Das befreite Kind - Arthur Janov - E-Book

Das befreite Kind E-Book

Arthur Janov

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Janov schreibt kein Erziehungs-Anleitungsbuch für Eltern im landläufigen Sinne. Er wendet seine Primärtherapie überzeugend auf die Entwicklung und Erziehung des Kindes an. Doch Eltern, die den Erfahrungen dieser Therapie folgen, werden wichtige Hinweise zur Erklärung und Verhütung kindlicher Entwicklungsstörungen erhalten und zu eigenen Verhaltensänderungen geführt, um den Bedürfnissen des Kindes im Ablauf der verschiedenen Entwicklungsphasen gerecht zu werden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 571

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Arthur Janov

Das befreite Kind

Grundsätze einer primärtherapeutischen Erziehung

Aus dem Amerikanischen von Willi Köhler

FISCHER Digital

Inhalt

Für Rick und Ellen [...]Danksagung [...]EinführungFür einen Philosophen ist [...]1 Gründe für den Wunsch nach Kindern2 Das intrauterine LebenHelen3 Geburtswehen und EntbindungKaiserschnittMadelyn4 Das Urerlebnis der GeburtBrianPrototypisches GeburtstraumaJeffAnitaKennethZusammenfassung5 Nach der GeburtFredRonaldLouise6 StillenEvelyn7 Die BedürfnisseOralitätPsychische und physische BewegungDas Bedürfnis nach StimulierungKörperkontaktKritische Perioden8 Die innere UmweltDer Hormonostat9 Langfristige Auswirkungen früher Erfahrung10 Körperliche und psychische Bedürfnisse11 Bedeutung der Forschung für den MenschenBeth12 Kindliche SexualitätInzestNancy13 Kindliche Ängste – bei Tag und bei NachtAngst vor Wünschen14 Elterliche BedürfnisseElternrolleDas kindliche BemühenSchlußfolgerungen15 Was ich von meinen Kindern lerne von Vivian Janov16 Ricks Kinobesuch17 Primärtherapeutisch behandelte FamilienAnhang A: DorothyAnhang B: RichardAnhang C: Die KörpererinnerungenNamenregister

Für Rick und Ellen und für die größte unterdrückte Minderheit der Welt – die Kinder

Danksagung

Ich möchte meiner bibliothekarischen Mitarbeiterin Barbara McAlpine danken: sie hat für meine Arbeit viele Stunden darauf verwandt, unklare Literaturangaben nachzuprüfen, sie hat mich auf spezielle Artikel aufmerksam gemacht und war mir überhaupt eine große Hilfe bei der Suche nach relevantem Material für das vorliegende und meine früheren Bücher. Mein besonderer Dank gilt meiner Sekretärin und Freundin Janet Seefeld, die dieses Buch im wortwörtlichen Sinne zusammengestellt hat. Schließlich möchte ich meiner Frau Vivian danken, meiner wichtigsten Kritikerin und Lektorin.

A.J.

Einführung

Ein Buch sollte grundsätzlich für sich selbst sprechen; es sollte aus sich heraus verständlich sein und nicht zu sehr auf andere Arbeiten Bezug nehmen. Ich denke, dieses Buch kann für sich selbst sprechen, doch der Leser sollte sich klarmachen, daß es auf der Primärtheorie beruht; eine gründliche Kenntnis dieser in Der Urschrei im einzelnen dargelegten Theorie könnte als Einführung von Nutzen sein. Das Buch ist Ergebnis der Beobachtung von Patienten, die ihre Kindheit wiedererleben. Ihre Gefühle und Erfahrungen lassen uns erkennen, auf wie vielfältige Art und Weise Eltern ihre Kinder schädigen und sie zu Neurotikern machen können. Vielleicht können wir durch ihr Leid lernen, wie wir anderen Kindern Leid ersparen können. Das Buch will dazu beitragen, kindliches Leid zu verhindern. Wir können Eltern schlechterdings nicht dazu anhalten, noch einmal und diesmal besser zu tun, was sie mit ihren Kindern getan haben, doch wir können jenen Eltern Richtlinien anbieten, die mit ihren Kindern nicht zurechtkommen.

Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur habe ich die Ergebnisse der Lektüre mit meinen eigenen Beobachtungen vereint und bin so zu gewissen Schlußfolgerungen über die Erziehung von Kindern gelangt. Die Grundlage bilden jene Erfahrungen und Einsichten, die Patienten im Verlauf der Primärtherapie über ihre Jugend gewonnen haben. Jede weitere Forschung kann nur ergänzen, was diese Patienten über die Kindheit kennenlernen, wenn sie in der Therapie das von Gefühlen erfüllte Kind werden, das zu sein ihnen niemals vergönnt war.

In dem vorliegenden Buch verwende ich durchgängig den Begriff »Urerlebnis« oder »Primal«. Damit meine ich die vollständige Wiederbelebung früherer Erfahrungen im Verlauf der Primärtherapie. Ein Urerlebnis ist ein schmerzliches Wiedererleben, häufig eine qualvolle Erfahrung, die den Patienten erlaubt, zu Gefühlen zurückzufinden, die sie nicht zu empfinden wagten in einer Zeit, in der sie noch zu jung, zu schwach waren, um den Schmerz ertragen zu können. Sie fühlen jetzt, in der Therapie, den Haß ihrer Eltern, ihre Gleichgültigkeit und Gefühlskälte. Sie empfinden die schreckliche Angst, zur Schule geschickt, allein einer Operation ausgeliefert, von einem Elternteil verlassen, vom Streit der Eltern hin und hergerissen zu werden oder im Kinderbett ihre Gefühle nur durch Weinen und Schreien äußern zu können. Sie haben wie niemals zuvor das Bedürfnis, an der Mutterbrust zu saugen. Kurz, sie fühlen erst jetzt die Schmerzen, die sich zeit ihres Lebens in ihrem Körper anstauten, Spannungen erzeugten und folglich zu Symptomen führten.

Jedes Urerlebnis bildet ein weiteres Mosaiksteinchen im Gesamtbild der Elternschaft und läßt uns erkennen, was wir tun sollen, was nicht, was wir vermeiden, fördern, sagen oder ungesagt lassen sollen. Nach Tausenden von Urerlebnissen besteht unser Bild von der Elternschaft aus so vielen Einzelelementen, daß es schier unmöglich erscheint, mit Kindern richtig umzugehen; und es mag durchaus unmöglich sein. Der einzig wahre Schutz des Kindes liegt in der psychischen Gesundheit seiner Eltern. Nach unserem Verständnis heißt dies, daß die Eltern selbst von Urschmerzen frei sein müssen. Aufgrund unserer Untersuchungen wissen wir, daß es ein »fühlendes Gehirn« und ein »denkendes Gehirn« gibt. Der denkende Teil des Gehirns kann den fühlenden Teil nur geringfügig kontrollieren, vor allem wenn der fühlende Teil von Schmerzen überschwemmt wird. Vorträge und Anleitungen für neurotische Eltern führen in der Praxis gewöhnlich nicht zu tiefgreifenden Änderungen in der Kinderbehandlung, doch sie können in einigen Fällen hilfreich sein.

Dieses Buch ist kein »Anleitungs«-Buch im herkömmlichen Sinne; solche Bücher sind bereits Legion. Anleitungen sind problematisch, weil man für jede Gelegenheit eine spezielle Verhaltensregel aufstellen muß, um bestimmte Wirkungen erzielen zu können, und weil Anleitungsbücher lediglich zwanghafte Menschen ansprechen, Menschen, deren Schwierigkeit darin besteht, daß sie nach Regeln leben anstatt nach Gefühlen. Eltern behandeln Kinder entsprechend ihren eigenen verborgenen Gefühlen, und nur fühlende Eltern vermögen zu spüren, was in den jeweiligen Situationen für Kinder gut und richtig ist. Es ließe sich nun einwenden: Wenn falsches Wissen über Kindererziehung, wie ältere Handbücher es vermitteln, Schaden anrichten kann, dann muß folglich richtiges Wissen eine Hilfe darstellen. Leider stimmt dies nicht unbedingt. Die falschen Informationen in jenen besagten älteren Büchern entstammten einer neurotischen Auffassung von menschlicher Entwicklung, sie entsprachen allgemeinen neurotischen Vorstellungen (schreiende Kinder sollen nicht auf den Arm genommen, Säuglinge nach einem genau einzuhaltenden Zeitplan abgefüttert werden usw.) und wurden mithin nur zu bereitwillig übernommen. Aus der Primärtheorie gewonnene Einsichten widersprechen jenen neurotischen Vorstellungen, und daher finden sie nicht so leicht Zustimmung.

In früheren Jahrzehnten herrschte allgemein die Auffassung vor, in einer kalten, bedrückenden Welt dürften Kinder nicht verwöhnt und verzärtelt werden, um sie nicht unvorbereitet in diese Welt zu entlassen. Daher betonten jene Handbücher über Kindererziehung, es sei dringend notwendig, Kinder nicht zu verwöhnen, sie nicht gewähren zu lassen – mit anderen Worten, sich klarzumachen, daß Charakterbildung ein mühsames, mit vielen Anstrengungen verbundenes Geschäft sei. Das Familienleben war geprägt von der mythischen Vorstellung erzieherischer Härte. Die Primärtherapie hingegen hat deutlich gemacht, daß Kinder nicht verwöhnt werden können, sondern daß der Mangel an angemessener Bedürfnisbefriedigung »verwöhntes«, übermäßig anspruchsvolles Verhalten geradezu erzeugt. Für jene von uns, die mit Härte erzogen wurden, die dem Glauben anhängen, Kampf forme den Charakter, sind Milde und Nachsicht Begriffe, mit denen man sich nur schwer befreunden kann.

Ein Kind ist zur Neurose verurteilt, wenn seine Eltern neurotisch sind. Ich erwarte keineswegs, daß die in dem vorliegenden Buch entwickelten Richtlinien die Neurosen von Eltern außer Kraft setzen können. Dennoch bin ich der Meinung, daß Eltern eine Menge für ihre Kinder tun können. Eltern sollten wissen, daß schreiende Säuglinge auf den Arm genommen werden und nicht nach dem Motto »Es wird sich schon ausschreien« ihrem ungestillten Bedürfnis überlassen bleiben sollen. Es ist nicht nötig, daß Eltern ihre Neurose überwinden, wenn es darum geht, ein Kind, das sich verletzt hat, zu trösten.

