Cotton Reloaded - Sammelband 09 - Linda Budinger - E-Book

Cotton Reloaded - Sammelband 09 E-Book

Linda Budinger

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Beschreibung

Eine neue Zeit. Eine neue Mission. Ein neuer Held: Erleben Sie die Geburt einer neuen Legende! COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichen Kultserie "Jerry Cotton".

Drei spannende Thriller in einem Band:

Tod des Phönix: Ein kleines Mädchen verschwindet nach einem schweren Verkehrsunfall plötzlich aus dem Krankenhaus. Der Verdacht fällt auf ihren Vater, Anhänger einer zwielichtigen Gemeinschaft, die ihre Mitglieder für Auserwählte hält.

Der Wolfsmensch: In Washington County wird ein halbnackter, geistig verwirrter und scheinbar stummer Mann aufgefunden. Zur selben Zeit erregt die dritte Leiche einer Raubmordserie Aufsehen in der Stadt. Reiner Zufall?

Stumme Zeugin: Eine wichtige Kronzeugin gegen einen international agierenden Waffenhändler wird ermordet. Dem FBI bleibt nicht mehr viel Zeit, denn sollten binnen 20 Stunden keine weiteren Beweise gegen den Waffenhändler vorliegen, muss er aus der U-Haft entlassen werden.

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Seitenzahl: 366

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Inhalt

Cover

Was ist COTTON RELOADED?

Über dieses Buch

Die Autoren

Impressum

Cotton Reloaded 25 – Tod des Phönix

Cotton Reloaded 26 – Der Wolfsmensch

Cotton Reloaded 27 – Stumme Zeugin

Was ist COTTON RELOADED?

Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.

Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.

Dieser Sammelband enthält die Folge 25-27 von COTTON RELOADED.

Über dieses Buch

Drei spannende Thriller in einem Band:

Tod des Phönix: Ein kleines Mädchen verschwindet nach einem schweren Verkehrsunfall plötzlich aus dem Krankenhaus. Der Verdacht fällt auf ihren Vater, Anhänger einer zwielichtigen Gemeinschaft, die ihre Mitglieder für Auserwählte hält.

Der Wolfsmensch: In Washington County wird ein halbnackter, geistig verwirrter und scheinbar stummer Mann aufgefunden. Zur selben Zeit erregt die dritte Leiche einer Raubmordserie Aufsehen in der Stadt. Reiner Zufall?

Stumme Zeugin: Eine wichtige Kronzeugin gegen einen international agierenden Waffenhändler wird ermordet. Dem FBI bleibt nicht mehr viel Zeit, denn sollten binnen 20 Stunden keine weiteren Beweise gegen den Waffenhändler vorliegen, muss er aus der U-Haft entlassen werden.

Die Autoren

Linda Budinger ist freie Autorin und Übersetzerin. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren Romane und Kurzgeschichten, vor allem im Bereich Fantasy und Phantastik. Mehrfach wurden Geschichten von ihr für den Deutschen Phantastik Preis nominiert. Bekannt wurde sie durch Veröffentlichungen für das Rollenspiel »Das Schwarze Auge« und als Mitautorin der Bastei-Romanreihe »Schattenreich«. Die Autorin wohnt in Leichlingen.

Jürgen Benvenuti wurde 1972 in Bregenz, Vorarlberg, geboren. Nach Aufenthalten in Berlin und Barcelona lebt er jetzt in Wien. Neben seinen Romanen, die unter anderem bei Bastei Lübbe, dtv und im Wiener Falter Verlag erschienen sind, hat er auch zahlreiche Rezensionen und Artikel in diversen Zeitungen, Zeitschriften und Online-Magazinen veröffentlicht. Ab und zu wagt er außerdem einen Abstecher ins Filmgeschäft.

Peter Mennigen wuchs in Meckenheim bei Bonn auf. Er studierte in Köln Kunst und Design, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Seine Bücher wurden bei Bastei Lübbe, Rowohlt, Ravensburger und vielen anderen Verlagen veröffentlicht. Neben erfolgreichen Büchern, Hörspielen und Scripts für Graphic Novels schreibt er auch Drehbücher für Fernsehshows und TV-Serien.

BASTEI ENTERTAINMENT

Digitale Originalausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus (»Tod des Phönix«) und Uwe Voehl (»Der Wolfsmensch« und »Stumme Zeugin«)

Projektmanagement: Nils Neumeier

Covergestaltung: © Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven © shutterstock: DmitryPrudnichenko | Irina Solatges | Pavel K | gualtiero boffi

E-Book-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1467-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Tod des Phönix

Linda Budinger

Speramus meliora; resurget cineribus

- Wir hoffen auf Besseres; aus Asche wird es sich erheben

1

Mittwoch, 25. OktoberDetroit, nahe Linwood AvenueDer Bunker

Die Deckenleuchte tauchte ihn in einen scharf umrissenen Lichtstrahl. Der Gurt lag auf Höhe des Herzens eng um die Brust, vier Inch darunter verlief über der nackten Haut ein zweiter Riemen. Der Mann auf dem harten Stuhl schwitzte, obwohl der kleine, fensterlose Raum ungeheizt war. Er versuchte, sich bequemer hinzusetzen, ohne die Kabel der Elektroden in seiner Handfläche abzustreifen. Die Oberarmmanschette drückte schmerzhaft. Zwei Finger der rechten Hand klemmten in einem Sensor fest.

Der Mann gab den Versuch auf, eine bessere Position zu finden. Vor einigen Minuten hatte ein Techniker einen Laptop an den Lügendetektor angeschlossen. Die Kabel erschienen mit jeder verstreichenden Minute mehr wie ausgeklügelte Fesseln. Nun saß der Techniker im Halbdunkel an einem Tisch, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Von irgendwoher dröhnten Bässe, als sickerte der Herzschlag der Stadt durch die Ziegelwände.

»Wie heißen Sie?«, fragte jemand nüchtern.

Der Kopf des Mannes fuhr herum, aber der Frager hatte unbemerkt das Zimmer betreten und blieb im Schatten.

»Mist«, fluchte der Techniker und machte eine Markierung mit der Maus. »Fang noch mal an, Jed«, bat er den Mann im Hintergrund. »Und Sie, Mister, bei der Kalibrierung nicht bewegen!« Er hatte einen kleinen Sprachfehler und sagte immer »Miiister«.

»Wie heißen Sie?«, wiederholte Jed.

Der Mann schluckte. »Russell Denvers.«

»Wie sind Sie hergekommen?« Jeds Stimme war immer noch kalt wie ein Eiszapfen.

Dem Mann lief ein Schauer über den Rücken. Sein Mund war trocken. »Mit dem Auto in die Motor City.«

»Lügen Sie darüber«, befahl die gesichtslose Stimme.

»Äh, ich bin mit dem Flugzeug hier. War ein mieser Trip.«

Der Techniker machte eine Daumen-hoch-Geste. Der Mann auf dem Stuhl versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Einige gezackte Linien in verschiedenen Farben oszillierten über das Display.

»Woher kennen Sie uns?«, wollte Jed wissen.

»Ein Typ aus einer Gang hat mal von euch erzählt. Terry Wintour meinte, Leute wie ich seien hier willkommen.«

»Sind Sie schon einmal gestorben?«

»Ich …« Er zögerte. »Nein.« Auch wenn er nach den Albträumen oft genug wünschte. »Aber was soll das?«

»Reine Vorsichtsmaßnahme. Wir müssen wissen, wie vertrauenswürdig Sie sind.« Jed klang so glatt wie eine Billardkugel. »Woher stammen die vielen Narben?«

Der Mann spannte sich an. »Hauptsächlich von der Straße. Hatte ein bewegtes Leben.«

»Was möchten Sie hier?«

»Errettung«, sagte er schlicht.

