Cordes ist nicht totzukriegen - Hansjörg Martin - E-Book

Cordes ist nicht totzukriegen E-Book

Hansjörg Martin

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Beschreibung

Die Zeit im Untersuchungsgefängnis war scheußlich. Ich habe schon gedacht, der Anwalt holt mich nie wieder raus. Und die ganze Zeit über die Angst, daß sie Nele verhaften, wenn sich meine Unschuld herausstellt … Nele ist meine Tochter. Meine und Kurt Cordes' Tochter; aber das weiß sie nicht. Sie war noch zu klein, als mein zweiter Mann sie adoptierte. So konnte sie auch nicht wissen, daß Cordes ihr Vater war – nein, ist; er lebt ja noch. Er ist ja gar nicht im Krieg gefallen, wie es damals hieß … Und vorgestern bin ich durch einen Zufall dahintergekommen, daß er einen handfesten Flirt mit seiner eigenen Tochter angefangen hat. Gestern habe ich mich mit Cordes getroffen; ich bin eigens zu dieser Aussprache nach Hamburg geflogen. Heute früh haben sie ihn gefunden – erschossen, mit einem Handschuh von mir in der Hand. Da haben sie mich verhaftet. Und auf dem Weg ins Polizeipräsidium habe ich meine Tochter gesehen – ich war ganz sicher, daß sie es ist. Es war furchtbar. Daß ich keine Mörderin bin, wußte ich ja immerhin, aber … War meine Tochter eine Mörderin? Nun, das hat sich alles geklärt … Dachte ich. Aber dann, als ich gerade ins Flugzeug nach München steigen wollte, war es plötzlich ganz anders.

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Hansjörg Martin

Cordes ist nicht totzukriegen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Zeit im Untersuchungsgefängnis war scheußlich. Ich habe schon gedacht, der Anwalt holt mich nie wieder raus. Und die ganze Zeit über die Angst, daß sie Nele verhaften, wenn sich meine Unschuld herausstellt … Nele ist meine Tochter. Meine und Kurt Cordes’ Tochter; aber das weiß sie nicht. Sie war noch zu klein, als mein zweiter Mann sie adoptierte. So konnte sie auch nicht wissen, daß Cordes ihr Vater war – nein, ist; er lebt ja noch. Er ist ja gar nicht im Krieg gefallen, wie es damals hieß … Und vorgestern bin ich durch einen Zufall dahintergekommen, daß er einen handfesten Flirt mit seiner eigenen Tochter angefangen hat.

Gestern habe ich mich mit Cordes getroffen; ich bin eigens zu dieser Aussprache nach Hamburg geflogen. Heute früh haben sie ihn gefunden – erschossen, mit einem Handschuh von mir in der Hand. Da haben sie mich verhaftet. Und auf dem Weg ins Polizeipräsidium habe ich meine Tochter gesehen – ich war ganz sicher, daß sie es ist. Es war furchtbar. Daß ich keine Mörderin bin, wußte ich ja immerhin, aber … War meine Tochter eine Mörderin?

Nun, das hat sich alles geklärt … Dachte ich. Aber dann, als ich gerade ins Flugzeug nach München steigen wollte, war es plötzlich ganz anders.

Über Hansjörg Martin

Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.

Inhaltsübersicht

Die HauptpersonenDas Frühstück ist ...

Die Hauptpersonen

Bettina Etienne

wird wegen Mordes an einem längst Verstorbenen verhaftet

Cornelia

verliebt sich in ihren Vater

Kurt Cordes

entfaltet nach seiner Ermordung eine beachtliche Aktivität

Kriminalrat Fackeldey

dürfte auf Leute, die nicht unter Mordverdacht stehen, ganz sympathisch wirken

Dr. Peter Degen

kann zuhören

Theo Thierbart

Wirft mit Speiseeis

Das Frühstück ist ausgezeichnet. Frischgepreßter Saft reifer Blutorangen, ein Kaffee, der voll und samtig und würzig schmeckt, heißer Toast, auf dem die kühlen Butterkringel schmelzen, körniges Schwarzbrot, ein ganz genau richtig weiches Ei mit dunkelgelbem Dotter und Schinken – ein Schinken … Fast hätte ich den Oberkellner gewinkt, der aufmerksam am Eingang des weiß-golden möblierten Raumes steht, nur, um von ihm zu erfahren, wo das Hotel diesen wundervoll zarten, mageren Räucherschinken bezieht.

