Das autobiographische Gedächtnis - Rüdiger Pohl - E-Book

Das autobiographische Gedächtnis E-Book

Rüdiger Pohl

4,8

Beschreibung

"Wir sind, was wir erinnern": Das autobiographische Gedächtnis erlaubt mentale Zeitreisen in die eigene Vergangenheit und erfüllt damit wichtige Funktionen für unser gegenwärtiges Selbst. Dieses Buch fasst den Stand der psychologischen Forschung zum autobiographischen Gedächtnis in verständlicher und übersichtlicher Form zusammen. Nach einer Einführung in die Gedächtnispsychologie werden Merkmale, Inhalte und Modelle des autobiographischen Gedächtnisses, die neurophysiologischen Grundlagen, die kognitiven Untersuchungsmethoden, der Entwicklungsverlauf über die Lebensspanne sowie die individuellen und sozialen Funktionen dargestellt. Zum Abschluss werden Ursachen für verfälschte Erinnerungen sowie organische und psychogene Gedächtnisstörungen thematisiert.

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'Wir sind, was wir erinnern': Das autobiographische Gedächtnis erlaubt mentale Zeitreisen in die eigene Vergangenheit und erfüllt damit wichtige Funktionen für unser gegenwärtiges Selbst. Dieses Buch fasst den Stand der psychologischen Forschung zum autobiographischen Gedächtnis in verständlicher und übersichtlicher Form zusammen. Nach einer Einführung in die Gedächtnispsychologie werden Merkmale, Inhalte und Modelle des autobiographischen Gedächtnisses, die neurophysiologischen Grundlagen, die kognitiven Untersuchungsmethoden, der Entwicklungsverlauf über die Lebensspanne sowie die individuellen und sozialen Funktionen dargestellt. Zum Abschluss werden Ursachen für verfälschte Erinnerungen sowie organische und psychogene Gedächtnisstörungen thematisiert.

PD Dr. Rüdiger Pohl arbeitet am Lehrstuhl für Allgemeine und Differentielle Psychologie der Universität Mannheim.

Rüdiger Pohl

Das autobiographische Gedächtnis

Die Psychologie unserer Lebensgeschichte

Für Isabell

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © 2007 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print: 978-3-17-018614-9

E-Book-Formate

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978-3-17-028026-7

mobi:

978-3-17-028027-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Gedächtnis und Informationsverarbeitung

1.1 Gedächtnissysteme

1.2 Langzeitgedächtnis

1.3 Organisationsprinzipien

1.4 Neuronale Repräsentation

1.5 Informationsverarbeitung

1.6 Erinnerungsleistung

1.7 Vergessensprozesse

2. Merkmale des autobiographischen Gedächtnisses

2.1 Definitorische Ansätze

2.2 Neurophysiologische Merkmale

2.3 Kognitive Untersuchungsmethoden

3. Inhalte und Struktur autobiographischer Erinnerungen

3.1 Inhalte autobiographischer Erinnerungen

3.2 Erstmalige Erlebnisse

3.3 Emotionale und traumatische Erlebnisse

3.4 Ordnungsmerkmale autobiographischer Erinnerungen

3.5 Hierarchische Gedächtnismodelle

4. Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses

4.1 Reifung des Gehirns

4.2 Entwicklung des Selbstkonzepts

4.3 Erinnerungen über die Lebensspanne

4.4 Kindheitsamnesie

5. Funktionen des autobiographischen Erinnerns

5.1 Funktionale Ansätze

5.2 Bildung des Selbstkonzepts

5.3 Psychodynamische Funktionen

5.4 Soziale Funktionen

5.5 Direktive Funktionen

6. Verfälschte Erinnerungen

6.1 Rekonstruktionsprozesse

6.2 Subjektive Entwicklungstheorien

6.3 Positivitätsbias

6.4 Das totalitäre Ich

6.5 Scheinerinnerungen

7. Gedächtnisstörungen

7.1 Amnesien

7.2 Amnestisches Syndrom

7.3 Fallgeschichten von Amnestikern

7.4 Altersvergesslichkeit und Alzheimer-Demenz

7.5 Transitorische Gedächtnisstörungen

7.6 Dissoziative Störungen

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Wir glauben, Erfahrungen zu machen,

aber die Erfahrungen machen uns.

(Eugène Ionesco, 1909–1994)

Einleitung

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Schultag, als ich in der kleinen Dorfschule zusammen mit meinem besten Freund vom Hof gegenüber in die erste Klasse kam. Ich weiß auch noch, wie stolz ich auf meine Schultüte war (oder habe ich das Gefühl jetzt nur aufgrund eines entsprechenden Fotos rekonstruiert?). Ich weiß auch noch, wie ich in demselben Dorf in den kleinen Fluss gefallen bin. Ich wollte mit einem Stock nach einer Flasche im Wasser angeln und lehnte mich dazu an einen stehen gelassenen Zaunpfahl, der sich leider als wenig zuverlässig erwies, sodass ich in voller Montur (mit einer Strickjacke!) kopfüber ins Wasser stürzte. Ich erinnere mich an die aufkommende Panik, als ich unter Wasser war und keinen Boden spürte und die Strickjacke sich rasend schnell voll Wasser sog und mich mit ihrem Gewicht nach unten zog. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich damals noch nicht schwimmen konnte und nur in wilder Verzweiflung unkontrolliert mit den Armen rudern konnte. Irgendwie trieb mich die Strömung aber schnell ans nahe Ufer, an dem ich mich festkrallen und wieder aus dem Wasser ziehen konnte. Wie ein begossener Pudel, eine feuchte Spur auf der Dorfstraße hinter mir herziehend, trottete ich dann nach Hause. Ich erinnere mich auch noch an das Kinderzimmer, das ich mit meinem älteren Bruder teilte. Es gab so manche wilde Kissenschlacht, bis mein Vater durch den Kamin vom Wohnzimmer unten „Ruhe da oben!“ brüllte. Ich erinnere mich auch an die Eichhörnchen, denen wir vom Kinderzimmer aus in den davor stehenden Eichen, die um ein Kriegerdenkmal standen, beim Herumturnen in den Ästen zusehen konnten. Ich weiß auch noch, wie wir in einer Silvesternacht, als wir zum ersten Mal bis Mitternacht aufbleiben durften, Skat spielen lernten, und an die großen Legoschiffe, die ich mit Begeisterung baute, die riesigen gelben Rosen vor dem Wohnzimmerfenster, die bunt gemusterte Plastikdecke auf dem Küchentisch, und, und, und. Allein aus diesem im Rückblick relativ kurzen Abschnitt meines Lebens könnte ich (glaube ich) ein ganzes Buch mit Erinnerungen füllen. Dabei ist mir aber auch klar, dass ich vieles vergessen habe und mir anderes nur wie im Nebel erscheint. Vermutlich habe ich einiges auch von Fotos und Erzählungen rekonstruiert, sodass es keine reinen Erinnerungen an selbst erfahrene Erlebnisse sind. In anderen Fällen habe ich vermutlich über die Geschehnisse und die beteiligten Personen wiederholt nachgedacht und erinnere mich daher heute möglicherweise in einem anderen Licht an sie als damals. Was aber all diese Erinnerungen auszeichnet, ist, dass sie Teil meines Lebens sind, mithin „zu mir gehören“ und in ihrer Zusammenstellung die Einzigartigkeit meiner Person symbolisieren. Es sind meine autobiographischen Erinnerungen aus jener Zeit.

Wenn man sich mit einem spezifischen Thema – wie hier dem „autobiographischen Gedächtnis“ – beschäftigen will, ist es nicht falsch, zunächst einmal in einem Lexikon nachzuschlagen, worum es sich denn eigentlich handelt. Im Wörterbuch der Kognitionswissenschaften (Strube, 1996, S. 209) heißt es dazu:

Gedächtnis, autobiographisches (autobiographical memory):

Der konzeptuelle Status des a. G. ist ungeklärt. Während manche in ihm nur einen Sammelbegriff sehen, postulieren andere ein eigenständiges Subsystem des Gedächtnisses. Das a. G. beinhaltet Informationen, die in expliziter Relation zum Selbst stehen (vgl. Selbstbezüglichkeit). Es wird unterteilt in einen semantischen Teil, das autobiographische Fakten (wie Name, Geburtsdatum etc.) umfaßt, und einen episodischen Anteil, das autobiographische Episoden (wie Promotion, Hochzeit etc.) enthält. Eine weitere Differenzierung – orthogonal zur ersten – unterscheidet autobiographische Fakten und Episoden danach, ob sie singuläre oder rekurrierende Instanzen repräsentieren. Als Ergebnis rekurrierender Fakten gilt die Explikation eigener Persönlichkeitseigenschaften, während rekurrierende Episoden zur Herausbildung sozialer Skripte (repisodes) führen. Dem a. G. werden spezifische Charakteristika und Funktionen zugesprochen. Das prominenteste Merkmal besteht in dem Gefühl des Wiedererlebens (re-experiencing), das mit dem Abruf verbunden ist. Weitere Merkmale betreffen die Emotionalität, die Quellenzuordnung und die Perspektivität. Insbesondere der Emotionalität kommt eine wichtige Rolle zu. Sie wird verantwortlich gemacht für besonders lebhafte Erinnerungen (flashbulb memories), aber auch für verdrängte Erinnerungen (repression). Eine wichtige Funktion des a. G. manifestiert sich in seinem Gebrauch für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Dies geschieht durch Teilen und Austauschen autobiographischer Erinnerungen. Das hierzu notwendige autobiographische Gespräch (memory talk) wird schon in früher Kindheit eingeübt. Gleichzeitig werden durch den Abruf autobiographischen Wissens Verständnis und Empathie für andere Personen ermöglicht. Darüber hinaus bietet sich dadurch auch die Möglichkeit zur Gefühlsregulation sowie zur Bildung und Veränderung des Selbstkonzeptes. Ein weiterer Nutzen des a. G. liegt in der Planung und Antizipation zukünftiger Handlungen.

