in der Rue de Bourbon stand. Aus der Karosse befahl eine arrogante Stimme, weiterzufahren und diesen Pöbel auseinanderzutreiben. Der Kutscher trieb bereits die Pferde an, als Nicolas die Kandare eines der Pferde packte, es zum Stehen brachte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er benutzte manchmal diese eigenartige Komplizenschaft, die ihn mit den Pferden verband. Mit einem Finger massierte er das Zahnfleisch des Pferdes, das zitterte und zurückwich. Inzwischen hatte auch Semacgus die Kutsche verlassen und beugte sich über den Verletzten, betastete dessen Hals und hielt einen kleinen Taschenspiegel vor dessen Lippen. Der Wundarzt richtete die alte Dame auf und blickte sich Hilfe suchend um. Zwei Männer erschienen mit einem Tisch, auf den das Opfer vorsichtig gelegt wurde. Ein schwarz gekleideter Mann folgte dem Zug. Semacgus flüsterte ihm etwas ins Ohr und vertraute ihm die alte Frau an.

Nicolas spürte einen Schlag gegen seine Schulter. Das Pferd machte erschrocken einen Satz zur Seite und hätte ihn beinahe umgerissen. Als er sich umdrehte, sah er sich einer Menge funkelnder, doppelt vergoldeter Tressen gegenüber und erkannte die blau-rote Uniform eines Offiziers der Stadtwache, dessen kleine kalten Augen ihn auf einem breiten purpurroten Gesicht anblickten. Die personifizierte Wut. Er war aus seiner Kutsche gestiegen und hatte Nicolas soeben einen Schlag mit der flachen Seite seines Degens versetzt.

»Service du Roi, Monsieur«, sagte dieser, »Sie haben soeben einen Staatsbeamten geschlagen, ich bin Polizeikommissar im Châtelet.«

Die Menge hatte sich den beiden Männern genähert und verfolgte die Szene mit deutlich spürbarer Gereiztheit.

»Service de la Ville«, erwiderte der andere, »treten Sie zur Seite. Ich bin Kommandant Langlumé von der Kompanie der Garde de Paris. Ich bin auf dem Weg zur Place Louis XV, um dort für den ordnungsgemäßen Ablauf der Feier zu sorgen, die der Prévôt organisiert. Sartines Leute haben nichts damit zu tun; der König hat es so entschieden.«

Die Vorschriften waren eindeutig, und es war völlig undenkbar, dass Nicolas sich, obwohl es ihm in den Fingern juckte, mit diesem Flegel duellierte. Plötzlich sah er, wie unter den nächststehenden Schaulustigen diejenigen mit den schlimmsten Verbrechergesichtern Steine aufhoben. Und dann ging alles so schnell, dass niemand es hätte verhindern können. Ein Hagel von Steinen, darunter sogar der Bruchstein eines im Bau befindlichen Hauses, prasselte auf die Kutsche nieder. Ein Stein verwundete den Kommandanten an der Schläfe. Fluchend und schreiend stieg er eilig in seinen Wagen und ließ die Kutsche schicksalsergeben rückwärts in die Rue de Belle-Chasse fahren. Aus dem zerbrochenen Fenster streckte er Nicolas rachsüchtig seine Faust entgegen.

»Ich bewundere Ihre Fähigkeit, sich Freunde zu machen«, sagte Semacgus, der näher gekommen war. »Unser Unfallopfer wird mit einem Verband davonkommen. Er hatte lediglich das Bewusstsein verloren: Schnittwunde der Kopfhaut und heftige Blutung, was immer gefährlich aussieht! Ich habe ihn und seine Frau in die Hände eines Apothekers gegeben, der das Notwendige tun wird. Wie kann man nur in diesem Alter bei einem solchen Aufruhr wie ein junger Hupfer in den Straßen herumlaufen? Ich habe ganz schön finstere Gesichter gesehen, und meine Uhr hätte beinahe den Besitzer gewechselt.«

»Ich hätte sie für Sie wiedergefunden!«, sagte Nicolas. »Vorgestern, bei dem großen Souper, das der Botschafter des Kaisers im Petit Luxembourg gab, habe ich einen Hochstapler demaskiert, der sich unrechtmäßig eingeschlichen hatte und versuchte, die Uhr des Grafen von Starhemberg, des ehemaligen Botschafters von Maria Theresia in Paris, zu stehlen. Er hat daraufhin sehr höflich an Monsieur de Sartine geschrieben, um ihm zur Vorzüglichkeit seiner Polizei zu gratulieren, ›der besten Europas‹, wie Sie vorhin sagten. Ich habe ebenfalls merkwürdiges Benehmen beobachtet, und das lässt mich nichts Gutes für die nächsten Stunden erwarten. Und stellen Sie sich vor, was für ein Zufall: Derjenige, der für die Sicherheit der Feier verantwortlich ist, ist ausgerechnet diese Person mit dem Federbusch, die gerade Streit mit mir gesucht hat.«

Inzwischen saßen die beiden wieder in ihrem Fiaker, der sich langsam in Bewegung setzte,

»Ach, das sind Leute, die keine Ahnung vom Beruf haben. Das ist eine Wache aus Bürgern, die sich ihr Amt kaufen.«

»Und in Konkurrenz stehen zu unseren Männern der Nachtwache. Irgendwann muss man diesen Zustand beenden und diese unterschiedlichen Kräfte miteinander koordinieren, die dadurch, dass sie getrennt operieren, machtlos sind und mehr damit beschäftigt sind, einander zu schaden, als sich um das Gemeinwohl zu sorgen. Aber ich schweife ab! Können Sie sich vorstellen, dass der Verantwortliche noch immer nicht vor Ort ist, um diesen großen Volksauflauf zu ordnen und zu überwachen?«

Nicolas versank wieder in seinen Gedanken. Schließlich erreichten sie den Pont Royal, wo die bunte Mischung der Fußgänger und das Durcheinander der Fahrzeuge das Bild einer fliehenden Armee boten. Den Quai des Tuileries entlangzufahren, erwies sich als ebenso mühselig wie der Rest der Strecke. Zwei Menschenwogen trafen aufeinander und versuchten sich zu vermischen, während sie sich zugleich zurückdrängten: diejenige, die vom linken Ufer heranbrandete, und eine andere, ebenso überbordend und chaotisch, die vom Quai des Galeries du Louvre kam.