Ich habe nicht gut geschlafen in der vergangenen Nacht. Der gestrige Tag war so schlimm, daß ich am späten Nachmittag, vor dem Gespräch mit Kurt, drei Tassen Kaffee getrunken habe – eben, um für das Gespräch fit zu sein und um es zu überstehen.

Es wäre richtiger gewesen, zu diesem Zeitpunkt an mein Alter zu denken, als an Neles zwanzig Jahre.

Vierzig ist kein Pappenstiel.

Der Brief am Vormittag. Der Schreck. Der Entschluß, sofort zu handeln. Der Flug – überstürzt und von einer Angst begleitet, die schwerer war als mein schnell gepackter Koffer. Dann der Kaffee.

Und schließlich die Begegnung mit dem Mann, dessen Witwe ich bin – dagegen halfen auch zwei Tabletten Doramin nicht, von denen sonst eine genügt, daß ich wie ein Murmeltier schlafen kann … Aber das Frühstück ist wirklich ausgezeichnet. Es bringt mich auf die Beine.

Und jetzt, während ich meinen Kaffee umrühre, springt mich wieder die Vergangenheit an … Aber das ist eigentlich kein Wunder: Das Gespräch mit Kurt Cordes, der sich heute Koortes nennt, wer weiß, was das soll – dieses eigenartige, unwirklich scheinende Gespräch gestern: Es ist, als hätte ich ein altes Fotoalbum aufgeschlagen – so ein Album voller ‹Weißt-du-noch-Bilder›. Und nun drängen sich die Bilder in meine Gedanken und sind so stark und gegenwärtig – es ist faszinierend …

 

Vater war Amtsgerichtsdirektor in der kleinen, mecklenburgischen Stadt. Der höchste Jurist am Ort, sozusagen.

Eine sehr hübsche kleine Stadt … damals. Möglich, daß sie heute noch sehr hübsch ist. Warum eigentlich nicht?

Eine strenge, meinetwegen ‹preußische› Hübschheit war das. Angeklebte Stukkaturen; bröcklig, als ob das ewige, hallende Hämmern der Soldatenstiefel auf dem Kopfsteinpflaster sie mürbe gemacht hätte. Eine schnurgerade Straße längs durch den Ort. Ein langer, rechteckiger Marktplatz mit einem bronzenen Kaiser Wilhelm hoch zu Roß, von Eisengitterstäben eingezäunt.

Ein Kaufhaus … Friedrich Marquardt Söhne; Goldschrift, schnörkelig auf schwarzem Glas. Zwei Schaufenster mit jahraus, jahrein den gleichen vier lebensgroßen Puppen, dümmlich grinsend, immer mal in andere Kleidung gehüllt.

Links davon das Landratsamt: Dreistöckig, lehmgelb getüncht, mit großer, dunkler Toreinfahrt. Daneben die Post, die Polizeiwache … Drei Häuser weiter das einzige gute Hotel: Zum deutschen Haus … Vor dem Eingang in mächtigen grünen Holzkübeln zwei immergrüne gestutzte Bäume, Taxus oder so was, wie Schildwachen.

Rechts vom Kaufhaus die Apotheke Zum Schwan. Dann eine Schreibwaren- und Buchhandlung. Ein gutes Dutzend weiterer Läden, nach dem Ende des Platzes zu immer kleiner werdend … Lebensmittel, Lederriemen, Hanfseile, grobes Schuhwerk, Steingut … Ich entsinne mich genau eines dunklen Ladens, wohin ich als Kind öfter geschickt wurde, um täglichen Haushaltskram zu holen – Nudeln, Mehl, Tee.