Im folgenden werde ich die Entwicklung des Kindes von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter verfolgen und die neurotisierenden Umstände jeder Entwicklungsstufe beschreiben. Besonderes Gewicht lege ich auf die Entwicklung des Kindes in der Gebärmutter, im Uterus, und auf die Begleitumstände bei der Geburt; diese Themenbereiche werden in der Diskussion über Kindererziehung vernachlässigt. Ich will damit sagen, daß der Keim einer Neurose durchaus vor der Geburt gelegt werden kann, daß die Erfahrungen des Fötus im Mutterleib genauso wichtig, wenn nicht wichtiger sein können als die anschließenden sozialen Erlebnisfaktoren. Die kindliche Neurose hat ihren Ursprung in der Psyche der Eltern, das heißt in den Gründen, warum er oder sie ein Kind wünschen. In einigen Fällen handelt es sich um den Wunsch, zum erstenmal im Leben jemanden ganz für sich zu besitzen. In anderen Fällen soll das Kind die Weiblichkeit oder Männlichkeit des jeweiligen Elternteils bestätigen. Welche Gründe auch immer für den Wunsch bestehen, ein Kind zu haben, sie legen im voraus fest, wie das Kind von dem Tag an, da es das Licht der Welt erblickt, behandelt wird.

Im allgemeinen formen die Eltern ihr Kind, machen es entweder krank oder verhelfen ihm zum Wohlbefinden. Doch auch andere Umstände können zu Störungen führen. Angenommen, ein Kind wird mit einem Sehfehler geboren und dann von neurotischen Kindern als »Brillenschlange« gehänselt. Solche Hänseleien müssen das Kind empfindlich treffen, vielleicht nicht in dem Maße wie Spötteleien seitens der Eltern; aber es sind Lebenserfahrungen, die das Kind in die Neurose treiben können. Doch nicht isolierte Erfahrungen rufen Neurosen hervor, sondern die Anhäufung und die Belastung durch eine Folge schlimmer Erfahrungen. Hinzu kommt das tagtägliche Zusammenleben mit Eltern, die dem Kind Schmerzen zufügen, die es feindselig, gleichgültig oder offen ablehnend behandeln. Nachdem ich die dramatischen Veränderungen bei Kindern erlebt habe, deren Eltern sich einer Primärtherapie unterzogen, bin ich fest davon überzeugt, daß diese Therapie der einzige Weg ist, Kindern eine Lebenschance einzuräumen. Wir haben Experten für Kindererziehung, Verfasser von Büchern über den Umgang mit Kindern behandelt; all ihr Wissen vermochte ihnen nicht dabei zu helfen, gute Eltern zu sein, solange es ihnen nicht gelang, mit ihren eigenen Bedürfnissen und Spannungen fertig zu werden. Primärtherapeutisch behandelte Eltern brauchen keine Anleitungen. Sie haben nachträglich intensiv gefühlt, was ihre Eltern ihnen angetan haben, und sie wissen, was sie ihren Kindern nicht antun dürfen. Wer niemals die überwältigenden Schmerzen empfunden hat, die ihm die eigenen Eltern zugefügt haben, der kann auch niemals wissen, wie er seine eigenen Kinder vor Krankheiten und Störungen bewahren soll. Gefühle sind Reaktionen auf die Eltern wie auf das Kind. Fühlende Eltern handeln richtig aufgrund ihres Kindes, ein fühlendes Kind handelt richtig aufgrund seiner selbst.

Für einen Philosophen ist es weit einfacher,

einem anderen Philosophen

einen neuen Gedanken zu erklären als einem Kind.

Warum? Weil das Kind die richtigen Fragen stellt …

 

Jean Paul Sartre

in einem Interview mit John Gerassi

in Le Monde, Oktober 1971

1 Gründe für den Wunsch nach Kindern

Die Weichen für die künftige Behandlung eines Kindes können bereits vor der Geburt, das heißt im Stadium des Wunsches nach einem Kind gestellt werden. Wenn eine Mutter sich nach einer von Wärme und Liebe erfüllten Familie sehnt, einer Familie, die sie selbst nie gekannt hat, dann mag sie an das Kind die Hoffnung knüpfen, es werde ihr zu einer solchen Wunschfamilie verhelfen. Wenn das Kind dann später eigene Wege geht, unabhängig sein möchte, etwa die Schule besucht oder heiraten will, dann könnte eine solche Mutter dies als eine unbewußte Bedrohung empfinden. Denn unbewußt steht diese Mutter unter dem Eindruck des alten Gefühls, keine eigene, richtige Familie zu haben, eines Gefühls, das so schmerzlich ist, daß es vom Bewußtsein ferngehalten werden muß. Jedes Zeichen von Unabhängigkeit auf Seiten des Kindes, jedes Verhalten, das zu bedeuten scheint, es brauche die »Mamma« nicht mehr, ruft in der Mutter zunächst eine vage Spannung hervor und führt dann zu einem Abwehrverhalten, mit dem das Urgefühl verdrängt werden soll. Sie wird ihre Zuflucht zu Rationalisierungen nehmen, wenn sie erklären soll, warum ihr Sohn nicht fortgehen darf, warum sie ihn braucht usw. Aus den gleichen Ur-Gründen wird eine solche Mutter Wutäußerungen der Kinder ihr gegenüber nicht dulden. Sie wird die Freunde ihres Sohnes schlechtmachen, weil sie ihre Position bedrohen, ihre Wunschvorstellung antasten, ihr Sohn liebe nur sie, sie ganz allein. Kurz, die Mutter agiert gegen ein altes qualvolles Gefühl, das sie nie ertragen konnte, noch heute ertragen kann. Um dem Schmerz zu entgehen, manipuliert sie beständig ihr gegenwärtiges Leben. Sie kann nicht aufrichtig zu ihren Kindern sein, denn sie stellt sie in den Dienst ihrer Bedürfnisse.

Das Ausagieren verleugneter schmerzlicher Gefühle macht das Wesen der Neurose aus; darum führe ich den Begriff hier ein. Jeder Neurotiker zeigt ein solches Verhalten; Kinder zu haben bietet Neurotikern eine von vielen Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszuagieren. Es gibt eine Unzahl neurotischer Gründe für den Wunsch nach Kindern, bei denen es nicht darum geht, ein neues menschliches Wesen zu zeugen.

Für den neurotischen Kinderwunsch besteht einer der Hauptgründe darin, einen Menschen in die Welt zu setzen, der Liebe geben soll und den ein Elternteil oder beide ganz für sich besitzen wollen. Ein Mensch, der in einer großen Familie aufgewachsen ist, der praktisch keine Aufmerksamkeit oder Zuneigung erfahren hat, kann den zwanghaften Wunsch verspüren, von seinem Kind vollständig Besitz zu ergreifen. Der Wert des Kindes bemißt sich dann daran, inwieweit es den Eltern das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden. Doch wie gesagt, dieser Vorgang ist nicht bewußt. Der betroffene Elternteil kann bereits bei gelegentlicher Gleichgültigkeit des Kindes in Unruhe geraten und sich zu einem unangemessenen Wutausbruch hinreißen lassen, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet. Die Wut neurotischer Eltern mag sich in Aufforderungen äußern wie: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Die emotionale Überreaktion (Wut in diesem Falle) ist ein altes Gefühl, das die betreffenden Eltern ihren eigenen Eltern gegenüber empfunden haben, ein Gefühl, das der Verdrängung unterliegt und das sich nun in unangebrachter Weise Luft macht. Die verleugnete große Wut gilt der gleichgültigen Behandlung. Jede spätere gleichgültige Behandlung löst dieses Urgefühl und gleichermaßen auch die verdrängte alte Reaktion aus.

Schauen wir uns die Kompliziertheit dieses Vorgangs genauer an! Eine von uns behandelte Patientin hatte eine so rasende Wut darüber, daß ihre Mutter sie vernachlässigte, daß sie ihr den Tod wünschte. Vor diesem Gefühl empfand das Kind jedoch eine solche Angst, daß es den Todeswunsch aus dem Bewußtsein verdrängte und stattdessen Kopfschmerzen bekam. Jedesmal nun, wenn die Patientin in ihrem späteren Leben sich gleichgültig behandelt fühlte, hatte sie sofort unerklärliche Kopfschmerzen. Den Grund für ihre Schmerzen kannte sie nicht; sie wußte nicht, daß sie sich geringschätzig behandelt fühlte, und wußte erst recht nicht, daß sie den Wunsch verdrängte, der Mensch, der sie kränkte, möge sterben. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um einen unbewußten neurologischen Vorgang, der ohne Einschaltung des Bewußtseins ablief. Mit anderen Worten, es war ein alter Primärvorgang, der schließlich in der Primärtherapie aufgedeckt wurde: unter Schreien und krampfartigen Wutanfällen brach aus der Patientin der Wunsch hervor, ihre Mutter möge sterben. Dieser Ausbruch wurde dadurch ausgelöst, daß die Tochter der Patientin ihrer Mutter nicht die gewünschte Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte.

Wir erkennen an dieser Fallgeschichte, welche Auswirkungen neurotische Reaktionen auf das unschuldige Verhalten von Kindern haben können. Kinder haben ziemlich früh ein feines Gespür für neurotische Verhaltensweisen und lernen mit der Zeit, wie sie sich vor der elterlichen Ur-Wut schützen können. Sie gehen in Deckung, suchen die Eltern zu beschwichtigen, verhalten sich ruhig und sind aufmerksam. Sie werden neurotisch, weil ihre Eltern neurotisch sind. Das Kind wird in eine starre Verhaltensform gepreßt, denn die ungelösten Primärgefühle der Eltern rufen im Laufe der Zeit bei ihm die gleichen neurotischen Reaktionen hervor. Es muß dann über Jahre hin immer die gleichen Beschwichtigungsversuche unternehmen. Wenn die Mutter das Kind braucht, um sich geliebt zu fühlen, dann kann daraus eine Art geheimer Verschwörung gegen den Vater entstehen. Auf subtile Weise entwertet die Mutter den Vater, um auf diese Weise zu erreichen, daß das Kind ausschließlich sie liebt. Die Mutter wendet damit einen höchst wirksamen neurotischen Mechanismus an, gegen den das Kind sich nicht zur Wehr setzen kann. Hilflose Kinder lassen sich leicht in eine solche Lage drängen. Sätze wie »Hans ist ein so lieber Junge, er kann gar nicht genug für mich tun« haben schlimme Folgen, denn sie sind wortwörtlich so gemeint –: Hans wird nämlich niemals in der Lage sein, genug für seine Mutter zu tun, denn er müßte sie für die Entbehrungen ihres ganzen Lebens entschädigen.