»Die Durchfahrt scheint auf der Höhe des Pont Saint-Nicolas blockiert zu sein.«

Semacgus hatte bloß darauf gewartet, wieder loslegen zu können.

»Und doch gibt es kein Kriegsschiff, das den Pariser erfreuen würde. Ich war ein Kind, als mein Vater – das war noch unter dem Regenten Philippe d’Orléans – mich mitnahm, um ein holländisches Schiff mit acht Kanonen zu bewundern, das an dieser Stelle ankerte.«

Nicolas trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. Es war inzwischen fast vollständig dunkel geworden, und alle Kutscher hielten an, um die Laternen anzuzünden, was das Chaos und die Langsamkeit des Konvois noch vergrößerte. Auf Höhe des Couvent des Feuillants bedeutete er seinem Freund, es sei besser auszusteigen. Er befahl dem Kutscher, zum Châtelet zurückzufahren; sie würden schon eine Möglichkeit finden, nach dem Feuerwerk nach Hause zu kommen, und außerdem würden sie in der Rue du Faubourg-Saint-Honoré im Dauphin coronné bei der Paulet soupieren, einer alten Bekannten.

Die immer dichtere Menschenmenge zu durchqueren grenzte an ein Wunder. Der Marinewundarzt machte Nicolas mehrmals auf bedrohlich wirkende Gestalten aufmerksam, die sich in kleinen Gruppen unter das Volk mischten. Nicolas zuckte die Achseln mit einer Mimik, die Ohnmacht ausdrückte. Sie wurden jetzt in einen Strudel hineingezogen; angerempelt, vorwärtsgeschoben und halb getragen erreichten sie endlich die Place Louis XV. Hier trafen die Ströme aus Menschen und Kutschen aufeinander, der eine vom Quai des Tuileries und der andere von der Promenade du Cours de la Reine. Nicolas stellte sich auf die Zehenspitzen und bemerkte, dass immer mehr Wagen auf dem Quai parkten, ohne dass ein Vertreter der Ordnungskräfte dieses Chaos regelte.

Das Hôtel des Ambassadeurs Extraordinaires zu erreichen verlangte einen ständigen Kampf, so sehr drängten die aufeinanderprallenden Massen in entgegengesetzte Richtungen. Nicolas’ Besorgnis nahm zu, als er die vollständige Abwesenheit von Wachen feststellte. Zum Glück, dachte er, würde kein Mitglied der königlichen Familie an dem Schauspiel teilnehmen. Sie kämpften sich an dem Glockenturm und den spitzbogigen Fenstern der St. Nicolas de Champs-Kirche vorbei, passierten die prächtig Nordseite des riesigen Platzes, in dessen Mitte sich ein Reiterstandbild Ludwigs XV. erhob. In den mächtigen Sockel waren auf allen vier Seiten allegorische Darstellungen eingemeißelt, vier weibliche Figuren symbolisierten die Stärke, die Gerechtigkeit, die Weisheit und den Frieden. Eine geländerartige Brüstung umgab das Reiterstandbild

Nicolas stellte fest, dass die meisten Feuerwerkskörper und Illuminationen um das Denkmal herum installiert worden waren. Ferner entdeckte er auf der dem Fluss zugewandten Seite des Platzes einen hastig zusammengezimmerten Pavillon, der den Feuerwerken als Unterstand diente. Von hier wurden offenbar größere Raketen und die krönende Schlussgarbe abgeschossen.

Im Hôtel des Ambassadeurs wurden sie von Monsieur de La Briche empfangen, dem Sekretär des Introducteurs Monsieur de Séqueville. Er schien außer sich zu sein und nur mit Mühe Luft zu bekommen.

»Ah, Monsieur Le Floch, Sie sehen mich unentwegt von Harpyien bedrängt … Ich meine von den Ministern, die bei Seiner Majestät akkreditiert sind. Trotz meiner eindringlichen Ermahnungen hat die Stadt mehr reservierte Plätze verteilt, als wir zur Verfügung haben. Die Sitzbank der Botschafter ist bereits hoffnungslos überfüllt. Und die Geschäftsträger werde ich jeweils auf den Schoß des anderen setzen müssen. Monsieur de Séqueville befand sich in der gleichen Notlage in Versailles bei den Hochzeitsfeierlichkeiten …«

Es schimpfte heftig mit zwei blauen Jungen, die eine Sitzbank transportierten und gegen eine frisch gestrichene Wand stießen.

»Ich füge eine Sitzbank nach der anderen hinzu. Was kann ich für Sie tun, Monsieur Le Floch? Wo habe ich nur meinen Kopf? Monsieur le Marquis.«

»Le Floch genügt«, sagte Nicolas lächelnd.

»Nun, Monsieur, Madame Adélaïde nennt Sie ausschließlich so, Sie sind der Lieblingsgast ihrer Jagdgesellschaften. Ich weiß nicht, wo ich Sie hinsetzen soll, mit Monsieur, Monsieur …?

»Doktor Guillaume Semacgus.«

»Mit Doktor Semacgus, ergebener Diener, Monsieur. Die geringste Bevorzugung empört dieses Publikum. Jedes Ministerchen, jeder Hospodar würde sich lieber in Stücke reißen lassen, als auf seinen Platz zu verzichten. Und Monsieur Bignon hat ohne nachzudenken die Einladungen an alles, was Rang und Namen hat, verteilt beim Schöffengericht, unter den Offizieren, in den Büros, den Klöstern, den Schulen und was weiß ich wo noch!«

Ein dicker Mann in grau-goldener Uniform drängte sich dazwischen und begann sehr laut mit Monsieur de La Briche zu reden, der ihn mit Versprechungen überschüttete. Der Mann zog sich voller Überheblichkeit zurück.

»Stellen Sie sich vor, dieser Sonderbevollmächtigte, der den Kurfürsten der Pfalz repräsentiert, brüllt mich doch glatt an, er könne sich nicht auf Kompromisse einlassen, damit würde er sich Ärger an seinem Hof einhandeln, weil er zugelassen hätte, dass der Name seines Herrschers beleidigt wird. Ist es meine Gewohnheit, einen Herrscher zu beleidigen, frage ich Sie? Die vernünftigsten Arrangements werden abgelehnt.«

Der kleine Mann schüttelte den Kopf.

