Das Buch der Illusionen - Paul Auster - E-Book

Das Buch der Illusionen E-Book

Paul Auster

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Beschreibung

Die schillernde Welt des Paul Auster: ein Professor, eine Blondine und ein Moment des Glücklichseins Professor Zimmer, bekannt aus «Mond über Manhattan», ist ein gebrochener Mann, seit seine Frau und seine Kinder bei einem Flugzeugabsturz starben. Nur die Arbeit an einem Buch über einen 1929 verschollenen Stummfilmkomiker namens Hector Mann erhält ihn am Leben. Dann geschieht Seltsames: Manns verloren geglaubte Filme tauchen auf. Und eines Abends steht eine attraktive Blondine mit einem Revolver vor Zimmers Haustür. «Auster hat einen großartigen Roman geschrieben: ‹Das Buch der Illusionen› ist ein Kunststück.» (Neue Zürcher Zeitung)

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Paul Auster

Das Buch der Illusionen

Roman

Deutsch von Werner Schmitz

Der Mensch hat nicht nur ein Leben.

Er hat viele Leben, eins am anderen, und das ist die Ursache seines Unglücks.

Chateaubriand

1 Alle dachten, er sei tot. Als 1988 mein Buch über seine Filme erschien, hatte man von Hector Mann seit fast sechzig Jahren nichts mehr gehört. Abgesehen von einer Hand voll Historiker und alten Filmfreaks schienen nur wenige Leute zu wissen, dass er überhaupt einmal gelebt hatte. Doppelt oder nichts, die letzte der zwölf kurzen Filmkomödien, die er am Ende der Stummfilmzeit produziert hatte, erlebte ihre Premiere am 23.November 1928.Zwei Monate später verließ er, ohne sich von einem seiner Freunde oder Mitarbeiter zu verabschieden, ohne einen Brief zu hinterlassen oder jemanden von seinen Plänen zu unterrichten, das von ihm gemietete Haus am North Orange Drive und ward nicht mehr gesehen. Sein blauer DeSoto stand in der Garage; der Mietvertrag galt noch für drei Monate; die Miete war vorausbezahlt. Lebensmittel lagerten in der Küche, Whiskey stand in der Hausbar, in seinen Schlafzimmerschränken fehlte nicht ein einziges Kleidungsstück. Dem Los Angeles Herald Express vom 18.Januar 1929 zufolge sah es so aus, als sei er lediglich zu einem kurzen Spaziergang aufgebrochen und werde jeden Augenblick zurückkommen. Aber er kam nicht zurück, und von da an war es, als sei Hector Mann wie vom Erdboden verschluckt.

Nach seinem Verschwinden zirkulierten ein paar Jahre lang diverse Geschichten und Gerüchte über sein Schicksal, aber bei diesen Mutmaßungen kam nie etwas heraus. Die plausibelsten – dass er Selbstmord begangen habe, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei – ließen sich weder beweisen noch widerlegen, da seine Leiche niemals gefunden wurde. Andere Berichte über Hectors Schicksal waren phantasievoller, optimistischer und passten besser zu den romantischen Implikationen eines solchen Falls. Zum Beispiel sollte er in sein Geburtsland Argentinien zurückgekehrt und dort Besitzer eines kleinen Provinzzirkus sein. Oder er sei in die Kommunistische Partei eingetreten und beschäftige sich unter falschem Namen damit, die Molkereiarbeiter in Utica, New York, zu organisieren. Oder er sei als Opfer der Wirtschaftskrise unter den Landstreichern gelandet. Wäre Hector ein größerer Star gewesen, hätten sich solche Geschichten zweifellos noch lange gehalten. Er hätte in den Dingen weitergelebt, die man sich von ihm erzählte, und wäre nach und nach zu einer jener Symbolfiguren geworden, die die Niederungen der kollektiven Erinnerung bewohnen, eine Metapher für Jugend und Hoffnung und die teuflischen Wendungen des Schicksals. Aber nichts von alledem geschah, denn tatsächlich hatte Hector eben erst angefangen, Hollywood seinen Stempel aufzudrücken, als seine Karriere so plötzlich wieder endete. Er war zu spät gekommen, um sein Talent voll zur Geltung zu bringen, und er war nicht lange genug geblieben, um einen dauerhaften Eindruck von dem zu hinterlassen, was er war und was er konnte. Noch ein paar Jahre vergingen, dann hatten die Menschen ihn vergessen. Bereits 1932, 1933 gehörte Hector einem erloschenen Universum an, und falls noch Spuren von ihm übrig waren, dann allenfalls in Form von Fußnoten in obskuren Büchern, die niemand mehr lesen wollte. Der Film hatte das Sprechen gelernt, die flackernden Stummfilme der Frühzeit waren in Vergessenheit geraten. Keine Clowns mehr, keine Pantomimen, keine hübschen Pagenköpfe, die zu den Rhythmen unhörbarer Orchester tanzten. Sie waren erst vor wenigen Jahren ausgestorben, wurden aber schon als prähistorisch empfunden, ähnlich wie die Wesen, die über die Erde streiften, als die Menschen noch in Höhlen lebten.