Hinter dem Kinderwunsch kann auch das Motiv stehen, eine gestörte Ehe zu kitten. Dies trifft vor allem auf Frauen zu, die ihre Ehemänner um jeden Preis an sich binden wollen. In diesem Fall ist das Kind sozusagen das letzte Mittel. Bei ihren Bemühungen um den Mann benutzt die Mutter das Kind als eine Art Faustpfand. Über kurz oder lang wird es bittend und bettelnd zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln suchen. Schon bald wird es sich für ihr Glück und für ihr Unglück verantwortlich fühlen. Die Grundstimmung der Eltern, etwa Traurigkeit, weckt in dem Kind automatisch das Gefühl, es müsse dazu beitragen, die Stimmung zu verbessern und aufzuhellen. Bei melancholischen Eltern sind Ratschläge über Kindererziehung nutzlos, solange sie im Umgang mit ihrem Kind – mögen sie sich auch noch so nach »Vorschrift« verhalten – nur Schwermut zum Ausdruck bringen.

Natürlich gibt es auch ungewollte, zufällige Schwangerschaften, die zur Folge haben, daß die Eltern ihr Kind von Anfang an ablehnen. Vom Zeitpunkt der Geburt an empfinden solche Eltern, selbst noch Kinder, die lediglich ihren Spaß haben wollen, ihr Kind als aufdringliche Belästigung und verhalten sich entsprechend. Das Kind wird geschlagen, wenn es die Eltern durch Schreien stört, es wird gewaltsam zur Ruhe gebracht und muß unter vielen Mühen sein Recht auf Existenz verteidigen. Es leidet unter der Gereiztheit seiner Eltern, einer Gereiztheit, wie sie gewöhnlich junge Menschen an den Tag legen, denen es so sehr an Liebe fehlt, daß sie jede Rücksicht in den Wind schlagen, sobald sie die fehlende Liebe in der Sexualität zu finden glauben.

Die Gründe für den Kinderwunsch sind so zahlreich wie die neurotischen Störungen selbst. Ein Mann, der Zweifel an seiner Männlichkeit hegt, mag sich ein Kind, vor allem einen Jungen, wünschen, um seine Männlichkeit zu beweisen. Wenn sein Kind Angst zeigt, gerät sein übersteigertes Bild von Männlichkeit in Gefahr, und das führt ihn dazu, die kindliche Angst zu unterdrücken. Eine Frau mag sich Kinder wünschen, um ihre Weiblichkeit bestätigt zu finden oder sich zumindest nicht unfruchtbar zu fühlen. Unter Umständen möchte sie dennoch weiterhin Partys, Nachtklubs und Geselligkeiten aufsuchen, um sich in ihrer weiblichen Attraktivität bekräftigt zu fühlen. In diesem Fall wäre der Wunsch nach einem Kind nur ein Trick in einem neurotischen Spiel: es kommt ihr nicht in den Sinn, daß sie mit dem Kind ein neues, von Bedürfnissen erfülltes menschliches Wesen in die Welt setzt. Aus dem gleichen Grund, der in ihr den Wunsch nach einem Kind weckte, ist sie später eine nachlässige, lieblose Mutter – um hübsch, attraktiv und »weiblich« zu sein.

Neurotiker haben eine Abneigung dagegen, ständig für jemanden da zu sein, für ihn zu sorgen. In Wirklichkeit sind sie Kinder, die sich danach sehnen, umhegt und umsorgt zu werden. Für solche Menschen ist der Wunsch nach einem Kind mit Phantasien besetzt. Die Frau sieht nur die Sorge und Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht werden, solange sie schwanger ist. Auch mag ihr das Kind als einziges Mittel erscheinen, sich eines Mannes zu versichern, der bei ihr bleibt, um sie zu umhegen und anzuleiten. Solche Eltern begreifen nicht, daß ein Säugling totales Bedürfnis und totaler Anspruch ist. Kein Wunder, daß diese Eltern schon bald nach der Geburt des Kindes fast ständig gereizt und erregt sind, weil sie aus Rücksicht auf ihr Kind ihre eigenen Wünsche stärker zurückstellen müssen. Wenn das Kind weint und schreit, stellt sich bei den Eltern automatisch der Wunsch ein, das Schreien und die Forderungen des Kindes zu unterdrücken. Sie nehmen sich nicht die notwendige Zeit, die Bedürfnisse des Säuglings zu befriedigen. Wenn Eltern die kindlichen Bedürfnisse nicht befriedigen können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sie zu unterdrücken. Das läßt sich folgendermaßen erklären: Als Kinder mußten diese Eltern selbst ihre unbefriedigten und daher unerträglichen Wünsche aus dem Bewußtsein verdrängen. Später können sie aufgrund der Verdrängungen auch die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder nicht wahrnehmen. Das fortwährende Weinen und Schreien des Säuglings (ein Zeichen von Bedürfnissen) wird von den Eltern als unerträglich empfunden und folglich unterdrückt. Ihnen stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung, das Weinen von Kindern zu unterdrücken, zum Beispiel Ablenkung durch Rasseln, Geräusche verschiedenster Art, Spiele usw. Auch kräftiges Schütteln, eine brutalere Methode, bietet sich an. Das Ergebnis ist in jedem Fall das gleiche.

Der entscheidende Punkt ist, daß die Gründe für den Kinderwunsch, die wir uns einreden, häufig nicht mit den unbewußten Motiven übereinstimmen. Diese Motive sind ihrerseits Bedürfnisse, allerdings unbewußte, weil sie verschüttet wurden. Ein Kind wird vom Tag seiner Geburt an in diese unbewußten Bedürfnisse einbezogen, denn sie sind bei den Eltern selbst vom Tag ihrer Geburt an vorhanden.

Einer der allgemein üblichen Gründe dafür, daß Menschen Kinder haben, ist ihre Furcht vor der Endgültigkeit des Todes. Sie sind auf das Gefühl angewiesen, daß ein Teil ihres Selbst in der Zeit nach dem Tode weiterleben wird; entweder sie machen sich eine Vorstellung von einem Danach oder sie erschaffen sich dieses Danach mit Hilfe eines Kindes. Der Gedanke, nichts zu besitzen, was überdauert, bedeutet, den Tod als das Ende der Existenz zu akzeptieren.

Ohne Frage ist eine der besten Methoden zu vermeiden, daß unerwünschte (mithin neurotische) Kinder in die Welt gesetzt werden, die Verhütung unerwünschter Schwangerschaft. Die Frau erreicht dies am besten dadurch, wenn sie ihrem eigenen Innern gegenüber aufgeschlossen ist und mit Überlegung empfängnisverhütende Mittel verwendet. Primärtherapeutisch behandelte Frauen spüren den Augenblick, da die Ovulation (Eiausstoßung) beginnt; sie werden nicht von einer Schwangerschaft überrascht, wie es gelegentlich bei neurotischen Frauen geschieht. Eine ausgeglichene Frau hat kein übersteigertes Liebesbedürfnis und wird kaum dazu neigen, die Sexualität zwanghaft auszuagieren. Eine ausgeglichene Frau setzt kein hilfloses Menschenkind in die Welt, nur weil sie einen Mann an sich fesseln möchte, der für sie sorgen soll. Für die Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern ist es offensichtlich entscheidend wichtig, daß sie gewünscht sind. Zufälle sind schon per Definition unerwünscht.

2 Das intrauterine Leben

Über das Leben im Uterus, in der Gebärmutter, liegen nur unzulängliche Untersuchungen vor. Doch wir haben unbezweifelbare Beweise dafür, daß die körperliche Verfassung der Mutter den Fötus, die Leibesfrucht, beeinflußt. Mit anderen Worten, der Keim für eine Neurose wird mit den jeweiligen Lebenserfahrungen gesetzt, und diese Erfahrungen beginnen nun einmal im Mutterleib. Bereits mit dem zweiten Monat im Uterus arbeitet das Gehirn des Kindes und sendet Nervenimpulse aus, welche die Organe des winzigen Körpers koordinieren. Obwohl das Gehirn noch rudimentär, noch nicht völlig ausgebildet ist, kann es bereits die aus der uterinen Welt stammenden Sinneseindrücke registrieren. Ich wähle mit Absicht den Begriff »registrieren«, weil das winzige Nervensystem in einer Umwelt mit äußeren Einflüssen lebt, mit Einflüssen, die unter Umständen zu einer neurotischen Entwicklung führen, lange bevor sie vom Gehirn des Kindes begrifflich erfaßt werden können. Wenn eine Mutter Alkohol zu sich nimmt, können Spuren dieser Substanz in den Organismus des Fötus gelangen. Wenn sie Heroin spritzt, kann der Fötus süchtig werden. Wenn sie raucht, kann von daher eine verzögerte Entwicklung des Fötus resultieren; das Kind kommt dann körperlich kleiner zur Welt, als es der Fall wäre, wenn die Mutter nicht geraucht hätte.

Betrachten wir den einfachen Fall, daß eine schwangere Mutter raucht. Untersuchungen an Affen haben gezeigt, daß Nikotin in kurzer Zeit vom Körper der Mutter in den des Fötus gelangt.[1] Nikotin beeinträchtigt den Kreislauf des Fötus, indem es den Sauerstoffgehalt des Blutes reduziert. Es verlangsamt auch den Herzschlag des Fötus und senkt seinen Blutdruck. Anders ausgedrückt, eine Nikotininjektion bei einer trächtigen Äffin setzt ihren Fötus Belastungen aus, und man darf getrost annehmen, daß dies auch für den menschlichen Fötus gilt.