»Ich will Sie nicht überfordern«, sagte Nicolas, »aber wäre es möglich, von irgendwo einen Gesamtüberblick über den Platz zu bekommen …?«

»Reden Sie nicht weiter, Monsieur de Sartine würde es mir auf ewig übel nehmen, wenn ich Sie nicht zufriedenstelle.«

»In diesem Fall werde ich mich für Sie einsetzen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Sie sind sehr liebenswürdig. Würde es Ihnen zusagen, sich auf die Terrasse zu begeben? Es scheint ein schöner Abend zu werden, und dort oben hätten Sie den schönsten und vollständigsten Blick. Und Sie würden mir aus einer argen Verlegenheit helfen, denn ich weiß wirklich nicht, wo ich Sie sonst unterbringen könnte.«

Er rief einen Lakaien und gab ihm einen großen Schlüssel.

»Begleite diese Herren, Freunde von mir, auf die Dachterrasse hinauf. Lass die Tür offen und den Schlüssel stecken für den Fall, dass ich noch jemanden dort hinaufschicken muss. Mein Gott, ich verschwinde, da kommt der Comte de Fuentes, der spanische Botschafter. Ich habe nicht mehr die Kraft, mich seiner Arroganz auszusetzen, er wird schon allein einen Platz finden!«

La Briche drehte sich um sich selbst und hüpfte davon. Nicolas und Semacgus folgten dem Lakaien durch eine Flucht von Salons, in denen sich die Gäste drängten. Major Langlumé schwadronierte, ein Pflaster auf der Schläfe, in einem Kreis weiblicher Bewunderer; er warf Nicolas einen vernichtenden Blick zu. Über mehrere Treppen erreichten sie das Dachgeschoss und die Terrasse.

Der Himmel hatte sich inzwischen verfinstert, und die ersten Sterne leuchteten. Das Schauspiel, das sich vor ihren Augen abspielte, verschlug ihnen die Sprache. In der Ferne, gegen Suresnes, zeichnete der letzte Schein der untergehenden Sonne purpurne Linien am Horizont und ließ die Anhöhen hervortreten, welche die Hauptstadt umgaben. In der Seine spiegelten sich die Lichter der Stadt. Nicolas und Semacgus waren bestürzt über die Anzahl der Zuschauer, die sich auf der Place Louis XV versammelt hatten. Und immer mehr drängten auf den Platz, um das Feuerwerk aus nächster Nähe zu erleben. Besorgt überblickte Nicolas das große Areal, dessen Ausgestaltung noch nicht beendet war, sodass sich überall kleinere Baustellen befanden. Zudem war der Platz von tiefen Gräben umgeben, von denen Nicolas nicht wusste, ob sie mit Wasser gefüllt waren oder irgendwann wieder zugeschüttet werden sollten.

»Die Auflösung dieses gewaltigen Menschenauflaufs nach dem Feuerwerk droht langwierig und schwierig zu werden«, warf Semacgus ein. »Jeder ist zu einem anderen Zeitpunkt gekommen, und alle wollen zur gleichen Zeit den Platz verlassen. Bald werden alle Straßen verstopft sein.«

»Guillaume, ich bewundere Ihren Scharfsinn und danke dem halb amtlichen Eifer, der Ihnen für all diese Gefahren die Augen öffnet. Gebe der Himmel, dass Monsieur Bignon das vorhergesehen und sich mit größter Präzision geeignete Maßnahmen überlegt hat, um das Gelände zu räumen. Ich glaube, unser Freund Monsieur de La Briche wird einigen Ärger mit seinen Exzellenzen bekommen, die es immer eilig haben, in ihr Palais zu kommen.«

Nicolas ging zur rechten Ecke der Terrasse, kletterte zu Semacgus’ großer Besorgnis auf den steinernen Rand und beugte sich, sich mit einer Hand festklammernd, nach vorn. Er betrachtete die Rue Royale, in der die Menge kaum voranrückte.

»Kommen Sie zurück«, sagte Semacgus, »eine falsche Bewegung, und Sie stürzen hinunter. Ich zittere vor Angst, wenn ich Sie so sehe.«

Er reichte Nicolas die Hand, die dieser ergriff, bevor er leichtfüßig über die kleinen Säulen sprang.

»Als Kind suchte ich Nervenkitzel und turnte auf der ockerfarbenen Klippe von Pénestin herum. Das war viel gefährlicher bei dem starken Wind dort.«

»Diese Bretonen überraschen mich immer wieder.«

Sie schwiegen erneut, gefesselt von der Erhabenheit des Schauspiels, das sich mit der hereinbrechenden Nacht auf die Place Louis XV konzentrierte.

»Haben Sie die Karossen der Dauphine bewundert? Ganz Paris spricht davon. Man sagt, sie mache dem Geschmack von Monsieur Choiseul alle Ehre, der sie bestellt und ihre Herstellung überwacht hat.«

»Ich habe sie gesehen. Eine für meinen Geschmack etwas zu aufdringliche Pracht«, sagte Nicolas. »Es handelt sich um viersitzige Berlinen, eine bezogen mit karmesinrotem Kurzflorsamt mit den in Gold gestickten vier Jahreszeiten, die andere mit blauen Samt und den vier Elementen in Gold. Es ist eine außerordentlich erlesene und exquisite Arbeit. Das Verdeck und die Kaiserkrone sind mit Blumen aus Gold in verschiedenen Farben geschmückt, die sich beim Fahren bewegen.«

»Das muss ein ganz schönes Sümmchen gekostet haben!«

»Sie wissen, was der Finanzminister dem König antwortete, der sich besorgt nach den Kosten der Feiern erkundigte.«

