Dankbarkeit - das Herz des Gebets - David Steindl-Rast - E-Book

Dankbarkeit - das Herz des Gebets E-Book

David Steindl-Rast

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Beschreibung

Wie würde die Welt aussehen, wenn wir dankbarer wären? Für Bruder David ist Dankbarkeit keine moralische Pflichtübung, sondern eine Haltung gegenüber dem Leben und Gott. In diesem Buch beschreibt er den spirituellen Weg der Dankbarkeit. Er zeigt, wie ein von Dankbarkeit erfülltes Leben zum innersten Selbst und zu Gott führt, und lädt dazu ein, Gottes Liebe mit Herz und Sinn, voll Staunen und vor allem mit Dankbarkeit zu erfahren.

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David Steindl-Rast

Dankbarkeit – das Herz allen Betens

David Steindl-Rast

Dankbarkeit Das Herz allen Betens

Mit einem Geleitwort von Fernand Braun

Titel der Originalausgabe:

Gratefulness. The Heart of Prayer

bei Paulist Press, Ramsey, New Jersey.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien im Dianus Trikont Verlag,

München 1985 und als Goldmann Taschenbuch

Neuausgabe 2018

Bisheriger Titel: Fülle und Nichts. Von innen her zum Leben erwachen.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1999

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © pawel.gaul / iStock

E-Book-Konvertierung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-03111-3

ISBN E-Book 978-3-451-81429-7

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Lebendigsein und Wachsein

Staunen und Dankbarkeit

Herz und Sinn

Gebet und Gebete

Kontemplation und Muße

Glaube: Vertrauen auf den Geber

Hoffnung: Offenheit für Überraschung

Liebe: Ein »Ja« zur Zugehörigkeit

Fülle und Leere

Geleitwort

»Jeder spirituelle Weg führt in den Alltag!« Dieser Grundgedanke jeder gelebten spirituellen Praxis durchzieht wie ein roter Faden das uns vorliegende Buch von David Steindl-Rast. Er gebraucht naturnahe Bilder, greift zurück auf eigene Erfahrungen aus seinem überreichen Leben und schöpft immer wieder aus dem Schatz sprachgewaltiger Lyriker, Dichter und zeitgenössischer Mystiker.

Das Buch liest sich wie eine fundierte Anleitung zur Kontemplation als Innenschau und zur kontemplativen Praxis als »contemplatio in actio« – Kontemplation im Handeln. Kontemplation steht für eine ursprüngliche und universelle menschliche Wirklichkeit, bringt, richtig verstanden, »oben« und »unten«, Einsicht und Handeln zusammen! Kontemplation setzt die Innenschau in die konkrete, ordnende Tat um. Beide Aspekte jeder kontemplativen Praxis sollen sich im Alltag bewähren und bewahrheiten. Kontemplation ist der Inbegriff des Gebets aus der Tiefe und Weite des Herzens, die den Menschen in seiner Totalität und Ganzheit meint!

Ein Schlüsselbegriff für David Steindl-Rast ist »Dankbarkeit«. Sie steht am Anfang und am Ende eines jeden erfüllten menschlichen Lebens, welches als ein von Gott Gegebenes erkannt und anerkannt wird. An diesen Grundgedanken kann sich der Leser orientieren: Zielstrebig wird er dorthin geführt, wo der kontemplative Weg beginnt und endet – im Augenblick! Jeder Augenblick wie alles Leben ist ein »grundloses Geschenk« und als solches reine Gnade: Im staunenden Erkennen, dass alles Leben gegeben ist, liegt der Beginn von Dankbarkeit: Jeder Augenblick ist »gratis«, unerschöpflich und überfließend! Sowohl das Staunen als auch die Dankbarkeit und das damit einhergehende Erwachen zu dieser Wirklichkeit vertiefen sich angesichts dieser nichtfassbaren Fülle! Es ist geradezu überfließend – »überflüssig« wie alles Wahre, Gute und Schöne in dieser Welt und deswegen unbezahlbar.

Ein weiterer Aspekt kontemplativer Praxis wird in diesem Buch erkennbar: Der Leser wird schrittweise vom krampfhaften Festhalten und Besitzenwollen zur Praxis des Loslassens und zum Glück der Gelassenheit geführt, ausnahmslos jeden Augenblick mit offenen Händen und weitem Herzen zu empfangen hin zur Freude einer neuen Freiheit und den gegebenen und gelebten Augenblick als kostbares Geschenk mit allen in tiefer Dankbarkeit zu teilen. Dankbarkeit ist die rückhaltlose Antwort auf alles Gegebene! Es wird deutlich: Jede ernst gemeinte kontemplative Praxis ist nichts Halbherziges. Es fordert den ganzen Mensch – sein »Herz«.

Alles beginnt mit der Sehnsucht! (Nelly Sachs)

Die kontemplative Praxis entspricht der tiefsten Sehnsucht eines jeden Menschen, die mehr oder weniger bewusst wahrnehmbar, aber immer gegenwärtig ist. Diese Sehnsucht gründet darin, jede innere wie äußere Entfremdung zu überwinden und jene ursprüngliche umfassende Einheit mit allem in uns wiederzuentdecken und zu verwirklichen. »Im Herzen sind wir eins mit uns, mit allen Menschen, mit der uns gegebenen Welt – ja, mit dem göttlichen Geber selbst!«

Das Herz ist jener Bereich, in dem »Alleinsein und Beisammensein« zusammentreffen und jede Trennung, welche die Mystik als »Illusion« entlarvt, überwunden wird. Jede »Sünde« als »Absonderung« findet ihre »Erlösung« in der Verwirklichung jener allumfassenden Ganzheit. Das Erkennen der Zusammengehörigkeit aller Dinge und die Verwirklichung im konkreten Leben ist das Anliegen der Kontemplation und des Gebetes.