»Warum bei uns und nicht in der New-Bethel-Baptistenkirche einen Häuserblock weiter?« Ein ironischer Tonfall schlich sich in Jeds Erwiderung.

»Die haben nicht das, was ich will. Die verstehen mein Problem nicht.«

Er schwitzte jetzt stärker, aber seine Hände und Füße waren merkwürdig kalt, als wäre die Blutzufuhr unterbrochen. Der Beat von draußen wurde schneller, hämmerte wie eine Maschine, deren Schlag durch den Boden in seinen Körper übertragen wurde.

»Und was ist Ihr Problem?«

»Ich habe die andere Seite gesehen.« Kein heller Tunnel, zuerst nicht. Nur Schwärze.

»Sind Sie würdig, einer von uns zu werden? Ein Phönix?«

»Ja, verdammt!« Er tappte unruhig mit dem Fuß, was ihm ein empörtes Zischen des Technikers einbrachte. »Ich muss zu Leuten, die begreifen, was mir passiert ist.«

»Sie wollen dazugehören?« War da ein Hauch von Interesse?

»Ja.« Nur nicht hierher, dachte er in einer trotzigen Aufwallung. »Ich bin oft einsam. Und die Träume …« Das wollte er eigentlich nicht erwähnen. Aber es fühlte sich an, als hätte sich seine Zunge verselbstständigt. »Immer derselbe Traum, wie ein verrücktes Karussell, in meinem Kopf, das nachts die Jahre zurückschraubt zu dem Tag …«

»Sie sind hier nicht beim Therapeuten«, unterbrach Jed harsch. »Wir sind an starken Individuen interessiert. An Überlebenden.«

»Das bin ich.«

»Dann beweisen Sie es, Russell.«

Zum ersten Mal sprach ihn Jed mit Vornamen an. War das ein gutes Zeichen?

»Ich … Das habe ich eigentlich noch keinem erzählt.«

»Sie langweilen mich.« Jed kam näher. »Ich gebe Ihnen noch eine Minute, um mich zu überzeugen. Dann setze ich Sie vor die Tür.«

Nur das nicht! Er musste diesem Mann etwas bieten.

»Nun reden Sie schon.« Scharf, wie bei einem Verhör!

»Ich war ein Junge aus Iowa«, begann Cotton widerwillig. »Gerade mal 16. Meine Eltern waren mit mir zusammen zu Besuch bei meiner Schwester Laura in New York …« Er stockte, aber er musste über diese Erlebnisse sprechen, obwohl er sie lieber in sich vergrub. Aber hier kam er nicht durch ohne die Wahrheit.

»30 Sekunden!« Jeds Worte, scharf wie ein Peitschenhieb.

»Es war der 11. September.« Cotton stockte; die Erinnerungen, die diese Worte weckten, hatten ihn im Klammergriff. »Ich war zum World Trade Center unterwegs …«

»Sie wollen mir weismachen, Sie seien einer der Überlebenden der Twin Towers? Deren Namen sind hinlänglich bekannt. Ihrer ist nicht darunter, wir verfolgen solche Dinge sehr genau.«

Der Schweiß lief ihm jetzt in Strömen über den Oberkörper. Die Haut juckte fast unerträglich.

»Hören Sie zu, Russell.« Das metallische Klicken eines Sicherheitshebels, der zurückgeschoben wurde. Der Kerl hinter ihm hantierte mit einer Waffe! »Wenn Sie uns verarschen wollen, müssen Sie sich schon was Besseres …«

»Er sagt die Wahrheit!«, unterbrach ihn der Techniker.

»Bist du sicher, Franklin?«, fragte der andere skeptisch.

»Kristallklar«, meinte Franklin. Cotton konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. Was war daran lustig?

»Okay. Weiter«, sagte Jed. Seine Blicke schienen ein Loch in Cottons Rücken zu sengen.

Cotton stieß unwillig die Luft aus. »Ich war minderjährig. Und ich wurde danach von einer Frau adoptiert. Aber dann habe ich mich mit Typen eingelassen, die auf der anderen Seite des Gesetzes standen.« Langsam lief es immer besser. Seine Ideen sprudelten geradezu.

»Halt.« Jeds Reaktion versetzte ihm einen Dämpfer. »Mich interessieren nur Einzelheiten zum 11. September!«

»Okay, okay … Es gab Streit mit meinem Dad. Ich wollte die Stadt erkunden, bin einfach abgehauen. Bis mir so ein Typ die Geldbörse geklaut hat. Ich hab ihn ein paar Häuserblocks weit verfolgt und mir dann mein Geld zurückgeholt. Und der Cop um die Ecke dachte erst noch, ich hätte den Dieb beklaut.«

Das Gefühl des Sieges breitete sich wie eine süße Zuckerwattewolke in ihm aus, als die Erinnerung fast greifbar vor ihm stand.

»Plötzlich war alles perfekt. Ich wollte nur noch zu meiner Familie.« Und von der Heldentat berichten wie ein Schuljunge, der auf ein Schulterklopfen hofft. »Laura sollte uns an diesem Morgen ihr neues Büro zeigen, oben im Nordturm im 94. Stock.«

Die Kabine summte fast lautlos das Hochhaus hinauf Richtung Skylobby im 44. Stock, während die Insassen ins Leere starrten. Cottons jüngeres Selbst hatte mit den Füßen getrippelt, weil es ihm nicht schnell genug gegangen war. Von der Skylobby hatte er nur einen kurzen, atemberaubenden Blick auf New York und den Fluss werfen können. Er musste um die Ecke in den nächsten Lift.

Dann das Unvorstellbare. Flug AA 11 raste zwischen dem 93. und 99. Stock in die Flanke des Hochhauses.

»Der Einschlag hat mich fast umgehauen. Ich konnte erst nicht denken. Als hätte die Explosion alles in mir betäubt. Die Welt stand still und lief dann in Zeitlupe weiter. Keine Ahnung, was los war. Aber ich wusste, meine Familie war da oben, deswegen würde ich auch da raufkommen. Irgendwie.«

2

Montag, 23. Oktober (Zwei Tage zuvor)Livonia, St.-Mary-Mercy-Krankenhaus

Bruce Eddingten ließ die Tür des Krankenhauses keinen Moment aus den Augen. Seine Lider wurden immer schwerer. Vergangene Nacht hatte er lange über sein Vorhaben gegrübelt.

Endlich erschien die vertraute Gestalt seiner ehemaligen Schwiegermutter Abigail Cross. Sie tastete langsam mit den Füßen die Treppenstufen ab, ehe sie hinunterstieg.

Ihm blieb genug Zeit, um tiefer in den Autositz zu rutschen. Wenn Abigail ihn hier sah, könnte sie misstrauisch werden. Er musste jedes Risiko minimieren. Emily, seine Tochter, liebte ihre Oma. Aber sie gehörte zu ihm, ihrem Vater. Daran konnte kein Gerichtsurteil etwas ändern.

Einige Zeit nachdem Abigail mit ihrem uralten Ford weggefahren war, stieg Bruce aus. Jede Schläfrigkeit fiel von ihm ab. Bald würde er bei seiner Tochter sein.

