Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón - Sergi Doria - E-Book

Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón E-Book

Sergi Doria

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Beschreibung

Eine wunderbare Reise durch das magische Barcelona des Carlos Ruiz Zafón. Zwischen Carlos Ruiz Zafón und der »alten, trüben, dunklen Seele« seiner Heimatstadt Barcelona besteht eine ganz besondere Verbindung. Als Kind spielte er in Gaudís verwunschener Kathedrale Sagrada Familia, im Villenviertel Sarriá besuchte er eine prachtvolle Jesuitenschule, und in den Ferien übernahm der junge Zafón Botengänge für seinen Vater, die ihn durch die ganze Stadt führten. ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹, ›Der Gefangene des Himmels‹ und ›Marina‹ leben von den Geheimnissen, den Leidenschaften und der Magie, die Carlos Ruiz Zafón seiner Heimat abgelauscht hat. Sergi Dorias Buch begibt sich an die Schauplätze der Romane und erkundet ihre realen Vorbilder und verborgenen Bezüge. Ein Muss für alle Fans.

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Sergi Doria

Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón

Spaziergänge durch eine erzählte Stadt

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar

Fischer e-books

Mit einem Vorwort von Sergio Vila-Sanjuán

Im Schatten Gaudís und des alten Buches

Sergio Vila-Sanjuán

»Wie alle alten Städte ist auch Barcelona eine Summe von Ruinen. Die großen Herrlichkeiten, deren sich viele brüsten, Paläste, Faktoreien und Monumente, Insignien, mit denen wir uns identifizieren, sind bloß noch Leichen, Reliquien einer untergegangenen Zivilisation.«

CARLOS RUIZ ZAFÓN, Der Schatten des Windes

»Diese Stadt ist eine Hexe, wissen Sie, Daniel. Sie setzt sich einem auf der Haut fest und nimmt einem die Seele, ohne dass man es überhaupt merkt.«

CARLOS RUIZ ZAFÓN, Der Schatten des Windes

Das Erscheinen von Der Schatten des Windes im Jahr 2001 war in mehrerlei Hinsicht ein Markstein. Erstens wurde das Buch mit seinem unerwarteten Erfolg (bis heute weltweit zwölf Millionen verkaufte Exemplare) zum meistverbreiteten Roman der zeitgenössischen spanischen Belletristik, der die Aufmerksamkeit von Leserschaften geweckt hat, die der spanischen Literatur immer sehr zurückhaltend gegenübergestanden hatten, wie zum Beispiel Briten oder Amerikaner. Zweitens ist es mit seiner »stilisierten und gotischen« – Ruiz Zafón dixit – Sicht Barcelonas eine der kulturellen Ikonen der katalanischen Metropole geworden, was ein großes Interesse an den darin geschilderten Stadtlandschaften hervorgerufen und literarische Pfade geschaffen hat, die sich abschreiten lassen.

Dieser wundervolle, melancholische, ebenso anrührende wie fesselnde Roman ist die schönstmögliche Hommage an eine Stadt.

Das Jahr der Spiele

Schwer zu sagen, ob ein Roman wie Der Schatten des Windes vor den Olympischen Spielen 1992 hätte geschrieben werden können, die aller Augen auf sich zogen, Barcelona zur In-Stadt machten und gleichzeitig die größte urbanistische Umgestaltung seiner jüngeren Geschichte auslösten.

Möglicherweise hat das neue weltweite Interesse an Barcelona, seiner Geschichte und seiner Kultur zu der berechtigten Begeisterung beigetragen, mit der Der Schatten des Windes aufgenommen wurde. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass Carlos Ruiz Zafóns erzählerisches Werk zu einem guten Teil die Klage um eine verlorene Stadt ist, die die Olympischen Spiele hinter sich ließen. So, wie auch der Erzähler von Marina klagt: »Das Barcelona meiner Jugend gibt es nicht mehr. Seine Straßen und sein Licht sind für immer dahin und leben nur noch in der Erinnerung.«

Nachdem er sich sein Brot eine Zeit lang als Werbefachmann verdient hatte, verließ der 1964 in Barcelona geborene Carlos Ruiz Zafón die Agentur, bei der er angestellt war, um das Schreiben zu seinem Beruf zu machen, und verfasste sein erstes veröffentlichtes Werk, den Jugendroman Der Fürst des Nebels, in ebenjenem Olympia-Sommer 1992. »Ich habe ihn größtenteils nachts geschrieben. Die Stadt war hell erleuchtet, und ich arbeitete jeweils bis zum Sonnenaufgang«, erinnert er sich. Der Fürst des Nebels, der im darauffolgenden Jahr den Edebé-Preis erhielt, spielt während des Zweiten Weltkriegs in einem englischen Küstendörfchen. Auch die beiden folgenden Werke des Autors, Der Mitternachtspalast und Der dunkle Wächter, ebenfalls für Jugendliche und 1994 bzw. 1995 veröffentlicht, spielen an nichtspanischen Schauplätzen – im Kalkutta der dreißiger Jahre und im Frankreich derselben Zeit.