In meinem Buch war ich kaum auf Hector Manns Leben eingegangen. Die stumme Welt des Hector Mann war ein Werk über seine Filme, keine Biographie, und was ich an unbedeutenden Fakten über seine außerfilmischen Aktivitäten einstreute, hatte ich unmittelbar den üblichen Quellen entnommen: Filmenzyklopädien, Memoiren, Büchern über die Frühzeit Hollywoods. Ich schrieb das Buch, weil ich meine Begeisterung über Hectors Filme vermitteln wollte. Die Geschichte seines Lebens war für mich zweitrangig, und statt darüber zu spekulieren, was aus ihm geworden oder nicht geworden sein mochte, konzentrierte ich mich nahezu ausschließlich auf die Interpretation seiner Werke. In Anbetracht der Tatsache, dass er im Jahre 1900 geboren worden war und dass man ihn seit 1929 nicht mehr gesehen hatte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen zu behaupten, dass Hector Mann noch am Leben sei. Tote erheben sich nicht aus ihren Gräbern, und wie ich es sah, konnte sich nur ein Toter so lange versteckt gehalten haben.

Vergangenen März war es elf Jahre her, dass das Buch bei der University of Pennsylvania Press erschien. Drei Monate später, kurz nachdem Filmzeitschriften und Fachjournale die ersten Rezensionen gebracht hatten, fand ich einen Brief im Briefkasten. Der Umschlag war größer und hatte ein anderes Format als die, die man gewöhnlich zu kaufen bekommt, und da er aus dickem, teurem Papier war, kam ich zunächst auf den Gedanken, es könne sich nur um eine Hochzeits- oder Geburtsanzeige handeln. Mein Name und meine Adresse standen in eleganter, schwungvoller Handschrift auf der Vorderseite. Falls die Schrift nicht von einem professionellen Kalligraphen stammte, dann zweifellos von jemandem, der großen Wert auf eine gefällige Erscheinung legte, von einem Menschen, der die alte Schule der Etikette und des gesellschaftlichen Anstands durchlaufen hatte. Die Briefmarke war in Albuquerque, New Mexico, gestempelt, aber aus der Adresse des Absenders auf der Rückseite konnte man schließen, dass der Brief anderswo geschrieben worden sein musste – vorausgesetzt, es gab einen solchen Ort überhaupt, und weiter vorausgesetzt, es gab eine Stadt solchen Namens. Die zwei Zeilen lauteten: Blue Stone Ranch; Tierra del Sueño, New Mexico. Vielleicht habe ich gelächelt, als ich das las, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ein Name war nicht angegeben, und als ich den Umschlag aufriss, um den Text auf der Karte darin zu lesen, wehte mir ein feiner Hauch von Parfüm entgegen, ein kaum noch spürbarer Duft von Lavendelwasser.

Sehr geehrter Professor Zimmer, begann das Schreiben. Hector hat Ihr Buch gelesen und würde Sie gern kennen lernen. Haben Sie Interesse, ihn zu besuchen? Hochachtungsvoll, Frieda Spelling (Mrs.Hector Mann).