Die Medien hatten über den Unfall Anfang der Woche berichtet. Eine Geschichte mit Happy End war gut für die Quoten, auch wenn sie einen halben Tag später wieder vergessen war. Eine Limousine hatte während der Fahrt einen Vorderreifen verloren und war mit dem Wagen seiner Exfrau Susan zusammengestoßen. Ihr Kleinwagen war von der Straße abgekommen und hatte sich zweimal überschlagen, ehe ein Pfosten ihn stoppte. Susan war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Aber Emily, sein kleiner Engel, hatte mit ein paar Schrammen überlebt. Das Autowrack hatte sich um sie herumgefaltet wie eine Geschenkverpackung. Das war ein Zeichen!

Bruce betrat das Krankenhaus und ging direkt zum Empfang. »Entschuldigen Sie. Mrs Cross hat im Zimmer von Emily ihre Tasche mit den Herztabletten liegen lassen. Die Ärmste ist völlig erledigt wegen Lisas Tod. Deswegen habe ich ihr angeboten …« Er stockte. »Also, ich bin der Nachbar, Talbot ist mein Name. Ich soll die Tabletten holen. Auf welchem Zimmer liegt Emily Eddington?«

Bruce hatte richtig kalkuliert, dass das Interesse der Presse nach zwei Tagen wieder erloschen war und das Personal nicht übermäßig misstrauisch sein würde. Die Frau schickte ihn nach einer kurzen Musterung weiter.

Emily schlief bereits. In dem Jahr seit der Scheidung war sie gewachsen. Sie trug einen Krankenhaus-Pyjama, in dem sie verloren aussah. Abigail schien ihr die Haare gekämmt zu haben. Sie flossen über das Kissen wie rötliche Seide, weich wie Federn.

»Komm, mein kleiner Phönix!«, flüsterte Bruce.

3

Dienstag, 24. OktoberCyberedge-Gebäude, New York

Die Tür zu Mr Highs Büro stand offen. Der glatzköpfige Mann hatte das Telefon noch am Ohr, winkte Cotton aber mit der anderen Hand heran.

»Es ist für Sie!« Der Chef des G-Teams reichte ihm den Hörer.

Kein Wort der Entschuldigung, dass er Cotton an seinem freien Tag herzitiert hatte. Klar, das Verbrechen machte auch keine Pause.

»Special Agent Cotton?«

Cotton zuckte unmerklich zusammen, als er die Stimme von Les Bedell erkannte. »Hallo«, sagte er unverfänglich.

»Hallo, Mr Cotton« begrüßte der Psychologe, der früher selbst als Profiler zum FBI gehört hatte, inzwischen aber nur noch als Berater arbeitete. »Es betrifft eine etwas heikle Angelegenheit.«

Mr High beobachtete Cotton. Die papierdünne Haut seines scharf geschnittenen Gesichts verriet mit keinem Zeichen, was er dachte.

»Wo sind Sie?«, erkundigte sich Cotton. »Ich habe frei. Wir könnten das direkt besprechen.«

»Ich bin derzeit im Wayne County, um das Gefährdungspotenzial einer Gruppierung einzuschätzen. Hören Sie, Cotton – es geht um eine freiwillige Mission. Aber die Zeit drängt, und Sie erscheinen mir in mehr als einer Hinsicht als geeigneter Kandidat.«

»Wofür?«, fragte Cotton.

»Haben Sie schon mal von Carter Elliot und der Hand des Phönix gehört?«

»Nein.« Klang wie ein Fantasy-Film. »Sollte ich?«

»Das ist eine Glaubensgemeinschaft mit einer ganz speziellen Philosophie. Die Sekte hat sich in Detroit in einem Haus verschanzt. Das Gebäude ist als ›der Bunker‹ bekannt, noch aus der Zeit, als sich dort das Hauptquartier einer Gang befand. Die Polizei beobachtet die Gruppe schon länger, aber sie versucht, den Deckel draufzuhalten, was die Medien angeht.«

»Was haben diese Vögel denn ausgefressen?«

Les Bedell seufzte schwer. »Nichts, was strafrechtlich relevant wäre. So weit wir wissen. Der Staat garantiert die Religionsfreiheit, was auch für Gruppierungen des eher obskuren Spektrums gilt. Aber die Hinweise verdichten sich, dass Elliot etwas Großes plant. So jedenfalls der Informant.«

»Geht es um einen Anschlag?«, warf Cotton ein.

Les verneinte. »Gestern wurde ein neunjähriges Mädchen namens Emily aus einem Krankenhaus entführt. Sie war nach einem Unfall zur Beobachtung dort. Verantwortlich ist ein Mann, dessen Beschreibung auf ihren Vater Bruce Eddington passt, ein Sektenmitglied. Emilys Mutter Susan starb bei dem Unglück. Sie hat testamentarisch Emilys Großmutter Abigail das Sorgerecht übertragen. Die Ehe wurde wegen Bruces Verbindung zu Elliots Sekte geschieden, und es gibt ein Kontaktverbot.«

Cotton schnaubte. Alles klar. Kindesentführung war ein Bundesverbrechen, das in die Zuständigkeit des FBI fiel. »Wo liegt das Problem? Trommeln Sie ein SWAT-Team zusammen und holen Sie die Kleine da raus.«

»Die Detroiter Polizei ist strikt gegen ein gewaltsames Eingreifen. Elliot ist im Umfeld der Downtown gut vernetzt. Ein SWAT-Team käme unbemerkt nicht mal auf eine Meile heran. Außerdem gibt es keinen Beweis, dass Emily wirklich dort festgehalten wird. Chief Steatler vom Detroit Police Department befürchtet, dass es zu Unruhen kommt, wenn er den Bunker auf bloßen Verdacht hin stürmt. Gerade in diesen Tagen.«

»Wieso?«

»Halloween«, sagte Les Bedell. »Manche Leute nehmen das zum Anlass für Krawalle und Zündeln, Delikte also, die weit über Schabernack hinausgehen. Dadurch sind in der Vergangenheit Schäden in Millionenhöhe entstanden.«

Cotton erinnerte sich, von Ausschreitungen in den dünn besiedelten Gebieten außerhalb der Vorstädte gehört zu haben. Vor allem in den Siebzigerjahren war es während der Devil’s Night, dem Abend vor Halloween, in Detroit zu Brandstiftungen gekommen.

»Also befürchtet die Stadtverwaltung miese Stimmung«, sagte er.

»Genau. Die Stadt, die seit der Krise der Automobilindustrie am Boden liegt, hat in den letzten Jahren immer mal wieder vielversprechende Projekte erlebt. Hauptsächlich Subkultur: ein Studio für Rap hier, ein Atelier für Underground-Kunst da. Ein neues Baseball-Stadion für die Tigers. Aber auch finanzkräftige Investoren, die sich für die Wiederherstellung der weniger verfallenen Gebäude interessieren. Diese Hoffnung soll verständlicherweise am Leben erhalten werden.«

»Ist das nicht zweitrangig? Ich dachte, es geht um Entführung!« Cotton ballte die Faust.

»Natürlich. Doch ohne triftigen Grund wollen wir uns über die lokalen Behörden nicht hinwegsetzen. Außerdem gibt es beunruhigende Entwicklungen innerhalb der Gruppe. Ein Angriff könnte möglicherweise als Auslöser eines Massenselbstmords wirken. Aber ich habe auch Gutes zu berichten.«

Cotton merkte auf.