»Keineswegs. Was hat denn der Abbé Terray geantwortet?«

»Unbezahlbar, Sire.«

Sie lachten noch, als ein dumpfer Knall den Anfang des Feuerwerks ankündigte. Ein lang anhaltender Freudenschrei drang zu ihnen. Die Statue des Königs erstrahlte in einem Ring von Lichtgarben auf der Mitte des Platzes, während weitere Explosionen scharenweise die Tauben der Tuilerien und des Garde-Meuble auffliegen ließen; allerdings folgte ihnen nicht das erwartete farbenprächtige Schauspiel, und da die Fehlschläge sich wiederholten, verwandelte sich die bewundernde Freude der Menge nach und nach in enttäuschtes Gemurmel. Erneut schossen ein paar Raketen empor, ohne zu explodieren; sie beschrieben unsichere Bahnen und fielen wieder zu Boden oder zerplatzten mit lautem Knall, aber ohne Effekt. Stille trat ein, in der merkwürdig deutlich Befehle und Rufe ertönten, die von den Feuerwerkern der Familie Ruggieri kamen; sie wurden sogleich übertönt von dem schrillen Pfeifen einer Rakete, die ebenfalls krepierte. Dieser unglückliche Versuch war sofort vergessen, als sich ein Fächer in Form eines Pfauenschwanzes, übersät von goldenen und silbernen Sternen, über den Zuschauern öffnete und dem Feuerwerk neues Leben einzuhauchen schien. Die Menge applaudierte frenetisch. Semacgus war unzufrieden; Nicolas wusste, dass er ein dankbarer Zuschauer war wie viele alte Pariser, sich aber auch nicht mit Kritik zurückhielt.

»Geschluderte Schüsse, kein Rhythmus, keinerlei Steigerung. Gäbe es Musik, wäre sie nicht im Takt. Das Volk murrt zu Recht. Man kann es nicht mit solchem Pfusch täuschen, es fühlt sich betrogen.«

»Dabei hat die Gazette de France letzten Montag gemeldet, dass Ruggieri das Feuerwerk von langer Hand vorbereitet habe und dass seine Planung die Bewunderung der Kenner erregt, die sie zu seinem Vorteil mit derjenigen von Torré, seinem Rivalen in Versailles, verglichen hätten.«

Immer neue Raketen wurden gezündet, mal erfolgreich, mal nicht. Eine Rakete schoss empor, gefolgt von einem Lichtschweif, schien zum Stillstand zu kommen, kippte und flog im Sturzflug auf den Pavillon der Feuerwerker zu, wo sie explodierte. Zuerst geschah nichts, dann stiegen schwarze Rauchspiralen auf, und Flammen schossen empor. Die Menge, die das Standbild des Königs umringte, wich unwillkürlich zurück, eine Reaktion, die sich wie eine Welle auf die Dahinterstehenden übertrug. Es folgte ein Crescendo von Detonationen, und das kleine, provisorische Gebäude schien sich zu öffnen, um eine Eruption von Funken freizusetzen.

»Die Reserve und die krönende Schlussgarbe sind vorzeitig in Flammen aufgegangen.«

Die in ein kaltes, weißes Licht getauchte Place Louis XV war jetzt taghell. Die Seine verwandelte sich in einen vereisten Spiegel, der diese Lichtflut als niederfallenden Silberregen reflektierte. Überrascht von diesem Ausbruch, betrachteten die Zuschauer, von widersprüchlichen Empfindungen bewegt, ohne sich der Gefahr wirklich bewusst zu sein das Feuer, das die Kirche Saint Nicolas des Champs in Brand setzte und ein gewaltiges Flammenmeer entfachte, aus dem noch ein paar Raketen müde emporstiegen. Lange Minuten vergingen, bis die Unsicherheit der Volksmenge deutlich spürbar wurde: Die Köpfe drehten sich in alle Richtungen, man wechselte ungläubig fragende Blicke. Der Brand breitete sich aus, und das Feuerwerk erlosch mit den Zuckungen eines sterbenden Organismus. Nicolas beobachtete, über die Balustrade gebeugt, aufmerksam den Platz. Sein Freund erschrak über die Besorgnis, die in seinem Gesicht geschrieben stand.

»Man unternimmt überhaupt nichts gegen das Feuer«, sagte er.

»Ich fürchte, das Volk könnte auf den Gedanken kommen, dass es sich um eine neue Art von Spektakel handelt, das einen recht hübschen Anblick bietet, und dass diese missglückte Überraschung Teil des Festes ist.«

Plötzlich schien alles in Bewegung zu geraten, als hätte ein perverser Geist Fermente der Unordnung in der Versammlung ausgestreut. Zu dem Lärm der Detonationen und dem Krachen der zusammenstürzenden Bühnenelemente gesellten sich jetzt Hilferufe und Schreie der Angst.

»Sehen Sie, Guillaume«, sagte Nicolas, »da kommen die Feuerlöscher. Die Kaltblüter sind zu Tode erschrocken durch den Lärm und gehen durch!«

In der Tat waren mehrere Feuerwehrwagen, gezogen von Kaltblutpferden, die wild galoppierten, aus den beiden Straßen aufgetaucht, die parallel zur Rue Royale verliefen, der Rue de L’Orangerie auf der Seite der Tuilerien und der Rue de la Bonne Morue auf der Seite der Champs-Élysées. Auf ihrem Weg rissen sie alles um. Was dann folgte, würde sich für alle Zeit in Nicolas’ Gedächtnis einprägen; immer wieder sollte er die Phasen dieses Dramas erneut durchleben.

Das Schauspiel erinnerte ihn an ein altes Gemälde, das er unlängst in den Sammlungen des Königs in Versailles bewundert hatte: Es bildete ein Schlachtfeld mit Tausenden von Personen ab, jede detailliert dargestellt mit Kleidung, Waffen, Aktionen und Gesichtsausdruck. Er hatte beobachtet, dass es durch das Isolieren eines kleinen Raumes dieser Handlung möglich war, Hunderte kleiner Bilder aneinanderzureihen, die alle perfekt waren in ihrer Reduzierung. Von der Terrasse des Hôtel des Ambassadeurs Extraordinaires entging ihm keine Episode des Dramas. Die Situation änderte sich minütlich. Gruppen von Zuschauern, die von den Gespannen umgerissen wurden, wichen zurück. Manche fielen in die noch nicht wieder aufgeschütteten Gräben. Nicolas erinnerte sich, dass die Baustelle erst am 13. April geräumt worden war, ohne dass das Gelände vollständig in den geplanten Zustand versetzt worden war. Semacgus zeigte ihm eine andere Stelle: Die Gäste, die dem Feuerwerk beigewohnt hatten, begannen die Terrassen und Tribünen zu verlassen, und ihre Kutschen, die bis jetzt kunterbunt durcheinander auf dem Quai des Tuileries geparkt hatten, setzten sich nun in Bewegung und bahnten sich unter heftigen Peitschenschlägen ihren Weg. Gefangen zwischen den Pumpen der Feuerwehr und den Karossen, stolperten zahlreiche Zuschauer und gerieten in Panik. Nicolas und Semacgus bemerkten auch zwielichtige Gestalten, die mit dem Degen in der Hand die von tödlicher Angst ergriffenen Bürger angriffen und ausraubten.