Inzwischen hatte sich Ruiz Zafón, seit Kindesbeinen fasziniert von der siebten Kunst, in Los Angeles niedergelassen und versuchte, die Filmindustrie für sich zu erobern. Die räumliche Distanz scheint ihm einen anderen Blick auf seine Geburtsstadt ermöglicht zu haben, denn nach mehreren Jahren in Kalifornien wagte er es erstmals, die katalanische Metropole als literarische Bühne zu verwenden, und davon sollte er sich nicht mehr abwenden. In Barcelona spielt Marina, ein – laut eigener Einschätzung – Bastard aus Jugend- und Erwachsenenliteratur, erschienen 1999; dann folgt 2001Der Schatten des Windes und 2008, nach einer langen Wartezeit, Das Spiel des Engels, beide in dieser Stadt angesiedelt. Dazwischen einige Erzählungen, in verschiedenen Medien publiziert und 2008 gesammelt im nicht käuflichen Band Das gotische Barcelona. 2011 folgt schließlich Der Gefangene des Himmels. Das heißt also, Carlos Ruiz Zafóns große Romane, sein erzählerisches Hauptwerk, spielen am selben Schauplatz.

Das nacholympische Barcelona ist eine elegante, im Allgemeinen sehr gepflegte, vielfach vernetzte Stadt, berühmt für ihr städtisches Design, das ihr den Preis der Universität Harvard eingetragen hat (obwohl derzeit viele anderslautende Stimmen ihr Entwicklungsmodell für bereits überholt erklären). Im gegenwärtigen Barcelona wirkt fast alles neu oder neuartig, selbst die historischen Gebäude, die mehrheitlich tiefgreifenden Renovierungen unterzogen wurden.

Dagegen war die Stadt vor der monumentalen Fassadenreinigung der Olympischen Spiele und der mit ihr einhergehenden Immobilienspekulation viel ungepflegter, verwahrloster, labyrinthischer und schwieriger zu durchqueren. Nicht selten stieß man auf Baugrund, offenes Gelände und leerstehende Häuser. In den Randgebieten gab es viel Niemandsland und von Unkraut überwucherte Sackgassen, und in einigen Vierteln schien sich seit 1920 überhaupt nichts verändert zu haben. Am Strand konnte man in und vor kleinen Holzbaracken essen, die später rücksichtslos dem Erdboden gleichgemacht wurden. Trotz der Reformen, die die neue, mit der Demokratie erschienene Stadtverwaltung eingeführt hatte, überlebten in vielen wichtigen öffentlichen Gebäuden schwere, dunkle Möbel und gehässige Beamte, die noch aus Franco- oder Vorfranco-Zeiten zu stammen schienen, aus der Diktatur des Generals Primo de Rivera. Kurzum, es war eine viel geheimnisvollere, gegensatzreichere, auch unheilvollere und selbstverständlich vernachlässigtere Stadt als das heutige Barcelona.

Es ist diese vorolympische Stadt, die Carlos Ruiz Zafón fesselt. Er hat es verstanden, ein außergewöhnlich vielfältiges Bild des historischen Barcelona, seiner Kultur, seines gesellschaftlichen Lebens, seiner schwarzen Chronik, seines Pulses zu vermitteln, das er uns bald einfühlsam, bald ironisch-distanziert, aber immer mit großem erzählerischen Brio nahebringt.

Einer der Gründe für den Reiz seiner Bücher liegt in ihrer Erzählperspektive. Sowohl in Marina wie in Der Schatten des Windes und zu einem guten Teil in Das Spiel des Engels ist die Figur, die sich der Stadt annähert und sie uns vorführt, ein jugendlicher Erzähler auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Sein Blick ist der unsere, seine Unschuld und seine Verletzlichkeit, ebenso sein Scharfblick. Ein einsamer, keineswegs neunmalkluger Jugendlicher, oft sehr schutzlos, wie jene Dickens-Helden, denen Ruiz Zafón in Das Spiel des Engels eine klare Reverenz erweist. Durch die Vermittlung dieses Erzählers offenbaren sich uns die Geheimnisse der Stadt, und wir sehen bewegt und traurig, wie der Zahn der Zeit und das Leben Freundschaften welken lassen, die Menschen bitter machen, Schicksale stauchen ... Und wir werden Zeuge, wie sich in diesem Panorama die Wahrheit und die Liebe durchsetzen und Erlösung bringen können.