»Die Behörden des Wayne County bereiten seit einiger Zeit einen Undercover-Einsatz vor, um die Ziele und Motivationen der Phönixhand genauer auszukundschaften. Wie wir wissen«, Les Bedell hüstelte, »halten sich die Sektenmitglieder für so etwas wie Übermenschen. Sie alle sind lebensgefährlichen Situationen entkommen und glauben, dass diese Erfahrungen sie stärker macht als gewöhnliche Sterbliche. Menschen mit dieser Einstellung kämpfen buchstäblich bis zur letzten Patrone, um sie sich dann selbst in den Kopf zu jagen.«

Cotton verdrehte die Augen. »Ist das Ihr Ernst?«

»Ja. Diese Nahtoderfahrung, wenn wir es so nennen wollen, ist sogar die Voraussetzung für die Aufnahme in die Gruppe. Und hier kommen Sie ins Spiel. Sie können glaubwürdig über Ihre Erlebnisse am 11. September berichten. Selbst bei einem Polygrafen-Test.«

»Ah!« Plötzlich hatte Cotton einen sauren Geschmack im Mund. Er fühlte, wie sein Magen sich verkrampfte, und dafür war nicht die Erwähnung des Lügendetektors verantwortlich.

»Wenn Sie die Identität des Maulwurfs annehmen, werden wir den Undercover-Einsatz einfach vorziehen. Meinen Sie, das schaffen Sie, Cotton? Natürlich sind Lügendetektoren zur Wahrheitsfindung zu Recht umstritten, aber es gibt einen sekteneigenen Spezialisten für die Auswertung von Polygrafen.«

Das wurde ja immer besser!

»Und Emily?« Cotton schob das ungute Gefühl beiseite.

»Der Auftrag lautet, das Mädchen sicher rauszubringen und Elliot dabei auf den Zahn zu fühlen. Die Prioritäten werden allerdings unterschiedlich bewertet. Weil wir schlecht zwei Agenten hintereinander einschleusen können, wären Sie die beste Chance, die Sekte von innen heraus zu zerschlagen. Vielleicht können Sie Elliot überwältigen, ehe das Pulverfass hochgeht. Wir wissen zwar nicht, ob der Sektengründer den Auftrag für die Entführung gegeben hat. Doch ohne seine Billigung dürfte Emily sich nicht im Bunker aufhalten.«

»Okay«, sagte Cotton. Lügendetektoren waren zu täuschen – vor Gericht nicht einmal überall anerkannt. Sie dienten häufig genug nur der Einschüchterung des Befragten. »Ich bin dabei.«

»Gut, dann wird John Sie über alles Weitere informieren. Wir sprechen uns vor Ort!«

Cotton gab Mr High den Hörer zurück. »Eine Frage«, sagte er dabei. »Wieso hat man mich nicht zu Hause angerufen? Ich hätte schon packen können.«

»Ich wollte dabei sein, wenn Sie sich die Sache durch den Kopf gehen lassen.«

Deswegen hatte sich Cotton also wie unter dem Mikroskop gefühlt.

Mr High sah ihn skeptisch an. »Sind Sie sicher, dass Sie sich darauf einlassen wollen? Sie müssen ohne ausreichende Vorbereitung eine eingeschworene Gemeinschaft infiltrieren. Ich bezweifle keinesfalls ihre Fähigkeiten als Ermittler …«

»Aber?«, fragte Cotton.

»Aber Ihr impulsives Verhalten könnte problematisch werden. Außerdem kennen Sie nicht die ganze Geschichte.«

»Und wie sieht die aus?«

»Die Ärzte haben gestern Abend erst Emilys MRT-Aufnahme ausgewertet. Vermutlich wurde beim Umfall ein Blutgefäß im Gehirn beschädigt. Der Pfropf kann sich jederzeit lösen und eine Gehirnblutung verursachen. Wir haben dem Vater die Information weitergeleitet, aber es kam keine Reaktion. Deswegen müssen wir handeln.«

»Das erfahre ich erst jetzt?«, fragte Cotton fassungslos.

»Ich bat Les Bedell, vorerst darüber zu schwiegen, damit Sie Ihre Entscheidung mit kühlem Kopf treffen können. Der Auftrag wird Ihnen einiges abverlangen. Gerade auch, was Ihre Vergangenheit angeht.«

»Ich habe die World-Trade-Center-Geschichte im Zuge meiner Ausbildung ein halbes Dutzend Mal mit diversen Gehirnklempnern durchgekaut«, erwiderte Cotton. »Wäre ich nicht dienstfähig, hätte ich niemals beim NYPD anfangen können, verdammt!«

Der Blick in das Gesicht seines Vorgesetzten verriet Cotton, dass seine heftige Reaktion die Bedenken von John D. High nicht gerade zerstreut hatte.

»Ich mache mir durchaus Gedanken um das Mädchen, Cotton«, sagte Mr High. »Aber vor allem bin ich in Sorge um Sie.«

New York Police Department, Manhattan

»Ich vermisse unser Landei Cotton an Ihrer Seite«, meinte Detective Joe Brandenburg, nachdem er Decker einen Sitzplatz angeboten hatte. »Wie komme ich zu der Ehre Ihres Besuchs?« Er zog geräuschvoll die Nase hoch. Offenbar fühlte er sich unbehaglich in Deckers Gegenwart und wollte das mit Flapsigkeit überspielen.

Philippa Decker winkte ab. So, wie Brandenburg immer auf der Herkunft ihres Partners herumhackte, konnte man beinahe glauben, er wäre eifersüchtig auf Cottons Karriere. »Cotton hat andere Verpflichtungen. Das G-Team sucht nach dem Aussteiger einer Sekte, der Informationen besitzt, die Cotton bei seinem Auftrag helfen können. Wir hoffen auf die Mithilfe des NYPD.«

Sie hielt Brandenburg einen pixeligen Ausdruck unter die Nase, der einen sportlichen Mann auf einem Fahrrad zeigte. »Justin Burchill«, erklärte sie. »Vermutlich verwendet er aber einen falschen Namen.«

»Sind Sie denn sicher, dass sich der Kerl überhaupt in der Stadt aufhält? Ehe ich die Jungs wegen ihm losschicke und er am Ende längst das süße Leben in Mexiko genießt.«

Brandenburg reichte Decker einen Becher mit Kaffee, der gestaltet war wie ein gelber Bauarbeiterhelm. »Achtung, Teerarbeiten« stand aufgedruckt. Die Warnung gab den Geschmack des Getränks recht gut wieder.

»Wir haben nur spärliche Informationen«, erwiderte Decker. »Burchill ist wohl in New York untergekrochen. Zeerookah hat sein Foto durchlaufen lassen und mit aktuellen Kameradaten verglichen. Dieses Bild stammt von letzter Woche aus der Upper East Side und …«

»Den haben wir in einer Stunde!«, spottete Brandenburg. »Geht es vielleicht ein kleines bisschen genauer?«

Decker blickte verärgert hoch. »Ich war noch nicht fertig. Zeerookah hat das Bild so weit vergrößert wie möglich. Er ist relativ sicher, dass dieses gewürfelte Logo auf der Brust von Mr Burchill zu einem Kurierdienst gehört.«

 »Ich hoffe, Sie tragen bequeme Schuhe«, meinte Brandenburg sarkastisch.