Ich las das sechs- oder siebenmal. Dann legte ich das Blatt beiseite, ging ans andere Ende des Zimmers und wieder zurück. Als ich den Brief wieder aufnahm, war ich mir nicht sicher, ob die Worte immer noch dastanden. Oder, falls ja, ob es noch dieselben Worte waren. Ich las die Zeilen weitere sechs- oder siebenmal, und da ich immer noch nicht schlau daraus wurde, tat ich den Brief erst einmal als Streich ab. Aber sogleich befielen mich Zweifel, und dann wiederum befielen mich Zweifel an meinen Zweifeln. Jeder Gedanke rief einen gegenteiligen Gedanken hervor, und kaum hatte dieser zweite den ersten verdrängt, erhob sich ein dritter und verdrängte den zweiten. Da mir nichts Besseres einfiel, stieg ich ins Auto und fuhr zur Post. Im Postleitzahlenverzeichnis stand jede einzelne Adresse der USA, und wenn Tierra del Sueño dort nicht zu finden war, konnte ich die Karte wegschmeißen und die Angelegenheit vergessen. Aber es war dort zu finden. Es stand in Band1, Seite 1933, zwischen Tierra Amarilla und Tijeras, ein richtiger Ort mit Postamt und eigener fünfstelliger Postleitzahl. Das allein verifizierte den Brief natürlich nicht, verhalf ihm aber immerhin zu einiger Glaubwürdigkeit, und als ich wieder nach Hause kam, war mir klar, dass ich eine Antwort schreiben musste. Einen solchen Brief kann man nicht einfach ignorieren. Hat man ihn erst einmal gelesen, weiß man, dass man sich die Mühe machen und ihn beantworten muss, weil er einen sonst bis ans Lebensende verfolgen wird.

Ich besitze keine Abschrift meiner Antwort, weiß aber noch, dass ich sie mit der Hand geschrieben und mich bemüht habe, sie so kurz wie möglich zu halten, mich auf wenige Sätze zu beschränken. Ohne viel nachzudenken, übernahm ich den kategorischen, kryptischen Stil des Briefes, den ich bekommen hatte. Auf diese Weise fühlte ich mich geschützter, als könnte derjenige, der sich diesen Streich ausgedacht hatte – falls es denn ein Streich war–, mich dann nicht so ohne weiteres für einen Einfaltspinsel halten. Von der einen oder anderen Formulierung abgesehen, lautete meine Antwort etwa so: Sehr geehrte Frieda Spelling. Selbstverständlich würde ich Hector Mann gern kennen lernen. Aber woher soll ich wissen, dass er noch lebt? Soweit ich weiß, ist er seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen worden. Ich bitte um nähere Einzelheiten. Mit freundlichen Grüßen, David Zimmer.

ICHnehme an, wir alle möchten gern an Unmögliches glauben, uns einreden, dass Wunder wirklich geschehen können. Wenn man bedenkt, dass ich der Verfasser des einzigen Buches war, das jemals über Hector Mann geschrieben wurde, schien es nicht unwahrscheinlich, dass irgendjemand auf die Idee gekommen sein könnte, ich würde mich auf die Chance stürzen und tatsächlich glauben, dass er noch lebte. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich auf irgendetwas zu stürzen. Zumindest dachte ich das. Mein Buch war aus einem Zustand großer Trauer heraus entstanden: das Buch lag nun hinter mir, aber die Trauer war immer noch da. Über Filmkomödien zu schreiben war nicht mehr als ein Vorwand gewesen, eine absonderliche Medizin, die ich über ein Jahr lang täglich zu mir genommen hatte, in der vagen Hoffnung, dass sie den Schmerz in meinem Innern betäuben möge. Und das tat sie auch bis zu einem gewissen Grade. Frieda Spelling (oder wer auch immer sich als Frieda Spelling ausgab) konnte das freilich nicht gewusst haben. Sie konnte nicht gewusst haben, dass meine Frau und meine beiden Söhne am 7.Juni 1985, nur eine Woche vor unserem zehnten Hochzeitstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Vielleicht hatte sie gesehen, dass mein Buch ihnen gewidmet war (Zum Gedenken an Helen, Todd und Marco), aber diese Namen konnten ihr nichts gesagt haben, und selbst wenn sie deren Bedeutung für den Autor geahnt hätte, konnte sie nicht gewusst haben, dass diese Namen ihm alles bedeuteten, was seinem Leben irgendeinen Sinn verliehen hatte – und dass, als Helen mit sechsunddreißig, Todd mit sieben und Marco mit vier Jahren umgekommen waren, ein großer Teil von ihm mit ihnen gestorben war.