Gotische Stadt, gotische Literatur

Carlos Ruiz Zafóns Literatur ist dem Genre der gothic novel, des Schauerromans, zugeschrieben worden, der in Spanien von so wenigen Autoren gepflegt worden ist. Und Barcelona ist eine Stadt, die wegen ihrer Architektur als gotisch betrachtet wird. Gibt es da einen Zusammenhang?

Tatsächlich unterstreicht Carlos Ruiz Zafón gern seine literarische Verwandtschaft mit der angelsächsischen Tradition, die im 17. Jahrhundert mit Autoren wie Walpole und Beckford anhebt und für die mittelalterlich getönte Schauplätze, ein phantastischer Ton und psychisch versehrte, wenn nicht gar dämonische Personen charakteristisch sind. Das klassische Genre der gothic novel, dem sich Autoren wie Byron, Jane Austen, Melville oder Wilkie Collins zugewandt haben, fand in der Kultur des 20. Jahrhunderts eine reiche Kontinuität, die sich von Daphne du Mauriers und Hitchcocks Rebeccas über Isak Dinesen oder Roman Polanski und nicht wenige Romane von Joyce Carol Oates bis zum Batman aus Comic und Film erstreckt.

Ruiz Zafón kombiniert diese Palette, die düsteren Schauplätze, das Dämonische, die gepeinigten Figuren, mit beißendem Humor und volkstümlichen Einsprengseln. So bereichert er den Schauerroman um weitere Nuancen.

Barcelona ist eine Stadt mit über zweitausendjähriger Geschichte, deren Ursprung in die Zeit des römischen Reichs fällt. Aber ihre erste bedeutende Epoche ist das Mittelalter, wo mit Macht die Gotik ersteht. In seinem berühmten Buch über die Stadt beschreibt der Kunstkritiker Robert Hughes sie so: »Trotz Abnutzung und Zerstörung im Laufe der Jahrhunderte weist heute Barcelonas Gotisches Viertel (Barri Gòtic) den in Spanien wohl dichtesten Bestand an Bauwerken aus der Zeit vom 13. bis zum 15. Jahrhundert auf. Zudem gehört seine Bausubstanz, und das gilt selbst dann, wenn man Venedig mitberücksichtigt, zu der am besten erhaltenen in ganz Europa. Jeder Gebäudetyp ist vertreten: Pfarrkirchen, Stadthäuser, Regierungsgebäude, Ratssäle, Gilde- und Handwerkerhäuser und natürlich die Kathedrale.« Gefördert wurde die Architektur von der mittelalterlichen Blüte der katalanisch-aragonesischen Krone, als laut der Legende selbst die Fische im Mittelmeer die Fahne mit den vier roten Streifen auf dem Rücken trugen.

Das Gotische Viertel Barcelonas, seit mehreren Jahrzehnten eine der großen Touristenattraktionen der Stadt, bildet ein konstitutives Element von Der Schatten des Windes. Mitten durch es hindurch führt die Calle Fernando, wo Gustavo Barceló sein Antiquariat betreibt; es liegt auf halbem Weg zwischen der Calle Santa Ana, wo die Semperes wohnen, und der Plaza Real, wo Clara Barceló Klavier spielt. Daniel muss das Viertel oft um die Kathedrale herum durchqueren.

So, wie es sich heute präsentiert, ist das Barri Gòtic in gewisser Hinsicht eine Illusion. Das ganze Gebiet war Gegenstand eines Rekonstruktions- und Monumentalisierungsprozesses der Jahre 1911 (als die neugotische Fassade der Kathedrale fertiggestellt wurde) bis 1965. Gewisse Areale wurden neu gebaut, etwa die Plaza San Felipe Neri (wo in Der Schatten des Windes Nuria Monfort lebt), die während des Spanischen Bürgerkrieges halb zerstört worden war und wo nun neue Häuser gotischen Zuschnitts errichtet werden mussten. Andere Elemente wurden eigens geschaffen, wie die 1928 eingeweihte sogenannte Bischofsbrücke des Architekten Joan Rubió i Bellver, der heute niemand weniger als fünf Jahrhunderte gäbe. (In der Stadt hieß es, sie werde vom Kirchenfürsten benutzt, um insgeheim seinen Palast zu verlassen. Wozu – darüber gibt es verschiedene Spekulationen.)