Decker lächelte dünn. »Zeerookah übermittelt Ihnen Burchills Daten. Aufspüren sollen Sie ihn für uns. Die Vernehmung würde ich gern selbst durchführen. Rufen Sie im HQ an, wenn Sie Burchill haben.«

»Immer auf die Zwölf«, meinte Brandenburg. »Jetzt weiß ich, was Cotton an Ihnen findet.«

Detroit Metropolitan Airport

Cotton legte den Rest der Strecke mit einem zivilen Wagen zurück, den Staetlers Leute für ihn am Flughafen abgestellt hatten. Der aufgemotzte Ford Mustang gehörte zu seinem zukünftigen Inkognito. Es war gut, sich so früh wie möglich damit vertraut zu machen. Zusammen mit dem Schlüssel hatte er einen Umschlag erhalten mit Dokumenten seiner falschen Identität auf den Namen Russell Denvers.

Der Mustang raste hart an der Höchstgeschwindigkeit über den Detroit Industrial Freeway. Die untergehende Oktobersonne blinzelte träge über die Wolken hinweg und versilberte die Wellen des Ecorse und des Red Rivers, die den Freeway 94 kreuzten. Es war Cottons erster Ausflug in die inzwischen »Rostgürtel« genannte ehemalige Wiege der Autoindustrie. Kanada lag gleich nebenan. In den schmucken Vororten Detroits lebten hauptsächlich Weiße. Cotton ließ die beschaulichen Wohnstädte hinter sich zurück und erreichte mit Anbruch der Dämmerung die Stadtgrenze. Schon von Weitem erkannte man die Hochhäuser des Zentrums, die auf die Stadt hinabblickten wie versammelte Titanen.

Straßenrand und Grünstreifen waren jetzt von Pappbechern, Fastfoodtüten und Zigarettenkippen gesäumt. Es machte den Eindruck, als hätte der Herbstwind den ganzen Abfall aus den Vororten Richtung Innenstadt geblasen. Als habe Cotton eine magische Grenze überschritten, lief es von diesem Moment an schief. Irgendwas stimmte mit dem Wagen nicht. Die Treibstoffanzeige begann zu flattern, obwohl der Tank kurz zuvor noch halb voll gewesen war. Ehe Cotton noch irgendwo liegen blieb, scherte er beim ersten Tankstellenschild aus.

Cotton ließ den Wagen ausrollen, schob die Schaltung auf Parken und stieg aus. Den Schlüssel ließ er stecken. Eine Wolke von Benzindämpfen und Gummi begrüßte ihn.

Während der Zähler an der Tanksäule schnurrte, dachte Cotton an die nächsten Stunden. Er würde sich in einem Hotel mit Les Bedell und einer Polizistin treffen, Maleika Jones, die sich auf die Phönixhand spezialisiert hatte. Der ursprünglich für den Undercover-Einsatz vorgesehene Mann …

»Hey, haben Sie mal Kleingeld für Kippen?«

Wie ein Schnorrer sah der hochgewachsene Schwarze mit der Sonnenbrille, der Cotton gegenüberstand, nicht gerade aus. Er wedelte mit einer zerknitterten Fünfdollarnote.

Ein Schatten tauchte an der Beifahrertür des Mustangs auf, verborgen durch die getönten Scheiben. Cotton stutzte und spannte sich an. Er ließ den tropfenden Zapfhahn fallen.

Im selben Moment geschahen zwei Dinge zugleich.

Der Mann mit dem Geldschein tauchte unter Cotton durch und versetzte ihm einen Schubs nach hinten.

Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und ein Kerl mit einem »Tigers«-Basecap nahm im Mustang Platz.

Cotton prallte gegen die Zapfsäule und fing sich in letzter Sekunde. Hätte der Angriff ihn unvorbereitet getroffen, wäre er zu Boden gegangen. Der Angreifer wollte durch die offene Tür auf den Fahrersitz springen. Aber Cotton zerrte die Benzinleitung heraus und angelte mit dem zähen Gummischlauch nach den Füßen des Autodiebs.

Vor ihnen röhrte ein Motor auf. Das Auto, in dem die Diebe gekommen waren, schoss davon.

Cotton versetzte dem Mann neben sich einen Ellbogenstoß und brachte ihn zu Fall. Dann wollte er den Zündschlüssel aus dem Schloss ziehen. Doch der Mann mit dem Basecap hielt ihm eine Pistole entgegen. Cotton erstarrte. Im Halbdunkel des Fonds konnte er nicht erkennen, ob die Waffe gesichert war.

»Nicht so schnell, Mann. Die Hände aufs Autodach und nicht bewegen!«

Mit erhobenen Händen richtete Cotton sich langsam auf und gehorchte. »Schon gut«, sagte er kleinlaut. Die Sorge musste er nicht vortäuschen. Seine Kimber Custom lag in der Reisetasche. Ebenso wie die falsche Identität, eine Analyse der Sekte und das Pad mit dem falschen Lebenslauf, den er sich während des Fluges eingeprägt hatte. Die Diebe würden das Gepäck nach Geld filzen. Wenn er sich das Auto klauen ließ, war sein Undercover-Auftrag gestorben – und mit ihm die Chance, Emily rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen.

»Bitte nicht schießen. Hier sind überall Benzindämpfe«, setzte er scheinbar ängstlich hinzu und schob die Daumen unter das Türgummi. Er äugte in den Seitenspiegel. Der gestürzte Mann regte sich nicht.

Im Wagen rutschte der Kerl mit der Baseballmütze auf den Fahrersitz. »Mach schon, Zac«, rief er seinem Kumpel zu. In der Ferne heulte eine Sirene. Er wandte eine Sekunde lang den Kopf zur Seite. Der Arm mit der Waffe schwenkte ebenfalls nach links.

Diese Ablenkung genügte Cotton. Er zog die Beine an und schwang wie ein Olympia-Athlet am Barren seinen Körper, Füße voran, in den Wagen. Die Kappe der Sportschuhe erwischte den Autodieb am Kinn. Der kippte gegen die Beifahrertür und blieb liegen. Die Waffe verschwand hinter den Sitzen.

Cotton beugte sich vor und brachte die Pistole und seine Tasche in Sicherheit. Er durchsuchte den benommenen Dieb nach weiteren Waffen. Dann verschloss er den Wagen, klopfte kurz auch Zac ab, der immer noch ohne Bewusstsein war, und sperrte ihn zu seinem Kollegen in den Mustang.

Der ältere Tankwart stürmte aus dem Kassenhaus wie ein angriffslustiger Dachs aus seinem Bau.

»Ich hab die Polizei gerufen«, rief er. »Die Carjacker werden immer dreister, obwohl wir am Präventionsprogramm teilnehmen!« Er wies auf ein blassgrünes Logo mit Leuchtturm, das in der Scheibe des Kassenhauses klebte. »Verdammte Scheiße, ausgerechnet bei meiner Schicht!«

Cotton pflichtete ihm bei. »Einer ist entkommen!«

»Ich hab sein Kennzeichen aufgeschrieben. Aber bestimmt ist die Karre geklaut und steht schon hinter der nächsten Ecke. Wie haben Sie die Kerle eigentlich erwischt?«,

»Ich schaue Jet-Li-Filme«, sagte Cotton. Dann rief er Les Bedell an, um seine Verspätung zu erklären.

4

Mittwoch, 25. OktoberNew York, Vormittag

Während sich die Autos vor der Ampel stauten, schob sich der Radfahrer rechts an ihnen vorbei, überquerte ein Stück Bürgersteig und bog dann in die Querstraße ein.