Einer Untersuchung an 17000 britischen Kindern zufolge ist das Neugeborene einer starken Raucherin (täglich zehn Zigaretten und mehr nach dem vierten Schwangerschaftsmonat) in einer schlechteren körperlichen Verfassung als das Neugeborene einer Nichtraucherin; außerdem hat sich gezeigt, daß die soziale Entwicklung des Neugeborenen einer starken Raucherin beeinträchtigt ist.[2] Rauchen senkt nachweislich den Vitamin-C-Gehalt des Körpers und vermag die Zellstruktur nachteilig zu beeinflussen; unter Umständen kann auch die Synthese von Kollagen [Gerüsteiweiß, Eiweißkörper im Bindegewebe, in Sehnen, Knorpeln und Knochen][3] beeinträchtigt werden. Raucher benötigen zweimal so viel Vitamin C wie Nichtraucher.

Die Untersuchung an den 17000 britischen Kindern soll fortgesetzt werden; sie sollen im Abstand von vier Jahren auf ihren körperlichen Zustand und ihr soziales Verhalten hin untersucht werden.[4] Eines der jüngsten Ergebnisse dieser Untersuchung: Mütter, die während der Schwangerschaft rauchen, haben 30 % häufiger Fehlgeburten als Nichtraucherinnen. Die überlebenden Kinder der Raucherinnen wurden im Alter von sieben Jahren auf ihre Körperlänge hin gemessen. Sie waren durchschnittlich 3,7 Zentimeter kleiner als die Kinder von Nichtraucherinnen. Außerdem hatten sie in der Schulzeit mehr Leseschwierigkeiten und häufiger psychische Probleme. Schließlich erschienen sie körperlich unausgeglichener und zeigten Unzulänglichkeiten beim Nachzeichnen einfacher Bildvorlagen.

Über die Auswirkungen des Rauchens auf den Fötus wissen wir offensichtlich nicht allzu viel, doch unser heutiges Wissen reicht aus, um sagen zu können, daß schwangere Frauen besser nicht rauchen sollten. Wir wissen nicht, um wieviel ängstlicher und angespannter rauchende Mütter sind als nichtrauchende und auf welche Weise die vom Rauchen ausgehenden Wirkungen dadurch beeinflußt werden. Anders ausgedrückt, Rauchen ist lediglich eine Nebenerscheinung innerer Spannungen; mit diesen Spannungen müssen wir uns befassen und versuchen, sie zu beseitigen, damit eine gesunde Schwangerschaft gewährleistet wird. Da das Nervensystem des Fötus um die Mitte der Schwangerschaft bereits weitgehend ausgebildet ist, kann man sich vorstellen, welchen Eindrücken der Fötus ausgesetzt ist, wenn er stündlich mit Nikotin bombardiert wird, mit einer Substanz, die den Sauerstoffgehalt des Blutes verringert.

Auf einer Tagung der American Association for the Advancement of Science [Amerikanische Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften] im Frühjahr 1970 wurde ein Untersuchungsbericht über trächtige Ratten vorgelegt, die über längere Zeit hin lauten Geräuschen ausgesetzt worden waren. Ergebnis des Experiments: Die Ratten warfen körperlich kleinere Junge. Man darf mithin annehmen, daß Streß (oder Angst) die fötale Entwicklung unmittelbar beeinflußt. Nicht nur die mit lärmenden Geräuschen traktierten trächtigen Ratten hatten einen beschleunigten Herzschlag, auch die Herzschlagfrequenz ihrer Föten war heraufgesetzt. Das heißt, daß Streß, der auf die schwangere Mutter einwirkt, zur Neurose bei ihrer Nachkommenschaft führen kann. Wir haben Beweise dafür, daß Geräusche unmittelbar auf den Fötus einwirken. In der Säuglingsstation eines Krankenhauses ließ man ein Tonband abspielen, auf dem das Schlagen eines Herzens aufgenommen worden war. Bei dem Experiment ging das Weinen und Schreien der Säuglinge auffällig zurück. Dies dürfte ein Hinweis dafür sein, daß der Fötus den Herzschlag der Mutter registriert und daß die Regelmäßigkeit (oder Unregelmäßigkeit) des Herzschlags das Befinden des Fötus verändert. Der Herzschlag der Mutter während der Schwangerschaft dürfte sich mithin auf die spätere Verfassung des Kindes auswirken.

Es scheint, daß der gleichmäßige Herzschlag einer schwangeren Mutter mit dazu beiträgt, eine kindliche Neurose zu verhindern. Gleichmäßige Töne wirken beruhigend. Wir alle können dabei einschlafen. Unregelmäßige Geräusche hingegen sind beunruhigend. Wenn Erwachsene infolge eines Erbfaktors derartig auf Geräusche reagieren, warum sollte dies nicht auch für den Fötus zutreffen? Geräusche werden von der Haut wahrgenommen, mehr noch: es scheint bewiesen, daß bestimmte Hautpartien sogar die Geräuschquelle lokalisieren können. Der Fötus kann also mit der Haut gleichsam sehen.

Eine Mutter berichtete in der Primärtherapie, sie sei im achten Schwangerschaftsmonat in einen Park mit einem nahegelegenen Schießstand gegangen. Bei jedem Schuß habe sich das Baby in ihrem Leib heftig bewegt. Mit dem inzwischen acht Monate alten Säugling habe sie dann den Park erneut aufgesucht; nach den Worten der Mutter zeigte das Kind bei jedem Schuß eine ungewöhnlich starke Schreckreaktion.

Experimenten zufolge, die in Schweden angestellt wurden, reagiert der Fötus selbst auf schwache Geräusche mit einer Beschleunigung des Herzschlags. Erhöhte Herzschlagfrequenz ist als Streßreaktion anzusehen. Der Fötus hat zwar von dem Streß keine begriffliche Vorstellung, doch das bedeutet noch lange nicht, daß er davon unberührt bleibt oder daß der Streß keine langfristigen Auswirkungen auf sein späteres Verhalten ausüben kann. Während des Lebens im Uterus und in der Folgezeit erlebt das Kind Streßsituationen, die ihre Spuren im Organismus zurückgelassen und ein primäres Reservoir von Gefühlen bilden, das eines Tages überfließen und zu Symptomen führen kann.

Der New Yorker Facharzt für Ohrenheilkunde S. Rosen kam bei seinen Untersuchungen zu aufschlußreichen Ergebnissen: »Wenn das Ohr plötzlich von einem Geräusch getroffen wird, beschleunigt sich der Herzschlag, die Blutgefäße verengen sich, die Pupillen weiten sich, und Magen, Speiseröhre sowie die Därme werden von Spasmen [Krämpfen] ergriffen … Man mag das Geräusch vergessen, der Körper vergißt es nicht.« (Zeitschrift Life vom Juni 1970)

Dr. Rosen beschreibt in seinem Artikel eine Streß- oder Angstreaktion. Ein Säugling, der nicht in der Lage ist, sich auf die Geräuschquelle einzustellen oder etwas dagegen zu unternehmen, erfährt eine Streßreaktion. Ob der menschliche Organismus sich im Uterus befindet oder nicht, spielt dabei keine Rolle, soweit es um die körperliche Reaktion auf die Geräuschbelastung geht.[5]

Während der Schwangerschaft bereitet der Fötus sich auf sein Menschsein vor. Sinneseindrücke lösen bei ihm gesamtkörperliche Vorgänge aus; sie beeinflussen die Sekretion, die Hormonbildung, die Gehirnentwicklung usw. Das heißt, Sinneseindrücke sind Vorläufer von Gefühlen. Katastrophale Eindrücke können eine Entwicklungsstörung einleiten, die sich nach der Geburt zu einer Neurose mit all ihren Begleitumständen auswächst. Bei scheinbar genetisch bedingten Unterschieden zwischen Neugeborenen kann es sich durchaus um die bereits durch die Lebenserfahrungen im Mutterleib geformte »Persönlichkeit« handeln. Im Falle einer Raucherin, die ein körperlich kleines Kind zur Welt bringt, hat sicherlich die Belastung des Fötus durch das Rauchen auf irgendeine Weise mit dazu beigetragen, die für das Wachstum notwendige Hormonbildung zu beeinträchtigen. Angesichts der Tatsache, daß Hormone auf komplizierte Weise unsere Gefühle steuern, erscheint es logisch anzunehmen, daß eine gestörte Hormonbildung unsere Gefühlsfähigkeit nachteilig beeinflußt.

Gelegentlich sind katastrophale Sinneseindrücke nicht sofort als solche erkennbar. Wenn zum Beispiel eine schwangere Frau einen hohen Berg besteigt, in einem Flugzeug fliegt, das keine Anlage zum Ausgleich des Luftdrucks in der Passagierkabine besitzt, oder deren Kreislauf aufgrund innerer Spannungen Belastungen ausgesetzt ist, dann kann es geschehen, daß der Fötus unter Sauerstoffmangel leidet und unangenehme Empfindungen verspürt. Obgleich die Plazenta [Mutterkuchen] den Sauerstoffmangel mittels verstärkter Eigenentwicklung auszugleichen sucht, kommt man doch um die Tatsache nicht herum, daß der Fötus den Sauerstoffmangel auf irgendeine Weise registriert. Ständiges Unbehagen blockiert oder stört automatisch die Sensitivität des Körpersystems – und führt in dem genannten Fall zum Beispiel zu einer Überentwicklung der Plazenta –, ohne daß mit dem Vorgang die bewußte Wahrnehmung von Schmerz verbunden sein muß. Mit anderen Worten, der Fötus kann Unbehagen (das ich Schmerz nenne) ohne bewußte Wahrnehmung des Schmerzes empfinden. Sinneseindrücke sind entscheidende Bestandteile des Bewußtseins. Heftige Sinneseindrücke können nachträglich Auswirkungen auf das Bewußtsein des Neugeborenen haben. Der Säugling kann weniger rege, aufgeweckt und lebenskräftig sein; die Entwicklung seines Auffassungsvermögens kann sich verlangsamen und dergleichen mehr.