Sie waren auf dem Weg nach Milwaukee gewesen, um Helens Eltern zu besuchen. Ich war in Vermont geblieben, um Aufsätze zu korrigieren und die Abschlussnoten für das eben zu Ende gegangene Semester abzuliefern. Das war meine Arbeit– Professor für vergleichende Literaturwissenschaft am Hampton College in Hampton, Vermont–, und daran kam ich nicht vorbei. Normalerweise wären wir am vierundzwanzigsten oder fünfundzwanzigsten alle zusammen geflogen, aber Helens Vater hatte gerade eine Tumoroperation am Bein hinter sich, und der Familienrat hatte beschlossen, dass sie und die Jungen ihn so bald wie möglich besuchen sollten. Das machte ebenso hektische wie komplizierte Verhandlungen mit Todds Schule erforderlich, da wir deren Einverständnis brauchten, dass er die letzten zwei Wochen des zweiten Schuljahrs verpassen durfte. Die Rektorin zögerte zunächst, war aber dann so verständnisvoll, dass sie schließlich nachgab. Auch dies zählte zu den Dingen, über die ich nach dem Unglück ständig nachdenken musste. Hätte sie unseren Wunsch abgelehnt, hätte Todd zwangsläufig bei mir zu Hause bleiben müssen und wäre nicht gestorben. Dann wäre wenigstens einer von ihnen verschont geblieben. Wenigstens einer von ihnen wäre nicht elf Kilometer tief vom Himmel gestürzt, und ich wäre nicht allein in einem Haus zurückgeblieben, in dem eigentlich vier Menschen wohnen sollten. Es gab natürlich auch anderes, andere mögliche Szenarios, über die ich nachgrübelte, mit denen ich mich quälte, und es schien, als wollte ich es niemals müde werden, mich immer wieder in diesen Sackgassen zu verrennen. Alles war miteinander verzahnt, jedes Glied in der Kette von Ursache und Wirkung war ein wesentlicher Teil dieser entsetzlichen Geschichte – vom Krebsgeschwür im Bein meines Schwiegervaters bis zum Wetter in Milwaukee in jener Woche und der Telefonnummer der Reiseagentur, bei der wir die Flugtickets gebucht hatten. Das Schlimmste war, dass ich darauf bestanden hatte, sie selbst nach Boston zu fahren, damit sie einen Direktflug nehmen konnten. Ich hatte nicht gewollt, dass sie von Burlington abflogen. Denn dann hätten sie erst mit einer achtzehnsitzigen Propellermaschine nach New York fliegen müssen, um dort den Anschlussflug nach Milwaukee zu nehmen, und ich hatte noch zu Helen gesagt, diese kleinen Maschinen gefielen mir nicht. Die seien zu gefährlich, sagte ich, ich könne die Vorstellung nicht ertragen, sie und die Jungen ohne mich mit so etwas fliegen zu lassen. Also ließen sie es sein – um mich zu beschwichtigen. Sie nahmen ein größeres Flugzeug, und das Schreckliche daran war, dass ich selbst sie in aller Eile dorthin brachte. An jenem Morgen herrschte starker Verkehr, und als wir endlich nach Springfield kamen und den Mass Pike runterfuhren, musste ich das Tempolimit schon sehr überschreiten, um noch rechtzeitig am Logan Airport anzukommen.