In dieser Definition und Charakterisierung sind bereits viele der Konzepte angesprochen, die im Laufe des vorliegenden Buches genauer erläutert werden. Ein Fokus der Betrachtung liegt dabei auf den Wechselwirkungen zwischen autobiographischen Erinnerungen und dem aktuellen Selbstkonzept, wie es im Untertitel dieses Buches angedeutet wird: „Die Psychologie unserer Lebensgeschichte“. In anderen Worten: Wir sind, was wir erinnern. Man braucht sich sicherlich nicht erst eine Person vorzustellen, die bei einem Unfall ihr Gedächtnis verloren hat, um die Gültigkeit dieses Satzes zu akzeptieren. Was wären wir, wenn nicht die Summe unserer Erfahrungen? Allerdings gehen wir dabei nicht unbedingt akribisch und objektiv wie ein akademischer Sammler vor. Im Gegenteil, vieles wird gar nicht erst gespeichert, anderes wird im Laufe der Zeit vergessen oder verfälscht erinnert. Dabei spielen viele psychologische Prozesse eine Rolle. Wir ergänzen lückenhafte Erinnerungen, beschönigen hier ein bisschen und glätten dort etwas. Wir unterliegen aber auch Einflüssen von außen, die unser Gedächtnis systematisch verändern können. Wir sind also kein passives Produkt unserer Lebensgeschichte, sondern wir rekonstruieren sie jeweils neu. Das erlaubt das Gefühl von Beständigkeit und Wachstum zugleich. Von daher gilt auch der umgekehrte Satz: Wir erinnern, was wir sind. Wir erinnern bevorzugt das, was zu unserem gegenwärtigen (oder idealen) Selbstbild passt. Wir streben danach, unser Selbst als kontinuierlich, integer und kontrolliert zu erleben und es auch anderen so zu präsentieren. Wir benutzen unsere autobiographischen Erinnerungen als Mittel der Beziehungsherstellung und -aufrechterhaltung. Wir lassen andere an unseren Erfahrungen teilhaben und geben wichtige Erkenntnisse an die nächste Generation weiter. Und wir ziehen unser Wissen heran, um vergangene Geschehnisse zu verstehen, gegenwärtige besser zu handhaben und zukünftige adäquat vorherzusagen. Das sind die zentralen Funktionen autobiographischer Erinnerungen. Und wir nutzen sie jeden Tag (Robinson, 1986a, S. 23; Übers. d. Verf.):

Gedächtnisforschung konzentrierte sich traditionell auf die Genauigkeit der Wiedergabe und die Quellen für Fehler und Vergessen. [...] Es ist ebenso wichtig, die Nutzung der Erinnerungen zu verstehen, die Aufgaben, die sie im alltäglichen Leben übernehmen.

Dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch, das aus kognitionspsychologischer Sicht geschrieben ist, gewidmet. Die zentralen Fragen dabei lauten: Was sind autobiographische Erinnerungen, wie sind sie organisiert, wie entwickeln sie sich im Laufe des Lebens, welche Rolle spielen sie für uns und wie (und warum) weichen sie von den tatsächlichen Geschehnissen ab?

Aufbau und Nutzung

Dieses Buch beschreibt das „autobiographische Gedächtnis“ in all seinen Facetten aus Sicht der Psychologie. Dabei kommen viele Teildisziplinen des Faches zu Wort: in erster Linie die allgemeine, die Entwicklungs-, die biologische, die soziale und die klinische Psychologie. Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel, die im Folgenden näher erläutert werden:

Zum besseren Verständnis ist es zunächst wichtig, die grundlegenden Arbeitsweisen des menschlichen Gedächtnisses zu kennen (Kap. 1). Vor allem den Leserinnen und Lesern ohne allgemeinpsychologische Vorkenntnisse sei deshalb die Einführung in die Gedächtnispsychologie zur Lektüre empfohlen, um mit den grundlegenden Konzepten, Theorien und experimentellen Untersuchungsmethoden vertraut zu werden. Die heute populärste Vorstellung vom Gedächtnis ist das Mehr-Speicher-Modell mit Kurz- und Langzeitgedächtnis, wobei das Kurzzeitgedächtnis inzwischen durch ein Arbeitsgedächtnis ersetzt wurde. Das Langzeitgedächtnis wird in weitere Systeme unterteilt, insbesondere das episodische, das semantische, das prozedurale und das perzeptive Gedächtnis. Die innere Organisation des Gedächtnisses richtet sich zum einen nach assoziativen Verknüpfungen und auf höherer Ebene nach schematischen Strukturen. In den letzten Jahrzehnten hat man viel darüber herausgefunden, wie denn Informationen in neuronalen Verbänden physiologisch gespeichert werden, was also einer Erinnerung zugrundeliegt. Und auch die Prozesse der Informationsverarbeitung sind gut erforscht. Sie zeigen, wie es dazu kommen kann, dass eine Information gut erinnert oder aber vergessen wird.

Im Anschluss geht es um die Charakterisierung des autobiographischen Gedächtnisses (Kap. 2), insbesondere ob und wie es von anderen Gedächtnissystemen zu unterscheiden ist. Wer sich bisher noch nicht mit dem autobiographischen Gedächtnis beschäftigt hat (und deshalb nicht nur nach spezifischen Themen wie z. B. Entwicklung, Funktionen oder Störungen des autobiographischen Gedächtnisses Ausschau hält), sollte mit diesem Kapitel beginnen, da es die grundlegenden Konzepte einführt. Grob gesagt gehören zum autobiographischen Gedächtnis alle Erinnerungen, die zeitlich kodiert und mit dem eigenen Selbst verknüpft sind. Weitere definitorische Merkmale sind das Gefühl des Wiedererlebens der erinnerten Ereignisse und der damit verbundenen Emotionen. Zu den neurophysiologischen Grundlagen dieser Erinnerungen ist inzwischen auch einiges bekannt. Zum Abschluss werden die typischen Untersuchungsmethoden in diesem Bereich geschildert. Auf diese Methoden wird später wiederholt Bezug genommen.

Nach der Konzeptualisierung werden Inhalte und Strukturen des autobiographischen Gedächtnisses dargestellt (Kap. 3). Zu den Inhalten gibt es einige taxonomische Vorschläge. Außerdem beinhaltet das autobiographische Gedächtnis eine Reihe besonderer Erlebnisse (wie erste Male oder besonders emotionale Erlebnisse). Zur Organisationsstruktur dieser Lebenserinnerungen liegt ein detailliertes kognitives Modell vor. Es postuliert eine hierarchisch-sequentielle Struktur. Die Hierarchie wird durch drei unterschiedlich detaillierte bzw. abstrahierte Beschreibungsebenen gebildet, die Sequenz wird durch die chronologische Ordnung auf jeder Ebene gebildet.

Im nächsten Kapitel (Kap. 4) steht die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses im Vordergrund. Dieses Kapitel sei all denjenigen empfohlen, die an der entwicklungspsychologischen Wechselwirkung zwischen biologischen, kognitiven und sozialen Prozessen interessiert sind. Insbesondere in den ersten Lebensjahren unterliegt das Gehirn mannigfaltigen Reifungsprozessen, die für umfassende Änderungen im Gedächtnis sorgen. Damit einher geht die stufenweise Entwicklung des Selbstkonzepts als dem Derivat der verfügbaren Erinnerungen. Schaut man sich Erinnerungen über die Lebensspanne an, fällt auf, dass die Verteilung der Erinnerungen nicht der sonst typischen Vergessenskurve folgt. Aus dem Lebensabschnitt von etwa 15 bis 25 Jahren produzieren wir relativ viele Erinnerungen. Das ist ja auch die Zeit, in der viele wichtige Veränderungen passieren, in der wir erwachsen werden und viele Entscheidungen treffen, die nicht selten Bestand für den Rest unseres Lebens haben. Eine andere Abweichung von der Vergessenskurve betrifft die ersten drei bis vier Kindheitsjahre. An diese Zeit haben wir in der Regel keine explizite Erinnerung mehr: Wir unterliegen einer infantilen Amnesie. Dieses Phänomen hat dazu geführt, genauer über die Entwicklung und die allgemeinen Funktionsweisen des autobiographischen Gedächtnisses nachzudenken.

Auf die zentralen Funktionen autobiographischer Erinnerungen (Kap. 5) wurde oben schon hingewiesen. In diesem Kapitel dreht sich alles um die Frage, wie und wozu autobiographische Erinnerungen im Alltag genutzt werden. Diese Funktionen können als identitätsstiftend, psychodynamisch, sozial-kommunikativ und direktiv charakterisiert werden. Bei der Bildung des Selbstkonzepts finden wechselseitige Prozesse statt: Unsere Erinnerungen definieren, wer oder was wir sind, und dieses Selbstkonzept wiederum bestimmt, was wir aus unserer Vergangenheit erinnern. Das so konstruierte Selbstkonzept wiederum ist eingebettet in eine Lebensgeschichte, die bestimmte Merkmale der eigenen Persönlichkeit widerspiegelt. Dieser Lebensgeschichte (und dem damit verbundenen Selbstbild) kommt immense psychologische Bedeutung zu. Sie macht uns erst zu dem, was wir sind. Sie lässt uns unser Leben als kohärent und kontinuierlich empfinden. Deutlich wird das nicht zuletzt an Personen, die aufgrund gravierender persönlicher Erfahrungen keine integrierte Lebensgeschichte bilden können. Neben diesen individuell-persönlichen (intrapersonalen) Funktionen sind es vor allem die sozialen (interpersonalen) Funktionen, für die autobiographische Erinnerungen herangezogen werden.

Die letzten beiden Kapitel widmen sich den Veränderungen des autobiographischen Gedächtnisses, und zwar zunächst den „normalen“ und alltäglichen Veränderungen (Kap. 6). Inhalte des autobiographischen Gedächtnisses können verfälscht oder auch komplett „erfunden“ sein. Verfälschungen kommen aus den unterschiedlichsten Gründen zustande. Einige wurden ja schon angesprochen. Dies betrifft vor allem individuell motivierte, vom Selbstkonzept gesteuerte oder einfach schema-basierte Rekonstruktionsprozesse. Damit sind aber nicht etwa bewusste Lügen gemeint. All diese Veränderungen geschehen trotz bester Absichten, sich wahrhaftig zu erinnern. Eine typische Verfälschung besteht beispielsweise darin, unsere Vergangenheit zu rosig zu erinnern. Dieser Positivitätsbias ist normal und nimmt mit dem Alter zu. Andere Verfälschungen beruhen auf Suggestionen, die von außen an uns herangetragen werden. Gelegentlich empfinden wir solche „Pseudo-Erinnerungen“ im Laufe der Zeit als echt.