Das Herz ist unser verlässlichste Ausgangspunkt, die Dinge zu »bemessen«, Hoch und Niedrig zu unterscheiden und eine allgemeine Ordnung zu erkennen und anzuerkennen. Darauf fußt die kontemplative Praxis. Das Herz »sieht« und »an-erkennt«: Alles ist ein Geschenk!

Sammlung oder Leben aus vollem Herzen macht aus unseren Gebeten wirkliches Gebet. »Unsre Gebete müssen Gebete werden«, schreibt David Steindl-Rast. Wirkliches Gebet kommt aus der Tiefe des Herzens, aus jenem Bereich des Seins, wo der Mensch mit allem eins ist. Es ist dankbarer Ausdruck meiner tiefen Verbundenheit mit dem LEBEN schlechthin und meiner unverkennbaren Einzigartigkeit mitten im Leben. LEBEN könnte als Synonym für das Göttliche stehen. Es ist ein Name Gottes.

Gebet ist Ausdruck dankbaren Lebens aus dem Herzen!

Glaube, Hoffnung und Liebe sind drei Grundaspekte eines Lebens aus dem Herzen, gekennzeichnet durch tiefe Dankbarkeit. Sie sind Grundhaltungen kontemplativer Praxis.

Glaube bedeutet nicht, bestimmte Überzeugungen zu sammeln, welche uns die Tradition überliefert, und an ihnen festzuhalten, sondern reines Vertrauen und Mut, mich dem Leben als dem göttlich Gegebenen anzuvertrauen. Ein solches Leben ist »unberechenbar«, voller Überraschungen! Es ist das Vertrauen, dass ich in jedem Augenblick erhalte, was ich brauche – mehr noch: Ausnahmslos in jedem Augenblick schenkt sich mir das Göttliche als das »Wort«, das mich anspricht und herausruft in jene Freiheit, die der Mensch als tiefste Sehnsucht im Herzen wahrnimmt. Es ist der Mut, das alles aufzunehmen, meine »egozentrische Welt« voller Vorstellungen und Meinungen – und damit verbunden die unzähligen Vorurteile, Erwartungen und Befürchtungen – zurückzulassen und mich wiederzufinden im ursprünglichen Alleins-Sein mit mir, der Welt und dem Göttlichen selbst. Das ist Mystik und kontemplative Praxis in ihrer Essenz!

Eine weitere Grundhaltung kontemplativer Praxis ist die Hoffnung. Hoffnung als erwartungsvolle, verlangende Haltung wird auch als »Leidenschaft für das Mögliche« (William Solange Coffin) bezeichnet – mehr noch: das Mögliche im Unmöglichen zu erkennen! Es ist die bedingungslose – also unter allen Bedingungen geltende – Offenheit für Überraschung, für die Unberechenbarkeit göttlichen Lebens! Die Praxis der Kontemplation lässt die Illusion von Sicherheit zerbrechen. Es führt uns das Wagnis des glaubenden Vertrauens dies nochmals eindrücklich vor Augen, und gerade hier erweist es sich als Segen: nicht im Gefundenen steckenzubleiben. Was zählt, ist das Gefundenwerden!

Ein weiterer Aspekt lebendiger Wirklichkeit und kontemplativer Praxis ist das »überschwängliche Ja« zur untrennbaren und allumfassenden Zugehörigkeit. Dieses »Ja« umfasst liebend das ganze Leben, das sich in jedem Augenblick dem Menschen anbietet. Liebe bedeutet, aus ganzem Herzen »Ja« zu sagen und entsprechend zu handeln. Das »Ja« anerkennt gleichzeitig die Erfahrung gegenseitiger »Abhängigkeit«, auf die der Mensch in aller Freiheit und Offenheit einwilligt. Als der Gebende bin ich gleichzeitig Nehmender – und umgekehrt! Ist denn der Gebende nicht gleichsam der der Dankbarkeit »Verpflichtete«, weil der Nehmende die Gabe des Gebenden durch sein Nehmen würdigt? Erfährt der Gebende sich nicht selbst dadurch zutiefst als Angenommener? Im Geben und Nehmen »gehören« wir uns gegenseitig. Dies gilt nicht nur unter Menschen, sondern umso mehr für Gott und Mensch – zu jeder Zeit, an jedem Ort!

Dieses Ja zur Zugehörigkeit, die willige Antwort ist vor allem eine dankbare! Diese liebende Haltung entspringt einem tiefen inneren Zuhören (auch dies ist ein Aspekt wahrhaften Gebets), einer vollkommenen Offenheit für alles, was der geschenkte Augenblick enthält. Und gleichzeitig entspringt es der Sorge für das Wohl alles Lebendigen, weil wir uns ihm zugehörig fühlen! Diese Liebe ist der Inbegriff der »Kontemplation in Aktion«! Diese Liebe will und kann sich nicht zurückhalten. Es ist die Erkenntnis, dass jedes und alles teil hat am Weg des anderen und dass das Glück eines jeden einzelnen unauflöslich mit dem Glück des andern zusammenhängt. Es bedeutet, das kontemplativ-mystisch Geschaute« in die Tat umzusetzen – und umgekehrt: Wirkliche, echte Schau gründet ihrerseits im kontemplativen Handeln. Es bedeutet »Kontemplation IM Handeln«! Die Liebe ist die Macht, die den Menschen verwandelt und mit ihm die Welt.