»Schauen Sie, Nicolas, die Gauner sind aus den Faubourgs gekommen.«

»Für mich ist im Augenblick schlimmer, dass der Quai des Tuileries nicht zugänglich ist und dass der Pont du Corps de Garde, der zum Jardin des Tuileries führt, geschlossen ist. Der einzige Ausgang ist die Rue Royale.«

»Schauen Sie nur, wie die Volksmassen den Quais zustreben! Die Leute trampeln sich gegenseitig nieder und versuchen, am Fluss entlang zu entkommen. Mein Gott, ich habe mindestens ein Dutzend gesehen, die hineingestürzt sind! Das Netz von Saint-Cloud wird morgen voll sein und die Basse-Geôle überfüllt.«

Es herrschte jetzt allgemeine Panik. Kopflos strömten die Menschen zurück. Ein Teil der Menge am Rand des Platzes hingegen schien sich des Ernstes der Lage nicht bewusst zu sein und bewegte sich in aller Ruhe auf die Rue Royale zu, um von einem Vergnügen zum anderen zu wechseln und auf diesem Weg zu den Boulevards zu gelangen und dort die Beleuchtung und die Attraktionen des Jahrmarkts zu bewundern. Indessen strebten diejenigen, die sich aus der Art Reuse, die der Platz bildete, nicht hatten befreien können, über denselben Weg in die Mitte, ohne sich um die Falle Gedanken zu machen, die sich um sie schloss. Kutschen verstopften den Weg. Schreie drangen an Nicolas’ Ohr, doch das Stimmengewirr von Tausenden Zuschauern übertönte diese Vorboten der Katastrophe.

Was Nicolas an der Ecke des Gebäudes entdeckte, als er sich erneut vorbeugte, um die Rue Royale zu betrachten, überstieg all seine Befürchtungen. Er rief Semacgus, der sich dem Rand nicht zu nähern wagte, zu:

»Wenn das Geschiebe nicht zum Stillstand gebracht wird, kommt es zu einer Katastrophe. Es geht nichts mehr weiter. Alle, die den Platz verlassen wollen, drängen in die Straße, die bis zum Marché Daguesseau schwarz von Menschen ist.«

Im selben Augenblick ertönte ein langes Durcheinander von Schreien und Rufen. Entsetzt beobachtete Nicolas zwei gegensätzliche Bewegungen, die immer stärker und schneller wurden wie zwei gegenläufige Brecher. Die Passanten, die in der Mitte der Rue Royale zusammengedrängt waren, konnten weder vor noch zurück, da die Straße sich wegen eines Vorsprungs, der von noch nicht abgerissenen Häusern gebildet wurde, verengte und einen Trichter bildete. Quadersteine, die auf dem Boden lagen, verschlimmerten das Chaos und erschwerten das Durchkommen, das wegen der nicht zugeschütteten Gräben schon schwierig genug war, noch zusätzlich.

Nicolas sah Körper, die in diese hineinrutschten und sofort von anderen bedeckt wurden. Im Licht der Laternen erkannte er offene Münder, die ihre Angst herausschrien. Männer, Frauen, Kinder stolperten, wurden erdrückt, vorwärtsgedrängt, angerempelt und stürzten, sofort niedergetrampelt von denen, die nachfolgten. Manchen, die im Stehen zusammengepresst wurden, lief das Blut aus der Nase. Die Gräben waren schon bald überfüllt wie Massengräber. Wie ein Moloch verschlang die Rue Royale die Pariser. Die Statue des Königs in der Mitte des Platzes schien auf einem Lavafeld zu treiben; die einzigen Überreste des Fiaskos waren vereinzelte rote Glutinseln.

»Wir müssen diesen Leuten helfen«, sagte Nicolas.

Gefolgt von Semacgus stürzte er zu der kleinen Tür, die zum Dachboden führte. Sie widerstand ihren Bemühungen, sie zu öffnen. Sie mussten den Tatsachen ins Auge sehen: Sie war von innen verschlossen.

»Was sollen wir tun?«, fragte Semacgus. »Es ist ja allgemein bekannt, dass Sie als Fassadenkletterer geschickt wie eine Katze sind, aber zählen Sie nicht darauf, dass ich Ihnen folge.«

»Beruhigen Sie sich, ich glaube nicht, dass ich ohne Seile die Fassade hinunterklettern kann. Aber ich habe andere Eisen im Feuer.«

Er kramte in seiner Tasche und holte ein kleines, mit mehreren Klingen versehenes Instrument heraus. Er steckte eine in das Schloss und versuchte, den Riegel zu bewegen, doch sie wurde von einem Hindernis blockiert. Er versetzte dem Türrahmen einen wütenden Fußtritt, dann dachte er kurz nach.

»Da es nun mal so ist, werde ich den Weg über die Schornsteine nehmen, es gibt keinen anderen Ausweg. Aber auch dafür brauche ich Seile. Nun ja, schauen wir uns das mal an.«

Sie kehrten auf die Terrasse zurück, und nachdem er eine gusseiserne Leiter hinaufgestiegen war, befand Nicolas sich oben auf einem dieser steinernen Monumente. Er entzündete eine Seite aus seinem Heft und warf es ins Leere. Der Kamin führte vertikal nach unten und schien in einen fast horizontalen Gang zu münden.

»Es gibt Steigeisen im Stein, ich werde hinuntersteigen. Schlimmstenfalls komme ich, wenn ich nicht durchkomme, wieder herauf. Guillaume, Sie bleiben hier!«

»Was bleibt mir anderes übrig? Meine Leibesfülle gestattet mir nicht hinunterzusteigen.«

Das Stimmengewirr, das vom Platz heraufstieg, wurde immer mehr von Schreien und Jammern durchbrochen. Nicolas entkleidete sich rasch und zog seine Schuhe aus.