Barcelona ist also eine Stadt mit viel und hochrangiger gotischer Architektur, inner- und außerhalb des Gotischen Viertels, doch diese Architektur ist teilweise rekonstruiert und stilisiert, so wie im Carcassonne von Viollet-le-Duc, der großen Einfluss auf eine ganze Generation katalanischer Architekten ausübte.

Die gotischen Bauten sind ein Zeichen dafür, wie in Barcelona die weit zurückliegende Vergangenheit die Gegenwart mit Erinnerungen an das Mittelalter durchtränkt. In Das Spiel des Engels lässt sich der Protagonist David Martín in einem Haus in der Calle Flassaders im Ribera-Viertel nieder. Dieses Viertel lebt im Schatten von Santa María del Mar, einer der schönsten gotischen Kirchen der Welt, die hier eine ähnlich tragende Rolle spielt wie die Kathedrale in Der Schatten des Windes.

In praktischer Hinsicht interessiert Carlos Ruiz Zafón allerdings mehr noch als die Gotik die Neugotik, die in Katalonien ganz besondere Ausprägungen erfuhr und wie alles »neu-« übertriebener und dramatischer ist als das inspirierende Vorbild.

Es ist die Wiederverwendung von Elementen der gotischen Architektur mehrere Jahrhunderte nach dem Abklingen des Stils. Die Neugotik ist Ausdruck einer nostalgischen Vergangenheitssicht, welche die Blütezeit eines Landes oder einer Kultur im Mittelalter fixiert. Das Großbritannien des 19. Jahrhunderts erlebte ein solches Revival des gotischen Stils, das, unterstützt von Theoretikern wie John Ruskin, die ganze Insel mit Spitzbögen, Spitztürmen und polychromen Kirchenfenstern überzog – ein Phänomen, das als nostalgische Reaktion auf die ungezügelte Industrialisierung zu verstehen war.

In Katalonien fiel die Wiedergeburt des Gotischen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die lokale industrielle Bourgeoisie befand sich in ihrer Blüte, und eine klar katalanistische Bewegung bildete sich heraus, was auch die Wiedereroberung der katalanischen Sprache einschloss, etwa durch Wettbewerbe in katalanischer Poesie (Jocs Florals, Blumenspiele) und die Anverwandlung mittelalterlicher Ästhetiken – alles mit dem Ziel, das wirkliche und das eingebildete Glanz und Gloria des Mittelalters neu zu beleben. All das führte zum sogenannten architektonischen Modernismus, dessen Hauptvertreter Antoni Gaudí ist, der exzentrischste und genialste Architekt, den Barcelona hervorgebracht hat. Erstaunt es da, dass in der Stadt, die das schönste Ensemble gotischer Bauten Europas erschaffen hat, auch das distinguierteste aller neugotischen Revivals entstand?

Ruiz Zafón ist von der katalanischen Neugotik seit seinen Schuljahren in dem Gebäude der Jesuitenpater in Sarriá fasziniert, einem Werk des Architekten Joan Martorell, Lehrer von Gaudí und dessen Mentor bei seinen ersten Schritten. Machtvoll erscheint in Marina die Jesuitenschule, wo der Erzähler-Protagonist zur Schule geht und wohnt, und sie erscheint etwas verwandelt wieder in Der Schatten des Windes unter dem Namen San-Gabriel-Schule, wo Carax, Aldaya, Moliner, Ramos und Fumero aufeinandertreffen, das Freundesquintett, das später so tragische Meinungsverschiedenheiten auszufechten haben wird: »Die mit dolchförmigen Fenstern gespickte Fassade betonte das Profil eines gotischen Palastes aus rotem Backstein und schien zwischen Bogen und Türmen zu schweben, die in kathedralähnlichen Grannen über die Wipfel der Platanen aufragten.«

Was Gaudí betrifft, so tränkt sein fieberhafter Geist zahllose Zafón-Seiten. Der Autor von Der Schatten des Windes verbrachte seine Kindheit im Sagrada-Familia-Viertel, aus dem die »Kathedrale der Armen« des Architekten aus Reus herausragt, und der tägliche Anblick der Kirche mit ihren Brücken und Stegen und der maßlos buntscheckigen Fassade vervollständigt, zusammen mit der der Jesuitenschule, die neugotische Kindheitsikonographie des Schriftstellers, die in seiner Literatur so entscheidend ist. Für Ruiz Zafón bilden Martorells Schulgebäude und die von Gaudí geprägte Nachbarschaft seines Zuhauses die urtümlichsten Schauplätze der Imagination, des Geheimnisses, des Rätsels. Das verstaubte Zoologiemuseum des San-Ignacio-Kollegs, die unvollendeten Türme nahe der elterlichen Wohnung stimulierten und formten (und wie!) seine barocke und manchmal düstere Phantasie. Und so gelangen wir von der architektonischen Barceloneser Gotik zur literarischen Gotik, in der Carlos Ruiz Zafón sehr bald das passendste Vehikel für seine Ausdrucksbedürfnisse fand.