Was in diesem Sommer mit mir los war, habe ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Mehrere Monate lang ertränkte ich Trauer und Selbstmitleid in Alkohol, ging nur selten aus dem Haus, machte mir kaum die Mühe, etwas zu essen, mich zu rasieren oder die Kleider zu wechseln. Die meisten meiner Kollegen waren bis Mitte August in Urlaub; auf diese Weise blieben mir immerhin viele Besuche und die quälenden Formalitäten gemeinsamer Trauer erspart. Natürlich meinten sie es nur gut, und wann immer Freunde von mir vorbeikamen, bat ich sie ins Haus, auch wenn ihre Tränen und Umarmungen und ihr langes bedrücktes Schweigen mich nicht trösten konnten. Es war besser, allein zu sein, fand ich, besser, die Tage einsam in der Finsternis meines Schädels auszuweiden. Wenn ich nicht betrunken war oder im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf dem Sofa lag, streifte ich im Haus umher. Ich ging ins Zimmer meiner Söhne, setzte mich auf den Fußboden und umgab mich mit ihren Spielsachen. Ich war nicht fähig, unmittelbar an sie zu denken oder sie mir irgendwie bewusst vors innere Auge zu rufen, aber wenn ich ihre Puzzles zusammensetzte, wenn ich ihre Legosteine nahm und immer kompliziertere und verschrobenere Bauwerke konstruierte, hatte ich das Gefühl, vorübergehend wieder in ihre Haut zu schlüpfen – ihr junges Geisterleben für sie fortzuführen, indem ich die Gesten wiederholte, die sie gemacht hatten, als sie selbst noch in ihren Körpern steckten. Ich las Todds Märchenbücher und ordnete seine Baseballkarten. Ich sortierte Marcos Stofftiere nach Spezies, Farbe und Größe, bei jedem Besuch in seinem Zimmer nach einem anderen System. Auf diese Weise verschwanden viele Stunden, schmolzen ganze Tage dahin, und wenn ich es nicht mehr aushielt, ging ich ins Wohnzimmer und holte mir den nächsten Drink. Die seltenen Nächte, in denen ich nicht auf dem Sofa wegdämmerte, verbrachte ich gewöhnlich in Todds Bett. In meinem eigenen Bett befiel mich nur immer der Traum, Helen läge neben mir, und jedes Mal wenn ich die Hand nach ihr ausstreckte, fuhr ich mit einem heftigen Ruck aus dem Schlaf, meine Hände zitterten, meine Lungen rangen nach Luft, als sei ich gerade noch dem Tod durch Ertrinken entronnen. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte ich unser Schlafzimmer nicht betreten, aber tagsüber war ich oft und lange dort, stand vor Helens Kleiderschrank, berührte ihre Sachen, hängte mir ihre Jacken und Pullover um, nahm ihre Kleider von den Bügeln und breitete sie auf dem Boden aus. Einmal zog ich eins davon an, ein andermal stieg ich in ihre Unterwäsche und schminkte mir mit ihrem Make-up das Gesicht. Das war eine zutiefst befriedigende Erfahrung, aber nach einigen weiteren Experimenten fand ich heraus, dass Parfüm eine noch stärkere Wirkung entfaltete als Lippenstift und Wimperntusche. Es schien sie lebendiger zurückzuholen, ihre Gegenwart für längere Zeiträume heraufzubeschwören. Wie es der Zufall wollte, hatte ich ihr zum Geburtstag im März eine neue Flasche Chanel No. 5 geschenkt. Ich beschränkte mich auf täglich zwei kleine Spritzer und konnte den Vorrat so bis Ende des Sommers strecken.

Für das Herbstsemester ließ ich mich beurlauben, doch statt zu verreisen oder Hilfe bei einem Psychologen zu suchen, blieb ich weiter im Haus und versackte. Ende September oder Anfang Oktober war ich so weit, dass ich jeden Abend mehr als eine halbe Flasche Whiskey trank. Das hielt mich davon ab, allzu viel zu empfinden, nahm mir aber gleichzeitig jeden Gedanken an die Zukunft, und ein Mensch, der nichts mehr hat, auf das er sich freuen kann, kann ebenso gut auch tot sein. Mehr als einmal ertappte ich mich bei weitschweifigen Tagträumen von Schlaftabletten und Kohlenmonoxidvergiftung. Ich bin zwar nie so weit gegangen, tatsächlich etwas zu unternehmen, aber wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, muss ich schon damals begriffen haben, wie wenig noch dazu fehlte. Die Tabletten waren im Arzneischrank, und ich hatte die Flasche schon drei- oder viermal herausgenommen, hatte mir die Tabletten schon in die Hand geschüttet. Und wenn dieser Zustand noch länger angehalten hätte, dürfte ich wohl kaum die Kraft aufgebracht haben, weiter Widerstand zu leisten.

So standen die Dinge für mich, als plötzlich Hector Mann in mein Leben trat. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, war noch niemals auch nur über seinen Namen gestolpert, aber eines Abends kurz vor Winteranfang, als die Bäume längst alle Blätter verloren hatten und der erste Schnee zu fallen drohte, sah ich im Fernsehen zufällig einen Ausschnitt aus einem seiner alten Filme und musste lachen. Das mag nicht wichtig klingen, aber es war seit Juni das erste Mal, dass ich über irgendetwas gelacht hatte, und als meine Brustmuskeln so unerwartet in zuckende Bewegung gerieten und meinen Lungen dieses Rasseln auspressten, begriff ich, dass ich noch nicht ganz am Boden lag, dass in mir noch etwas war, das weiterleben wollte. Insgesamt konnte das höchstens ein paar Sekunden gedauert haben. Es war ein ganz normales Lachen, weder sonderlich laut noch anhaltend, aber es kam völlig überraschend, und die Tatsache, dass ich es nicht zu unterdrücken versuchte und mich auch nicht schämte, weil ich in den wenigen Augenblicken, die Hector Mann auf dem Bildschirm zu sehen war, meine Trauer vergessen hatte, zwang mich zu dem Schluss, dass in mir noch etwas war, von dem ich bis dahin gar nichts geahnt hatte, etwas anderes als nur der schiere Tod. Ich rede nicht von irgendeiner vagen Eingebung oder einer sentimentalen Sehnsucht nach dem, was hätte sein können. Ich hatte eine empirische Entdeckung gemacht, und die besaß das ganze Gewicht eines mathematischen Beweises. Wenn ich noch lachen konnte, bedeutete das, dass ich nicht vollständig abgestumpft war. Es bedeutete, dass ich mich nicht so gründlich vor der Welt abgeschottet hatte, dass nichts mehr zu mir vordringen konnte.