Es roch dort nach Salzheringen, Kunsthonig, Anis und Kautabak, und alles lagerte noch neben- und durcheinander in Fässern, großen, hölzernen Schubkästen, Säcken und Gläsern; nur die Besitzerin, ein dürres, altes Fräulein, fand sich, von einem pickeligen Lehrling umwuselt, darin zurecht.

Am Ostende des Marktplatzes – an den ich mich nicht erinnern kann, ohne das Knarren eines Leiterwagens, das Holpern eines dogcarts und das Rumpeln eines Handwagens zu hören – Autos waren seltene Erscheinungen, der Tierarzt hatte eins, der Viehhändler –, am Ostende des Marktplatzes also ging eine schmale Straße im genau rechten Winkel nach links, wie überhaupt alles unter dem hohen, hellen Himmel sehr exakt und geometrisch war – nun, eben preußisch. Dort lagen Kirche und Gymnasium. Die Schulhofmauer grenzte an den Friedhof: Weiße Kieswege, Marmorsteine, akkurate Grabeinfassungen aus Stein und Gußeisen, Engel aus Stein oder Gips. Hinten, wo die ärmeren Leute ihre Toten begruben, ein rostiger Drahtzaun. Dann Kartoffeläcker … ein Schlängelpfad … große Pfützen, wenn es regnete, und darin die Enten aus dem Pfarrhof nebenan.

Aber es regnete, glaub ich, selten. In meiner Erinnerung überwiegen heiße, trockene Sommer. Staub. Staub auf den Blättern der Bäume im Schulhof. Staub auf Kutschern, Pferden und Wagen … Heiße, staubige Sommer. Klirrend kalte Winter … rotglühender Ofen im Schulzimmer … Bratäpfelduft … Schlittschuhnachmittage mit klammen Händen, die weh taten, wenn sie warm wurden …

 

«Verzeihung – Frau Etienne?»

Ein Page. Er steht vor meinem Tisch. Viel zu ernst ist das Gesicht für seine vierzehn oder fünfzehn Jahre. Ich starre ihn an. Wieso … Ach so.

«Verzeihung», sagt er noch einmal. «Frau Etienne?»

«Ja?» Ich steige aus dem Erinnerungswagen aus wie aus einer Zauberkutsche und bin wieder hier und zwinkere aber noch, wie es Erwachende tun. «Ja, bitte?»

«Ihr Ferngespräch …» sagt der Junge mit einer Stimmbruchstimme, die zum Erbarmen klingt.

«Ach ja!» Ich will aufstehen. Ich hatte ein Gespräch angemeldet mit zu Hause. Das war mir völlig ent …

«Es kommt keine Verbindung zustande», sagt der Junge schnell. «Es ist immer besetzt. Die Telefonistin fragt, ob sie es weiter versuchen soll?»

«Aber ja», sage ich ein bißchen verwirrt. «Bitte!»

Der Page macht eine kleine, komische Verbeugung und läuft davon. Immer besetzt? Das wird Nele sein. Ich sehe sie geradezu vor mir: In den geblümten Sessel gekuschelt, selbstvergessen, den Hörer am Ohr; lauschend, kichernd, schwatzend. Unglaublich wichtige Dinge: … was, sagst du, hat sie angehabt? Rosa Tüll? Nein! Das darf doch nicht wahr sein! Ich werd verrückt … Aber da siehst du’s mal wieder …

Ich schenke mir eine neue Tasse Kaffee ein und steige wieder in meine Erinnerungs-Zauberkutsche. Immer mehr fällt mir ein; ith staune, wie plastisch das alles auf einmal vor mir steht …

 

Winterabende in der großen, warmen Küche … Das dunkle Haus mit den düsteren, hohen Zimmern … Tante Julia, Vaters Schwester … wortreich, wendig, meine tote Mutter ersetzend … Vater selbst, alter Preuße, kultiviert, verschworener Humanist, leidenschaftlicher Hausmusiker; immer stiller und blasser im Laufe der Jahre, weil der Staat, dem er diente, sich in einer Weise entwickelte, die er nicht gutheißen konnte.