Nach der Veröffentlichung von Der Schatten des Windes erklärte Ruiz Zafón in mehreren Interviews, auf der Besetzungsliste des nächsten Romans, den er begonnen habe, stehe die reale Figur von Antoni Gaudí. Später sollte er die Idee wieder verwerfen, aber eine Spur davon ist geblieben: In Das Spiel des Engels steht neben Gaudís Park Güell das Haus des rätselhaften Corelli. Als ich ihn anlässlich des hundertfünfzigsten Geburtstags des Architekten bat, für die Vanguardia etwas über ihn zu schreiben, lieferte er mir die Erzählung Gaudí in Manhattan, in der sich der Pedrera-Erbauer nach New York einschifft, wo er von einer mephistophelischen Figur ein Angebot erhält. Und für einige neue Ausgaben seiner Werke wählte Ruiz Zafón ein Logo mit dem Bild eines Drachens, der von einem Gittertor Gaudís inspiriert ist.

Überhaupt spielt die modernistische Architektur eine wichtige Rolle in den Barcelona-Romanen des Autors: Im San-Pablo-Krankenhaus durchlebt die Protagonistin von Marina ihre letzten Monate; das modernistische Café Els Quatre Gats bringt den Figuren von Der Schatten des Windes »in Herzensangelegenheiten Glück«; in den Räumlichkeiten des Tuchladens El Indio arbeitet David Martíns Mutter ...

Auch der kleine Aldaya-Palast in der Avenida del Tibidabo, in dem sich Anfang und Ende der Tragödie von Carax und Penelope abspielen, hat einen neugotischen Widerhall, allerdings nicht lokaler Natur, sondern inspiriert vom kargen, strengen Ton der Villen, »die sich die Magnaten des Industriezeitalters in der Fünften Avenue zwischen der 58. und der 72. Straße auf der Ostseite des Central Park hatten bauen lassen«.

Abgesehen von Gotik und Neugotik bergen Carlos Ruiz Zafóns Bücher unendlich viele Anspielungen auf bemerkenswerte barcelonesische Orte – einige aus dramaturgischen Gründen: die Friedhöfe von Sarriá, Montjuïc oder Pueblo Nuevo; die immer wiederkehrenden alten Bahnhöfe, »magische Orte«, von wo die Zafón’schen Helden nach Paris zu entkommen träumen, was ihnen manchmal auch gelingt, aber nicht unbedingt zu ihrem Besten; das unheimliche Polizeipräsidium in der Vía Layetana, wohin die Polizisten von Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels und Der Gefangene des Himmels ihre Opfer verbringen; das blutig-berüchtigte Kastell von Montjuïc, das in Der Gefangene des Himmels eine zentrale Rolle spielt; die Abwasserkanäle, die Hafendrahtseilbahn, die kurvenreiche Straße nach Vallvidrera, der Ciudadela-Park mit seinem Wasserspeicher, nun Schauplatz von Verbrechen, und natürlich die labyrinthischen Straßen der Barceloneser Altstadt.

Andere bedeutsame Orte haben eine eher atmosphärische Funktion: das Athenäum, das Lokal Almirall in der Calle Joaquín Costa, das Restaurant Set Portes, die Redaktion der Vanguardia in der Calle Pelayo, das Hotel Colón, das Kasino auf dem Tibidabo, das Liceo-Theater. Und selbstverständlich die Ramblas, die die Altstadt teilen. Unzählige Bezüge, typisch für den Jungen, der Carlos Ruiz Zafón einmal war und der schon mit dreizehn Jahren regelmäßig zu Fuß die Stadt durchwanderte, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen, und seinen Vater, einen Versicherungsvertreter, zu den buntesten Barceloneser Haushalten begleitete.