Es war der schnellste Weg, eine rote Ampel zu umgehen. Zeit bedeutete für einen Kurier Geld. Man konnte nicht zimperlich sein, wenn man über 50 Meilen am Tag zurücklegte. Es wurde nur haarig, sobald sich die Autofahrer ebenso wenig an die Verkehrsregeln hielten. Die meisten begnügten sich mit Hupen und Unmutsäußerungen. Manchmal endete es auch damit, dass Justin sich über eine Motorhaube abrollte.

Schon dreimal hatten sich in der letzten halben Stunde Polizisten nach ihm umgedreht. Er war beunruhigt. Sobald sie einen Radkurier in den Fingern hatten, hagelte es Geldstrafen. Irgendwas fiel den blauen Knalltüten immer ein. Besser, er ging erst mal auf Tauchstation. In der Werkstatt für Kurierräder lag im Hinterzimmer immer eine Matratze für Notfälle. Der Job war hart, schweißte aber zusammen, und die Gemeinschaft hielt dicht wie ein gut geflickter Fahrradschlauch.

Aber erst musste er die heutige Lieferliste abarbeiten. Dann würde er sich krankmelden, bis ein bisschen Gras über die Sache gewachsen war.

Cyberedge-Gebäude, Mittagszeit

Der Radler hob die Hand, fast wie zu einem Winken. Oder wischte er sich bloß den Schweiß von der Stirn?

»Und weg!«, murmelte Zeerookah, als der Fahrradkurier abermals einbog und aus dem Sichtfeld der Kamera verschwand.

»Ist das in Echtzeit?«, fragte Decker, die hinter dem Computerexperten auf den Monitor schaute.

»Nein. Er taucht auch auf keiner weiteren Aufnahme auf.«

Decker seufzte. Justin Burchill, 23 Jahre, braune Haare, schlüpfte wie ein winziger Fisch durch die Maschen des NYPD-Netzes. Sie kannten inzwischen seinen Arbeitgeber: einen Kurierdienst namens Checkers. Brandenburg hatte sogar die Adresse von Burchills früherer WG in Brooklyn besorgt. Aber die Mitbewohner hatten den Beamten versichert, dass Justin seine alten Kontakte abgebrochen hatte.

»Wir müssen ihn heute Abend oder morgen bei der Arbeit abpassen«, sagte Decker. Am liebsten hätte sie an der Unterlippe geknabbert. Cotton brauchte jeden Fitzel Information, den sie über Elliot auftreiben konnten. Und zwar, ehe er heute in den Bunker einzog. Aber sie hinkten dem Zeitplan hinterher.

Sie ging im Geist die Optionen durch. »Vielleicht kann ich bei einem Auftrag die Ware von einem Kurier meiner Wahl zustellen lassen.«

Zeerookah zuckte die Achseln, als würde er alles online oder per Download erledigen und gar keine Pakete erhalten. Aber von der anderen Seite des Büros antwortete jemand.

»Das kannst du vergessen!« Es war Windermeere, die sich an Cottons verwaistem Arbeitsplatz einen Bagel gönnte und den Tisch vollkrümelte. »Meine Cousine hat das mal gemacht, weil sie einen Vorwand brauchte, um einen Typen kennenzulernen«, fuhr die Maskenbildnerin des G-Teams fort. »Bei Kurierdiensten erhält immer der verfügbare Bote den Job. Meist derjenige, der am nächsten dran ist.«

»Und? War der Typ den Aufwand wert?«, fragte Zeerookah.

Windermeere schüttelte den Kopf. »Das verführerische Päckchen von Victoria’s Secret hat ein anderer Kerl geliefert.«

Zeerookah lachte.

Decker ließ das Geplänkel an sich vorbeirauschen. »Wir könnten den Inhaber von Checkers schon dazu bringen, uns Burchill zu liefern«, meinte sie mehr an sich selbst gerichtet. Es gab immer irgendwelche Bestimmungen, die man in solchen Fällen aus der Tasche ziehen konnte wie einen Freifahrschein. Doch je weniger Menschen sie einweihten, desto besser für die Geheimhaltung. Nicht dass ein Kollege Burchill warnte und der erst recht untertauchte. Decker nickte Windermeere zu. »Ich fühle jetzt mal wegen der Lieferliste vor. Vielleicht habe ich mehr Glück als deine Cousine, und dann schnappen wir Burchill.«

»Hey, ich kann doch …«, begann Zeerookah, doch Decker hatte bereits zum Telefon gegriffen und die Nummer gewählt.

»Checkers Kurierdienst«, meldete sich eine müde Stimme, die ganz nach Doppelschicht klang.

»Christina Waters hier. Ich habe meine Handtasche beim Mittagessen liegen lassen und brauche sie dringend zurück!« Decker nannte die Adresse eines Restaurants nahe der Ecke, an der Burchill zuletzt gesehen wurde.

Decker hörte ein unterdrücktes Seufzen. »Tut mir leid. Wird mindestens eine Stunde dauern.«

»Geht das nicht schneller?«, drängte sie. »Vielleicht können Sie es mit einer anderen Lieferung zusammenlegen. Der Preis wäre egal.«

Zeerookah stellte nebenan gerade einen neuen Rekord im Schnelltippen auf.

»Viel los heute«, erklärte der Mann am Telefon. »Und gerade hat sich einer unserer Leute für morgen krankgemeldet, und wir müssen Aufträge vorziehen.«

Decker schaltete schnell. »War das zufällig ein junger Mann mit braunen Haaren …« Sie beschrieb Burchill.

»Ja, das ist Eric.«

»O Gott! Ich habe vorhin beobachtet, wie dieser Radfahrer mit einem Auto zusammengestoßen ist. Bei der Aufregung habe ich die Tasche aus dem Auge verloren.«

»Davon hat er nichts erzählt«, sagte der Telefonist mit leisem Misstrauen. »Er hat sich nur für morgen abgemeldet!«

»Dann ist wohl nichts Schlimmes passiert. Er hat sich gleich aufgerappelt und ist weitergefahren«, log Decker. »Kommen die Fahrer eigentlich zwischendurch noch mal in der Firma vorbei?«

»Ich wüsste nicht, was das mit Ihrer Tasche zu tun hat, Lady. Tut mir leid, ich habe einen Anruf in der Leitung.«

Klick.

»Ich glaube, er hat den Braten gerochen«, meinte Decker.

»Wer?«, wollte Windermeere wissen.

»Beide. Der Mann am Telefon hat mich abgewimmelt, als ihm die Fragen unangenehm wurden. Und Justin Burchill alias Eric hat sich für morgen freigenommen.«

»Der will türmen!«, meinte Windermeere.

Das Tastengeklapper brach ab, und für einen Moment summte nur noch leise die Klimaanlage.

»Er-le-digt!«, sagte Zeerookah mit abgehackter Roboterstimme.

Beide Frauen fuhren herum. »Was?«

»Christina Waters bekommt ein vergessenes Handy in ungefähr 20 Minuten an die Federal Plaza 20b geliefert.«

»Das ist hier um die Ecke!«, bemerkte Decker.

»Jetzt ja!«, sagte Zeerookah selbstzufrieden wie ein Waschbär, der in die Speisekammer eingebrochen war.