»Ich will nicht hängen bleiben. Passen Sie auf meine Ausrüstung auf. Ich fühle mich so entsetzlich machtlos angesichts dessen, was da unten geschieht …«

Bevor er alles Semacgus übergab, holte er aus der Tasche seines Anzugs zur großen Erheiterung des Wundarztes ein kleines Stück Kerze, das er zwischen seine Zähne klemmte. Die Steigeisen, die für die Schornsteinfeger angebracht worden waren, erleichterten ihm den Abstieg. Nicolas stellte sich ängstlich vor, wie es weitergehen würde; er war kein Kind mehr, sondern ein gestandener Mann, der die dreißig überschritten hatte. Catherines und Marions Kochkunst und die Mahlzeiten in den Kneipen mit seinem Assistenten Bourdeau, der wie er einen guten Schmaus nicht verschmähte, hatten ihre Spuren hinterlassen. Endlich berührte er den Boden. Er sah zwei Röhren vor sich, die Öffnung der einen war im Eingang der anderen verborgen. Er entschied sich für die weniger stark geneigte, da er glaubte, sie würde zu höher gelegenen Kaminen führen. Da er die Kerze nicht in der Hand halten konnte, zündete er sie an und klemmte sie zwischen ein Steigeisen und die Wand. Er würde sich blind in eine immer tiefere Dunkelheit wagen müssen.

Die Gefahr, in diesem Schlauch stecken zu bleiben, machte ihn krank vor Angst. Plötzlich fiel ihm ein, dass die Falten seines Hemdes sein Vorwärtskommen behindern könnten, und so zog er es aus. Oben gab Semacgus mit vor Angst tonloser Stimme Ratschläge, die ihn durch das Echo erreichten. Er atmete tief durch und schwang die Beine nach vorn. Er spürte, wie er in eine Art Fett glitt und für einen Augenblick jedes Gefühl für Zeit und Raum verlor, bis er schmerzhaft in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Blockiert durch seine breiten Schultern, steckte er fest und konnte nicht weiter hinuntergleiten. Lange Minuten streckte er sich wie eine Katze und bewegte zuerst die eine Schulter und dann die andere. Er erinnerte sich an die groteske Gestalt eines Schlangenmenschen, den er auf der letzten Foire Saint-Germain beobachtet hatte. Endlich kam er frei und setzte den Abstieg fort. Er fühlte sich von der Leere angesaugt, und gleich darauf fiel er auf einen Stapel Holzscheite im Feuerraum eines riesigen Kamins. Die pyramidenförmig geschichteten Scheite stürzten unter seinem Gewicht mit großem Getöse in sich zusammen, und sein Kopf prallte gegen eine Bronzeplatte mit dem französischen Wappen. Überrascht stellte er fest, dass er sich anscheinend keine Gehirnerschütterung geholt hatte. Vorsichtig stand er auf und überprüfte, ob seine Knochen und Gelenke noch heil waren; er hatte nur ein paar Hautabschürfungen davongetragen.

In einem großen mit Blumendekor aus Stuck gekrönten Trumeau betrachtete er sein Spiegelbild: ein Unbekannter, schwarz von Ruß, ein Schreckgespenst mit zerrissener Hose. Er durchquerte einen Raum, der weder möbliert noch geschmückt war und mehr an eine Kaserne als an ein Palais erinnerte, und öffnete eine Tür. Nicolas erkannte, dass er auf jener Ebene des Palais war, wo sich die Balkons befanden, von denen aus die Gäste eigentlich das Feuerwerk hatten beobachten wollen. Jetzt rannten sie aufgelöst hin und her, ein Schwirren wie in einem aufgestörten Bienenstock. Die einen drängten sich an den Fenstern zusammen und schubsten sich zur Seite, um den Platz zu beobachten, die anderen schwadronierten. Nicolas kam das Ganze wie ein absurdes Schauspiel vor, eine Komödie oder ein verrücktes Ballett, in dem Automaten unablässig die gleichen Gesten und Gesichtsausdrücke wiederholten. Niemand achtete auf ihn, obwohl sein schmutziger Oberkörper die Blicke auf ihn hätte lenken müssen.

Er fand die Treppe wieder, die zum Dachboden führte. Während er sie hinaufstieg, hörte er Semacgus’ tiefe Stimme und die höhere von Monsieur de La Briche. Sie kamen die Treppe so schnell herunter, dass sie Nicolas direkt in die Arme liefen. Da die Katastrophe auf dem Platz immer größere Ausmaße annahm, hatte der Introducteur des ambassadeurs Nicolas holen wollen, doch das Schloss der Tür war von einem geheimnisvollen Gegenstand aus vergoldetem Metall blockiert gewesen, eine Art Spindel, die La Briche jetzt Nicolas aushändigte. Der Schlüssel lag auf dem Boden. Offensichtlich hatte ein übler Witzbold sich einen Spaß auf Kosten der Zuschauer auf der Terrasse erlaubt. Er würde dafür sorgen, dass der Schuldige gefunden würde, vermutlich einer dieser unverschämten Lakaien oder einer der blauen Jungen, die trotz ihrer Jugend glaubten, aufgrund ihrer Nähe zum Thron sei ihnen alles erlaubt.

»Monsieur le Commissaire«, fügte de La Briche hinzu, »Sie müssen mir helfen, hier für ein wenig Ordnung zu sorgen. Es herrscht ein furchtbares Gedränge, und wir haben so viele Verletzte, dass wir nicht wissen, was wir mit ihnen machen sollen. Und es werden unaufhörlich neue gebracht. Die Stadtwachen sind nicht da. Ihr Chef, Kommandant Langlumé, ist gleich zu Beginn der Katastrophe verschwunden, um seinen Leuten Befehle zu erteilen. Er ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Außerdem erfahre ich von verschiedenen Seiten, dass Straßenräuber sich unter die Menge gemischt haben und anständige Bürger überfallen.«

Er senkte die Stimme.