Im letzten Kapitel (Kap. 7) werden krankhafte Veränderungen des autobiographischen Gedächtnisses aufgrund von organischen oder psychogenen Schädigungen dargestellt. Die Folge dieser Schäden sind oft amnestische Störungen, bei denen es zu Ausfällen in der Erinnerungsleistung kommt (Amnesien). Hier geht es dementsprechend um die klinischen Implikationen von Gedächtnisstörungen. Einige dieser Ausfälle sind dauerhaft, andere nur vorübergehend. Ich schildere in diesem Kapitel einige Fallgeschichten, die diese Symptomatik veranschaulichen. Fehlende Erinnerungen entstehen auch dadurch, dass die Vergesslichkeit mit dem Alter zunimmt. Besonders gravierend ist dies aber erst, wenn krankhafte Demenzen vorliegen (wie z. B. die Alzheimer-Demenz). Traumatische Erlebnisse, vor allem in der frühen Kindheit, können zu dissoziativen Störungen führen, bei denen u. U. die eigene Identität betroffen ist. Die betreffende Person weiß dann nicht mehr, wer sie ist. Diese Ausfälle des Gedächtnisses sind als Schutzmechanismus zu verstehen, der vor zu großem emotionalem Schmerz bewahrt, mit dem die Betroffenen sonst nicht umgehen könnten. Derartige Ausfälle des Gedächtnisses finden sich vor allem bei Opfern von Gewalttaten, wie zum Beispiel Kinder, die sexuell missbraucht wurden. Im Extremfall können solch gravierende Ereignisse auch die Bildung einer kohärenten Lebensgeschichte verhindern und so zu dissoziativen Identitätsstörungen (multiplen Persönlichkeiten) führen.

Sonstige Literatur

Die Literatur zum autobiographischen Gedächtnis konzentriert sich auf den englischsprachigen Raum. Die Vielfalt an Publikationen ist dort kaum zu überschauen. In meiner Datenbank habe ich über 1000 Artikel und zahlreiche Bücher zum Thema „Autobiographical Memory“ notiert. Die wichtigsten Bücher scheinen mir die folgenden zu sein (in chronologischer Ordnung): Rubin (1986), Conway (1990), Conway, Rubin, Spinnler und Wagenaar (1992), Rubin (1996), Thompson, Herrmann, Bruce, Read, Payne und Toglia (1998), Pillemer (1998), Fivush und Haden (2003). Dabei habe ich hier diejenigen Bücher weggelassen, die in deutscher Übersetzung erschienen sind (s. u.). Bis auf die beiden Bände von Conway (1990) und Pillemer (1998) handelt es sich ausnahmslos um herausgegebene Werke mit jeweils zahlreichen Fachartikeln. In den letzten Jahren erschienen auch einige (englischsprachige) Sonderhefte von Fachzeitschriften zum Thema „autobiographisches Gedächtnis“. Dazu gehören (in chronologischer Reihenfolge) Applied Cognitive Psychology (Conway, Bruce & Sehulster, 1998), Review of General Psychology (Singer & Bluck, 2001), Memory (Bluck, 2003) und Social Cognition (Skowronski, 2004, 2005a).

In deutscher Sprache gibt es nur einige wenige Werke zum autobiographischen Gedächtnis (teils im Original, teils aus dem Englischen übersetzt). Zu nennen sind (in chronologischer Reihenfolge) Weber (1993), Granzow (1994), McAdams (1996), Kotre (1998), Schacter (2001), Welzer (2002), sowie Markowitsch und Welzer (2005). Bei all diesen Büchern handelt es sich um Monographien (und nicht um herausgegebene Sammelbände).

Die deutschsprachigen Werke im Einzelnen: Weber (1993) fokussiert in ihrer Arbeit anhand des Selbstreferenz-Effekts das Zusammenspiel von autobiographischem Gedächtnis und Persönlichkeit. Granzow (1994) versucht in seinem Buch, eine Verbindung zwischen kognitiver Psychologie und Psychoanalyse zur Beschreibung und Erklärung des autobiographischen Gedächtnisses herzustellen. Er folgt dabei dem MEM-Gedächtnismodell (Multiple-Entry-Modular) von Johnson und Hirst (1993). Das Buch von McAdams (1996), das im Original 1993 (The stories we live by) erschienen ist, beschreibt die Herausbildung von subjektiven Lebensgeschichten, die nicht unbedingt den tatsächlichen Hergang der Geschehnisse widerspiegeln, sondern vielmehr zur Mythenbildung über die eigene Person beitragen. Das Buch von Kotre (1998) ist im Original 1995 (White gloves: How we create ourselves through memory) erschienen und beschreibt sehr detailliert die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses. Ein weiterer Fokus liegt auf den Erinnerungen an „erste Male“. Das Buch von Schacter (2001), das im Original 1996 (Searching for memory: The mind, the brain, and the past) erschienen ist, stellt neben allgemeinen Funktionsweisen des Gedächtnisses insbesondere Gedächtnistäuschungen und die Ausfälle des autobiographischen Gedächtnisses (Amnesien) dar. Welzer (2002) postuliert eine sozial-kommunikative Entwicklungstheorie des autobiographischen Gedächtnisses, in der auch kulturelle Einflüsse berücksichtigt werden. Markowitsch und Welzer (2005) schließlich legen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die neurophysiologischen Grundlagen des autobiographischen Gedächtnisses und deren Entwicklung und Interaktion mit anderen Faktoren in der Kindheit.

Fazit

Das autobiographische Gedächtnis ist, wie die in diesem Buch präsentierte Zusammenstellung seiner Merkmale, Funktionen und Störungen dokumentiert, ein wichtiger, wenn nicht gar der zentrale Teil der menschlichen Psychologie. Es definiert uns gewissermaßen und verschafft uns Identität. Störungen haben meist gravierende Konsequenzen. Gleichwohl ist das autobiographische Gedächtnis, wie eingangs erwähnt, kein objektiver und permanenter Datenspeicher, der all unsere Erfahrungen authentisch und unveränderlich bewahrt. Vielmehr schreiben wir unsere Geschichte zu einem Teil selber und bauen sie je nach Bedürfnissen auch schon mal um. Andere Teile werden weggelassen. Es ist gerade diese Dynamik, die uns so flexibel und anpassungsfähig gegenüber den Anforderungen und Aufgaben im Laufe des Lebens macht und die deshalb auch das Gebiet so spannend für die psychologische Forschung macht. Der Eingangssatz (Wir sind, was wir erinnern) könnte also präziser formuliert werden als: Wir halten uns für das, was wir derzeit mit Hilfe diverser (biologischer, kognitiver, motivationaler, emotionaler, sozialer und kultureller) Mechanismen aus unserem Leben rekonstruieren können. Das fertige Bild belohnt uns dafür.

Alles Wissen ist Erinnerung.

(Thomas Hobbes, 1588–1679)

1. Gedächtnis und Informationsverarbeitung

Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde und mit „Gedächtnisforscher“ antworte, erhalte ich oft dieselbe Reaktion: Mein Gegenüber fasst sich in einer theatralischen Geste an den Kopf und stöhnt auf: „Oh, da müssten Sie mal mein Gedächtnis untersuchen! Ich vergesse dauernd was. Ich wäre sicherlich ein lohnendes Versuchsobjekt!“ Dabei funktioniert unser Gedächtnis im Allgemeinen höchst zuverlässig (und sehr unauffällig). Nur in den absolut seltenen Fällen, wo es versagt, werden wir uns seiner schmerzlich bewusst, und wenn sich solche Ereignisse dann auch noch zufälligerweise „häufen“ (zwei oder drei am Tag), werden wir schnell skeptisch, was denn mit unserem Gedächtnis los ist. Die meisten Menschen glauben dementsprechend, ein eher schlechtes Gedächtnis zu haben. Dabei ist es völlig normal zu vergessen, wo man seine Brille hingelegt hat. Meine Frau gerät regelmäßig in Aufregung, wenn ihre Schlüssel „weg“ (in den Tiefen ihrer Handtasche verschwunden) sind. Und unser Nachbar nahm kürzlich eine zweistündige Autofahrt auf sich, nur weil er sich – unterwegs auf der Autobahn – nicht sicher war, zuhause die Kaffeemaschine ausgestellt zu haben. Das sind Beispiele für alltägliches Vergessen, die im Einzelnen zwar ärgerlich, insgesamt aber eher harmlos sind und nichts mit Altersvergesslichkeit oder gar Alzheimer-Demenz zu tun haben, wie manche schnell befürchten.

Wenn man einmal von diesen wenigen Ausnahmen absieht, in denen unser Gedächtnis uns im Stich lässt, ist es doch sehr beeindruckend, welch mächtige und zuverlässige Instanz unser Gedächtnis ist: All unser Wissen, das wir je erworben haben, all unsere Erfahrungen, alle Menschen, die wir kennen, unsere Sprache, unsere motorischen Fähigkeiten, unsere Gefühle, Ideen, Vorstellungen und Wünsche – alles basiert auf dem, was wir „Gedächtnis“ nennen. Es sammelt den ganzen Tag weitere Informationen auf und benutzt die vorhandenen, um die neuen zu verstehen und einzuordnen. Dabei wird das Wissen kontinuierlich verändert und zumeist verbessert. Das ist ein ungemein komplexer und dynamischer Prozess, der schon pränatal beginnt und ein ganzes Leben lang anhält. Und es ist wohl nicht allzu vermessen zu behaupten, dass diese Fähigkeit, Unmengen von Informationen zu speichern und bei Bedarf wieder zu nutzen, eine Grundlage des Menschseins schlechthin darstellt. Keine andere Tierart scheint über ein derart umfangreiches Gedächtnis zu verfügen. Ewald Hering (1834–1918), ein deutscher Physiologe, der durch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Wahrnehmung berühmt geworden ist, hat dies sehr eindrucksvoll formuliert (Hering, 1905; zit. nach Fleckner, 1995, S. 158 f.):

So sehen wir denn, daß es das Gedächtnis ist, dem wir fast alles verdanken, was wir sind und haben, daß Vorstellungen und Begriffe sein Werk sind, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Bewegung von ihm getragen wird. Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewußtseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt.