Ausgangspunkt und Ziel ist Gott. Das Göttliche ist das stets »gegenwärtige Ende« (T. S. Eliot) und geht sozusagen dem Anfang voraus. Dieses Buch appelliert an die eigene Erfahrung des Herzens: Lasse nicht nach in Deinem Erforschen.

Am Ende stehst Du da, wo Du begonnen hast,

wo Du immer schon warst und wie zum ersten Mal erkennst -

der Augenblick, so erfrischend neu!

Gott ist ein Gott der Gegenwärtigkeit!

(Meister Eckehart)

ER lebt im Jetzt, im Augenblick, der nie vergeht und ewig ist!

Benediktushof im Juli 2018

Fernand Braun

Vorwort

Das Rauschen im Gehäuse einer großen Meeresschnecke faszinierte mich als Kind. Meine Urgroßmutter war fast taub; sie konnte es wohl kaum hören. Auf ihrem Spiegeltischchen aber lag rosabäuchig und stumpfgehörnt dieses zum Schnörkel gewundene Ding wie ein umgestülptes, sonderbares Porzellangefäß. Es war beinahe so groß wie mein Kopf, und wenn ich es vorsichtig aufhob und den bräunlich glänzenden, zart gezahnten, glatten Schlitz an mein Ohr presste, dann konnte ich etwas hören wie Wind. Das war das ferne Rauschen des Meeres, aus dem diese Muschel stammte, hatte man mir erzählt. Ich hatte es zumindest so verstanden, und dieses auf- und abschwellende Dröhnen tönte auch wirklich wie die Meeresbrandung, an die ich mich vom Sommer in Dalmatien erinnern konnte.

Was ich mir wünsche für dieses Buch, sind Leser, die es in Stunden stillen Besinnens ans Ohr ihres Herzens halten, wie Kinder, die voll Staunen auf das Meer in der Muschel lauschen. Schon diese Art zu lesen kann, ganz unabhängig vom Verdienst des Buches, jenes krampfhafte sich Abmühen, an dem so viele von uns heute leiden, lindern, lockern, und den Krampf entspannen. Was in diesem Buch steht, will der inneren Lösung dienen, will Schritt für Schritt zum Glück des Loslassens hinführen, weg von der Besessenheit des Besitzenwollens, hin zur Freude, mit offenen Händen einfach da zu sein in einer ganz neuen Freiheit. Eine Bewusstseinsänderung in diesem Sinne ist zur Notwendigkeit geworden und scheint sich heute überall in der Welt auszubreiten. Vielleicht erklärt das auch, warum die Leserschaft dieses Buches seit seinem ersten Erscheinen Jahr für Jahr anwächst. Mehr und mehr Menschen sehnen sich nach einer neuen Art, die Dinge zu betrachten. Wenn sie den Weg des Staunens finden, dann wendet sich die Not; ungeahnte Welten öffnen sich.

Mit Staunen hält das Kind die Muschel ans Ohr; mit Staunen lauscht es. Das Erstaunlichste an diesem Rauschen aber habe ich erst viele Jahre später erfahren: Nicht nur, dass es vom Meer kommt, ist Irrtum, sondern auch, dass es aus der Muschel stammt. Das fern rollende Wogen, das wir da hören, ist der Widerhall pulsierenden Blutes im eigenen Ohr; das hohle Muschelinnere wirkt nur als Schallverstärker. Mystische Erfahrung von Ost und West klingt an, wenn da die Leere laut wird und sich als unsere innere Fülle erweist. – Wie eine Muschel für Kinderohren halte ich also diese Neuausgabe von »Fülle und Nichts« meinen Lesern hin, damit sie darin nicht meine, sondern ihre eigenen Abenteuer finden mögen auf dem Weg des Staunens.

Bruder David Steindl-Rast, O.S.B.

Mount Saviour Monastery, 13. Januar 1999

Lebendigsein und Wachsein

Dieses Buch handelt vom Leben in Fülle. Es geht um das Lebendigwerden. Ich könnte es in zwei Worten zusammenfassen: Wache auf!

Ein Dichter wie Kabir vermag diese zwei Worte mit einer Frische auszudrücken, die aufmerken lässt. Kabirs Gedichte sind machtvoll. Sie erwecken uns zu einer Lebendigkeit, die wir nie für möglich hielten.

Hast du einen Körper? Dann sitz nicht auf der Veranda!

Geh hinaus in den Regen!

Wenn du verliebt bist,

warum schläfst du dann?

Wach auf, wach auf!

Du hast Abermillionen Jahre lang geschlafen.

Warum nicht aufwachen heut’ morgen?

Auf meine Art versuche ich das Gleiche zu übermitteln. Und die Leute hungern danach. Überall auf der Welt wurde ich eingeladen, darüber zu sprechen. Und immer fragen die Leute: »Warum schreibst du nicht darüber?« Genau das habe ich hier getan.

Wozu also eine Einführung? Einige wenige Leser werden sie überfliegen. Der Rest wird sie ganz überspringen. Letztere werden dies also ohnehin nicht lesen. Und für die Überflieger habe ich einen Vorschlag. Am Ende dieses Buches findet sich eine alphabetische Liste von Schlüsselwörtern. Vielleicht möchtet ihr einen Blick darauf werfen. Wenn ich nicht völlig versagt habe, zeigt sie zwei Dinge:

1. Aufwachen ist ein fortlaufender Prozess. Niemand wacht ein für alle Mal auf. Wachsein kennt ebenso wenig eine Grenze, wie es für Lebendigkeit eine Grenze gibt.