Ich spielte trotzdem Krankenschwester oder Puppenärztin, war meist vergnügt, hatte – etwas später – die üblichen Aufregungen und Kümmernisse eines heranwachsenden Mädchens, verliebte mich, als der Krieg begann, ohne Wissen des Betroffenen in einen der jungen Ritterkreuzträger der glorreichen großdeutschen Luftwaffe, küßte heimlich die Ansichtspostkarte mit seinem Bild … Ich tauschte aber daneben, nicht einmal mit schlechtem Gewissen, komischerweise, schüchterne Küsse mit einem Hitlerjungen hinter dem Friedhofsgebüsch – Fritz hieß er, glaube ich …

 

Da ist der Page mit dem Stimmbruch wieder bei mir.

«Mein Gespräch?» frage ich.

«Es meldet sich niemand», sagt er. «Die Leitung ist jetzt frei – aber niemand …»

«Na so was!» murmle ich, etwas ratlos. Dann gebe ich ihm ein Trinkgeld.

«Danke!» krächzt er und wendet sich ab.

Seltsam, daß sich zu Hause niemand meldet … Wie spät ist es? Neun Uhr vorbei. Eigentlich müßte doch … Es kann nicht Nele vorhin das Dauertelefonat geführt haben, sondern Isabella, meine brave, alte Haushälterin. Und jetzt ist sie nun zum Einkaufen aus dem Haus, während Nele noch schläft und das Telefon nicht hört … So wird’s sein. Oder? Ich kann es mir nicht anders erklären. Ich sollte eigentlich aufhören zu frühstücken, aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen, noch ein klitzekleines Stückchen Brot zu nehmen und eine Scheibe von diesem Schinken …

Der Krieg … Jetzt, bei Schinkenbrot in so komfortablem Rahmen, kommt mir das alles noch unwirklicher vor. Wie hinter einem Vorhang. Einem Vorhang aus löchriger Sackleinwand …

Es gab zunächst, außer Einschränkungen im täglichen Leben, Rationierung und so weiter, keine spürbaren Veränderungen. Und die Veränderungen, die es dann doch gab, griffen so allmählich in unser Leben ein, daß wir sie zunächst nicht schmerzlich empfanden.

Ich war so kindlich und kindisch, daß ich insgeheim eine Klassenkameradin beneidete, deren großer Bruder am Aisne-Kanal für Führer, Volk und Vaterland fiel – denn sie wurde von allen als Schwester eines Helden gefeiert und bevorzugt behandelt.

Ich glaubte, daß dieser Krieg ein gerechter und heiliger Krieg sei, daß der Führer es schon richtig mache und daß, wenn der böse Feind erst ausgerottet war, daß dann alles in Ordnung sein würde. Selbstverständlich, daß man einer so hehren Sache Opfer bringen mußte.

Also ließ ich mir – großen Vorbildern getreu – die Zöpfe abschneiden, die ich bis zum siebzehnten Jahr stolz getragen hatte, und brachte die dunkelblonden Haarwülste zu einer Sammelstelle, wo man ein wenig ratlos mein Opfer annahm, mir aber dann doch die verlangte Quittung ausstellte.

Ich schaffte, nach kurzem und heftigem Kampf mit meinem Vater und Tante Julia, Mutters alten Fohlenmantel ins Parteibüro, als Pelze für Soldaten der Ostfront gesammelt wurden, und bezichtigte meinen Vater empört der Unwahrheit, als er einige Tage später beim Abendessen lakonisch berichtete, er habe die Frau des Ortsgruppenleiters darin über den Markt laufen sehen.