Nur das Ensanche-Viertel scheint ihn nicht übermäßig zu interessieren, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Plänen des Städtebauers Ildefons Cerdà ausgeführte wichtige Stadterweiterung, die großen Teilen der barcelonesischen Ober- und Mittelschicht zur Heimstätte wurde. Das Ensanche, das das urbane Zentrum bildet und von dem Carlos Ruiz Zafón vielleicht dasselbe denkt wie Gaudí: dass im modernen Städtebau der Missbrauch der breiten schnurgeraden Straße »die Stadt zu einem riesigen karierten Gewebe von entmutigender Monotonie macht«.

Es ist interessant zu beobachten, wie sich in den ersten drei Romanen die Annäherung an die Stadt radikal verändert: In Marina fokussiert sich der Blick auf das Viertel Sarriá, eine ehemals unabhängige, 1921 der Stadt einverleibte Gemeinde, bourgeoises Reservoir bedeutender Schulen (wie der erwähnten Jesuitenschule) und herrschaftlicher Villen, die in den letzten dreißig Jahren größtenteils abgerissen wurden, um teuren Gebäuden neuer Bauart Platz zu machen, wie es mit dem Haus geschah, das im gleichnamigen Roman Marina und ihr Vater bewohnen.

In Der Schatten des Windes richtet sich der Blick in mehreren Strahlen auf Barcelona. Der Protagonist lebt in der Calle Santa Ana, nahe der Plaza de Cataluña, dem symbolischen Zentrum der modernen Stadt. Von diesem Zentrum aus fahren die Figuren nach Sarriá am Hang des Tibidabo hinauf, wo die Aldaya-Villa steht, oder durchs Ribera-Viertel zu den gotischen Bauten in der Calle Montcada hinunter, schon in Hafennähe.

In Das Spiel des Engels erfolgt die Annäherung kreisförmig, das Zentrum wird gemieden. Die Handlungsschauplätze liegen im Ribera-Viertel im Süden der Stadt, nahe dem Meer, und im Viertel Pedralbes im Norden, wo Barcelona in die Sierra de Collserola übergeht. Die Handlung dehnt sich nach Osten aus, nach San Andrés und Pueblo Nuevo und vermeidet, wie gesagt, das nur beiläufig aufscheinende Ensanche.

In Der Gefangene des Himmels schließlich werden wir wieder ins Zentrum zurückgeführt, in die Calle Santa Ana mit der Buchhandlung Sempere – und auf den Montjuïc, in dessen Kerkerräumen Fermín Romero de Torres seine bittersten Jahre verbrachte.

Die Stadt der Bücher

Der Protagonist von Der Schatten des Windes und sein Vater sind Antiquare, so wie auch die Freunde des Vaters, ein Beruf, der den Roman prägt und von weitreichender Bedeutung ist. In seinen Barceloneser Romanen hat Carlos Ruiz Zafón einen mit der Welt des Buches verknüpften imaginären Ort geschaffen, der sich bereits in eine Reihe mit der Schatzinsel, mit Macondo oder dem Jurassic Park stellen lässt.

In einer kleinen Straße der Altstadt, rechter Hand, wenn man von den Ramblas hineingeht, hat Ruiz Zafón diesen Ort angesiedelt. An dem Tag, an dem ihn Daniel Sempere erstmals besucht, an der Hand seines Vaters und im Schlepptau Isaac Monforts, hüllt »bläuliches Halbdunkel alles ein, so dass die Konturen einer breiten Marmortreppe und eine Galerie mit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade eben angedeutet wurden. Wir folgten dem Aufseher durch einen prächtigen Gang und gelangten in einen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine regelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer von Lichtgarben erfüllten Kuppel öffnete. Ein Gewirr aus Gängen und von Büchern überquellenden Regalen erstreckte sich von der Basis zur Spitze und formte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen, Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bibliothek von undurchschaubarer Geometrie erahnen ließen.«

Mutmaßlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf den Resten einer alten Nekropolis errichtet, ist der Friedhof der Vergessenen Bücher, wo nur diejenigen Bände hingelangen, die jemand wirklich retten will, der große literarische Mythos des Barcelona des neuen Jahrhunderts, ein Sinnbild für die Liebe zum Lesen und die Identifikation mit dem geschriebenen Erbe, das zugleich außerordentlich repräsentativ ist für den Geist der katalanischen Hauptstadt.