2. Es ist riskant, ein waches Leben zu führen. Dafür braucht man Mut.

Wir haben die Wahl zwischen Risiko und Risiko. Dem Risiko, dass wir ein Leben lang schlafen, niemals aufwachen. Oder aber wir wenden uns wachsam dem Risiko des Lebens zu, stellen uns der Herausforderung des Lebens, der Liebe.

Wenn du verliebt bist,

warum schläfst du dann?

Männer und Frauen, die den Mut haben, sich dieser Frage zu stellen, finden dieses Buch vielleicht hilfreich. Für andere wäre das Lesen Zeitverschwendung. Kabir sagte das so:

Wenn du ohnehin gleich in einen tiefen Schlaf fällst, warum dann Zeit damit verschwenden, das Bett zu richten und die Kissen aufzuschütteln?

Staunen und Dankbarkeit

Ein Regenbogen ist immer eine Überraschung. Das soll nicht heißen, dass man ihn nicht voraussagen könnte. Manchmal bedeutet überraschend unvorhersagbar, häufig aber bedeutet es mehr. Überraschend im umfassenden Sinn bedeutet irgendwie grundlos, geschenkt, gratis. Selbst das Vorhersagbare wird zur Überraschung, wenn wir aufhören, es für selbstverständlich zu halten. Wüssten wir genug, dann wäre alles vorhersagbar, und doch bliebe alles grundlos. Wüssten wir, wie das gesamte Universum funktioniert, dann wäre es immer noch überraschend, dass es das Universum überhaupt gibt. Mag es auch vorhersagbar sein, so ist es doch umso überraschender.

Unsere Augen öffnen sich diesem Überraschungscharakter unserer Welt im gleichen Moment, da wir aufwachen und aufhören, alles als selbstverständlich zu erachten. Regenbogen haben etwas an sich, das uns aufwachen lässt. Es kommt vor, dass ein uns völlig Unbekannter uns am Ärmel zieht und zum Himmel zeigt: »Haben Sie den Regenbogen bemerkt?« Gelangweilte und langweilige Erwachsene werden zu erregten Kindern. Vielleicht verstehen wir nicht einmal, was uns da aufscheuchte, als wir jenen Regenbogen sahen. Was war es? Es war das Geschenkhafte, das da in uns hereinplatzte, die Unentgeltlichkeit aller Dinge. Wenn so etwas geschieht, dann ist unsere spontane Reaktion Überraschung. Plato erkannte jene Überraschung als den Anfang aller Philosophie. Sie ist auch der Beginn von Dankbarkeit.

Eine kurze Begegnung mit dem Tod kann jene Überraschung auslösen. In meinem Leben kam das sehr früh zustande. Da ich im von den Nazis besetzten Österreich aufwuchs, gehörten Luftangriffe zu meiner täglichen Erfahrung. Und ein Luftangriff kann einem die Augen öffnen. Ich erinnere mich an einen Tag, als die Bomben zu fallen begannen, unmittelbar nachdem die Warnsirenen abgeschaltet waren. Ich befand mich auf der Straße. Da es mir nicht gelang, schnell genug einen Luftschutzbunker zu erreichen, rannte ich an eine nur ein paar Schritte entfernte Kirche. Um mich vor Glassplittern und Trümmern zu schützen, kroch ich unter eine Kirchenbank und verbarg mein Gesicht in den Händen. Als aber die Bomben draußen explodierten und der Boden unter mir erzitterte, da war ich sicher, dass das gewölbte Dach jeden Moment einstürzen und mich lebendig begraben würde. Nun, meine Zeit war noch nicht gekommen. Ein gleichbleibender Ton der Sirene verkündete, dass die Gefahr vorüber sei. Und da stand ich nun, reckte mich, klopfte den Staub aus meiner Kleidung und trat heraus in einen herrlichen Maimorgen. Ich lebte. Welch eine Überraschung! Die Gebäude, die ich vor weniger als einer Stunde noch gesehen hatte, waren jetzt rauchende Schuttberge. Was mich aber auf überwältigende Art und Weise überraschte, war, dass es dort überhaupt noch irgendetwas gab. Meine Augen fielen auf wenige Quadratmeter Rasen inmitten all dieser Zerstörung. Es war als hätte mir ein Freund auf seiner Handfläche einen Smaragd angeboten. Niemals, weder vorher noch hinterher, habe ich Gras so überraschend grün gesehen.

Überraschung ist nicht mehr als der Anfang jener Fülle, die wir Dankbarkeit nennen. Aber es ist ein Anfang. Bereitet uns die Vorstellung Schwierigkeiten, dass Dankbarkeit jemals unsere Grundhaltung zum Leben sein könnte? In Momenten der Überraschung können wir wenigstens einen kurzen Blick auf die Freude werfen, zu der uns Dankbarkeit die Tür öffnet. Mehr noch – in Augenblicken der Überraschung haben wir bereits einen Fuß in der Tür. Es gibt Menschen, die behaupten, Dankbarkeit nicht zu kennen. Aber gibt es irgendjemand, der niemals Überraschung gekannt hat? Überrascht uns der Frühling nicht jedes Jahr aufs neue? Oder jene weite Öffnung der Bucht, wenn wir auf der Straße um die Kurve biegen, wird sie uns nicht jedes Mal wieder zur Überraschung, wenn wir jenen Weg nehmen?