In den letzten 150 Jahren (seit den wegweisenden Selbstversuchen von Hermann Ebbinghaus) hat die Psychologie viel über das Gedächtnis und seine Funktionsweisen herausgefunden (und auch, warum es uns manchmal im Stich lässt). Davon ist in diesem ersten Kapitel die Rede. Mit den hier dargestellten Grundlagen soll das Verständnis für die nachfolgende Fokussierung auf das autobiographische Gedächtnis und seine Merkmale erleichtert werden. Relativ kompakte Darstellungen der Gedächtnispsychologie sind in den Lehrbüchern von Anderson (2001) und Becker-Carus (2004) zu finden. Ausführlichere Darstellungen finden sich bei Baddeley (1990, 1997). Sehr lesenswert ist auch ein von Tulving und Craik (2000) herausgegebener Sammelband.

Die Frage, wie denn Informationen langfristig im Gedächtnis aufbewahrt werden können, hat die Menschheit schon lange bewegt. Dazu wird zunächst der Aufbau des Gedächtnisses als Mehrspeichermodell dargestellt (Kap. 1.1). Für die Thematik des autobiographischen Gedächtnisses ist vor allem die kategorielle Unterteilung des Langzeitgedächtnisses relevant (Kap. 1.2) und nach welchen Organisationsprinzipien dieses aufgebaut ist (Kap. 1.3). Anschließend werden die neurophysiologischen Grundlagen und Funktionsweisen des Gedächtnisses dargestellt (Kap. 1.4). Während der Enkodierung, der Speicherung und auch des Abrufs können Veränderungen der verarbeiteten Information stattfinden (Kap. 1.5). Dabei spielen schematische Wissensstrukturen eine wichtige Rolle: So werden neue Informationen anhand dieser Schemata interpretiert, selegiert, abstrahiert und integriert, bevor sie als Gedächtnisspur abgelegt werden. Beim späteren Abruf werden vergessene Teile durch Rekonstruktionen ersetzt (Kap. 1.6). Zum Abschluss des Kapitels werden die Ursachen für „normales“ Vergessen dargestellt (Kap. 1.7).

1.1 Gedächtnissysteme

In der griechischen Mythologie war Mnemosyne (gr. Gedächtnis), eine Tochter des Himmelstitans Uranus und der Erdgöttin Gaia, die Göttin der Erinnerung. In neun Nächten zeugte sie mit Zeus die neun Musen, die das allumfassende Wissen ihrer Mutter unter sich aufteilten. Damit gilt Mnemosyne als die Mutter allen Wissens und Denkens und aller Künste. Diese Sichtweise spiegelt die kaum zu überschätzende Bedeutung des Gedächtnisses wider, wie ich sie oben bereits geschildert habe. Was aber ist denn nun das Gedächtnis? Dazu wurden im Laufe der Zeit vor allem zwei Metaphern berühmt, die der Wachstafel und – über 2000 Jahre später – die des Computers.

Die älteste bekannte Metapher vom Gedächtnis stammt vom griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.), einem Schüler des Sokrates. Er verglich das Gedächtnis mit einer Wachstafel, in die mehr oder minder dauerhafte Erinnerungen eingedrückt werden (zit. nach Fleckner, 1995, S. 24):

Nimm also zum Zweck unserer Untersuchung an, in unserer Seele befinde sich eine wächserne Tafel, bei dem einen größer, bei dem anderen kleiner, bei dem einen aus reinerem Wachs, bei dem anderen aus schmutzigerem, hier aus härterem, bei anderen wieder aus weicherem, bei einigen auch aus regelrecht passendem.

Diese Tafel soll nun ein Geschenk der Mutter der Musen, der Mnemosyne, heißen; auf diese Tafel, so nehmen wir an, drücken wir ab, was wir im Gedächtnis behalten wollen [...]. Und was sich da abgeprägt hat, dessen erinnern wir uns und das wissen wir, so lange das Abbild davon sich auf der Tafel erhält. Wenn es aber verwischt wird, oder überhaupt nicht die Kraft gehabt hat, sich abzuprägen, so haben wir es vergessen und wissen es nicht.

Interessanterweise erlaubt diese Metapher auch Erklärungen für individuelle Unterschiede in der Güte des Gedächtnisses und für die beiden wesentlichen Ursachen des Vergessens, mangelhafte Speicherung und spätere Löschung. Die Vorstellung, dass eine Erinnerung auf irgendeiner Art von „Spur“ beruht, hat sich bis heute erhalten. Irgendwie müssen Dinge ja so gespeichert werden, dass sie später wieder gefunden werden können. Auch Aristoteles (394–322 v. Chr.) verwendete diese Metapher und schilderte individuelle Unterschiede (zit. nach Fleckner, 1995, S. 37):

Denn die Bewegung, die das Objekt in dem Sinne hervorruft, zeichnet gleichsam einen Abdruck der stattgefundenen Wahrnehmung ein, wie man beim Siegeln mit dem Ringe tut. Deshalb gibt es auch bei Personen, die aus Leidenschaft oder wegen ihres Alters in starker Bewegung sind, kein Gedächtnis, wie wenn die Bewegung und das Siegel auf fließendes Wasser trifft, während wieder bei anderen sich der Abdruck deshalb nicht bildet, weil sie wie alte Wände zerschlissen und zermürbt sind, oder auch wegen der Härte des der Einwirkung offen stehenden Organs. Ebendeshalb haben sehr junge und sehr alte Leute kein Gedächtnis. [...] Desgleichen sieht man, daß weder Personen sehr lebhaften, noch solche sehr schwerfälligen Geistes ein gutes Gedächtnis haben. Bei den einen herrscht das Feuchte, bei den anderen das Harte ungebührlich vor [...].

Die Idee einer „Spur“ aufgreifend prägte der deutsche Zoologe Richard Semon (1859–1918) am Anfang des letzten Jahrhunderts den Begriff des „Engramms“ (Semon, 1904; zit. nach Fleckner, 1995, S. 206):

In sehr vielen Fällen läßt sich nachweisen, daß die reizbare Substanz des Organismus [...] nach Einwirkung und Wiederaufhören eines Reizes und nach Wiedereintritt in den sekundären Indifferenzzustand dauernd verändert ist. Ich bezeichne diese Wirkung der Reize als ihre engraphische Wirkung, weil sie sich sozusagen in die organische Substanz eingräbt oder einschreibt. Die so bewirkte Veränderung der organischen Substanz bezeichne ich als das Engramm des betreffenden Reizes, und die Summe der Engramme, die ein Organismus besitzt, als seinen Engrammschatz [...].

Das Engramm, und damit auch die alte Idee der Wachstafel, galten lange Zeit nur als Metaphern, da die wirkliche Form der Speicherung im Gedächtnis nicht bekannt war. Gleichwohl gewann der Begriff des Engramms, vor allem durch den Beitrag von Lashley (1950), an Popularität in der Psychologie und auch außerhalb. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Neurowissenschaften das Geheimnis der Speicherung nach und nach entschlüsselt (s. Kap. 1.4).

Als umfassende Metapher, die sowohl der Ablage einzelner Erinnerungen, deren Organisation untereinander, der potentiellen Unbegrenztheit als auch den im Gedächtnis ablaufenden, informationsverarbeitenden Prozessen gerecht werden sollte, wurde anfangs der 70er Jahre der Computer verwendet (s. Schacter, 2001, S. 65 f.). Die Festplatte gilt dabei als Langzeitgedächtnis, auf der (prinzipiell) beliebig viele Informationen gespeichert werden können. Informationen können auf verschiedenen Wegen aufgenommen werden, beispielsweise über die Tastatur, von einer Diskette oder CD, von einem Scanner, von einem Mikrofon, von einer angeschlossenen Digitalkamera oder Webcam, oder aus den riesigen Archiven des Internets. Die so aufgenommenen Informationen sind in der Regel geordnet, entweder nach dem Datum ihrer Ablage, nach dem Namen, unter dem sie gespeichert sind, nach der Art, der sie angehören (Texte, Töne, Bilder etc.), oder zusätzlich in hierarchischen Ordnersystemen. Damit werden auch verschiedene Suchwege angelegt, um die Information besser wiederzufinden. Und ebenso können diese Informationen wieder auf verschiedenen Wegen ausgegeben werden, wie z. B. auf einem Bildschirm, auf einem Drucker, über Lautsprecher, auf einer Diskette oder CD, oder als Seite im Internet. Für all diese Prozesse der Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Informationen sind das jeweilige Betriebssystem und zusätzliche Software verantwortlich. Dem entsprechen beim Menschen Wahrnehmungs-, Lern- und Erinnerungsprozesse. All das wird im Arbeitsgedächtnis geleistet, beim Computer im sogenannten Arbeitsspeicher.

Was das Engramm angeht, könnte man die Computer-Metapher sogar noch weiter treiben: Die Speicherung von Informationen geschieht im Computer durch simple 0/1-Kodierungen, was grundsätzlich den beiden möglichen Zuständen von Nervenzellen (Neuronen) entspricht: Entweder sie feuern oder sie feuern nicht. Und weiter: Alle Informationen (egal ob Zahlen, Texte, Bilder oder Töne) werden im Computer in denselben Code (0/1) übersetzt und gespeichert. Das gilt auch für Neuronen: Ihren Zuständen ist es nicht anzusehen, ob sie gerade Wörter, Bilder oder Gefühle verarbeiten.

Spätestens hier aber stößt die Metapher auch an ihre Grenzen. In mehreren grundlegenden Punkten weicht sie drastisch von der Wirklichkeit eines Gedächtnisses ab und behindert dadurch sogar ein realistisches Verständnis der Funktionsweisen des Gedächtnisses. Dazu gehört insbesondere die „Verarbeitung“ der Information, die im menschlichen Gedächtnis nicht einer passiven Ablage bzw. einer originalgetreuen Reaktivierung entspricht. Vielmehr durchlaufen Informationen vielschichtige Prozesse, die diese Informationen permanent verändern (s. Kap. 1.5–1.7).