«Mamas Mantel stand ihr nicht einmal schlecht, wenn ich ehrlich sein soll», sagte er und lächelte auf die bittere und verbissene Art, die er sich angewöhnt hatte …

 

An einem Tisch hinter mir gibt es plötzlich einen klirrenden Krach; ich fahre zusammen und wende mich, aus meinen Erinnerungen auftauchend, um.

Dem Pikkolo ist der Kaffeekannendeckel beim Einschenken in die Tasse einer vornehmen, alten Dame gefallen, die er bedient. Unter Entschuldigungsgestammel wird gewischt, geordnet, Geschirr gewechselt. Die alte Dame macht ein Gesicht wie eine müde Katze.

Draußen auf der Binnenalster flimmert die Frühlingssonne; es wird ein schöner Tag werden. Ich habe noch eine gute Stunde Zeit, ehe ich zum Flughafen muß. Vielleicht kann ich für Nele irgendwo in der Nähe des Hotels noch etwas kaufen – eine Spange, ein Armband, eine Brosche … mal sehen.

Gegen zwölf werde ich in München eintreffen. Bis zur Mittagspause schaffe ich’s nicht mehr nach Kornwallheim. Macht nichts. Aber um halb vier – heute? – ja, heute halb vier wollte Frau Kreidel mit ihren beiden Töchtern kommen und sich die neue Kollektion ansehen. Da muß ich schon dabei sein. Die wollen von der Chefin selbst bedient werden. Schwierige Kunden … Aber bitte.

Meine Güte, ist der Schinken gut! Ich sollte doch den Oberkellner … Er spricht mit einem jungen Mann im Trenchcoat und schaut herüber zu mir. Beide schauen herüber. Gibt’s was? Der Oberkellner kommt zwischen den Tischen hindurch auf mich zu. Der junge Mann im Trenchcoat ist verschwunden.

Was ist denn los? Eine Nachricht? Ein Telegramm? Ist zu Hause was? Warum war niemand da, vorhin?

Er kommt tatsächlich an meinen Tisch, aber er hat nichts in der Hand … Ernst sieht er aus. Er ist alt und hat etwas im Blick, das mich beunruhigt.

«Entschuldigen Sie, gnädige Frau», sagt er leise; «Sie hatten Zimmer neununddreißig?»

«Ja – ist irgendwas nicht in Ordnung?»

Er windet sich. Es ist ganz deutlich, daß er irgend etwas hat, etwas, das unangenehm ist. Daß er einen Auftrag ausführt, der ihm fremd ist und peinlich. Er sucht nach Worten.

«Sie werden gebeten, ins Direktionsbüro zu kommen, bitte!» stammelt er.

Cornelia! Weiß Nele, daß ich Kurts Brief habe, der an sie gerichtet war? Hat sie zu Hause Dummheiten gemacht? Kam deshalb mein Anruf nicht an? Ist am Ende alles umsonst gewesen?

«Was ist denn?» frage ich und stehe schnell auf. «Sagen Sie schon!»

Ich spreche zu laut. An den einzelnen Tischen rundum wird man aufmerksam.

Der Herr nebenan läßt seine Zeitung sinken.

«Ich weiß nichts …» sagt der Oberkellner beschwichtigend.

Ich sehe ihm an, daß er lügt … Meine Tasche. Der Schal. Der graue Handschuh … Wenn ich nur wüßte, wo ich den zweiten verloren habe!

Zu ärgerlich. Es waren so hübsche Handschuhe.

Der Oberkellner tritt zur Seite und senkt den Kopf. Ich gehe an ihm vorbei zur Flügeltür. Er folgt mir und stößt die Tür, um mich herumgreifend, auf.

«Bitte sehr, gnädige Frau!» sagte er und weist mit ausgestrecktem Arm und nach oben gedrehter Handfläche auf eine Tür an der rechten Seite der Halle.

DIREKTION steht da in Messinglettern auf der dunklen Täfelung.