Dinge und Ereignisse, die Überraschung auslösen, sind bloße Katalysatoren. Ich habe deswegen mit Regenbogen begonnen, weil sie bei den meisten von uns etwas bewirken, aber es gibt persönlichere Auslöser. Wir müssen alle unseren eigenen finden, jeder von uns. Ganz gleich wie häufig jenes Rotkehlchen im Winter auf der Suche nach Körnerfutter auf dem Stein auftaucht, es ist eine Überraschung. Ich erwarte es. Ich habe selbst seine bevorzugten Fütterungszeiten herausgefunden. Lange bevor ich es sehen kann, höre ich es schon zirpen. Aber wenn jener rote Strahl auf den Stein herabschießt wie der Blitz auf Elias Altar, dann weiß ich, was E. E. Cummings meint: »Die Augen meiner Augen sind geöffnet.«

Wenn wir erst einmal in dieser Weise aufwachten, dann können wir uns bemühen, wach zu bleiben. Und dann können wir es uns gestatten, langsam wacher und wacher zu werden. Aufwachen ist ein Prozess. Es ist morgens ein recht unterschiedlicher Prozess für verschiedene Menschen. Einige von uns wachen ruckartig auf und sind den Rest des Tages hellwach. Sie sind gut dran. Andere müssen es Stück für Stück tun, eine Tasse Kaffee nach der anderen. Was zählt, ist, dass wir nicht wieder zurück ins Bett steigen. Was auf unserem Weg zur Erfüllung zählt, ist die Erinnerung an die große Wahrheit, die uns Momente der Überraschung lehren wollen: alles ist unentgeltlich, alles ein Geschenk. Der Grad, in dem wir zu dieser Wahrheit aufgewacht sind, ist das Maß unserer Dankbarkeit. Und Dankbarkeit ist das Maß unserer Lebendigkeit. Sind wir nicht taub und tot für alles, was wir als selbstverständlich erachten? Ganz sicher bedeutet in dieser Weise taub zu sein, tot zu sein. Für jene, die aus Überraschung zum Leben erwachen, liegt der Tod in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Ein Leben zu führen, offen für Überraschung, trotz all des Sterbens, das zum Leben gehört, macht uns immer lebendiger.

Es gibt unterschiedliche Grade dankbaren Wachseins. Unser Intellekt, unser Wille und unsere Emotionen müssen aufwachen. Wir wollen uns diesen Prozess des Erwachens einmal genauer anschauen. Es ist der Wachstumsprozess von Dankbarkeit.

Eine einzige Krokusblüte sollte genügen, um unser Herz davon zu überzeugen, dass der Frühling – gleich wie vorhersagbar er sein mag – irgendwie ein Geschenk ist, unentgeltlich, gratis, eine Gnade. Wir wissen dies mit einem Wissen, das über den Intellekt hinausreicht. Und doch ist unser Intellekt daran beteiligt. Ohne dass unser Intellekt seine Rolle einnimmt, können wir nicht dankbar sein. Wir müssen das Geschenk als Geschenk erkennen, und nur unser Intellekt kann das tun.

Für einige Menschen ist das nicht leicht. Es gibt solche, die einfach zu abgestumpft, zu langsam, vielleicht auch zu träge sind, um irgendetwas als Geschenk zu erkennen. Ihr Intellekt ist nicht wachsam genug. Sie halten alles für selbstverständlich. Sie gehen wie betäubt durchs Leben. Es bedarf einer gewissen intellektuellen Schärfe, um dankbar zu sein. Aber es gibt auch jene mit der gegenteiligen Geistesverfassung. Menschen, die sich ausschließlich auf ihren Intellekt verlassen. Auch jene klugen Leute könnten Schwierigkeiten mit der Dankbarkeit haben. Wenn der Intellekt darauf besteht, den unumstößlichen Beweis dafür zu finden, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist, dann steckt man fest. Es gibt immer die Möglichkeit, dass etwas, das wie ein Geschenk aussieht, eigentlich eine Fallgrube, ein Köder, eine Bestechung ist. Man braucht sich nur einige der Kommentare anzuhören, die beim Auspacken von Weihnachtsgeschenken laut werden. »Nun schau dir das an! Warum sollten uns die Meyers solch ein teures Geschenk schicken? Ich möchte zu gern wissen, um welchen Gefallen sie uns im Neuen Jahr bitten werden!« Wer kann den Beweis antreten, dass absolut kein Haken daran ist? Unser Herz sehnt sich nach der Überraschung, dass ein Geschenk auch wirklich ein Geschenk ist. Unser stolzer Intellekt aber stutzt bei einer Überraschung und will sie erklären, hinwegerklären.

Der Intellekt allein bringt uns nur ein Stück weit. Er hat einen Anteil an Dankbarkeit, aber eben nur einen Anteil. Unser Intellekt sollte wach genug sein, die vorhersagbare Hülle der Dinge bis zu ihrem Kern zu durchschauen, um dort ein Körnchen Überraschung vorzufinden. Das allein ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber Aufrichtigkeit verlangt ebenso, dass der Intellekt genügend demütig sei, das heißt genügend bodenständig, um seine Grenzen zu kennen. Der Geschenkcharakter aller Dinge kann erkannt, nicht aber bewiesen werden – zumindest nicht durch den Intellekt. Beweise finden sich im Leben. Und am Leben ist mehr, als der Intellekt zu fassen vermag.