Man hört gelegentlich den Einwand, daß selbst heftige Sinneseindrücke keine anhaltenden Auswirkungen auf den Fötus haben können, weil viele zur Wahrnehmung und Einordnung dieser Eindrücke notwendige Gehirnzellen noch nicht myelinhaltig seien.[6] Delgado hat jedoch darauf hingewiesen, daß Rattenjunge bereits Tage vor der Geburt Bewegungen ausführen, obwohl die Myelinisation der dafür notwendigen Gehirnstrukturen erst Tage nach der Geburt abgeschlossen ist.[7]

Wenn eine Frau für ihr Wohlbefinden Sorge tragen sollte, dann während der Schwangerschaft. Schlechte Ernährung, starker Alkoholkonsum usw. schädigen ihr Kind. Die schwangere Frau hat bereits eine Beziehung zu ihrem Kind aufgenommen. Wenn ihr das Wohl des Kindes am Herzen liegt, dann wird sie dafür sorgen, daß sie in guter körperlicher und psychischer Verfassung ist, nicht herumhetzt, nicht bis zum letzten Augenblick allein im Auto zur Arbeit fährt, nicht alle paar Minuten ihre anderen Kinder anschreit, kurz alles unterläßt, was zu verstärkten inneren Spannungen führt. Ihr Körper muß entspannt sein.

Ungenügende Sauerstoffzufuhr ist nicht die einzige Mangelerscheinung, die einem Fötus widerfahren kann. Als weiterer entscheidender Faktor wäre die falsche Ernährungsweise der Mutter zu nennen. Die gesunde Mutter empfindet die Bedürfnisse des Fötus in ihrem Körper als Teil ihrer eigenen Bedürfnisse. Durch eine geeignete Diät während der Schwangerschaft wird sie diese Bedürfnisse gleichsam intuitiv befriedigen. Sie wird nicht aus Eitelkeit fasten, um schlank zu werden. Eine Mutter, die sich nicht richtig ernährt, fügt ihrem Kind Schaden zu. Seine Bedürfnisse werden nur mangelhaft erfüllt; dieser unterschwellige Mangel kann sich später womöglich in körperlichen Anfälligkeiten niederschlagen. Fasten kann das Nervensystem des Ungeborenen in einer Zeit schneller Entwicklung auf subtile Weise beeinträchtigen.

Wir alle wissen, daß eine falsche Diät unser körperliches Wohlbefinden stört. Doch wir machen uns nicht richtig klar, daß eine schwangere Frau ihrem Kind durch eine falsche Diät Leiden zufügt, auch wenn das Kind aufgrund seines noch unterentwickelten Bewußtseins diese leidvolle Erfahrung nicht wahrnimmt. Eine neurotische Mutter kann ihr Kind auch durch eine Früh- oder Spätgeburt schädlichen Einflüssen aussetzen. Nach meiner Überzeugung werden beide Geburtsarten weitgehend durch neurotische Störungen verursacht. So läßt sich zum Beispiel in den Gehirnbereichen, die bei der Verdrängung eine Rolle spielen, eine Konzentration der blutdrucksteigernden chemischen Substanzen Serotonin nachweisen. Eine der Begleitumstände erhöhten Serotoninspiegels ist das Zusammenziehen der Blutgefäße. Diese von neurotischer Verdrängung verursachte chronische Verengung der Blutgefäße ist in manchen Fällen einer der Gründe für einen Spontanabort oder eine Frühgeburt. Übermäßiger Serotingehalt kann auch die Blutzufuhr in die Planzenta drosseln und damit die Versorgung des Fötus gefährden. Eine Frühgeburt hat stets zahlreiche gesundheitsschädliche Folgen, doch selten wird das psychische Trauma eines solchen Ereignisses berücksichtigt. Ein primärtherapeutisch behandelter Patient, der durch eine Frühgeburt zur Welt gekommen war, hatte in einem Geburtsprimal das Gefühl, plötzlich in die Welt gestoßen zu werden, ohne dazu bereit zu sein, und er kam aus diesem Primal mit der Einsicht, daß er sich während seines ganzen Lebens an Dinge geklammert, sich um einen dauerhaften Arbeitsplatz und konstante Lebensverhältnisse bemüht hatte und bei jeder Veränderung von Panik ergriffen worden war. Er hatte den starken Eindruck, daß seine Panikgefühle mit seiner Frühgeburt und dem Wunsch zusammenhingen, sich bis zur normalen Geburt im Mutterleib festzuklammern.

Ich bin sicher, daß es eine Reihe noch unbekannter biologischer Faktoren gibt, die eine Frühgeburt zur Folge haben. Doch ich bin gleichfalls sicher, daß zwischen diesen Faktoren und neurotischen Störungen eine enge Verbindung besteht. Patientinnen in der Primärtherapie, die Frühgeburten hinter sich hatten, wußten jedesmal mit Sicherheit, daß sie ihre Kinder frühzeitig zur Welt gebracht hatten, weil sie die Schwangerschaft nicht ertragen konnten und ihre Kinder nicht austragen wollten. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, daß Frühgeburten schädliche Folgen haben, angefangen von verzögerter geistiger Entwicklung bis zur größeren Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen der Atemwege. Freilich dürfte für viele dieser Störungen weniger die Frühgeburt als die Tatsache verantwortlich sein, daß frühgeborene Kinder in Brutkasten gelegt und folglich einen Teil der für ihre Entwicklung notwendigen Stimulierung, Wärme und Körperkontakt entbehren müssen. In diesem Zusammenhang sollte man bedenken, daß Frühgeborene in jeder Hinsicht noch Föten sind, die all die vom Mutterleib ausgehenden Stimulierungen benötigen.

Wenn Frühgeborene überhaupt Gelegenheit haben sollen, sich normal zu entwickeln, dann muß man ihnen ein größeres Quantum an taktiler, mit Berührung zusammenhängender Stimulierung bieten, als dies üblicherweise geschieht. Wie wir später sehen werden, beeinflußt solche Stimulierung unmittelbar das Wachstum der Gehirnzellen. In diesem Zusammenhang ist eine von Freedman und anderen durchgeführte Untersuchung an Zwillingen von Bedeutung. Die untersuchten Zwillinge hatten sämtlich ein geringes Geburtsgewicht (was als Folge von Frühgeburten angesehen wurde). Die eine Gruppe der Kinder wurde in ihren Bettchen geschaukelt, die andere nicht Die stimulierten Kinder nahmen schneller an Gewicht zu als die nicht-stimulierten.[8]

Auch Spätgeburten laufen den natürlichen Bedürfnissen des Kindes zuwider, denn es wird ihm nicht gestattet, was ihm zusteht, nämlich zur richtigen Zeit zur Welt zu kommen. Neurotische Mütter, die sich einer Primärtherapie unterzogen, kamen zu der Erkenntnis, daß sie mit der verzögerten Geburt ihre Ablehnung dem Kind gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, Ablehnung aufgrund mangelnder Bereitschaft, sich um das Kind zu kümmern. Eine der Mütter erklärte, sie sei nur deshalb schwanger geworden, damit man sich um sie kümmere, und sie habe diesen Zustand möglichst lange beibehalten wollen. Das Zurückhalten des Kindes, der Unwille, es in die Welt zu setzen, ist neurotisch motiviert; die Mutter kann mit ihrem Verhalten unter Umständen zu einer allgemeinen Verzögerung der kindlichen Entwicklung beitragen.

Das Trauma der Spätgeburt zeigt sich an der Tatsache, daß die Sterblichkeitsquote spätgeborener Kinder doppelt so hoch ist wie die normal geborener. Da Kopf und Hüfte des Kindes größer sind als gewöhnlich (aufgrund des längeren Verbleibens im Mutterleib), ist die Geburt häufig mit Komplikationen verbunden, die traumatische Auswirkungen haben können. Eine Mutter, die sich nicht bereit fühlt, Mutter zu sein, die innerlich gespannt und verschlossen ist, die dazu neigt, Dinge nicht mitzuteilen, kann in unbewußter Absicht ihr Kind zu lange in sich behalten. Was uns fehlt, sind Untersuchungen, die Aufschluß darüber geben, welcher Zusammenhang bei schwangeren Frauen zwischen dem Maß innerer Spannungen und der Art der Geburt besteht. Neigen unter stärkeren Spannungen lebende Frauen zu Spätgeburten? Besteht ein Zusammenhang zwischen inneren Spannungen bei der Mutter und größerer Häufigkeit von Hirnschäden und anderen schwerwiegenden Krankheiten beim Kind? Haben mütterliche Spannungen Einfluß auf die Sterblichkeitsquote von Kindern? Bei Tierversuchen ist dies nachweislich der Fall. Bei trächtigen Rattenweibchen, die während der Schwangerschaft häufig gestreichelt werden, ist die Zahl der überlebenden Jungen größer als bei Ratten, die nicht auf diese Weise behandelt werden.[9]

Streicheln erzeugt offensichtlich ein Gefühl des Wohlbehagens, entspannt das organische System und läßt seine Funktionen optimal ablaufen. Natürlich ist der menschliche Organismus ein wenig komplizierter, doch nach meiner Meinung gilt für ihn der gleiche Grundsatz. Wenn eine Mutter als Säugling viel gestreichelt und gehätschelt wurde, dann wird ihr Organismus während und nach der Schwangerschaft mit einiger Sicherheit entspannter, ausgeglichener und damit ihrem Kind zuträglicher sein, als dies der Fall wäre, wenn sie selbst als Kleinkind auf Zärtlichkeiten verzichten mußte. Die Erfahrungen der Mutter als Säugling und Kleinkind bestimmen zum Teil ihr späteres Verhalten als Mutter.

Es wäre auch wichtig zu wissen, ob die inneren Spannungen einer schwangeren Frau den Wahrscheinlichkeitsgrad erhöhen, daß ihr Kind unter Koliken oder Hauterkrankungen (Ekzemen) leiden wird. Wenn wir von Spannungen sprechen, dann meinen wir einen gesamtphysiologischen Zustand, der den Hormonhaushalt, den Muskelapparat, das Kreislaufsystem usw. umfaßt. Spannung ist lediglich ein Begriff, der den Zustand jener miteinander verbundenen organischen Systeme bezeichnet. Der Grund dafür, daß streichelnde Berührung bei Rattenweibchen die Überlebensquote ihrer Jungen positiv beeinflußt, liegt in der Tatsache, daß die Berührung und die damit einhergehenden Sinneseindrücke sich physiologisch umsetzen, indem sie Veränderungen bei den organischen Schlüsselsystemen bewirken.