»Nun sag schon!«, meinte Windermeere. »Mach nicht jedes Mal eine große Show daraus.«

»Es gab keine zentrale Auftragserfassung. Die arbeiten da noch in der Steinzeit. Also habe ich im Rechner von Checkers Namen und Telefonnummern der Kuriere besorgt und bin darüber ins Handy unseres Gesuchten. Dort standen vier Namen.«

»Sag nicht, du hast gleich den nächsten …«

Zeerookah sah fast beleidigt aus. »Den obersten hat er noch im Gedächtnis und wird nicht mehr draufschauen. Also habe ich den zweiten Namen geändert.« Er schaute Windermeere an. »Du hast nicht zufällig noch so einen Bagel?«

Der Bunker, Detroit

Es fühlte sich an, als sei Cotton zurück an den sonnigen Septembertag gereist, an dem er seine Zukunft entdeckt und zusammen mit der Vergangenheit beinahe wieder verloren hatte. Die Klarheit der Eindrücke, die sein wacher Geist empfing, beflügelte seine Erinnerungen.

Bei dem Getöse hatte Jeremiah zuerst an eine Bombe gedacht. Es war ja nicht der erste Bombenanschlag auf das World Trade Center. »Ich sagte mir, bestimmt waren Mum und Dad in dem riesigen Hochhaus weit von der Explosion entfernt.« Mit der Entscheidung, nach seiner Familie zu suchen, fiel die lähmende Unsicherheit von Jeremiah ab.

»Immer noch strömten Leute aus den Aufzügen. Es blieb nur das Treppenhaus. Menschen kamen mir dort entgegen. Wie Zombies, die weder nach links noch nach rechts sahen. Ich musste mich nach oben durchkämpfen.«

Jeremiah schaute in jedes Gesicht. Suchte im fahlen Licht der Notbeleuchtung die vertrauten Züge seiner Familie. Fand sie ein halbes Dutzend Mal: Er sah Dads Gestalt, Mums türkises Oberteil und Lauras Haare. Aber es war immer falscher Alarm, und er blinzelte Tränen der Enttäuschung weg.

Je weiter Jeremiah vorstieß, desto schlimmer wurde es. Das Gebäude brannte. Aus dem Rauch im 56. Stockwerk taumelten Gestalten mit aschebedeckten Körpern. Sie schützten sich mit Aktendeckeln oder Kleidungsstücken vor den treibenden Rußflocken.

Nun spürte er auch die Hitze auf der Haut wie den Atem eines Drachen.

Die Menschen gelangten viel schneller nach unten, als er an ihnen vorbei hinauf. Der Strom der Flüchtlinge dünnte merklich aus. Jeremiah kam jetzt schneller voran, aber nicht leichter. Die heiße Luft atmete sich wie flüssiges Feuer. Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Gegen jede Vernunft trieb er sich selbst noch eine Etage höher, zog sich Stufe für Stufe am Geländer hoch. Schwaden übel riechenden Rauchs quollen ihm entgegen. Verschmortes Plastik, verkohlte Türen, angesengte Haare und das Entsetzlichste von allem: verbranntes Fleisch. Es war ein Aufstieg ins Inferno.

Jeremiah stützte sich keuchend am Treppengeländer ab, wandte sich noch einmal nach oben. Ein Höllenwind schlug ihm entgegen, und er merkte, dass er ganz allein auf der 61. Etage war.

Nein, nicht ganz allein.

Cotton schloss die brennenden Augen. Es fühlte sich an, als wäre alles gestern geschehen.

»Da war dieses Rufen. Immer wieder, ganz leise. Eine Frau steckte im Fahrstuhl fest, der sich auf halber Höhe zwischen zwei Stockwerken verklemmt hatte. Die Tür stand ein Stück auf, aber das nutzte nichts. Die Frau, Sarah, saß im Rollstuhl.«

Die Tür blockierte. Erst als Jeremiah sich mit seinem ganzen Gewicht und der gesammelten Wut des Tages dagegenstemmte, konnte er sie weit genug aufschieben.

»Reichen Sie mir Ihren Arm!«, rief er und quetschte sich hindurch. Sarah streckte ihm die Rechte entgegen, aber ein halbes Yard fehlte. Um zu helfen, musste Jeremiah selbst hinunter. Genau das tat er.

»Warum haben Sie das riskiert?«, fragte Jed.

»Was?« Benommen kehrte Cotton in die Gegenwart zurück. Die Erinnerungen erschienen ihm realer als der kalte Backsteinraum.

»Warum haben Sie Ihr Leben für eine Fremde riskiert?«

»Es war nur ein halbes Yard. Wie kannst du jemanden sterben lassen, weil dein verdammter Arm zu kurz ist?« Cotton schluckte. Ohne auf eine Antwort zu warten, kehrte er zu den Ereignissen des 11. Septembers zurück.

Jeremiah ließ sich in den Aufzug hinab, setzte den Fuß ganz sachte auf. Die Stahlseile sirrten unter der Anspannung, und der ganze Schacht vibrierte. Immer wieder sackte die Kabine Millimeter nach unten. Das Notlicht flackerte.

»Kommen Sie«, krächzte er.

Sarah stemmte sich hoch, und er fasste sie unter den Achseln, hievte sie zur Tür und benutzte den umgekippten Rollstuhl als Rampe. In den Wänden knirschte es, als würden sich Ratten durch die Bausubstanz fressen. Der Spalt der halb offenen Fahrstuhltür bildete ein schmales Auge der Hoffnung. Die Stahlseile über ihnen klirrten wie gigantische E-Gitarrenseiten oder die Lichtschwerter bei Star Wars.

»Schnell!«, drängte Jeremiah und stemmte Sarah noch ein wenig höher. Mit ihren trainierten Armen klammerte sie sich an die metallene Fußleiste. Sie hing dort, während Jeremiah nachfasste und sie weiterschob. Schließlich konnte sie sich aus eigener Kraft in den Flur ziehen.

Jeremiah drückte sie von der Tür weg und kletterte dann selbst hindurch.

Keinen Augenblick zu früh. Der Fahrstuhl kam runter. Sekundenlang schien es, als würde das Gebäude über ihnen zusammenstürzen. Aber außer einer Staubwolke, die aus dem Schacht ins Treppenhaus stob, blieb alles unverändert.

Sie tauschten einen Blick voller Entsetzen.

»Seid ihr in Ordnung, Leute?«

Ein kleiner Mann schob sich von der anderen Seite aus der Staublawine. Tücher baumelten an seinem Arbeitsgürtel. Grau bepuderte Haare ringelten sich an seinen Schläfen wie eine Richterperücke, fehlten dafür auf dem Schädel ganz. Sein Name stand eingestickt auf dem Overall: Theo.

»Sie kann nicht laufen«, erklärte Jeremiah. Er schmeckte Blut. Irgendwann hatte er sich auf die Lippe gebissen.

Theo kniete sich hin, lud einen Arm der Gelähmten auf seine Schulter. Dann trugen er und Jeremiah sie die vielen Stockwerke nach unten. Nach sechs Treppen fühlte es sich an, als wäre Jeremiahs Arm aus dem Schultergelenk gerissen. Nach der zehnten Treppe schien sein Rücken Feuer zu fangen. Ein Krampf schoss ihm bis in den Nacken hoch.

Unterwegs begegneten ihnen Feuerwehrleute auf dem Weg zur Brandstelle. Trotz der Schutzkleidung und ihrer Atemgeräte hörte Jeremiah, wie sie von weiteren Überlebenden in den oberen Etagen redeten. Menschen hatten per Handy um Hilfe gerufen und von einem Flugzeug berichtet, das in den Turm geflogen war. Was für ein Wahnsinn!