Auch unser Wille muss seine Rolle übernehmen. Auch er gehört zur ganzen Fülle von Dankbarkeit. Es ist die Aufgabe des Intellekts, etwas als Geschenk zu erkennen, der Wille aber muss den Geschenkcharakter anerkennen. Erkennen und Anerkennen sind zwei verschiedene Aufgaben. Auch gegen unseren Willen können wir etwas erkennen. Der Wille kann dem die Anerkennung verweigern, was der Intellekt sieht. Aufgeweckt durch Überraschung können wir entdecken, dass das, was wir eine »gegebene« Welt nennen, wirklich gegeben ist. Denn wir haben sie weder gemacht noch verdient; höchstwahrscheinlich haben wir sie noch nicht einmal voll akzeptiert. Was wir vorfinden, ist eine gegebene Wirklichkeit, und wir erkennen sie als gegeben. Aber nur wenn wir dieses Geschenk anerkennen, wird unser Erkennen zur Dankbarkeit führen. Und ein Geschenk anzuerkennen, könnte sich als viel schwieriger erweisen, als es zu erkennen.

Nehmen wir beispielsweise das Wetter. Jeder ist sich dessen bewusst, dass das Wetter an einem gegebenen Tag eine gegebene Tatsache ist, und ganz gleich wie sehr wir uns darüber beschweren, ändern werden wir es nicht. Es ist jedoch ein Unterschied, ob wir das Wetter bloß als gegebene Tatsache erkennen oder aber bereit sind, es in der Tat als gegeben – und das heißt als Geschenk – anzuerkennen. W. H. Auden stellt fest:

… weather

Is what nasty people are

Nasty about, and the nice

Show a common joy in observing.

(… Wetter / Ist das, worüber garstige Menschen / Garstig sind und was die Netten / In freudiger Betrachtung eint.)

Soweit es ums Erkennen der Wetterlage geht, sind sich die Netten und die Garstigen einig. Aber von da an trennen sich ihre Wege. Was veranlasst die Netten zur Freude? Sie wirken wie Kinder, die ein Geschenk auspacken. Die Boshaften aber weigern sich, es als Geschenk anzuerkennen.

Warum ist es so schwierig, ein Geschenk als Geschenk anzuerkennen? Der Grund dafür ist dieser. Wenn ich zugebe, dass etwas ein Geschenk ist, dann gebe ich auch meine Abhängigkeit vom Geber zu. Das mag sich nicht sonderlich schwierig anhören, aber es gibt etwas in uns, das sich bei der Vorstellung von Abhängigkeit sträubt. Wir wollen es allein schaffen. Ein Geschenk aber ist etwas, das wir nicht einfach uns selbst vermachen können – zumindest nicht als Geschenk. Ich kann das gleiche oder sogar etwas besseres kaufen. Aber es wird kein Geschenk daraus, wenn ich es für mich selbst beschaffe. Ich kann ausgehen und mir etwas ganz Großartiges leisten. Ich kann später sogar dankbar sein für die herrliche Zeit, die ich verbrachte. Aber kann ich mir selbst dankbar sein dafür, mir so etwas Feines geleistet zu haben? Das wäre halsbrecherische geistige Akrobatik. Dankbarkeit geht immer über mich selbst hinaus. Denn was etwas zu einem Geschenk macht, ist eben die Tatsache, dass es gegeben ist. Und der Empfänger ist abhängig vom Geber.

Diese Abhängigkeit ist immer dabei, wenn ein Geschenk gegeben und empfangen wird. Selbst eine Mutter ist bei dem geringsten Geschenk von ihrem Kind abhängig. Angenommen ein kleiner Junge kauft seiner Mutter einen Strauß Narzissen. Er gibt nichts her, was er nicht bereits empfangen hätte. Seine Mutter gab ihm nicht nur das Geld, das er ausgab, sondern selbst sein Leben und die Erziehung, die ihn großzügig machte. Und doch ist sein Geschenk etwas, was sie von seinem Geben abhängig macht. Auf keine andere Weise könnte sie es als Geschenk erhalten. Und sie findet mehr Freude in jener Abhängigkeit als in dem Geschenk an sich. Schenken ist ein Feiern des Bandes, das Gebenden und Empfangenden verbindet. Jenes Band ist Dankbarkeit.

Wenn ich ein empfangenes Geschenk anerkenne, dann erkenne ich das Band an, das mich an den oder die Gebende bindet. Aber wir neigen dazu, die Verpflichtungen zu fürchten, die sich aus dieser Bindung ergeben. Als ich vor dreißig Jahren Englisch lernte, drückte man in Amerika in der Regel seinen Dank dadurch aus, dass man »sehr verbunden« (»very much obliged«) sagte. Kaum jemand benutzt diesen Ausdruck heute. Warum nicht? Einfach deshalb, weil wir nicht verbunden sein wollen. Wir wollen mit uns selbst auskommen. Unsere Sprache verrät uns.

Natürlich gibt es auch eine gesunde Seite unseres Wunsches nach Unabhängigkeit. Wir wollen selbst für uns sorgen. Ohne diesen Wunsch würden wir niemals dem Stadium des Gefüttertwerdens entwachsen. Und um aus diesem Stadium herauszukommen, mussten wir durch eine Phase hindurch, bei der am Ende unserer Mahlzeit Nase, Kinn, Ohren und Lätzchen mit Haferflocken verschmiert waren. Aber selbst nachdem wir uns selbst zu ernähren gelernt haben, sollte man davon ausgehen können, dass wir verständig genug sind, uns von einer Krankenschwester füttern zu lassen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte. Erwachsen zu werden heißt beides lernen, uns selbst helfen zu können, aber auch Hilfe anzunehmen, wenn wir sie brauchen. Einige Leute scheinen niemals dem Stadium des »das will ich alleine machen« zu entwachsen. Doch mitfühlende Augen durchschauen die äußere störrische Unabhängigkeit und erkennen dahinter ein Kind auf einem Kinderstuhl, mit Haferflocken von der Nase bis zu den Zehen.