Barcelona gehört weltweit zu den Städten mit der längsten ununterbrochenen Beziehung zum Buch: Der Kauf und Verkauf von Büchern, vornehmlich durch jüdische Geschäftsleute, lässt sich seit dem 14. Jahrhundert belegen. Die ersten spanischen Drucker arbeiteten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Barcelona; ihre Verträge und Entscheidungen sind vielfach dokumentiert und von den großen Historikern Jordi Rubió i Balaguer und Josep Maria Madurell gründlich studiert worden. Die Inquisition nahm die Buchhändler besonders ins Visier und fügte sie ihrer unheilvollen Chronik bei, wie es Antoni Ramon Corró geschah, der am 9. Februar 1489 wegen Ketzerei gehängt und verbrannt wurde.

1533 wird in der Stadt die erste bekannte Buchhändler-Innung Europas gegründet, deren Aktivitäten nahe der Kathedrale mitten im Gotischen Viertel ihre Spur hinterlassen haben – im Namen der Calle Llibreteria (Straße des Buchhandels). Im Lauf der folgenden Jahrhunderte bringt die Stadt unendlich viele Geschichten und Anekdoten von Buchhändlern, Druckern, Verlegern und Buchliebhabern hervor – bis zur Gegenwart, da Barcelona mit seinen Publikationen auf Spanisch und Katalanisch weiterhin die verlegerische Hauptstadt der hispanischen Welt ist.

Es sind vor allem zwei literarische Arbeiten, die das Gewicht, das der Welt der Bücher in der barcelonesischen Tradition zukommt, besonders vermittelt haben. 1615 veröffentlicht Miguel de Cervantes den zweiten Teil des Quijote, dessen letzter Teil in Barcelona spielt, welches damit zur einzigen spanischen Stadt wird, die auf seinen Seiten vorkommt. Nach mehreren Zwischenfällen besucht Don Quijote in Barcelona eine Druckerei (die Martí de Riquer als die von Sebastià de Cormelles identifiziert hat) und macht sich dort mit der zeitgenössischen Drucktechnik ebenso vertraut wie mit dem Copyrightverständnis der Renaissance. Diese Szene in einem höchst erfolgreichen, bald in mehrere Sprachen übersetzten Buch führt Barcelona der geistigen Elite im Europa des 17. Jahrhunderts als Stadt des Buches vor Augen.

Die Zeit vergeht. Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichen einige spanische und französische Publikationen eine seltsame Geschichte. Ihre Hauptfigur, ein ehemaliger Mönch, tritt aus dem Kloster Poblet aus und eröffnet in Barcelona ein Antiquariat. Doch seine Liebe zum Buch ist so groß, dass sie ihn wie Don Quijote in den Wahnsinn bzw. zum Mord treibt, da er sämtliche Konkurrenten umbringt, die die Bücher horten, nach denen er sich selbst sehnt. Die Geschichte fasziniert den jungen Gustave Flaubert, der sie in der Erzählung Bücherwahn recycelt, dem ersten von ihm veröffentlichten Text. 1928 spürt der Gelehrte Ramon Miquel i Planas in einem sehr lesenswerten Büchlein ihren Ursprüngen und all ihren Varianten nach, Die Legende des Mörderbuchhändlers von Barcelona, wo er zwar die Wahrhaftigkeit der Geschichte in Abrede stellt, ihre Plausibilität jedoch lustvoll begrüßt.

Dass das Barceloneser Buchgeschäft zu so ausschweifendem Fabulieren geführt hat, macht verständlich, auf welchem Nährboden der Friedhof der Vergessenen Bücher entstand. Carlos Ruiz Zafón hat mir erzählt, bei seiner Erschaffung hätten ihn alte Bücherlager inspiriert, die er in der Umgebung von Los Angeles besucht habe. Ihre labyrinthischen Ausmaße und ihre verstaubte Dunkelheit hätten ihn so beeindruckt, dass er beschlossen habe, eines davon im Zentrum seiner Geburtsstadt anzusiedeln. Was er vermutlich nicht wusste – und ich bis vor einigen Wochen auch nicht –, ist, dass sich in der Calle Arco del Teatro, wo der Friedhof beheimatet ist, Druckerei und Verlag von Lluís Tasso befanden, Pionier der damaligen graphischen Künste. Nicht weit davon entfernt, dort, wo der Boquería-Markt liegt, wurde die Schriftgießerei des Barfüßerkarmeliten-Klosters von San José betrieben, die einzige zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Barcelona aktive Buchstabengießerei, geführt von einem energischen, rätselhaften Geistlichen namens Bruder Joaquim de la Soledat. Ganz nach Zafón’scher Manier geriet die Fabrik in der San-Jaime-Nacht 1835 im Gefolge eines Bürgeraufruhrs in Brand, und der Mönch musste in Laiengewandung das Weite suchen und durfte erst nach einer ganzen Weile wieder auf der Bildfläche erscheinen. Es ist verlockend, sich auszumalen, wie Carlos Ruiz Zafón diese Geschichte weiterentwickelt hätte.