Die Halle ist, wie solche Hallen immer sind: In klobigen, tiefen Ledersesseln sitzen ein paar Leute und unterhalten sich. An einer Säule türmen sich Koffer. Vor den Rezeption steht ein Neger in einem hellgrauen Flanellanzug und läßt, unsicher um sich blickend, seine blendenden Zahnreihen blitzen. Der Portier, der Empfangschef und ein grünlivrierter Boy sehen zu mir herüber, während ich auf die Direktionstür zugehe. Alle drei machen eigenartig gespannte Gesichter. Dem Boy steht der Mund halb offen.

Ich probiere ein Lächeln und nicke dem Portier zu. Er senkt den Blick, als ob ich ihn bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Es ist kein Mitleid in der Art, wie die zwei anderen herübergucken – eher Neugierde.

Komisch.

Habe ich meinen Zimmerschlüssel vom Frühstückstisch mitgenommen?

Der Oberkellner, der jetzt neben mir geht, hat ihn in der Hand und klappert mit dem Plastikanhänger, als ob es eine Kastagnette wäre.

Was um alles in der Welt kann nur geschehen sein? Irgendwas mit dem Geschäft? Ein Brand, ein Einbruch? War deshalb vorhin niemand am Telefon, nachdem es dauernd besetzt war? Unsinn – dann hätte man mich angerufen oder mir telegrafiert. Oder habe ich vorhin beim Bezahlen meiner Rechnung mit einem falschen Geldschein …?

So was wird’s sein!

Das ist Albert auch schon mal passiert. Ich sehe sein liebes, korrektes Gesicht noch vor mir, wie er davon berichtete, und wie sich die überstandene Peinlichkeit in seinen Zügen spiegelte. In Düsseldorf oder irgendwo ist ihm das seinerzeit passiert. In irgendeinem piekfeinen Hotel, und sie haben ihn auch ins Direktionsbüro gebeten.

Aber woher sollte ich falsches Geld …?

Nun, vielleicht beim Wechseln gestern abend, als ich meinen Weinbrand bezahlte. In jenem ungemütlichen Lokal an der Elbe, wo ich mit Cordes saß, der sich jetzt Koortes schreibt – aus unerklärlichen Gründen …

Er wollte das unbedingt übernehmen, mein für tot erklärter, verschollener Gatte – der Fremde, mit dem ich verheiratet war … oder bin ich mit ihm verheiratet? War meine Ehe mit Albert ungültig? Ist Kurt …? Er holte ein Bündel Banknoten so mit der Linke zusammengeknüllt aus der Jackettasche … Was er für plumpe, häßliche Hände hat. Habe ich das damals nicht gesehen, als ich ihn liebte?

Der Oberkellner hält mir die Tür auf. Wir gehen durch ein Vorzimmer, das wie das Wartezimmer eines teuren Rethtsanwalts aussieht.

Ein sehr gut aufgemachtes Mädchen springt hinter seinem Schreibtisch auf, weht mir eine Wolke ma griffe unter die Nase und öffnet eine zweite Tür, die gepolstert ist und – unpassenderweise – leise in den Angeln quietscht.

Das Zimmer des Hoteldirektors ist überraschend groß und mit schweren Clubmöbeln eingerichtet, die, eingerahmt von geschnitzten Bücherschränken in altdeutschem Stil, düster und klotzig wirken wie regungslose Nilpferde.

Die beiden hohen Fenster sind mit farbigen Mattglasscheiben versehen. Wahrscheinlich ist draußen ein scheußlicher Hof. Es herrscht ein eigentümliches Licht im Raum – so habe ich mir früher die Patrizierbüros vorgestellt, als ich Soll und Haben las, oder irgend so einen Bürgerwälzer für die reifere Jugend.

Ich bin deshalb auch gar nicht erstaunt, daß sogar der Herr, der sich erhebt und auf mich zukommt, wie ein hanseatischer Kaufmann von vor hundert Jahren aussieht: Groß, schlank, weiße Haare, englisch gestutzter Bart, silberne Koteletten, Cut, Plastron mit dezenter Perle – fehlt nur der Vatermörder.