Dass Erinnerungen unterschiedlich lange gespeichert werden können, erklärte der englische Philosoph, Politiker und Pädagoge John Locke (1632–1704) – analog zur Wachstafel Platons – mit unterschiedlich harten Gesteinsarten, in die Abdrücke geritzt werden, von Marmor (nahezu unvergänglich) über Sandstein (mittelfristig haltbar) bis zu Sand (sehr vergänglich). In der Tat ist es so, dass Erinnerungen unterschiedlich lange verfügbar sein können, von Sekundenbruchteilen über Minuten, Stunden und Tage bis zu einem ganzen Leben lang. Deshalb haben sich viele Forscher immer wieder gefragt, woher diese Unterschiede in der Behaltensdauer kommen. Eine Antwort darauf gab schon Locke, indem er die Rolle von Wiederholung, Aufmerksamkeit und emotionaler Beteiligung betonte (zit. nach Fleckner, 1995, S. 114):

Die Wiederholung und die Aufmerksamkeit tragen viel dazu bei, Ideen im Gedächtnis zu fixieren. Der tiefste und dauerndste Eindruck wird aber naturgemäß zuerst durch die Ideen hervorgerufen, die von Lust- oder Unlustempfindungen begleitet sind.

Damit benannte Locke drei zentrale Faktoren, deren Einfluss auf die Erinnerungsdauer nach wie vor unumstritten ist. Insbesondere die Rolle der Emotionen wird uns bei den autobiographischen Erinnerungen wieder begegnen. Die ersten systematischen Versuche zur Behaltensdauer stammten von Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der neben dem Mediziner Wilhelm Wundt (1832–1920) als einer der Begründer der experimentellen Psychologie in Deutschland gilt (Ebbinghaus, 1885). In akribischen Versuchsreihen bestimmte Ebbinghaus beispielsweise die exponentiell mit der Zeit verlaufende Vergessenskurve, die nach wie vor Gültigkeit besitzt. Demnach hängt die Behaltensleistung von der Menge des zu behaltenden Materials, der Häufigkeit des Übens und der verstrichenen Zeit ab.

Diese und ähnliche Befunde sprachen für die Annahme eines kontinuierlichen Gedächtnisses, in dem Informationen – je nach Bedingungen – mehr oder minder lange behalten werden. Ein starker Verfechter dieser Sichtweise war Melton (1963). Andere Evidenz legte dagegen nahe, von einer Zweiteilung des Gedächtnisses auszugehen, wie dies schon der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842–1910) vorgeschlagen hatte (James, 1890). Dementsprechend unterschieden Waugh und Norman (1965) zwischen einem primären (primary) und einem sekundären (secondary) Gedächtnis. Dies aufgreifend präsentierten Atkinson und Shiffrin (1968) das allgemein bekannte Zwei-Speicher-Modell, in dem sie von Kurzzeitspeicher (short-term store) und Langzeitspeicher (long-term store) sprachen. Heute haben sich dafür die Begriffe Kurzzeitgedächtnis oder KZG (short-term memory) und Langzeitgedächtnis oder LZG (long-term memory) eingebürgert. Informationen im KZG werden nur für Sekunden oder Minuten, solche im LZG für Stunden oder Jahre behalten. Neben den beiden Gedächtnisspeichern enthält das ursprüngliche Modell von Atkinson und Shiffrin (1968) noch einen sensorischen Speicher (sensory register), der einkommende Reize aus der Umwelt nur sehr kurzfristig festhält, um Aufmerksamkeitsprozessen eine Auswahl zu gestatten, welche Informationen ins Kurzzeitgedächtnis gelangen sollen. Gelegentlich wird dieser Speicher auch als Ultrakurzzeitgedächtnis bezeichnet. Das gesamte Modell wird als Mehrspeichermodell bezeichnet.

Trotz der insgesamt überzeugenden empirischen Evidenz blieb die angenommene Dichotomisierung des Gedächtnisses in KZG und LZG nicht unangefochten. Viele Annahmen erwiesen sich als zu simpel. Baddeley und Hitch (1974) schlugen als Lösung für dieses Problem anstelle des einfachen Kurzzeitspeichers und seiner Kontrollprozesse ein differenzierteres Modell mit mehreren Komponenten vor. Demnach dient das KZG hauptsächlich der kurzfristigen Bereitstellung von Informationen aus der Umwelt und/oder aus dem LZG, um diese weiter verarbeiten zu können. Statt Kurzzeitgedächtnis favorisierten Baddeley und Hitch deshalb den Begriff Arbeitsgedächtnis (working memory), der sich seitdem in der Gedächtnisforschung etabliert hat. Das Arbeitsgedächtnis besteht ihrer Auffassung nach aus einer zentralen Exekutive, die die Aufmerksamkeitszuwendung steuert, und mehreren Hilfssystemen, die unabhängig voneinander verschiedene Aufgaben erfüllen (s. Abb 1.1). So dient die phonologische Schleife (phonological loop) vorrangig der Spracherkennung und der räumlich-visuelle Notizblock (visuo-spatial sketchpad) der Verarbeitung visueller Reize. Mit diesem Modell lassen sich wesentlich differenziertere Befunde erklären als mit dem alten KZG-Modell (s. auch Baddeley, 2000).

1.2 Langzeitgedächtnis

Auf eine grundlegende Unterteilung des Langzeitgedächtnisses wies der französische Philosoph und Nobelpreisträger Henri Bergson (1859–1941) schon vor fast 100 Jahren hin (Bergson, 1908; zit. nach Fleckner, 1995, S. 186):

Aber warum sieht man nicht ein, daß der Unterschied ein radikaler ist zwischen dem, was durch die Wiederholung entsteht, und dem, was seinem Wesen nach sich nicht wiederholen kann? Die spontane Erinnerung ist sofort vollständig; die Zeit kann ihrem Bilde nichts hinzufügen, ohne es zu verfälschen; es behält im Gedächtnis seinen Platz und seinen Zeitpunkt. Im Gegensatz dazu geht die erlernte Erinnerung aus der Zeit heraus in dem Maße, als die Aufgabe besser erlernt wird; sie wird immer unpersönlicher und unserem vergangenen Leben immer entfremdeter.

Episodisch und semantisch

Das episodische Gedächtnis bezieht sich auf das Gedächtnis für persönliche Erfahrungen und ihre zeitlichen Bezüge, während das semantische Gedächtnis ein System zum Aufnehmen, Behalten und Weitergeben von Informationen zur Bedeutung von Wörtern, Konzepten und der Klassifikation von Konzepten ist.

Später beschrieb er die beiden Systeme dann etwas konkreter (Tulving, 1986, S. 307; Übers. d. Verf.):

Das episodische Gedächtnis, wie ich vorschlug, beschäftigt sich mit einzigartigen, konkreten, persönlichen, zeitlich datierten Ereignissen, die der Erinnernde erlebt hat, während das semantische Gedächtnis allgemeines, abstraktes, zeitloses Wissen beinhaltet, das eine Person mit anderen teilt.

Bis heute wurden zahlreiche experimentelle, entwicklungspsychologische, klinische und neurophysiologische Belege vorgelegt, die diese Unterscheidung sinnvoll erscheinen lassen (s. Nyberg & Tulving, 1996). Eine ausführliche Darstellung dieser Befunde erspare ich mir hier aber. Stattdessen will ich lieber noch eine andere Unterscheidung erwähnen, die in den letzten 20 Jahren viel Interesse gefunden hat und die viel mit der Dichotomie episodisch-semantisch zu tun hat. Ich meine die subjektive Einschätzung von Erinnerungen in „erinnert“ (remember) oder „gewusst“ (know). Tulving (1985) führte diese Begriffe ein, um damit qualitative Unterschiede im subjektiven Erinnerungserleben zu erfassen. Beim „Erinnern“ ist demnach die Erinnerung von einem subjektiven Gefühl des Wiedererlebens (re-experiencing) begleitet, beim „Wissen“ dagegen fällt uns nur der entsprechende Inhalt der Erinnerung ein. Ganz ähnlich hatte dies auch schon der französische Philosoph und Experimental-Psychologe Théodule Ribot (1839–1916) formuliert (zit. nach Fleckner, 1995, S. 197):

Manche Personen haben ein unechtes oder abstraktes Gefühlsgedächtnis, die andern ein echtes oder konkretes. Bei den einen erwacht die Gefühlsvorstellung wenig oder gar nicht wieder, bei den andern zum großen Teil vollständig.

An anderer Stelle nannte Ribot diese beiden Formen des Erinnerns intellektuelles und Gefühlsgedächtnis und beschrieb, dass im Laufe der Zeit Gefühlserinnerungen dazu tendieren, in intellektuelle überzugehen. Das erinnert doch sehr an das, was wir im heutigen Sprachgebrauch mit episodischen und semantischen Erinnerungen bezeichnen (Parkin, 2000, S. 53):

Alles in allem gibt es also deutliche Hinweise darauf, daß der Prozeß des Wiedererkennens zwei Komponenten hat: die spontane Vertrautheitsreaktion und den kontextabhängigen Abruf von Erinnerungen. Die Ergebnisse der zu diesem Thema durchgeführten experimentellen Studien sprechen dafür, daß das kontextabhängige Wiedererkennen bewußte Verarbeitung erfordert, während dies bei der Vertrautheitsreaktion nicht der Fall ist.

Eine remember-Erinnerung stammt demnach aus dem episodischen, eine know-Erinnerung aus dem semantischen Gedächtnis (Tulving, 1985). Andere Autoren vermuten als Grundlage für know-Erinnerungen jedoch eher das prozedurale Gedächtnis (Gardiner & Parkin, 1990), das im nächsten Abschnitt dargestellt wird. Eine meta-analytische Zusammenfassung von Studien zu den Eigenschaften von erinnerten und gewussten Gedächtnisinhalten findet sich bei Gardiner, Ramponi und Richardson-Klavehn (2002). Diese Autoren resümierten, dass es sich bei remember- und know-Erinnerungen in der Tat um qualitativ unterschiedliche Gedächtnisspuren handelt, die auf eine Vielzahl experimenteller Bedingungen unterschiedlich reagieren.