Störungen im mütterlichen Hormonhaushalt können zu dauerhaften Schädigungen beim Fötus führen. Sie wirken sich unter Umständen auf die Gemütsverfassung des Kindes aus, das heißt, sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, ob ein Kind aggressiv oder passiv wird. Trächtige Primatenweibchen [höchstentwickelte Säugetiere, Affen], denen männliche Hormone verabreicht wurden, brachten Junge zur Welt, die ein aggressiveres Verhalten an den Tag legten als die Jungen einer Kontrollgruppe von Primaten, denen keine männlichen Hormone injiziert worden waren. Der Nachwuchs der erstgenannten Primatengruppe zeigte ein ungewöhnlich aggressives Verhalten; diese Charaktereigenschaft scheint unwandelbar zu sein. Der springende Punkt ist, daß eine Neurose den mütterlichen Hormonhaushalt durcheinanderbringen und zu einem Überschuß an Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen) führen kann. Als Folge dieser Störung können die weiblichen Neugeborenen als ungewöhnlich aggressive Kinder zur Welt kommen, als vermännlichte Mädchen, die mit ihrer Umwelt in »männlich-harter« Weise umgehen. Bei Menschen kann dieser Umstand der Anfang einer späteren sexuellen Abirrung sein, etwa lesbischer Neigungen. Natürlich dürften in einem solchen Falle viele weitere soziale Faktoren eine Rolle spielen, doch es ist durchaus möglich, daß das Kind bereits während der Schwangerschaft für spätere Verhaltensstörungen prädisponiert, gleichsam vorgeprägt wird.

So ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß männliche Ratten, denen unmittelbar nach der Geburt das weibliche Sexualhormon Oestrogen verabreicht wurde, für ihr Leben lang feminisiert werden, das heißt weibliche Verhaltensweisen zeigen. Wenn das gleiche Hormon später injiziert wird, ruft es keine derartigen Verhaltensänderungen hervor. Mithin haben Störungen im Hormonhaushalt nur in kritischen Zeitspannen katastrophale Folgen. Die Natur scheint um diese Zusammenhänge zu wissen, denn während der menschlichen Schwangerschaft steigt der Progesterongehalt [weibliches Keimdrüsenhormon] stark an. Das Hormon Progesteron hat in vielerlei Hinsicht entscheidende Auswirkungen: es trägt zur Entspannung der Mutter bei, setzt die nervöse Reizbarkeit des Uterus herab und dürfte schließlich einen beruhigenden Einfluß auf die Leibesfrucht ausüben. Auf die wichtigste Auswirkung des Hormons hat mich Dr. Oscar Janiger hingewiesen.[10] Bei Durchsicht der Fachliteratur stellte Dr. Janiger fest, daß es während der Schwangerschaft selten, wenn überhaupt zu einem psychotischen Schub (Nervenzusammenbruch) kommt. Doch laut Dr. Janiger ist die Literatur voll von Hinweisen auf psychotische Störungen nach der Entbindung – einer Zeit, wenn der Progesterongehalt rapide absinkt. So wird das Abwehrsystem der Mutter während der Schwangerschaft automatisch, nämlich aufgrund eines angeborenen Mechanismus, zusätzlich verstärkt; dieser Vorgang muß mit unserem sogenannten Überlebenswillen zusammenhängen: Er schützt die Gesundheit der Mutter, während sie ihr Kind austrägt, und garantiert ihm die beste Lebenschance.

Progesteron scheint eine anästhesierende, das heißt schmerzstillende Wirkung zu haben; das geht aus Berichten hervor, denen zufolge an Patienten, die zuvor eine hohe Dosis Progesteron erhalten hatten, ohne Narkotisierung kleinere Operationen durchgeführt werden konnten. Und hier wollen wir zur Primärtheorie zurückkehren. Während der Schwangerschaft wird im Körper der Frau ein chemischer Stoff abgesondert, der die Schmerzen lindert und damit das Abwehrsystem stützt. Das Fehlen akuter Psychosen in dieser Zeit legt den Schluß nahe, daß dieser im Innern des Körpers gebildete Schmerzlinderer einen beträchtlichen Schutz darstellt – mehr noch, daß Psychosen mit unabgewehrtem Schmerz zu tun haben. Die Krankheitsanfälligkeit der Mutter nach der Niederkunft muß irgendwie mit dem gesunkenen Progesteronspiegel zusammenhängen.

Progesteron hat noch weitere Funktionen, nicht zuletzt jene, die Differenzierung in männlich oder weiblich zu fördern. Auch hier wiederum können Veränderungen im Progesterongehalt während der Schwangerschaft die besagte Differenzierung derartig beeinträchtigen, daß die basale Einstellung des Neugeborenen gegenüber den Lebensereignissen – seine Grundorientierung – gestört wird. Frauen, die Schwierigkeiten damit haben, ihr Kind auszutragen, erhalten gelegentlich extrem hohe Dosen Progesteron (um den Uterus zu beruhigen), und dies wiederum hat bisweilen zur Folge, daß ihre weiblichen Neugeborenen gleichsam vermännlicht zur Welt kommen (mit starker Körperbehaarung usw.). Mit anderen Worten, Veränderungen im Hormonhaushalt der Mutter übertragen sich auf den Fötus; diesen Tatbestand haben wir zu berücksichtigen, wenn wir über den Neurosenursprung nachdenken. Wir haben uns mit der Genetik beschäftigt, um für den Fall, daß die Schwangerschaftsperiode einmal in allen Einzelheiten erforscht ist, zur Klärung ungelöster Probleme beizutragen.[11]

So habe ich zum Beispiel darauf hingewiesen, daß ein extrem hoher Serotoningehalt einen Spontanabort oder eine Frühgeburt herbeiführen kann. Vielleicht haben abgesonderte Körperhormone wie Progesteron irgendeine Rückwirkung auf Gehirnhormone wie Serotonin, die ihrerseits dann die Körpervorgänge beeinflussen. Der Körper verfügt über eine komplexe Hormonkette; jede Störung oder Veränderung in einem Kettenglied könnte letztendlich die anderen Kettenglieder beeinträchtigen. Wenn wir nicht die Gesamtperson in unsere Überlegungen einbeziehen, könnten wir zu der Annahme verführt werden, eine einzige Hormonsubstanz sei der »Grund« für diese oder jene Körperverfassung. Ich bin der Überzeugung, daß Neurosen das gesamte körperliche Interaktionssystem stören und auf der ganzen Linie zu geringfügigen Unausgeglichenheiten im Körperhaushalt führen, zu Gleichgewichtsschwankungen, die ihrerseits das körperliche Wachstum, die Haarbildung, den Sexualtrieb, den Blutzuckerspiegel usw. beeinträchtigen können.[12] Progesteron dürfte lediglich ein Bestandteil eines psychoseverhindernden, die Körperabwehr stärkenden biochemischen Systems sein. Serotin wäre ein weiterer Abwehrstoff. So ist zum Beispiel bei Psychosen kein Serotinspiegel vorhanden. Wenn wir erst einmal begriffen haben, daß es nicht nur psychische Abwehrfunktionen gibt, wie etwa Projektionen, die unangenehme Vorstellungen abwehren sollen, sondern auch Abwehrformen, die die neurochemischen Vorgänge unseres gesamten Körpers erfassen, dann werden wir verstehen lernen, wie Neurosen den Gesamtorganismus beeinträchtigen.

Das Leben des Fötus im Uterus stellt eine Mutter-Kind-Beziehung her. Der Gedanke erscheint nicht abwegig, daß eine psychisch gesunde Mutter eine bessere Beziehung zu ihrem Fötus hat als eine psychisch gestörte Mutter.

Helen

Gestern beim Gruppenabend hatte ich ein sehr merkwürdiges Urerlebnis. Ich hatte das Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein. Plötzlich bekam ich einen gräßlichen Schreianfall, doch gleichzeitig war mir alles ein wenig deutlicher bewußt, als das in jener frühen Lebensphase der Fall ist. Heute, genau in diesem Augenblick, geht mir auf, was es mit diesem Urerlebnis auf sich hat. Ich erinnere mich, daß meine Mutter erzählte, sie sei im neunten Schwangerschaftsmonat spätabends über einen Spielplatz vor unserem Hause gegangen und dabei gestolpert. Sie war mitten aufs Gesicht gefallen und hatte sofort befürchtet, ich könnte dabei Schaden erlitten haben. Daher rief sie ihren Arzt an, der ihr jedoch versicherte, ich hätte keinen Schaden erlitten und sei wohlauf. Mir ist heute klar, daß es sich bei dem gestrigen Urerlebnis um eine Wiederbelebung jenes Ereignisses handelt. Gegen Ende des Urerlebnisses, nachdem ich das Gefühl gehabt hatte, ich befände mich wieder im Mutterleib, ein Gefühl, als seien alles Denken und alle Körpervorgänge, selbst das Atmen zum Stillstand gekommen, da verspürte ich plötzlich einen Ruck, der in mir das Gefühl hervorrief, als habe man mich brutal geweckt oder als sei meine Wahrnehmung geschärft worden. Gleichzeitig hatte ich heftige Angst, mir war, als werde nach mir gegriffen oder als zöge sich mein Körper zusammen. Damit war das Urerlebnis vorbei. Anschließend lag ich noch eine Zeitlang da, ohne Gefühl für Raum und Zeit oder irgend etwas anderes. Wenn ich nicht diesen plötzlichen scharfen Ruck verspürt hätte, wäre es mir wahrscheinlich gar nicht erst möglich gewesen, mich an das Gefühl zu erinnern, im Mutterleib zu sein, denn dieses Gefühl war in einer so tiefen unbewußten Schicht verborgen. Oder vielleicht hätte ich mich doch daran erinnern können, wenn ich einfach eingeschlafen wäre. Ich weiß, als Kind bin ich häufig in diesen Zustand entglitten, und später dachte ich mir, dies sei ein Weg gewesen, meiner erbärmlichen Kindheit zu entfliehen, doch heute weiß ich, daß mein Körper versuchte, die erste traumatische Urerfahrung zu mildern. Das panikartige Gefühl gegen Ende des Urerlebnisses war überhaupt keine verstandesmäßige Erfahrung; es war nichts als eine körperliche Reaktion.