»Viele unserer Gäste haben ihren Degen gezogen, um sich einen Weg durchs Gedränge zu bahnen; das hat ein grauenhaftes Gemetzel zur Folge gehabt, und dazu kommen noch die Opfer, die von Kutschen überfahren wurden, die sich im Galopp den Weg erzwingen wollten. Der aus Parma entsandte Comte d’Argental hat eine ausgekugelte Schulter, und der Abbé de Raze, Minister des Fürstbischofs von Basel, ist zu Boden gestoßen worden und deswegen fürchterlich verärgert.«

»Ist Monsieur de Sartine informiert worden über das, was geschieht?«, fragte Nicolas.

»Ich habe ihm einen Boten geschickt und hoffe, dass der Polizeipräfekt inzwischen über den Ernst der Lage unterrichtet ist.«

Zwei Männer kamen herein, die eine ohnmächtige Frau in einem prächtigen Abendkleid trugen, deren linkes Bein in einem ungewöhnlichen Winkel herabhing. Ihr blutverschmiertes Gesicht hatte kein menschliches Aussehen mehr, so sehr war es platt gedrückt. Semacgus lief zu ihr, richtete sich jedoch nach einer kurzen Untersuchung wieder auf und schüttelte den Kopf. Weitere Körper wurden hereingetragen. Nicolas und Semacgus halfen eine ganze Weile, die Verletzten mit den armseligen Mitteln, die sie zur Verfügung hatten, zu versorgen. Nicolas wartete auf die Rückkehr des zu Sartine geschickten Boten. Da dieser nicht erschien, beschloss er, nachdem er seinen Anzug wieder angezogen hatte, sich nach draußen zu wagen, um sich ein genaues Bild von der Katastrophe zu machen. Er zog den Marinewundarzt mit sich.

Nachdem sie sich einen Weg durch das Gewühl gebahnt und in der wogenden Menge zu ihrem Verdruss zahlreiche müßige Schaulustige bemerkt hatten, gelangten sie auf die Place Louis XV. Das laute Stimmengewirr des Festes war verstummt, stattdessen waren von allen Seiten Schreie und Stöhnen zu vernehmen. Nicolas wäre beinahe mit Inspektor Bourdeau zusammengestoßen, der einer Gruppe von Männern der Nachtwache Befehle erteilte.

»Ah, Nicolas!«, rief er. »Wir wissen überhaupt nicht, wo uns der Kopf steht! Das Feuer ist eingedämmt, die Wasserpumpen der Dépôts de la Madeleine und des Marché Saint-Honoré haben es in den Griff bekommen. Die Gauner sind fast alle verschwunden, auch wenn manche immer noch versuchen, die Toten auszurauben. Wir bergen die Opfer, die identifizierten Leichen werden auf den Boulevard gebracht.«

Bourdeau machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Die gewaltige Esplanade bot den schrecklichen Anblick eines nächtlichen Schlachtfelds. Ein beißender schwarzer Rauch stieg wirbelnd auf, wurde aber vom Wind wieder nach unten gelenkt und breitete einen düsteren Schleier über die Szenerie aus. In der Mitte des Platzes erhoben sich wie ein unheilvolles Schafott die Überreste der für das Feuerwerk errichteten Kulissen. Der bronzene Monarch dominierte von seinem Sockel aus furchtlos und unbeteiligt den Platz. Semacgus, der Nicolas’ Blick bemerkt hatte, flüsterte: »Der Reiter der Apokalypse!« Links, wenn man die Rue Royale betrachtete, längs des Gebäudes der Garde-Meuble, hatte man begonnen, die Toten nebeneinanderzulegen, die von den Rettern durchsucht wurden, um ihre Identität festzustellen und die Namen auf Zettel zu schreiben, um die spätere Identifizierung durch die Familien zu erleichtern. Bourdeau und seine Männer hatten zumindest den Anschein von Ordnung wiederhergestellt. Gruppen von Freiwilligen stiegen in die Gräben der Rue Royale hinab, nachdem ein nur mühsam aufrechtzuerhaltender Sicherheitsgürtel errichtet worden war. Eine Kette begann sich zu bilden. Sobald die Opfer herausgeholt worden waren, versuchte man festzustellen, welche von ihnen noch lebten, um sie zu behelfsmäßigen Erste-Hilfe-Stellen zu bringen, wo herbeigeeilte Ärzte und Apotheker sich um sie kümmerten und das Unmögliche versuchten. Entsetzt stellte Nicolas fest, dass es nicht leicht war, die Leichen zu bergen, so sehr waren die einzelnen Schichten vom Gewicht derjenigen darüber zusammengepresst worden; es hatte sich ein menschlicher Mörtel gebildet, deren Schichten nur mit Mühe zu trennen waren. Er stellte auch fest, dass die meisten Toten der untersten Schicht des Volks angehörten. Manche wiesen Verletzungen auf, die nur von absichtlich ausgeteilten Stock- oder Degenhieben herrühren konnten.

»Die Straße ist von den Stärksten und Reichsten beherrscht worden«, schimpfte Bourdeau.

»Die Gauner werden wieder einmal herhalten müssen«, fügte Nicolas hinzu. »Die Fiaker und Karossen haben ihren Anteil an dem Massaker, und diejenigen, die sich rücksichtslos ihren blutigen Weg gebahnt haben, erst recht!«

Bis zum frühen Morgen halfen sie, die Toten von den Verletzten zu trennen. Als die Sonne hervorkam, führte Semacgus den Kommissar und Bourdeau in eine Ecke des Cimetière de la Madeleine, wo Leichen abgelegt worden waren. Er wirkte ratlos. Mit dem Finger deutete er auf eine junge Frau, die zwischen zwei alten Männern lag. Er kniete nieder und entblößte den oberen Teil des Halses. Auf beiden Seiten waren die bläulichen Abdrücke von Fingern zu erkennen. Er bewegte den Kopf der Toten, deren Mund verzerrt und halb geöffnet war; er gab ein knirschendes Geräusch von sich. Nicolas sah Semacgus an.

»Das ist eine sehr eigenartige Verletzung für jemanden, der mutmaßlich erdrückt worden ist.«

»Das meine ich auch«, bestätigte der Wundarzt. »Sie ist nicht zusammengepresst worden, sondern unverkennbar erwürgt worden.«

»Die Leiche soll isoliert und anschließend in die Basse-Geôle gebracht werden. Bourdeau, wir müssen unseren Freund Sanson verständigen.«

Nicolas sah Semacgus an.