Kurzum, der Friedhof der Vergessenen Bücher, der in Der Schatten des Windes erscheint und in Das Spiel des Engels wiedererscheint, ist ebenso ein Auswuchs der Phantasie seines Autors wie des mit der Geschichte des Buches verknüpften Barceloneser Unbewussten. Er bildet einen universellen Mythos in progress, von dem wir Weiteres in Der Gefangene des Himmels erfahren sowie im vom Autor angekündigten letzten Band, der die Tetralogie dieses fabulösen Raums unvergänglichen Wissens beschließen wird.

Als ich kurz nach seiner Veröffentlichung Der Schatten des Windes las, entdeckte ich viele mit Barcelona zusammenhängende Chiffren für mein Leben und meine Generation, die das Buch für mich auf der Stelle zu einem einzigartigen Roman machten. Als einer der Ersten schwärmte ich in Artikeln davon, ebenso Sergi Doria, ein Journalist mit gründlicher literarischer und historischer Bildung und deshalb eine rara avis. Dem, was uns bereits verbunden hatte, gesellte sich nun die gemeinsame Bewunderung von Carlos Ruiz Zafón hinzu. Anlässlich des Jahres des Buches und des Lesens 2005 brachten Sergi und ich ein Buch heraus, Spaziergänge durch das literarische Barcelona, das dazu einlud, die Stadt im Kielwasser der großen Autoren kennenzulernen, die von ihr gesprochen hatten. Jetzt hat Sergi die Chance gehabt, die Carlos Ruiz Zafón gewidmete Tour in wohlverdienter Weise auszubauen. Die Romane unseres Freundes konnten keine bessere und sinnvollere Hommage bekommen.

Gebrauchsanweisung für eine literarische Stadt

Ein gefeierter Gastronom sagte einmal, wir seien das, was wir essen. Mit der Literatur ist es dasselbe: Wenn uns ein Roman unter die Haut geht, sind wir das, was wir lesen. Der Autor verfasst seine Geschichte, der Verleger publiziert sie, und der Leser fügt sie je nach seinen Wahlverwandtschaften in seine Gefühlschronik ein. Wenn wir einen guten Roman lesen, sind wir nicht mehr dieselben – unsere Welt stellt sich in den Stimmen anderer Figuren dar.

Bevor wir erklären, was das vorliegende Buch ist, wollen wir klarstellen, was es nicht ist. Wir finden Romanzitate, aber es ist keine literarische Abhandlung; es erscheinen Pläne Barcelonas, aber es ist kein Reiseführer. Es ist auch kein historischer Essay, obwohl Fakten und Chronologien seinen Weg säumen. Das Barcelona von Carlos Ruiz Zafón. Spaziergänge durch eine erzählte Stadt will haargenau das sein, was sein Titel besagt: ein vom Blick eines Schriftstellers geleiteter Spaziergang auf der Grundlage von vier Romanen: Marina, Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels und Der Gefangene des Himmels. Ein vom Autor in verschiedenen Momenten seines Lebens betrachtetes Barcelona auf der Grundlage von vier Romanen; vier durch dasselbe Licht gefilterte Phasen einer Stadt. Obwohl Marina in den Achtzigern spielt, Der Schatten des Windes die aschenen Nachkriegszeiten durchläuft, Das Spiel des Engels die Stadt des »Pistolerismo« und der 1929er-Weltausstellung heraufbeschwört und Der Gefangene des Himmels die franquistischen fünfziger Jahre sowie das gerade unterworfene Barcelona des Jahres 1939 durchmisst, eignen den Protagonisten die Sensibilität ihres Erschaffers und eine bestimmte Art und Weise des Erzählens. Wir spazieren mit Carlos Ruiz Zafóns literarischen Geschöpfen durch die städtische Kartographie. Seine Welt ist nicht von dieser Welt, auch wenn es uns manchmal so vorkommen mag: grausam menschliche Geschichten und abscheuliche, in einer nebelverhangenen Ecke kauernde Gestalten. Gebäude aus der Barceloneser Erinnerung wie das Hotel Colón, der Schauplatz des Liceo-Theaters oder die blaue Straßenbahn auf den Tibidabo offenbaren sich uns in Ruiz Zafóns Romanen auf eine andere Art. Der absolute Schriftsteller nutzt die literarische Freiheit, um unauslöschliche Bilder zu gestalten.