Er gibt mir nicht Gelegenheit, noch lange über seine anachronistische Erscheinung nachzudenken.

«Von Schleiden», sagt er und deutet eine Verbeugung an.

«Sehr angenehm», sage ich, obschon das überhaupt nicht stimmt. Mir ist sehr unangenehm zumute.

Aus der Sesselgruppe hinter der Tür stehen jetzt zwei Männer auf. Der eine ist der junge im Trenchcoat, der vorhin im Frühstückszimmer mit dem Oberkellner geredet hat. Neben ihm steht ein älterer mit randloser Brille. Er schaut mich aus schmalen Augen an und fragt: «Frau Etienne?»

«Ja …» sage ich und sehe von einem zum anderen.

Der Direktor senkt den Blick wie vorhin schon der Oberkellner und der Portier.

Der Mann im Trenchcoat steckt die Hände in die Manteltasche.

Der Brillenträger holt tief Luft, tritt auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: «Kriminalpolizei. Ich nehme Sie fest wegen dringenden Tatverdachts, den Kaufmann Kurt Koortes erschossen zu haben.»

Ich sage zunächst einmal gar nichts. Ich starre ihn an. Das kann doch nicht … Das ist ein schlechter Witz. Ein verdammt schlechter Witz.

«Haben Sie mich verstanden, Frau Etienne?»

«Nein. Nein. Nein. Was haben Sie …» Warum bin ich denn so heiser? «Ermordet? Kurt? Nein, das kann doch nicht …»

Es ist ein böser Traum, nicht wahr? Gleich werde ich wach werden und Magenschmerzen haben … Ich kneife die Augen zu und reiße sie wieder auf und noch mal und schüttle ganz schnell den Kopf hin und her. Ich will wach werden. Ich versuche zu lachen, weil es mir nicht gelingt, aus diesem irren Traum aufzuwachen … Denn das muß ja ein Traum sein! Dieser Hoteldirektor … und Kurt … ermordet?

«Bitte folgen Sie mir!» sagt der Kriminalbeamte und läßt seine Hand von meiner Schulter bis zum Oberarm gleiten.

Er faßt meinen Arm sehr behutsam an – aber dieser Griff ist es, der mich zur Besinnung bringt.

«Ich verstehe nicht!» sage ich. «Wer ist – wer ist ermordet worden? Und was habe ich – wieso habe ich damit zu tun? Da liegt ein Irrtum vor! Oder eine Verwechslung.»

«Das wird sich herausstellen, Frau Etienne», sagt der Beamte, ohne loszulassen. «Kommen Sie!»

«Ich bedaure, gnädige Frau …» Der Hoteldirektor ist unsicher und reibt sich überaus verlegen die Hände vor der Brust.

Einen Anwalt! Ich muß einen Anwalt haben! Das können sie mir nicht verwehren! Wieso sind sie überhaupt auf mich gekommen?

Ich habe Kurt Cordes gestern nachmittag eine knappe Stunde lang gesehen und mit ihm gesprochen.

Das war das erste Gespräch mit ihm seit mehr als zwanzig Jahren. Er hat von seiner Tochter nichts gewußt. Er hat sie noch nie gesehen. Oder doch – er hat sie gesehen, aber …

… Das ist es ja eben!

«Lassen Sie meinen Arm los, Herr Kommissar!» sage ich und habe plötzlich weiche Knie. Das dauert nur einen Moment, dann ist es vorüber. «Ich möchte mit meinem Anwalt telefonieren!»

Er läßt wirklich los und wirft seinem Kollegen einen Blick zu, der eine Art Respekt verrät, aber auch so etwas wie: Abgebrühte Person, was?

Soll er denken, was er will.