Es muss kurz nach zehn Uhr gewesen sein. Ich kauerte wie üblich auf dem Sofa, ein Glas Whiskey in der einen Hand, die Fernbedienung in der anderen, und zappte gedankenlos durch die Kanäle. Irgendwann stieß ich auf eine Sendung, die schon eine Weile lief, aber ich kam schnell dahinter, dass es sich um eine Dokumentation über Stummfilmkomiker handelte. All die vertrauten Gesichter tauchten auf – Chaplin, Keaton, Lloyd–, daneben aber auch Szenen aus raren Streifen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, weniger bekannte Gestalten wie John Bunny, Larry Semon, Lupino Lane und Raymond Griffith. Ich verfolgte das komische Geschehen mit einer Art gemessener Reserviertheit, nicht sonderlich aufmerksam, aber hinreichend gefesselt, dass ich nicht auf irgendeinen anderen Sender umschaltete. Hector Mann erschien erst ziemlich spät, und dann auch nur in einem einzigen Ausschnitt, einer zweiminütigen Szene aus Der Kassierer; der Film spielte in einer Bank, und Hector war in der Rolle eines fleißigen Angestellten zu sehen. Ich kann nicht erklären, warum mich das packte, aber wie er da im weißen Tropenanzug und mit schwarzem Oberlippenbärtchen an einem Tisch stand und dicke Geldstapel zählte, das hatte was; er arbeitete mit so rasender Effizienz, mit solch furiosem Tempo und manischer Konzentration, dass ich den Blick nicht von ihm lassen konnte. Eine Etage höher verlegten Arbeiter neue Dielenbretter im Büro des Bankdirektors. Auf der anderen Seite des Raums saß eine hübsche Sekretärin an ihrem Schreibtisch und polierte sich hinter einer großen Schreibmaschine die Fingernägel. Erst sah es so aus, als könnte nichts Hector davon abhalten, seine Arbeit in Rekordzeit abzuschließen. Dann aber begann ganz langsam in dünnen Rinnsalen Sägemehl auf sein Jackett zu rieseln, und wenige Sekunden darauf nahm er endlich auch das Mädchen wahr. Aus einem Element waren plötzlich drei geworden, und von da an sprang die Handlung hin und her im Dreivierteltakt von Arbeit, Eitelkeit und Begierde: dem Bemühen, das Geld zu Ende zu zählen, dem Wunsch, den geliebten Anzug sauber zu halten, und dem Drang, Augenkontakt mit dem Mädchen herzustellen. Dabei zuckte Hector ab und zu konsterniert mit dem Schnurrbart, als kommentierte er das Geschehen mit matten Seufzern oder beiseite gemurmelten Bemerkungen. Das Ganze hatte weniger mit Slapstick und Anarchie zu tun als vielmehr mit Charakter und Tempo; es war eine elegant inszenierte Mixtur von Gegenständen, Körpern und Gedanken. Jedes Mal wenn Hector beim Zählen den Faden verlor, musste er wieder von vorn anfangen, und das beflügelte ihn nur, sein Tempo zu verdoppeln. Jedes Mal wenn er zur Decke hochsah, um festzustellen, wo das Sägemehl herkam, geschah dies den Bruchteil einer Sekunde nachdem die Arbeiter das Loch oben mit einem neuen Brett geschlossen hatten. Jedes Mal wenn er zu dem Mädchen hinüberschielte, blickte sie gerade in die falsche Richtung. Und doch gelang es Hector bei alldem, die Fassung zu bewahren, indem er sich von derlei unbedeutendem Ungemach weder in seiner Entschlossenheit noch in seiner guten Meinung von sich selbst beirren ließ. Es war vielleicht nicht die erstaunlichste Slapstickszene, die ich je gesehen hatte, aber sie zog mich doch so an, dass ich mich vollkommen hineinversenkte, und beim zweiten oder dritten Zucken von Hectors Schnurrbart war es so weit: ich lachte, ich lachte tatsächlich laut auf.