»Sie wissen, dass ich für diese Art von Untersuchung einzig ihm vertraue und … Ihnen natürlich.«

Er nahm ein paar vorläufige Untersuchungen vor, doch das Opfer trug nur seine Kleidung, deren gute Qualität ihm auffiel. Keine Tasche, kein Abendtäschchen, kein Schmuck. Eine der Hände war zusammengeballt, er löste die Finger und fand eine durchbohrte schwarze Perle aus Gagat oder Obsidian. Er wickelte sie in sein Taschentuch. Bourdeau kam mit zwei Trägern und einer Bahre zurück.

Müdigkeit übermannte sie, während sie aufmerksam das verzerrte Gesicht des jungen Opfers betrachteten. Sich bei der Paulet zu stärken, dafür war es zu spät. Die Sonne, die sich über diesem von Blut und Trauer geprägten Morgen erhob, vermochte den feuchten Gewitternebel nicht aufzulösen. Paris war konturen- und formlos; es schien nur mühsam aus einem Drama zu erwachen, das nach und nach die Stadt und den Hof erreichen, Viertel und Faubourgs treffen und in Versailles das Erwachen eines alten Königs und das eines Kinderpaars verdüstern würde.

II

Sartine und Sanson

Sic egesto quidquid turbidum redit urbi

sua forma legesque

et munia magistratuum.

Nachdem so alles, was beunruhigend hätte

wirken können, beseitigt worden war,

erhielt die Stadt ihr altes Gesicht wieder,

auch Gesetzlichkeit und der behördliche

Geschäftsgang kehrten

in sie zurück.

TACITUS

Donnerstag, den 31. Mai 1770

Nicolas durchquerte eine erstarrte Stadt, die sich selbst darüber wunderte, wie sehr sie litt. Jeder kolportierte eine andere Version der Ereignisse. Kleine Gruppen unterhielten sich leise. Andere, geräuschvoller, schienen einen seit Langem begonnenen Streit fortzusetzen. Die Geschäfte, die um diese Zeit gewöhnlich geöffnet waren, blieben geschlossen, als beteiligten sie sich an der allgemeinen Trauer. Der Tod hatte überall zugeschlagen, und der Anblick der Verletzten und Sterbenden, die in ihre Wohnungen gebracht wurden, hatte in ganz Paris die Neuigkeit von der Katastrophe verbreitet, die noch zugespitzt wurde durch all die Gerüchte und Falschmeldungen, die ein solches Drama unausweichlich nach sich zog. Das Volk schien wie vor den Kopf geschlagen, dass die Festlichkeiten anlässlich einer königlichen Hochzeit ein solches Ende genommen hatten. Es sah ein schlimmes Vorzeichen in alldem und witterte eine finstere Drohung für eine ungewisse Zukunft. Nicolas begegnete Priestern, die das Allerheiligste trugen. Die Passanten bekreuzigten sich, nahmen ihren Hut ab oder knieten vor ihnen nieder.

In der Rue Montmartre herrschte nicht das übliche Treiben. Selbst der so beruhigende und vertraute Geruch des warmen Brotes, der aus der Bäckerei im Erdgeschoss des Hôtel de Noblecourt drang, hatte seinen Zauber verloren. Er atmete ihn ein und erinnerte sich sogleich an den entsetzlichen Geruch von gelöschtem Feuer und Blut, der über der Place Louis XV lag. Ein Offizier der Nachtwache hatte ihm eine griesgrämige Stute geliehen, die schnaubte und die Ohren anlegte. Bourdeau war vor Ort geblieben, um den Kommissaren der Viertel zu helfen, die sehr rasch als Verstärkung gekommen waren.

Nicolas’ erster Impuls war gewesen, in die Rue Neuve-Saint-Augustin zu galoppieren, in welcher der Polizeipräfekt wohnte. Doch er wusste nur zu gut, dass Monsieur de Sartine trotz des Ernstes der Lage nicht geduldet hätte, dass er mit rußverschmiertem Gesicht und unordentlicher Kleidung vor ihn trat. Er hatte oft genug die scheinbare Gefühllosigkeit eines Chefs zu spüren bekommen, der sich selbst keinerlei Schwächen gestattete, damit er nicht diejenigen seiner Untergebenen dulden musste. Der Dienst für den König stand an vorderster Stelle, und die Tatsache, dass man verletzt, wie gerädert und dreckig war, verschaffte einem nicht den geringsten Vorteil. Im Gegenteil, eine Verletzung der Anstandsregeln hätte sich nachteilig für denjenigen ausgewirkt, der es gewagt hätte, so vor ihn zu treten. Eine derartige Missachtung des Verhaltenskodexes wäre für Monsieur de Sartine ein eklatanter persönlicher Affront gewesen, der weder von Mut noch von Ergebenheit zeugte, sondern davon, dass man sich gehen ließ, ein Zeichen für genau jene Zügellosigkeiten, Ausschweifungen und Verwirrungen, die er kraft seines Amtes vorauszusehen und zu unterbinden hatte.

Der Glockenturm von Saint-Eustache schlug sieben, als Nicolas die Zügel seines Gauls einem jungen Bäckerlehrling übergab, der an der Tür der Bäckerei Maulaffen feilhielt. In der Wohnung angekommen, ging er sofort in die Küche, wo er Catherine, seine Dienerin, zusammengesunken und schlafend neben ihrem Herd vorfand. Vermutlich hatte sie sich gar nicht schlafen gelegt, und Nicolas konnte sich gut vorstellen, dass sie von dem Drama erfahren und auf ihn hatte warten wollen. Die alte Marion, Köchin von Monsieur de Noblecourt, die aufgrund ihres Alters von den schweren Arbeiten befreit war, stand morgens später auf, ebenso wie Poitevin, der Lakai. Ohne ein Geräusch zu machen, stieg er wieder zur Pumpe im Hof des kleinen Gartens hinunter, wo er sich im Sommer gründlich zu waschen pflegte, und schlich dann auf Zehenspitzen in sein Zimmer hinauf, um sich umzuziehen und zu frisieren. Er zögerte einen Augenblick, ob er den ehemaligen Staatsanwalt verständigen sollte, verzichtete jedoch darauf angesichts der Aussicht, ihm einen eingehenden Bericht geben zu müssen, der tausend Fragen nach sich ziehen würde.