Obwohl Sarah ihn in der Lobby nicht loslassen wollte, löste Jeremiah ihren Griff mit der freien Hand und überließ sie den Sanitätern. Er schloss sich Theo auf dem Weg nach oben an. Es gab zu tun.

*

Cotton rief sich den Moment in Erinnerung, als ihm klar wurde, dass unten niemand aus seiner Familie auf ihn wartete. Seine Kiefer mahlten.

Das Brummen und Klicken des Computers war überlaut.

»Russell?«, fragte Jed neben ihm. »Kommen Sie zur Sache.«

»Zu welcher Sache?«, schnappte Cotton. Herrgott, er saß hier und hatte überlebt. Genügte das nicht? Seine Augen schmerzten im grellen Licht.

»Diese Narben, die sind teilweise alt«, merkte Jed an. »Erzählen Sie, woher die wirklich stammen.«

Cotton rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. Er ballte die Fäuste. Am liebsten wäre er jetzt aufgesprungen und hätte den verfluchten Lügendetektor zu Klump gehauen. Mit übermenschlicher Anstrengung zwang er seine Gedanken zurück in die Vergangenheit.

»Es ist unterwegs passiert«, sagte Cotton widerwillig. »Es fühlte sich an, als würde der Boden wegbrechen. Aber es war die Decke, die runterkam …«

Das Rumpeln fuhr auf Jeremiah nieder wie eine Riesenfaust. Für einen Moment blitzte noch einmal Theos Gesicht auf, dann verschwand er wie weggewischt.

Jeremiah kauerte sich instinktiv zusammen, riss die Arme hoch und rutschte in eine lichtlose Realität.

Als er wieder aufwachte, lag er schräg auf der Seite. Es war stockfinster. Er spürte, wo die Schwerkraft an seinem eingeklemmten Körper zog, dass es ein Unten und ein Oben gab. Doch er war gefangen zwischen Betonplatten und Stahlträgern. Eine Kante bohrte sich schmerzhaft in seinen Rücken. Sein Kopf hatte auch etwas abbekommen, aber nicht so viel, dass er seine Situation nicht durchschaute.

Er war verschüttet! Lebendig begraben, wie der Mann in der Horrorgeschichte von Edgar Allan Poe.

Am schlimmsten aber hatte es seine Beine erwischt. Bei jeder winzigen Drehung rieben die Bruchstellen der Knochen gegeneinander.

»Theo!«, rief er, doch Staub und Steine schluckten seine Worte. »Hilfe!« Jeremiah hustete. Seine Nase war verklebt, und jeder Atemzug provozierte ein neues Husten. Die kleinste Erschütterung verwandelte das Fleisch, das früher seine Beine gewesen war, in glühende Schrauben, die sich bis in sein Hirn bohrten.

Bald wurde das Keuchen zu einem Schluchzen und versiegte dann. Kurz darauf hatte Jeremiah seine zerschnittene linke Hand weit genug befreit, um das T-Shirt hochzuschieben. Er fasste den Stoff mit den Zähnen, zerrte mühevoll den Kragen über Kinn und Mund. Seine hektischen Atemzüge wurden bald ruhiger, als der Stoff die Luft filterte. Er tastete umher, um eine Vorstellung seiner Gruft zu gewinnen. Ein Teil der Treppe hatte sich wie ein Dach über ihn geschoben. Ringsum waren die Bruchstücke verdichtet wie kompakter Fels. Aussichtslos.

Mit aller Kraft wünschte Jeremiah den Schlaf herbei, hieß eine Ohnmacht willkommen. Ein Ende der Schmerzen, der Angst und der Schuld. Befreiung. Doch so elend er sich auch fühlte, er glitt immer nur für kostbare Momente in die Bewusstlosigkeit. Irgendwann wich die Pein in der unteren Körperhälfte einem dumpfen Gefühl, als würden seine Beine von innen heraus aufplatzen. Der Druck verstärkte sich, trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. Seine Lippen sprangen auf, und er bekam Schüttelfrost. Er hätte seinen linken Arm für einen Schluck Wasser gegeben.

Jederzeit konnte das Treppenfragment abstürzen und ihn zerquetschen wie eine Ameise. Nur ein Gedanke hielt Jeremiah aufrecht: Wenn seine Familie es nicht geschafft hatte, war er bald mit ihnen vereint. Und falls sie noch lebten, würde Dad erfahren, dass er Sarah gerettet hatte. Er war ein Held.

Es war so still. Das Licht stach Cotton in die Augen und schien geradewegs in seinen Kopf zu dringen. Jed hatte in Verhörmanier eine Lampe vom Computertisch auf ihn gerichtet. »Sie lügen!«, höhnte er. »Niemand überlebt so etwas.«

Cotton starrte auf Jeds Silhouette. Ein Laut quälte sich die Kehle hinauf, rollte wie ein Gewölle aus Schuld, Scham, Wut und Irrsinn über seine Zunge. Cotton lachte humorlos. »Lügen? Ich wünschte, es wäre so. Glaubt ihr beiden Clowns etwa, ich sitze hier zu meinem Vergnügen?«

Hinter ihm ging die Tür, und Cotton hörte leise Schritte.

»Kein Grund, unhöflich zu werden, Mister!«, beschwerte sich Franklin.

Da war es wieder, das »Miiister«. Es zerrte an Cottons Selbstbeherrschung wie eine Stahltrosse. Er schnaubte. »Ich glaube, ich bin hier fehl am Platze.«

»Du hast es gleich geschafft«, sagte jemand wohlwollend. Seine Stimme schmeichelte sich in den Gehörgang, wickelte jedes Misstrauen ein wie eine weiche Decke.

»Wer sind Sie?«, fragte Cotton.

»Carter«, antwortete der Mann. »Das Todesbekenntnis ist für jeden eine Überwindung. Lass uns teilhaben.«

Cotton konnte fühlen, wie sein Herz schneller schlug. Fast da! Eine Welle der Euphorie trug ihn zum letzten Kapitel seiner Gefangenschaft in den Trümmern.

New York Police Department, 13 Uhr

Eric, alias Justin Burchill, wirkte verängstigt, als Decker und ein Polizist ihn an der von Zeerookah in sein Handy gepflanzten Adresse abgeholt und zum Revier gefahren hatten. Er verlegte sich auf Trotz, bis Decker ihm schließlich versprach, dass sich jemand um den sicheren Transport seines geliebten Kurierrads kümmerte.

Nun saß Decker dem jungen Mann in einem trostlosen Vernehmungsraum gegenüber.

»Von der Polizei sind Sie aber nicht«, stellte Burchill mit erstaunlichem Scharfblick fest. »Und was ist mit meinem Anruf?«

»FBI. Wir haben nur einige Fragen an Sie, Mr Burchill«, meinte Decker so freundlich, wie es in der Umgebung möglich war, ohne ironisch zu wirken. »Sie brauchen keinen Anwalt.«

»Ich hab ja auch nichts angestellt!«, wiederholte er bockig und hielt sich an seiner Coke-Flasche fest. »Aber wenn ich das Telefon nicht bald ausliefere, bin ich meinen Job los.«

»Ist bereits erledigt. Ich möchte alles über Ihre Zeit bei Carter Elliot wissen. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, muss Ihr Chef bei Checkers auch nichts von Ihren Drogenproblemen erfahren.«

Burchill wurde blass unter seiner gebräunten Haut. »Ich bin clean. Das damals war ein riesiger Fehler.«

»Sprechen Sie von den Drogen oder der Sekte?«