Wenn ich als Kind aufgrund jenes »Mutterleibs-Primals« in diesen Zustand der Geistesabwesenheit oder Trance entglitt, dann verschaffte ich mir auf diese Weise eine Möglichkeit, dem Schmerz zu entgehen, den meine Mutter mir zufügte. Doch wenn ich für eine Weile in diesem Mutterleibs-Gefühl verharrte, dann überfiel mich ein intensives Panikgefühl, ein Gefühl schrecklicher Angst, und mein Körper krampfte sich zusammen, wahrscheinlich in Erwartung des ruckartigen Stoßes, den ich geschildert habe. Ich war außerdem das erste Kind meiner Mutter und zog wahrscheinlich deshalb ihre Ängste und Befürchtungen auf mich.

Das Füttern war von Anfang an eine Qual für mich, denn ich wurde nach Plan und nicht nach Bedürfnis gestillt. Wenn ich hungrig war und mein Bedürfnis durch Schreien äußerte, wurden meine Anstrengungen (das Schreien) niemals belohnt. Stattdessen wurden meine Bedürfnisse zu Zeiten erfüllt, die mir völlig verrückt erschienen, entweder, wenn ich überhaupt nicht hungrig war, oder, wenn ich schlief, usw. Mein Bedürfnis und die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung (das Füttern) fielen selten zusammen. Sie paßten einfach nicht zusammen. Wenn ich das Bedürfnis verspürte, bekam ich nichts, und wenn ich das Bedürfnis nicht verspürte, bekam ich etwas. Es war einfach verrückt, es wirkte auf mich sinnlos und verwirrend, als sei ich bereits in früher Kindheit aus dem Lebensrhythmus geraten. Mir ist heute klar, daß es mir ähnlich erging, wenn ich das Bedürfnis hatte, in den Arm genommen und geliebt zu werden. Ich konnte dieses Bedürfnis nur so äußern, wie ich es als Kind getan hatte, nämlich durch Schreien und Weinen. Doch meine Mutter nahm mich nicht in den Arm und widmete mir keine Aufmerksamkeit, sondern wurde im Gegenteil wütend auf mich und ließ mich allein in meinem Zimmer. So wird man verstehen, daß es auf mich wirkte, als würde ich jedesmal bestraft, wenn ich Bedürfnisse zeigte. Sie wurden nicht in der Weise beantwortet, wie ich es mir wünschte, sondern genau entgegengesetzt: ich wurde allein gelassen und ausgeschlossen. Kein Wunder, daß ich in den Mutterleib zurückkehren wollte, doch wenn ich einmal das Mutterleibs-Gefühl hatte, dann fühlte ich mich trotzdem nicht lange sicher, denn in jedem Augenblick konnte der ruckartige Stoß wieder einsetzen, und so erfaßte mich selbst bei dem Gefühl, wieder im Mutterleib zu sein, Angst und Schrecken. Die Erinnerung an meine Kindheit besteht nur aus Angst und Schrecken, die mich ständig erfüllten.

Meine Mutter verletzte und ängstigte mich auch, indem sie häufig Wut gegen mich äußerte und mir Schläge verpaßte. Sie prahlte ständig damit, daß ich das am meisten verprügelte Kind des ganzen Wohnblocks sei. Sie befürchtete ständig, mich zu verwöhnen. Heute weiß ich einfach, daß man ein Kind gar nicht verwöhnen kann, wenn man ihm zuviel Liebe gibt. Was mich angeht, so habe ich meinen Sohn ausgiebig verprügelt und ausgeschimpft, doch ich bin schließlich auf den Grund meiner Wut gekommen. Vor einigen Wochen hatte ich ein Urerlebnis, das mit irgendwelchen lächerlichen Kleinigkeiten im Verhalten meines Sohnes zu tun hatte, mit Bagatellen, die mich jedoch wahnsinnig ärgerten, und im Verlauf dieser Erfahrung wurde die Wut plötzlich viel intensiver, bis ich schließlich in einen Zustand völliger Raserei geriet. Die Wut auf meinen Sohn wurde sofort Wut auf meine Mutter, eine Wut über alles, was ich als Kind zu erdulden hatte. Ich verstehe jetzt, daß immer dann, wenn ich heutzutage in Wut gerate, diese Wut ausgelöst wird durch eine ungeäußerte alte Wut über meine Mutter, wie ich sie in der Kindheit empfunden habe. Mein armer Junge hatte die Hauptlast dieser Wut zu ertragen, wie ich die von meiner Mutter … und sie von ihrer Mutter.

Ich könnte wirklich ein Buch darüber schreiben, wie übel meine Mutter mir mitgespielt hat und wie ich selbst meinem Sohn zugesetzt habe. Kurz und gut, man kann keine guten Eltern sein, wenn man noch in seiner Vergangenheit verhaftet ist, und das sind die meisten von uns.

3 Geburtswehen und Entbindung

Im vorigen Kapitel habe ich erläutert, wie der körperliche Zustand der Mutter das Kind, das sie in sich trägt, beeinflussen kann. Neurotische Störungen können kurz nach der Empfängnis einsetzen. Der nächste kritische Punkt ist die Entbindung selbst. Ich werde mich mit den Geburtswehen und der Entbindung ausführlicher befassen, weil ich der Meinung bin, daß diese körperlichen Vorgänge häufig nicht nur quantitativ zur Neurosenentstehung beitragen, sondern auch zu qualitativen Sprüngen führen, qualitativ hinsichtlich der Schmerzanhäufung und Spannungsrückstände, von denen das Körpersystem ergriffen wird.

Die Geburt eines Kindes ist ein rhythmischer Prozeß. Geburtswehen haben einen eigenen Rhythmus; die Bewegung des Fötus durch den Geburtskanal in die Außenwelt ist im Grunde Teil eines geordneten Geschehnisablaufs – sofern es sich um eine auf den Körperrhythmus abgestimmte Geburt bei einer normalen Frau handelt. Menstruation und Schwangerschaft sind beide rhythmisch ablaufende Körpervorgänge. Rhythmus ist ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Neurose ist Antirhythmus. Bei neurotischen Störungen sind die Dinge nicht mehr im »Fluß«. Das Leben ist bruchstückhaft und zusammenhanglos. Bei neurotischen Frauen ist die Geburt häufig ein »unnatürlicher« Vorgang – nicht ruhig, glatt und fließend, sondern quälend.

Aufgrund des Sozialisationsprozesses wird die menschliche Geburt im Gegensatz zu den Tieren nicht mehr von Instinkten gesteuert. Die Frau hat eine »angelernte« Geburt. Sie ist angeleitet, abgerichtet und vorbereitet auf einen Vorgang, der eigentlich natürlich ablaufen sollte. Der Gedanke einer natürlichen Geburt steht für gewöhnlich nicht zur Debatte. Die Frau wird ins Krankenhaus gebracht und unter Drogen gesetzt, so daß sie gar nicht in der Lage ist, die eigenen körperlichen Prozesse während der Geburt voll wahrzunehmen. Daher kann sie sich auf ihren eigenen Rhythmus nicht einstellen, denn sie fühlt ihren Körper nicht. Sie ist nicht in der Lage, ihren Körper einzusetzen, um dem Neugeborenen dabei zu »helfen«, durch den Geburtskanal zu gelangen. Häufig muß das Kind mit Hilfe von Instrumenten herausgezogen werden. Unterdessen verspürt der Fötus all diese Unterbrechungen im Geburtskanal und ist bereits aus dem Rhythmus mit sich selbst, noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Das Neugeborene ist mithin bei der Geburt schon kein Organismus mehr, dessen Funktionen natürlich und frei fließend arbeiten. Es ist ein Wesen, das daran »gehindert« wird, es selbst zu sein – sich nach seinem eigenen natürlichen Zeitgefühl zu entwickeln. Es muß sich dem durcheinander geratenen Rhythmus seiner Mutter »fügen«.

An dieser Stelle müssen wir zunächst festhalten, daß Schmerz auf verschiedenen Ebenen auftritt, daß einige Schmerzen begrifflich wahrnehmbar sind, bewußt werden können, andere nicht. Körperliche Schmerzen prägen sich genauso nachhaltig ein wie jeder andere Schmerz. Zweitens kann Schmerz (Unbehagen) bereits im Uterus auftreten und während der Geburt noch verstärkt werden.

Das heißt nicht, daß eine einzige Erfahrung – in diesem Falle: im Mutterleib zurückgehalten werden – das Neugeborene anschließend zu einem gefügig-unterwürfigen Kind zu machen vermag. Es heißt vielmehr, daß es in seinem Leben eine wesentliche Erfahrung gibt, eine Lebenssituation, in der es sich zu fügen hatte, und daß diese Erfahrung im Verein mit vielen späteren Situationen, in denen es sich den Bedürfnissen anderer zu unterwerfen hat, eine durch Unterwürfigkeit gekennzeichnete Charakterstruktur hervorbringen kann. Die Geburtserfahrung kann zum Urbild für spätere Reaktionen des Kindes auf Belastungen werden. Die Begriffe prototypisches (urbildliches) Trauma und prototypisches Abwehrverhalten sollen weiter unten ausführlicher erläutert werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, zu verstehen, daß eine natürliche, glatt verlaufende Geburt entscheidend dazu beiträgt, dem Kind eine dauerhaft schädigende Neurose zu ersparen.

Das Kind wird im Uterus, einem Muskelsack, der sich mit dem Wachstum des Fötus ausdehnt, mit allem Notwendigen versorgt. An einem bestimmten kritischen Punkt wird der Fötus ausgestoßen. Der Vorgang ähnelt in vieler Hinsicht der Arbeitsweise anderer innerer Organe wie der Blase oder des Mastdarms. Ein von inneren Spannungen erfüllter Mensch kann unter chronischen Verstopfungen leiden und nicht in der Lage sein, sich auf seinen natürlichen Rhythmus einzustellen. Eine »angespannte« Mutter kann unfähig sein, ihr Baby auszustoßen. Wir wissen, daß innere Spannung die Muskelfasern zusammenzieht, und so darf man erwarten, daß bei einer neurotischen Geburt die zirkulären Muskelfasern der Gebärmutter nicht ausreichend entspannt werden, um den Fötus ungehindert in den Vaginalkanal zu entlassen. Auch die Vagina ist elastisch und vermag sich unter normalen Bedingungen so weit auszudehnen, um auch ein ziemlich großes Baby aufnehmen zu können. Doch aufgrund von innerer Spannung kann es zum »Schließen« statt zum »Öffnen« kommen. Ich spreche hier nicht von Spannung, die mit der Furcht vor dem Gebären einhergeht, sondern vielmehr von einer rückständigen Spannung im mütterlichen Körper – von der Last an Schmerzen, die sie ständig in sich trägt und die als Ursache dafür anzusehen ist, daß sie unter chronischen inneren Spannungen und Verkrampfungen steht.