Deklarativ und prozedural

Das episodische und das semantische Gedächtnissystem gelten zusammen als das deklarative Gedächtnis. Es enthält benennbare (verbalisierbare) Informationen. Davon abzugrenzen ist das prozedurale Gedächtnis, das motorische Programme und Denkstrategien enthält (Winograd, 1975). Auch diese Dichotomisierung geht auf einen Philosophen zurück, den englischen Sprachphilosophen und langjährigen Herausgeber der Zeitschrift „Mind“ Gilbert Ryle (1900–1976), der zwischen „knowing that“ und „knowing how“ unterschied (Ryle, 1949; s. auch Cohen & Squire, 1980), was im deutschen etwa mit „Wissen“ und „Können“ übersetzt werden könnte. Oswald und Gadenne (1984, S. 173) beschrieben diese beiden Teile wie folgt:

Unter deklarativem Wissen ist das Faktenwissen zu verstehen, das Personen im Gedächtnis gespeichert haben, das sie sich bewußt machen können und das sie in der Regel zu verbalisieren vermögen. Prozedurales Wissen bezieht sich auf die kognitiven Mechanismen, die Personen dazu in die Lage versetzen, komplexe kognitive und motorische Handlungen durchzuführen, ohne dabei die einzelnen Bestandteile dieser Handlungen bewußt kontrollieren zu müssen.

Zu den zuletzt genannten Prozeduren gehören beispielsweise die Fähigkeiten, einen grammatikalisch korrekten Satz zu produzieren, Denkprobleme zu lösen, oder Fahrrad zu fahren. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal (neben der Verbalisierbarkeit) ist die Art, wie das jeweilige Wissen erworben wird. Während deklaratives Wissen unmittelbar durch Mitteilung erworben werden kann, bedürfen prozedurale Fähigkeiten meist einer längeren Übung, in dessen Verlauf sich die betreffende Prozedur kontinuierlich verbessert. Ein dritter Unterschied besteht in den Annahmen dazu, wie diese beiden Wissensarten im Gedächtnis repräsentiert sind. Für deklaratives Wissen werden semantische Netzwerkstrukturen, für prozedurales Wissen Produktionssysteme favorisiert (Anderson, 2001). Diese und weitere Kriterien, wie sich deklaratives und prozedurales Gedächtnis unterscheiden, finden sich zusammenfassend bei Becker-Carus (2004, S. 410).

Abb. 1.1: Integration der Gedächtniskonzeptionen von Atkinson und Shiffrin (1968), Baddeley und Hitch (1974) sowie Nyberg und Tulving (1996)

Zusammenfassung

Neben den beiden deklarativen Systemen (episodisch und semantisch) und dem prozeduralen System wurde in den 90er Jahren noch eine weitere Form des LZG postuliert, ein perzeptuelles Gedächtnis (s. Nyberg & Tulving, 1996; Schacter, 2001, Kap. 6) oder, wie Tulving und Schacter (1990) es nannten, ein perzeptives Repräsentationssystem (PRS; Schacter, 2001), auf das ich hier aber nicht näher eingehen will. Gelegentlich werden das prozedurale und das perzeptive LZG auch zum nicht-deklarativen Gedächtnis zusammengefasst.

Abbildung 1.1 stellt die LZG-Systeme graphisch dar, und zwar (einer Idee von Parkin, 2000, folgend) in Verbindung mit dem Mehr-Speicher-Modell von Atkinson und Shiffrin (1968) und dem Arbeitsgedächtnis-Konzept von Baddeley und Hitch (1974).

Implizites Gedächtnis

Graf und Schacter (1985) postulierten, dass zwischen einem impliziten und einem expliziten Gedächtnis zu unterscheiden ist. Implizit meint, dass Erfahrungen indirekt oder unbewusst nachwirken können und unser Verhalten beeinflussen, ohne das wir das bewusst erkennen. Beispiele dafür werden von Schacter (2001, Kap. 6) geschildert. So konnten amnestische Patienten beispielsweise bei wiederholten motorischen Sequenzen (prozedurales Gedächtnis) schneller reagieren als bei neuen, obwohl ihnen nicht bewusst war, dass es sich um Wiederholungen handelte.

Ähnliche Befunde liegen auch für das semantische Gedächtnis vor. Lesen Sie bitte die beiden folgenden Sätze (aus Schacter, 2001, S. 307 f.):

Der Heuhaufen war wichtig, weil die Seide riss.Die Töne waren schräg, weil die Nähte platzten.

Beide Sätze sind ohne weitere Informationen nicht leicht zu verstehen und vermutlich haben Sie eine Weile daran herumgerätselt. Das Verständnis steigt aber schnell, wenn ich Ihnen die Wörter „Fallschirm“ (für Satz 1) und „Dudelsack“ (für Satz 2) gebe. Nun erschließt sich der ganze Sinn. Amnestische Patienten, denen diese Sätze und die Schlüsselwörter vorgelegt worden waren, kamen später ohne Probleme auf die Bedeutung der Sätze (ohne die Schlüsselwörter), erinnerten sich aber nicht, die Sätze je gelesen zu haben. Hier gab es demnach ein implizites Gedächtnis für die semantische Interpretation der Sätze.

Als Beispiel für implizite Effekte im episodischen Gedächtnis mögen folgende Befunde gelten: So wurde ein (ethisch heute nicht vertretbares) Experiment mit Patienten durchgeführt, bei denen ein chirurgischer Eingriff unter Vollnarkose vorgenommen wurde (Levinson, 1965). Während der Vollnarkose suggerierte man den Patienten, es gäbe ein ernstes Problem und sie seien in Lebensgefahr. Später zeigten sich einige der Patienten sehr aufgeregt, ohne sich zu erinnern warum. Offensichtlich hatten sie eine implizite Erinnerung an eine lebensbedrohliche Situation. Es gab aber auch positivere Suggestionen. In einem anderen Experiment wurde den Patienten unter Vollnarkose suggeriert, sie würden sich nach der Operation schnell wieder erholen. Und in der Tat blieben diese Patienten weniger lang im Krankenhaus als andere, denen keine derartige Suggestion gegeben worden war (Evans & Richardson, 1988).

Ein zentraler Punkt ist der Grad oder die Art des Bewusstseins, die mit einer Erinnerung verbunden ist. Man kann implizite Erinnerungen demnach auch als das Ende eines Kontinuums verstehen, das Erinnerungen nach der Intensität und Bewusstheit der sie begleitenden Umstände ordnet (Rajaram, 1993). So reicht die Erinnerungserfahrung von (a) vollständig und klar erinnerten Informationen (remember) über (b) lediglich gewusste (know) und (c) gewusste, aber nicht abrufbare (feeling-of-knowing), bis hin zu (d) implizit, unbewusst „erinnerten“ Informationen. Dementsprechend postulierten einige Autoren eine Definition der oben diskutierten Gedächtnissysteme, die nicht auf deren Inhalt, sondern auf die jeweilige Art der damit verbundenen Bewusstheit abzielt (Tulving, 1993; Tulving & Markowitsch, 1998; Wheeler, Stuss & Tulving, 1997). Das episodische Gedächtnis wird als selbstbewusst (autonoetisch), das semantische als bewusst (noetisch) und das prozedurale als unbewusst (anoetisch) definiert.

1.3 Organisationsprinzipien

Als Organisationsprinzipien werden hier zunächst die grundlegenden Assoziationen und darauf aufbauend hierarchische Strukturen dargestellt.

Assoziationen

Das zentrale Organisationsmerkmal des Gedächtnisses für längerfristig gespeichertes Wissen ist sicherlich die Assoziation (lat. Vereinigung). Informationen, die zusammengehören, sind miteinander verbunden. Wenn wir beispielsweise an ein Buch denken, fallen uns in der Regel ähnliche, damit verbundene Dinge ein, etwa wie schwer und wie groß es ist, wenn wir es in die Hand nehmen, und dass es viele Seiten aus Papier hat, auf denen etwas in schwarzer Schrift geschrieben steht, dass es einen Einband hat, etc. Wenn wir an ein bestimmtes Buch denken, beispielsweise einen Roman, den wir vor einiger Zeit gelesen haben, fällt uns vielleicht ein, dass wir sehr gerührt vom Inhalt waren oder dass wir den Schluss unmöglich fanden. Informationen im Gedächtnis sind also nicht wahllos angehäuft, sondern auf ihre Art „sortiert“, auch wenn wir uns manchmal sicherlich wünschten, unser Gedächtnis wäre noch besser „aufgeräumt“ (um leichter etwas wiederzufinden). Assoziationen der beschriebenen Art stellen das grundlegende Organisationsprinzip im Gedächtnis dar. Dabei werden zwei Gruppen von Regeln unterschieden, die für die Bildung und Merkmale von Assoziationen entscheidend sind. Die einen (primären) gehen auf Aristoteles zurück, der postulierte, dass Assoziationen auf drei Prinzipien beruhten: Kontiguität (zeitliche und räumliche Nähe), Ähnlichkeit und Kontrast. Die anderen (sekundären) Regeln beschreiben die Güte von Assoziationen. So postulierte beispielsweise der englische Philosoph Thomas Brown (1778–1820) neun Gesetze der Assoziationsbildung. Darunter waren vor allem die Intensität zweier Reize, die Häufigkeit ihrer Paarung und deren Rezenz als entscheidende Faktoren benannt.

Bekannt geworden sind Assoziationen nicht zuletzt auch durch den österreichischen Neurologen und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939), der die Methode des freien Assoziierens benutzte, um mehr über die dominanten Gedanken seiner Patientinnen zu erfahren. Dabei sollten seine Patientinnen einfach alles unkontrolliert von sich geben, was ihnen in den Sinn kommt. Stärker kontrolliert war der Wort-Assoziationstest, den der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961), ein Schüler Freuds, weiter entwickelte. Dabei werden einzelne (standardisierte oder individualisierte) Wörter vorgegeben und der Patient soll spontan alles nennen, was ihm dazu einfällt. So sagen viele auf „schwarz“ „weiß“ und auf „Tisch“ „Stuhl“. Was aber sagen Sie auf „Schlaf“, „Freude“ oder „Zukunft“? Könnte das nicht etwas darüber aussagen, was sie gerade innerlich beschäftigt, bei direkter Nachfrage aber kaum benennen könnten? Dieser Test geht übrigens auf eine Methode des englischen Naturforschers und Psychologen Francis Galton (1822–1911), einem Vetter von Charles Darwin, zurück und wird auch bei der Untersuchung des autobiographischen Gedächtnisses angewandt (s. Kap. 2.3).