Ein Sprecher kommentierte das Geschehen, aber da mich die Bilder so sehr fesselten, bekam ich nicht alles mit, was er sagte. Ich glaube, es ging um Hectors geheimnisvollen Rückzug aus dem Filmgeschäft und darum, dass man ihn für den letzten großen Komiker des Kurzfilms hielt. Die erfolgreicheren und innovativeren Komiker hätten sich in den zwanziger Jahren längst auf abendfüllende Filme verlegt, mit der Folge, dass die Qualität des Kurzfilms drastisch gesunken sei. Hector Mann habe dem Genre nichts Neues hinzugefügt, erklärte der Sprecher, doch sei er als talentierter Komiker mit außergewöhnlicher Körperbeherrschung anerkannt, ein bemerkenswerter Nachzügler, von dem man sicher noch Bedeutendes hätte erwarten können, wäre seine Karriere nicht so abrupt zu Ende gegangen. An dieser Stelle brach die Szene ab, und ich konzentrierte mich ganz auf die Ausführungen des Sprechers. Während Dutzende Fotos von Komikstars über den Bildschirm zogen, beklagte die Stimme den Verlust so vieler Filme aus der Stummfilmzeit. Nach Aufkommen des Tonfilms habe man die Stummfilme in den Archiven verrotten lassen, sie seien bei Bränden vernichtet und als Müll weggeworfen worden, und so seien Hunderte dieser Streifen für immer verschwunden. Aber die Hoffnung sei noch nicht ganz erloschen, fügte die Stimme hinzu. Gelegentlich tauchten alte Filme wieder auf, in den letzten Jahren habe man eine Reihe beachtlicher Funde gemacht. Man denke nur an Hector Mann, sagte der Sprecher. Bis 1981 seien weltweit nur drei seiner Filme bekannt gewesen. Spuren und Fragmente der anderen neun fänden sich in diversem Sekundärmaterial – in Presseberichten, Standfotos, Vorschauen–, aber die Filme selbst habe man für verloren gehalten. Dann aber sei im Dezember dieses Jahres im Büro der Cinémathèque Française in Paris ein anonymes Päckchen eingetroffen. Allem Anschein nach in Los Angeles aufgegeben, enthielt es eine nahezu makellose Kopie von Hampelmänner, dem siebten von Hector Manns zwölf Filmen. Im Lauf der nächsten drei Jahre bekamen größere Filmarchive auf der ganzen Welt acht ähnliche Päckchen: das Museum of Modern Art in New York, das British Film Institute in London, das Eastman House in Rochester, das American Film Institute in Washington, das Pacific Film Archive in Berkeley, und schließlich noch einmal die Cinémathèque in Paris. 1984 war Hector Manns Gesamtwerk auf diese sechs Organisationen verstreut, aber komplett zugänglich. Jedes Päckchen war in einer anderen Stadt abgeschickt worden, in so entfernt voneinander liegenden Orten wie Cleveland und San Diego, Philadelphia und Austin, New Orleans und Seattle, und da den Filmen niemals irgendein erklärendes Schreiben beigelegt war, war es unmöglich, den Stifter zu identifizieren oder auch nur eine Hypothese über ihn oder seinen Wohnort aufzustellen. Dem Leben und der Karriere des rätselhaften Hector Mann sei ein weiteres Geheimnis hinzugefügt worden, sagte der Sprecher; dennoch seien die so aufgetauchten Filme unschätzbar, und die Gemeinde der Filmfreunde könne nur dankbar sein.

Ich hatte kein Interesse an Rätseln und Geheimnissen, aber als ich den Nachspann der Sendung ablaufen sah, ging mir durch den Kopf, dass ich diese Filme gern mal sehen würde. Insgesamt waren es zwölf, verstreut auf sechs verschiedene Städte in Europa und den Vereinigten Staaten, und wer sie alle sehen wollte, würde einen beträchtlichen Teil seiner Zeit dafür opfern müssen. Mindestens ein paar Wochen, stellte ich mir vor, vielleicht aber auch einen oder anderthalb Monate. Zu diesem Zeitpunkt wäre es mir niemals eingefallen, dass ich eines Tages ein Buch über Hector Mann schreiben würde. Ich war nur auf der Suche nach etwas, das mich beschäftigen könnte, etwas, das mich auf harmlose Weise ablenken würde, bis ich wieder imstande war, meine Arbeit fortzusetzen. Fast ein halbes Jahr lang hatte ich mir dabei zugesehen, wie ich vor die Hunde ging, und mir war klar, dass ich, wenn ich dabei bliebe, sterben würde. Was ich unternahm oder was ich damit zu gewinnen hoffte, war nebensächlich. Inzwischen wäre jede Entscheidung ein Zufallsprodukt gewesen, aber an diesem Abend war mir ein Vorschlag gemacht worden, und zwei Minuten Film und ein einziges kurzes Lachen brachten mich zu dem Entschluss, um die Welt zu ziehen und mir Stummfilmkomödien anzusehen.