Es ist völlig rätselhaft, wie sie auf mich gekommen sind! Wer wußte denn, daß ich mit Kurt verheiratet war bis zu seiner Todeserklärung? Oder vielleicht bin ich es auch noch, weil … Nein, jetzt nicht mehr; er ist ja offenbar tot … Hat uns jemand in dem Lokal gesehen? Hat mich jemand vor seinem Haus gesehen? Jemand, der mich kennt?

Ich krame, während meine Gedanken sich überschlagen wie ein Wurf spielender Hunde, in meiner Handtasche. Das Büchlein …

«Bitte, Sie dürfen natürlich Ihren Anwalt anrufen», sagt der Kriminalbeamte und tritt einen Schritt zurück. «Aber das könnten Sie auch vom Polizeipräsidium aus.»

Er ist ärgerlich, wie es scheint. Er hatte sich wohl die Festnahme etwas glatter vorgestellt.

Ich kümmere mich nicht um ihn.

«Gestatten Sie?» frage ich den Hoteldirektor und gehe auf den altdeutschen Schreibtisch zu.

Der Direktor sieht fragend die Beamten an. Beide heben die Schultern. Der Ältere nickt.

«Bitte sehr!» Der Weißhaarige aus dem vorigen Jahrhundert schiebt mir das Telefon zu.

Ich wähle. Vorwahl. Romeisels Nummer.

«Hier Anwaltsbüro und Notariat Doktor Romeisel, guten Tag!»

Zu dußlig, diese lange Salbaderei. Das kostet nur Geld.

«Herrn Doktor Romeisel – bitte sofort! Hier ist Frau Etienne!» sage ich.

«Herr Doktor ist mit einer Beurkundung beschäf …»

«Unterbrechen Sie ihn! Aber schnell! Es ist wichtig! Ich rufe aus Hamburg!» sage ich ärgerlich.

Es knackt ein paarmal. Der Kriminalbeamte mit der Brille hat eine zweite Hörmuschel genommen und hält sie sich ans Ohr. Ich finde das unerhört – aber er ist wahrscheinlich dazu berechtigt.

«Romeisel …»

Da ist er!

«Hallo, Frau Etienne? Na, wo brennt’s denn?»

Jovial-polterig wie immer. Der alte Rotweinliebhaber und -spezialist. Ich sehe seine grobporige, blaugeäderte Nase vor mir.

«Ich bin soeben verhaftet worden, Doktor!» rufe ich.

«Ver … Was?»

«Dringender Mordverdacht!» Ich schreie.

Es ist völlig still auf Romeisels Seite.

«Hallo – Doktor!» schreie ich. «Sind Sie …?»

«Ja», sagt er, atmet laut und wiederholt erschrocken: «Mordverdacht? – Das ist doch kein Scherz, Bettina? Hören Sie, solche Scherze …»

«Nein, nein, nein!» rufe ich. «Hier neben mir steht der Kriminalbeamte und hört mit!»

Schweigen.

«Doktor?» sage ich leise und drängend.

«Wer … Wen sollen Sie denn … Aber ich kann nicht hinkommen!» sagt er. «Ich muß noch heute nachmittag ins Krankenhaus gehen … Die Galle … Na ja. Warten Sie mal … Rufen Sie gleich in Hamburg den Dings an, den … Degen heißt er; Doktor Peter Degen. Moment mal, ich hab die Nummer hier … Schreiben Sie?»

«Ja», sage ich und angle mir einen Bleistift aus der Kupferschale des Direktorschreibtischs. Es ist ein Reklamebleistift. Trink Malepartus-Jägerlikör!

«Ja?» frage ich.

Romeisel diktiert mir die Telefonnummer.

«Halten Sie die Ohren steif, Mädchen!» sagt er. «Und keine Aussage, ehe Sie mit Degen geredet haben! Ich ruf ihn auch gleich an, damit er weiß, welche Etienne Sie sind. Er hat Ihren Mann bestimmt gekannt … Soll ich zu Hause irgendwas …»