In gewissem Sinne ist es richtig, Abhängigkeit zu fürchten. Bloße Abhängigkeit ist Sklaverei. Unabhängigkeit aber ist eine Illusion. Hätten wir wirklich zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu wählen, dann wären wir in Schwierigkeiten. Tatsächlich geht es um die Wahl zwischen Entfremdung und gegenseitiger Abhängigkeit. Unabhängigkeit ist Entfremdung. Sie schneidet uns ab von anderen. Bloße Abhängigkeit aber ist – auf subtile Weise – auch Entfremdung. Denn bloße Abhängigkeit ist Sklaverei; und ein Sklave ist ein Fremder. Gegenseitige Abhängigkeit hingegen verbindet uns mit anderen über das Band eines freudigen Gebens-und-Nehmens, über ein Band des Zusammengehörens. Abhängigkeit bindet uns mit den Banden der Sklaverei. Unabhängigkeit bindet uns mit den Banden der Illusion. Die Bande der gegenseitigen Abhängigkeit jedoch sind Bande, die uns frei machen. Ein einziges Geschenk in Dankbarkeit anerkannt besitzt die Macht, uns aus den Banden unserer Entfremdung zu befreien, und schon sind wir frei – zuhause, wo alle von allen abhängen.

Die gegenseitige Abhängigkeit von Dankbarkeit ist wirklich wechselseitig. Der Empfänger eines Geschenks hängt vom Geber ab. Das ist ganz offensichtlich. Aber der Kreis von Dankbarkeit ist unvollkommen, solange der Geber des Geschenks nicht zum Empfänger wird: zum Empfänger des Dankes. Das größte aller Geschenke ist das Danksagen. Geben wir Geschenke, dann geben wir, was wir uns leisten können, danken wir aber, dann geben wir uns selbst. Ein Mensch, der zu einem anderen »ich danke dir« sagt, sagt eigentlich: »Wir gehören zusammen.« Gebender und Dankender gehören zusammen. Das Band, das sie vereint, befreit sie von Entfremdung. Leidet unsere Gesellschaft deshalb so sehr unter Entfremdung, weil es uns nicht gelingt, Dankbarkeit zu kultivieren?

Im selben Moment, da ich das Geschenk als Geschenk anerkenne und damit meine Abhängigkeit, bin ich frei – frei, um meine ganze Dankbarkeit auszudrücken. Diese Fülle kommt mit der Freude aus der Würdigung des Geschenks. Würdigung, Wertschätzung ist eine Reaktion unserer Gefühle. Unser Intellekt erkennt das Geschenk als Geschenk, unser Wille erkennt es an, aber nur unsere Gefühle reagieren mit Freude und uneingeschränkter Wertschätzung auf das Geschenk.

Vor vielen Jahren sah ich einmal ein Foto, das ich nie vergessen sollte: zwei afrikanische Kinder mit strahlendem Lächeln. Und darunter stand zu lesen: »Freude ist die Dankbarkeit der Kinder Gottes.« Als ich später in Afrika herumreiste, entdeckte ich wieder jenes Lächeln und erinnerte mich an die Worte. Überall auf der Welt ist Freude der wahre Ausdruck von Dankbarkeit. Aber nicht überall lassen die Kinder Gottes jene Freude so sehr durchscheinen wie in Schwarzafrika. Nirgends habe ich strahlendere Freude in Kinderaugen gesehen als im früheren Biafra. In Enugu begegnete ich Gruppen von Kindern, die sich nach einbrechender Dunkelheit an einer geschäftigen Straßenecke versammeln, einen kleinen Altar aufbauen, und ohne sich von dem Drunter und Drüber der Erwachsenen um sie herum stören zu lassen, den Rosenkranz beten. Ich erfuhr, dass die Kinder während der blutigsten Kriegstage damit begonnen hatten. Mehr als ein Jahrzehnt lang ist diese Angewohnheit von einer Kindergeneration auf die nächste übergegangen. Und dann wurde mir langsam klar, dass die Freude, die ich beobachtet hatte, auf einem tiefen Wissen um das Leid spielt, wie die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche der dunklen Wasserlöcher. Nur ein Herz, dem der Tod nichts Unbekanntes ist, kann das Geschenk des Lebens mit einem so tiefen Gefühl der Freude würdigen. An späterer Stelle werden wir die Bedeutung von »Herz« im Kontext von Dankbarkeit beleuchten. Und dann, so glaube ich, wird klarer werden, warum Intellekt, Wille und Emotionen, warum alle drei am Danken beteiligt sein müssen. Alle drei gehören zu dem, was wir unter Herz verstehen. Alle drei gehören deshalb auch zu unserer Vorstellung von Dankbarkeit. Entweder ist das Danken eine Geste des ganzen Herzens, oder es ist gar nichts.