Die Assoziationen können – wie schon Aristoteles postulierte – verschiedener Natur sein. Darauf hat auch der französische Soziologe und Psychologe Maurice Halbwachs (1877–1945), ein Schüler Henri Bergsons und Emil Durkheims, hingewiesen (zit. nach Fleckner, 1995, S. 243):

Mit anderen Worten, die Gegenstände und die Ereignisse ordnen sich in unserem Geiste in zweifacher Weise an, einmal nach der chronologischen Ordnung ihres Erscheinens, zum anderen gemäß den Namen und der Bedeutung, die man ihnen [...] zuerteilt.

Damit rekurriert Halbwachs auf die beiden deklarativen Gedächtnissysteme, auf die ja schon sein Lehrer Bergson hingewiesen hatte, das episodische (chronologisch geordnet) und das semantische (nach Bedeutung geordnet). Wenn von Assoziationen die Rede ist, denkt man meist nur an die Organisation nach der bedeutungshaltigen Ähnlichkeit, aber ebenso stellt die zeitliche Nähe (Kontiguität) ein wichtiges Ordnungsprinzip dar (das neben dem episodischen auch für das prozedurale Gedächtnis gilt). So sind zeitlich zusammenhängende Informationen in der Regel auch im Gedächtnis miteinander assoziiert. Im obigen Beispiel mit dem Roman erinnere ich dementsprechend vermutlich auch noch, wann und wo ich ihn gelesen habe, was ich davor und danach getan habe etc. Oder denken Sie mal an ihren letzten Urlaub! Dazu fallen Ihnen sicherlich nicht nur urlaubstypische (d. h. semantische) Informationen ein, sondern bestimmt auch ganz spezifische Episoden und deren Ablauf. Die gespeicherte Chronologie muss natürlich nicht immer korrekt sein, aber sie ist in jedem Fall ein zentrales Merkmal unseres episodischen, und damit auch des autobiographischen Gedächtnisses (s. Kap. 3.4).

Hierarchische Strukturen

Kategoriale Assoziationen (wie „ist Teil von“) können zur Bildung hierarchischer Wissenssysteme genutzt werden. Wir alle kennen solche Systeme z. B. aus der Zoologie (Reich, Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art). Vieles spricht dafür, dass auch in unserem Gedächtnis Informationen in hierarchischen Systemen gespeichert sind, allerdings dürften diese wesentlich flexibler sein. Die wohl bekannteste Ordnungseinheit auf dieser übergeordneten Ebene ist das „Schema“ (gr.-lat. Muster, Entwurf, Grundform; pl. Schemata). Dieser Begriff wurde von Frederick Bartlett (1886–1969), einem englischen Gedächtnispsychologen, populär gemacht, als er die Erinnerung seiner Probanden an vorher gelesenen Geschichten untersuchte (Bartlett, 1932). Ein Schema ist demnach eine relativ stabile Struktur im Gedächtnis, die einerseits dazu dient, neue Informationen aufzunehmen (zu „verstehen“), andererseits aber auch, sie später wieder abzurufen (zu „rekonstruieren“). Neben angeborenen Schemata (wie z. B. das „Kindchen-Schema“ in der Wahrnehmung) handelt es sich hier hauptsächlich um Strukturen, die aus wiederholten Erfahrungen abstrahiert wurden. Der Schweizer Naturwissenschaftler und Psychologe Jean Piaget (1896–1980) hat sich sehr damit beschäftigt, wie solche Schemata im Laufe der kindlichen Entwicklung gebildet und verändert werden. Er sprach von Assimilation, wenn neue Informationen an das Schema angeglichen werden, und von Akkomodation, wenn ein Schema den neuen Informationen angepasst wird.

In der Psychologie ist der Begriff des Schemas recht großzügig für verschiedenste Phänomene benutzt worden (s. Mandl, Friedrich & Hron, 1988; Rumelhart & Ortony, 1977). Als allgemeine Merkmale von Schemata gaben Rumelhart und Norman (1985) an:

Schemata besitzen Variablen. Im Restaurant-Skript beispielsweise, das weiter unten dargestellt wird, ist es egal, ob die Tische rund oder eckig sind, die Bedienung männlich oder weiblich etc. All dies sind Variablen (slots), deren genaue Ausprägung für das Schema unerheblich ist. Das Schema beinhaltet nur den invarianten Inhalt (Tisch, Bedienung etc.).Schemata können in andere eingebettet sein. Im genannten Beispiel könnte während des Restaurantbesuchs ein Streit zwischen zwei Kontrahenten ausbrechen, der wiederum einem eigenen, vom Restaurant völlig unabhängigen Schema folgt.Schemata repräsentieren Wissen auf allen Abstraktionsebenen. Schemata können hier den Restaurantbesuch beinhalten, auf niedrigerer Ebene den Vorgang des Bezahlens, und auf höherer Ebene die typische abendliche Freizeitgestaltung (wovon Essen gehen ein Teil ist).Schemata repräsentieren Wissen und nicht Definitionen. Die Ausprägung eines Schemas hängt von der individuellen Lernerfahrung ab und ist daher individuell unterschiedlich. Das kann u. U. zu Fehlurteilen, Missverständnissen oder Peinlichkeiten führen.Schemata dienen dem Verstehen und Erinnern. Die zentralen informationsverarbeitenden Prozesse nutzen schematisches Wissen.Wir ordnen neue Informationen im Lichte der bekannten ein und wir füllen Erinnerungslücken mithilfe des vorhandenen Wissens.

Ein typisches Beispiel für gedächtnisbasierte Schemata ist das „Skript“ (Schank & Abelson, 1977). Es beinhaltet stereotypisierte Handlungsabläufe, wie zum Beispiel den Besuch in einem Restaurant. Befragt man Personen zu so einem Skript, stimmen sie weitgehend darin überein, welche Handlungen zentral (und damit typisch) sind und welche eher peripher (und damit eher variabel) sind.

Insgesamt betrachtet erfreut sich das Schema als Begriff für zeitlich überdauernde Strukturen im Gedächtnis großer Beliebtheit, und zwar sowohl in der Forschung als auch außerhalb im Alltag. Andererseits muss man aber auch konstatieren, dass seine Definitionen in den verschiedenen Bereichen relativ vage geblieben sind. Es ist daher fraglich, ob es hier in der Zukunft zu präziseren Modellvorstellungen bezüglich größerer Gedächtnisstrukturen kommen kann, oder ob es bei den zwar plausiblen, aber wenig genauen Umschreibungen bleiben wird.

1.4 Neuronale Repräsentation

In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie Informationen im Gedächtnis auf neuronaler Ebene gespeichert sind. Das, was in Platons Wachstafel-Metapher und in Semons Konzept des Engramms schon angeklungen war (s. Kap. 1.1), muss ja irgendeine Entsprechung auf neuronaler Seite haben, wie schon Hering (1870, zit. nach Fleckner, 1995, S. 154 f.) feststellte:

Dies zeigt uns in schlagender Weise, daß, wenn auch die bewußte Empfindung und Wahrnehmung bereits längst verloschen ist, doch in unserem Nervensystem eine materielle Spur zurückbleibt, eine Veränderung des molekularen oder atomistischen Gefüges, durch welche die Nervensubstanz befähigt wird, jene physischen Prozesse zu reproduzieren, mit denen zugleich der entsprechende psychische Prozeß, d. h. die Empfindung und Wahrnehmung gesetzt ist.

Zu den dafür verantwortlichen Strukturen und Mechanismen, die solche „Spuren“ im Gedächtnis anlegen und (hoffentlich) wiederfinden, hat die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten viele neue Erkenntnisse gewonnen. Dabei geht es auf der miskroskopischen Ebene um bioelektrische und biochemische Prozesse, aber auch um anatomische Veränderungen der Neuronen. Auf der makroskopischen Ebene der neuronalen Repräsentation dagegen wird gefragt: In welchen Regionen des Gehirns werden Neuronen wann aktiv und wie interagieren diese Regionen? Diese Perspektive fragt also mehr nach dem Wo als nach dem Wie.

Anatomie und Physiologie des Gehirns

Um die mikro- und die makroskopischen Vorgänge besser verstehen zu können, seien hier zunächst einige neurophysiologische Grundlagen des Gehirns erläutert. Für ausführlichere Darstellungen der Zusammenhänge von Gedächtnis und Gehirn sei auf die Lehrbücher von Birbaumer und Schmidt (1999, Kap. 24), Ellis und Young (1996, Kap. 10) sowie Pinel (1997, Kap. 14) verwiesen. Gut lesbar sind auch die Bücher von Markowitsch und Melzer (2005) und von Schacter (2001).

Das Gehirn besteht aus mehreren Milliarden Neuronen (Nervenzellen), die jeweils aus mehreren kurzen, verzweigten Fortsätzen (Dendriten) als Empfangsorganen, dem Zellkörper (Soma) und einem längeren Fortsatz (Axon) zur Reizweiterleitung bestehen. Zwischen den einzelnen Neuronen existieren zahlreiche Verbindungen. Man schätzt, dass jedes Neuron Informationen von mindestens 1000 anderen erhält, und dass es Informationen an mindestens 1000 andere weitergibt (andere Quellen geben Zahlen von 4000 bis 100000 Verbindungen pro Neuron an). Dieses riesige Netzwerk besitzt dementsprechend ein gewaltiges Potenzial an Verarbeitungskapazität, bleibt aber dennoch ein plastischer (formbarer) Organismus (Pinel, 1997, S. 396):

Das Nervensystem ist kein statisches Netzwerk miteinander verbundener Elemente, wie es das Verdrahtungsmodell impliziert. Es ist ein plastisches, lebendes Organ, das auf das Wechselspiel zwischen seinem genetischen Programm und seiner Umwelt reagiert und ständig wächst und sich verändert.

Die Reizweiterleitung innerhalb dieses Netzes geschieht chemoelektrisch. Innerhalb eines Neurons (von den Dendriten über das Soma zum Axon) wird ein elektrischer Impuls gesandt. Die Übertragung zwischen dem Axon des sendenden Neurons auf die Dendriten des empfangenden Neurons geschieht dagegen auf chemischem Wege. Das Axon und die Rezeptor-Dendriten sind nicht direkt miteinander verbunden, sondern durch einen kleinen Spalt (Synapse) getrennt. Das ankommende elektrische Signal setzt im Axonende Botenstoffe (Neurotransmitter) frei, die durch den Spalt zum Dendriten diffundieren, und dort wiederum ein elektrisches Signal auslösen. Dieser Vorgang bildet die Grundlage aller informationsverarbeitenden Prozesse im Gehirn.