Der große Geburtsschmerz ist nach meiner Meinung in der Mehrzahl der Fälle auf eine Neurose zurückzuführen – auf ein unnatürliches Verhaltenssystem, das sich einem natürlichen Prozeß verschließt; in ganz ähnlicher Weise entsteht Schmerz, wenn sich ein wirklichkeitsfremdes Verhaltenssystem gegenüber echten Gefühlen verschließt. Ich wüßte keinen anderen natürlichen Körperprozeß, der mit einem solchen Schmerz verbunden ist. Es scheint vielmehr so, daß natürlich ist, was Schmerz verhindert. Mangel an Flexibilität bei Neurotikern ist demzufolge nicht einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern ein neuromuskuläres Gesamtgeschehen.

Kaiserschnitt

Gelegentlich sind die Geburtswehen so schwierig, daß ein Kaiserschnitt notwendig wird, um das Kind zur Welt zu bringen. Auch eine solche Operation kann das Neugeborene traumatisieren, denn die Muskelkontraktionen während der Geburt haben die Funktion, die Haut des Kindes zu stimulieren, die ihrerseits wichtige Körpersysteme stimuliert, darunter die Atmungsorgane und das Urogenitalsystem [Harn- und Geschlechtsorgane]. Die Muskelkontraktionen haben etwa die gleiche Funktion wie das Ablecken tierischer Neugeborener durch die Muttertiere. Ablecken fördert bei neugeborenen Tieren die Tätigkeit des Darmtrakts und der Blase.

Beim Kaiserschnitt wie bei der Frühgeburt ist unter anderem der Mangel an körperlicher Stimulierung problematisch. (Bei frühgeborenen Kindern ist die Zeit der Geburtswehen gewöhnlich kürzer.) Wir haben Beweise dafür, daß Kinder, die auf solche Weise zur Welt kommen, in stärkerem Maße als andere Kinder zu Erkrankungen der Atemwege neigen und daß sie später als üblich die Kontrolle von Sphinkter [Afterschließmuskel] und Blase erreichen. »Beschleunigung« der Niederkunft wie Verzögerung der Geburt beeinträchtigen die Gesundheit des Kindes, weil sie dem natürlichen Rhythmus zuwiderlaufen. Ich möchte behaupten, daß solche Abweichungen von der natürlichen Geburt in vielen Fällen auf neurotische Störungen der Mutter zurückzuführen sind; aufgrund des neurotischen Verhaltenssystems der Mutter unterliegt das Neugeborene bereits bei der Geburt einem Trauma und wird so selbst in einen neurotischen Prozeß gedrängt.

In unserem Leben gibt es kritische Zeitspannen, in denen unsere Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn verhindert werden soll, daß wir uns das ganze Leben lang mit Problemen herumplagen. Eines dieser Bedürfnisse ist nach meiner Meinung das Zusammengepreßtwerden und die massive körperliche Stimulierung während der Geburt, ein Bedürfnis, das bei Geburten durch Kaiserschnitt zu kurz kommt. Ich hege starke Zweifel, daß irgendein späteres körperliches Wohlbehagen oder irgendeine Behandlung seitens der Pflegepersonen dieses Bedürfnis beseitigen können. So ist zum Beispiel nachweisbar, daß Kinder, die mit Hilfe einer Kaiserschnittoperation zur Welt kommen, emotional gestörter sind als normal geborene Kinder.[13] Durch Kaiserschnitt geborene Kinder sind ängstlicher und unruhiger. Sie neigen dazu, auf Reize passiver zu reagieren – eine verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, daß sie an ihrer Geburt nicht aktiv teilgenommen haben. Eine Untersuchung ergab, daß Affenkinder, die durch Kaiserschnitt geboren wurden, in gleicher Weise, nämlich passiv, auf Reize reagierten.[14] Der Organismus von Kindern mit Kaiserschnittgeburt weist biochemische Unterschiede auf; so ist etwa der Eiweißgehalt des Blutserums geringer. Auch ist ihre Sterblichkeitsquote höher. Mit anderen Worten, eine natürliche Geburt, eine Geburt zur rechten Zeit, ist ein entwicklungsbedingtes Bedürfnis, und wenn die Befriedigung dieses Bedürfnisses vorenthalten oder verhindert wird, kann das zu tiefreichenden und dauerhaften Veränderungen im Organismus führen. Das Zusammenziehen der Gebärmutter mit dem Ziel, den Fötus freizugeben, stimuliert die peripheren Nerven [vom Rückenmark zum Gehirn führende Nerven], die ihrerseits Impulse an das Gehirn weiterleiten, und das Gehirn nimmt anschließend Einfluß auf alle entscheidenden Organsysteme. Wenn dieses wichtige Ereignis fehlt, kommt es nicht zu einer adäquaten Aktivierung des Nervensystems. In entscheidenden Phasen seiner Entwicklung braucht das Gehirn bestimmte Stimulierungen, um sich richtig ausbilden zu können. Die Betonung liegt auf »entscheidende Phasen«, denn wenn das Kind die mit der Geburt verbundene massive Stimulierung durch Zusammenpressen im Alter von drei Monaten erfährt, kann das durchaus schädigend und traumatisch sein und den Ausfall von Gehirnfunktionen zur Folge haben.

Wir wissen noch aus anderen Erfahrungen, welche nachteiligen Folgen eine Kaiserschnittgeburt haben kann, nämlich aus der Beobachtung von Urerlebnissen bei Patienten, die auf diese Weise zur Welt gekommen sind. Bei diesen Geburtsprimals fehlt der fließende Rhythmus der Muskelkontraktionen normaler Geburten. Die dabei zu beobachtenden Bewegungen sind zufälliger und gewöhnlich heftiger als andere Bewegungen. Es hat den Anschein, als wollten die Patienten durch ihre heftigen Bewegungen und durch ihr wildes Umsichschlagen ein Entwicklungsdefizit ausgleichen; mit ihren Urerlebnissen versuchen sie, so scheint es jedenfalls, eine biologische Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, daß ihnen das Zusammenpressen während einer normalen Geburt vorenthalten wurde. Sie haben niemals ihr ursprüngliches »Rhythmus«-Gefühl erfahren, ihnen fehlt eine Anfangserfahrung, die ihren Körper von vornherein geprägt hätte. In diesem Sinne haben sie genauso ein mit Schmerzen verbundenes Urerlebnis gehabt, als wären sie bei der Geburt von der Nabelschnur stranguliert worden. Ein mit Hilfe eines Kaiserschnitts geborener Patient drückte es folgendermaßen aus: »Seit jenem Geburtserlebnis habe ich darauf gewartet, daß etwas Großartiges geschehen würde. Jeden Tag dachte ich, ein wichtiger Telefonanruf würde mein ganzes Leben ändern. Nun weiß ich, auf welch eine einschneidende Erfahrung ich gewartet habe.«

Damit dürfte uns klar werden, daß das Fehlen von Ereignissen Schmerzen erzeugt; das heißt, einem Kind eine notwendige Entwicklungserfahrung vorenthalten kann genauso katastrophal sein wie die Belastung durch eine extrem intensive Erfahrung. Infolgedessen können Frühgeburten wie auch Kaiserschnittgeburten jeweils auf ihre besondere Weise eine Neurose einleiten.

Ein durch Kaiserschnitt geborener Patient, den ich in der Primärtherapie hatte, erklärte mir nach seinem Geburtsprimal, er habe das Gefühl gehabt, man zerre ihn weniger »heraus«, sondern nach oben wie nach unten. Der Patient fühlte sich orientierungslos, denn bei der Geburt hatte er noch keine Vorstellung von oben und unten; ihm war lediglich, als sei er vom festen Boden, nämlich der Gebärmutter, in den freien Raum gestoßen worden. Er erinnerte sich an die Bestürzung, die er empfunden hatte, als er in dem Spielfilm »2001« Menschen im Weltraum hatte schweben gesehen. Als er vor einigen Jahren von einem kleinen Mädchen hörte, das in einen Brunnen gefallen war, konnte er vor Angst nicht einschlafen. Er wollte wissen, ob es gelingen würde, sie heil herauszuholen. Nach seinem Urerlebnis verstand er seine Angst. Sein Organismus hatte sozusagen das Fehlen einer notwendigen Erfahrung in Erinnerung behalten und in seinem späteren Leben auf bestimmte Situationen mit entsprechenden, wenngleich unbewußten Ängsten reagiert.

Die Geburt selbst bedeutet für das Neugeborene nicht notwendig ein Trauma, solange die Geburt nicht traumatisch verläuft. Es stimmt nicht, daß der Fötus im Mutterleib ein idyllisches Leben führt und eines Tages gegen seinen Willen aus seiner »Schutzhülle« gerissen wird. Vielmehr gehört das Auf-die-Welt-Kommen zur Lebensentwicklung. Die Geburt ist eine Stufe in der Entwicklung, vergleichbar dem Sich-Aufsetzen und dem Gehen. Wir sind nicht der Meinung, daß der Übergang vom sorglosen Aufenthalt im Mutterleib zum aktivitätsfordernden Aufenthalt auf dieser Erde traumatisch ist, noch können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß der Umschwung von totaler Abhängigkeit von der Mutter zur teilweisen Abhängigkeit von ihr tatsächlich eine Katastrophe bedeuten muß. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine »natürliche« Geburt richten ihr Augenmerk in erster Linie darauf, den Frauen Geburtsschmerzen zu ersparen. Es ist zwar ein großer Fortschritt, daß man sich überhaupt Gedanken über die natürliche Geburt macht, doch ich glaube, man sollte die Tatsache nicht übersehen, daß wir einer neurotischen Mutter innere Schmerzen nicht gänzlich ersparen können, sofern wir es mit der natürlichen Geburt wirklich ernst meinen.