Wir sahen bereits, dass unser Intellekt einen geraden Kurs zwischen Taubheit und Spitzfindigkeit steuern muss, um die gegebene Welt als ein wirkliches Geschenk zu erkennen. Bald wird klar, wie schwierig diese unmittelbare Einfachheit für unseren komplexen, verdrehten Geist ist. Unser Wille muss dafür sorgen, dass er sowohl zwanghafte Selbstständigkeit als auch sklavische Abhängigkeit vermeidet, um freiwillig das Band anzuerkennen, das das Geschenk herstellt. Auch dies lässt sich bald als eine schwierige Aufgabe erkennen. Aber wenn wir die Rolle betrachten, die unsere Gefühle bei der Würdigung eines Geschenks spielen, dann scheint das kinderleicht. Und doch müssen wir auch hier zwei Fallstricke vermeiden, um jene kindliche, freie Antwort zu finden, in der unsere Gefühle voller Dankbarkeit schwingen. Eine der beiden Fallen macht aus uns ein Mauerblümchen, die andere einen Vampir. Der Vampir in uns kann den Tanz nicht wirklich genießen, weil er zu ungeduldig und versessen ist. Das Mauerblümchen kann es nicht, weil es sich nicht traut. Der eine quetscht den letzten Tropfen Gefühl aus jeder Erfahrung. Die Gefühle des anderen sind zu häufig verletzt worden. Aber das Kind in uns tanzt, selbstvergessen und spontan, mit einer anmutigen Geste der Dankbarkeit.

Wir wissen, wie sehr wir dazu neigen, die Geschenke des Lebens einfach zu packen und damit fortzulaufen. Wir sind uns der ersten Falle durchaus bewusst. Erinnern wir uns daran, wie verwundbar unsere Gefühle sind, dann werden wir uns auch der zweiten Falle bewusst. Nie sind wir verwundbarer, als in jenen Momenten, da wir mit dem Herzen reagieren. Denn die Momente der Dankbarkeit sind jene, in denen wir unsere Herzen öffnen, wodurch wir leichter zu verwunden sind.

Erinnere dich beispielsweise an folgende Situation. Du bemerkst, wie dir jemand zulächelt; in dankbarer Anerkennung erwiderst du das Lächeln. Dann aber scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Du schaust dich um und entdeckst jemanden hinter dir, für den das Lächeln eigentlich bestimmt war. Das tut weh, nicht wahr? Natürlich ist es kein großes Trauma. Aber wir können uns vorstellen, dass jemand, dessen Gefühle immer wieder verletzt wurden – ganz besonders im Verlauf der Kindheit –, dauerhaft verletzt sein könnte. Dieser Mensch könnte regelmäßig Geschenke anerkannt haben, die sich entweder als gar keine Geschenke herausstellten oder aber für andere bestimmt waren. Und langsam entwickelte sich ein emotionales Narbengewebe, das Gefühlsreaktionen unbeholfen und schmerzhaft werden lässt. Dieser Mensch dürfte im Umgang mit seinen Gefühlen Hilfe benötigen, um wieder gewandt zu werden. Hier handelt es sich um das emotionale Gegenstück von Physiotherapie.

Intellekt, Wille und Emotionen – sie alle haben jeweils eine ganz bestimmte Rolle zu spielen, und alle drei müssen bei aufrichtiger Dankbarkeit harmonisch zusammenspielen. Jetzt können wir einen Schritt weitergehen und fragen: Wie können wir selbst dankbarer werden? Auf der Suche nach Möglichkeiten, unsere Dankbarkeit wachsen zu lassen, werden wir uns wiederum nacheinander mit dem Intellekt, dem Willen und den Emotionen beschäftigen. Zunächst ist es wichtig, dort zu beginnen, wo wir uns befinden. Wie könnten wir anderswo beginnen? Und doch, wie häufig fangen wir etwas weit entfernt von uns an! Das führt zu nichts. Aber ganz gleich, wo wir uns befinden, Hilfe gibt es immer. Das Leben bietet uns all die Hilfe, die wir benötigen. Wenn wir darauf vertrauen und uns umschauen, werden wir sie finden. Das Leben ist voller Überraschungen. Und Überraschung ist der Schlüssel zur Dankbarkeit.

Es spielt keine Rolle, wie taub oder intellektuell verfangen wir sind, Überraschung ist immer nahe. Selbst wenn in unserem Leben außerordentliche Überraschungen selten sind, das ganz Normale möchte uns immer wieder aufs Neue überraschen. Wie ein Freund mir eines Wintermorgens aus Minnesota schrieb: »Ich war vor Sonnenaufgang auf den Beinen und beobachtete Gott dabei, wie er alle Bäume weiß anmalte. Den Großteil Seiner besten Arbeit tut Er, während wir schlafen, um uns beim Aufstehen zu überraschen.«

Es ist ebenso wie bei der Überraschung, die wir in unserem Regenbogen fanden. Wir können lernen, unseren Sinn für Überraschungen nicht nur durch das Außergewöhnliche anklingen zu lassen, sondern vor allem durch einen frischen Blick für das ganz Alltägliche. »Natur ist niemals verbraucht«, sagt Gerard Manley Hopkins und preist Gottes Größe. »Ganz tief in den Dingen lebt die köstlichste Frische.« Die Überraschung des Unerwarteten vergeht, aber die Überraschung über jene Frische vergeht niemals. Bei Regenbogen ist das offensichtlich. Weniger offensichtlich ist die Überraschung jener Frische in den allergewöhnlichsten Dingen. Wir können lernen, sie so klar zu sehen, wie wir den puderartigen Reif auf frischen Blaubeeren sehen können, »ein Schleier aus dem Atem eines Windes«, wie Robert Frost das nennt, »ein Glanz, der mit der Berührung einer Hand vergeht«.