Anatomisch lässt sich das Gehirn (Encephalon) in fünf verschiedene Anteile mit weiteren Untergliederungen einteilen (s. Tab. 1.1), nämlich in End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Nachhirn. End- und Zwischenhirn werden auch zum Vorderhirn (Prosencephalon), Hinter- und Nachhirn zum Rautenhirn (Rhombencephalon) zusammengefasst. Mittel- und Rautenhirn bilden darüber hinaus das Stammhirn. Das Endhirn besteht aus zwei Hälften (Hemisphären), einer rechten und einer linken, die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind. Die Großhirnrinde (Neokortex) setzt sich aus vier sogenannten Lappen zusammen (s. Abb. 1.2), dem Stirn- (Frontal-), dem Scheitel- (Parietal-), dem Hinterhaupt- (Okzipital-) und dem Schläfenlappen (Temporallappen).

Abb. 1.2: Die vier Lappen der Großhirnrinde und das Kleinhirn (von links gesehen)

Tab. 1.1: Untergliederung des Gehirns in verschiedene Bereiche

Endhirn (Telencephalon)

Großhirnrinde (Neokortex)

Basalganglien

Limbisches System

Ammonshörner (Hippocampus)

Mandelkerne (Amygdala)

Zwischenhirn (Diencephalon)

Thalamus

Hypothalamus

Hypophyse

Mittelhirn (Mesencephalon)

Hinterhirn (Metencephalon)

Kleinhirn (Cerebellum)

Brücke (Pons)

Nachhirn (Myelencephalon)

Verlängertes Rückenmark (Medulla oblongata)

Viele Forscher suchten nach den zugehörigen Arealen für bestimmte kognitive Fähigkeiten. So war beispielsweise schnell klar, dass der hintere Teil der Frontallappen die motorischen Projektionsfelder des Körpers enthält und der direkt angrenzende, vordere Teil der Parietallappen die somatosensorischen. Die Okzipitallappen enthalten entscheidende Strukturen für die visuelle und die Temporallappen für die auditive Wahrnehmung. Diese Bereiche gelten als (primäre) Projektionsfelder, da sie Informationen direkt aus den zugehörigen Organen erhalten. Alle anderen Bereiche werden als (sekundäre) Assoziationsfelder bezeichnet, da sie Informationen erst „aus zweiter Hand“ erhalten.

Für die beiden Hemisphären gilt das Postulat der Dualität (Sperry, 1974), d. h. sie können unabhängig voneinander arbeiten, tauschen normalerweise aber Informationen über den Balken aus. Lange Zeit galt darüber hinaus die linke Hemisphäre als die dominante, neuere Forschungen ziehen dies jedoch in Zweifel. Sehr populär, aber empirisch wenig unterstützt (Pinel, 1997), ist auch die von Sperry (1974) vermutete Spezialisierung der linken Hälfte auf eher analytische und der rechten Hälfte auf eher synthetische Aufgaben, oder wie Harris (1978, S. 463, zit. nach Pinel, 1997, S. 443) es ausdrückte:

Die linke Hemisphäre operiert in einer logischeren, analytischen, computerartigen Weise, analysiert den Reiz-Informations-Input sequentiell und filtert die relevanten Details heraus, denen sie verbale Etiketten verpaßt; die rechte Hemisphäre arbeitet primär synthetisch, ist mehr mit der allgemeinen Reizkonfiguration befaßt und organisiert und verarbeitet Information in Form von Gestalten und Ganzheiten.

Der linken Hemisphäre wurden zudem verstärkt sprachliche Fähigkeiten zugesprochen, beispielsweise die sprachliche Artikulation in der Broca-Region (im linken Frontallappen) und die akustische Sprachwahrnehmung in der Wernicke-Region (im linken Temporallappen). Der rechte Parietallappen galt dagegen als verantwortlich für visuell-räumliche und taktil-räumliche Orientierung. Diese lateralisierten räumlichen Zuordnungen erwiesen sich jedoch als zunehmend schwieriger haltbar, da genauere Untersuchungen ergaben, dass an solch komplexen kognitiven Funktionen stets mehrere Bereiche des Gehirns beteiligt sind.

Neuronale Grundlage des Gedächtnisses

Aber wo ist denn nun das Gedächtnis? Während Aristoteles über das Herz als Sitz des Gedächtnisses spekulierte, der deutsche Kartäuser-Mönch Gregor Reisch (1467–1525) es im vierten Ventrikel (einem mit Hirnwasser gefüllten Hohlraum im Gehirn) suchte, und der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) es der Zirbeldrüse (einer innersekretorischen Drüse an der Hirnbasis) zuschrieb, ist heute klar, dass der gesamte Neokortex als Speicherorgan dient. Im Folgenden wird nun zunächst – auf mikroskopischer Ebene – beschrieben, was sich dort verändert, um dauerhaftes Behalten zu ermöglichen, und dann – auf makroskopischer Ebene – über welche Stationen Informationen dorthin gelangen.

Grundlegende Beobachtungen haben gezeigt, dass eine frisch angelegte Erinnerungsspur zunächst auf bioelektrischen Prozessen beruht und es dann einer mehr oder minder langen Konsolidierungsphase bedarf, bevor es zu biochemischen Veränderungen kommt, die die temporäre Spur in ein dauerhaftes Engramm umwandeln. Der erste Zustand entspricht in etwa dem KZG, der zweite dem LZG. Der Übergang zwischen beiden kann relativ schnell (in wenigen Minuten) erfolgen, ist aber anfällig für viele innere wie äußere Störeinflüsse und kann mitunter auch viel länger benötigen (bis zu Jahren). Dies belegen Befunde bei amnestischen Patienten (s. Kap. 7).

Schon Hebb (1949) hatte vermutet, dass eine Erinnerungsspur aus einem abgeschlossenen Verband neuronaler Zellen (cell-assembly) besteht, in dem ein angestoßenes Erregungsmuster für einige Zeit weiter zirkuliert. Sie bilden damit einen reverberatorischen Neuronenkreis (reverbaratory circuit), der ein kohärentes Entladungsverhalten zeigt. Form und Frequenz dieser Entladungen sind spezifisch für das jeweilige Engramm. Je komplexer das zu behaltende Material, umso größer ist der zugehörige Zellverband. Ein Engramm kann auch aus mehreren solcher Zellverbände bestehen, und einzelne Zellen können an mehreren Zellverbänden (und damit an mehreren Engrammen) beteiligt sein. Nach einer gewissen Anzahl von Reverberationen kommt es offenbar zu biochemischen Veränderungen an den Synapsen dieses Zellverbands, und zwar nach der Hebb’schen Regel. Diese besagt, dass die Verbindung zwischen zwei Neuronen umso mehr gestärkt wird, je häufiger sie gleichzeitig erregt werden. Entscheidend ist das zeitliche Zusammentreffen von prä- und postsynaptischer Aktivität. Dies führt zur Langzeitpotenzierung (longterm potentiation), einem zeitlich überdauernden Bahnungseffekt, sodass die Erregung in dem Zellverband noch leichter pulsiert (das entspricht dem Prozess des Speicherns) bzw. eine geringere Erregung des Verbandes von außen reicht, um ihn insgesamt wieder zu aktivieren (das entspricht dem Prozess des Erinnerns). Synapsen, die solche Potenzierungen zeigen, sogenannte Hebb-Synapsen, finden sich vorrangig im Endhirn (und dort vor allem im Neokortex), haben also in erster Linie mit der Speicherung von Informationen zu tun. Neben der Erleichterung der Aktivierung des eigenen Zellverbandes haben sie auch noch die wichtige Eigenschaft, benachbarte, inaktive Zellen zu hemmen (Langzeitdepression). Dadurch hebt sich das Erregungsmuster deutlicher von seinem „Hintergrund“ ab (vgl. Becker-Carus, 2004; Birbaumer & Schmidt, 1999).

Die beschriebene Konzeption der Konsolidierung macht auch deutlich, warum Lernen (also der Übergang vom KZG ins LZG) so anfällig ist. Wenn wir uns nicht konzentrieren können, weil wir mehrere Dinge gleichzeitig tun, emotional belastet sind oder sonst wie unser Gehirn überfordern, kommt es nicht oder nur eingeschränkt zu den notwendigen Reverberationen. Entsprechende Informationen sind dann nur schwach oder gar nicht gespeichert und können dementsprechend auch nur schlecht oder gar nicht erinnert werden.

Was aber passiert genau bei der beschriebenen Langzeitpotenzierung innerhalb eines Zellverbandes? Da die meisten unserer Erinnerungen höchst stabil und löschungsresistent sind, liegt es nahe, den Grund dafür nicht in flüchtigen elektrochemischen Prozessen, sondern vielmehr in strukturellen Veränderungen der beteiligten Neuronen zu suchen. Aktuelle Theorien vermuten die entscheidenden Veränderungen in der intrazellulären Eiweißbildung (Proteinbiosynthese). Vermutlich wird die Effizienz der Synapsen auf biochemischem Wege erhöht, wobei Enzyme (die aus Proteinen bestehen) die Produktion und den Abbau von Neurotransmittern verbessern, d. h. denjenigen chemischen Botenstoffen, die für die Reizweiterleitung verantwortlich sind. Außerdem werden Rezeptormoleküle für die postsynaptische Membran und Strukturproteine für den Aufbau der Zellmembran und weiterer Axonenden bereitgestellt. Mit anderen Worten: Die Langzeitpotenzierung modifiziert die Genexpression der Nervenzelle (Becker-Carus, 2004, S. 434):

So scheint es heute sicher, dass die Konsolidierung im Wesentlichen über eine Proteinbiosynthese unter Mitwirkung der genetischen Steuerung (Genexpression) erfolgt und so der Gedächtnisinhalt in der veränderten Struktur und Qualität von Transmittern und synaptischen Rezeptoren verschlüsselt wird [...].

Die spannende Geschichte der Erforschung dieser Zusammenhänge wird von Kandel (2006) geschildert.