Ich war kein Filmkenner. Mit Mitte zwanzig, nach Abschluss meines Studiums, hatte ich als Literaturdozent angefangen, und seitdem hatte meine Arbeit ausschließlich mit Büchern zu tun gehabt, mit Sprache und dem geschriebenen Wort. Ich hatte eine Reihe europäischer Dichter übersetzt (Lorca, Eluard, Leopardi, Michaux), Rezensionen für Zeitschriften und Zeitungen verfasst und zwei Bücher über Literaturkritik veröffentlicht. Das erste, Stimmen aus dem Kriegsgebiet, beschäftigte sich mit den Zusammenhängen von Politik und Literatur und untersuchte das Werk von Hamsun, Céline und Pound mit Blick auf ihre profaschistischen Aktivitäten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das zweite, Der Weg nach Abessinien, handelte von Schriftstellern, die das Schreiben aufgegeben hatten: eine Meditation über das Schweigen. Rimbaud, Dashiell Hammett, Laura Riding, J.D.Salinger und andere – Dichter und Romanciers von außerordentlichem Talent, die aus irgendwelchen Gründen plötzlich aufgehört hatten. Als Helen und die Jungen ums Leben kamen, hatte ich gerade ein neues Buch in Planung, in dem es um Stendhal gehen sollte. Nicht dass ich irgendetwas gegen das Kino gehabt hätte – es bedeutete mir nur nicht sehr viel, und nicht ein einziges Mal in über fünfzehn Jahren Lehr- und Schreibtätigkeit war es mir in den Sinn gekommen, mich darüber zu äußern. Ich mochte Filme wie jeder andere – als Zerstreuung, als belebte Tapete, als leichte Kost. Ganz gleich, wie schön oder hypnotisierend die Bilder gelegentlich sein mochten, sie befriedigten mich niemals so sehr wie das geschriebene Wort. Für mein Empfinden zeigten Filme zu viel, ließen der Phantasie des Betrachters zu wenig Spielraum; dazu kam der paradoxe Eindruck, dass Filme die Welt – die Welt in uns und außer uns – desto schlechter repräsentierten, je genauer sie die Wirklichkeit nachahmten. Das war auch der Grund, warum mir Schwarzweißfilme instinktiv immer lieber gewesen waren als Farbfilme, Stummfilme lieber als Tonfilme. Das Kino war eine optische Sprache, eine Methode, Geschichten zu erzählen, indem man Bilder auf eine zweidimensionale Leinwand projizierte. Der Zusatz von Ton und Farbe hatte die Illusion einer dritten Dimension erzeugt, den Bildern aber zugleich ihre Reinheit genommen. Jetzt brauchten sie nicht mehr die ganze Arbeit alleine zu leisten, aber statt den Film zur perfekten Mischform zu machen, zur besten aller möglichen Welten, hatten Ton und Farbe eben die Sprache geschwächt, die sie eigentlich verstärken sollten. Als ich an diesem Abend in Vermont in meinem Wohnzimmer saß und Hector und die anderen Komiker ihre Kunststücke machen sah, kam mir der Gedanke, dass ich eine untergegangene Kunstform beobachtete, ein völlig ausgestorbenes Genre, das niemals mehr ausgeübt werden würde. Und dennoch, trotz aller Veränderungen, die sich seither ergeben hatten, waren diese Werke so frisch und belebend wie damals, als sie zum ersten Mal gezeigt worden waren. Grund dafür war, dass sie die Sprache beherrschten, die sie da sprachen. Sie hatten eine Syntax des Auges, eine Grammatik der reinen Bewegung erfunden, und wenn man einmal von den Kostümen, den Autos und den kuriosen Möbeln im Hintergrund absah, konnte nichts von alldem wirklich alt werden. Hier wurden Gedanken in Handlung umgesetzt, hier drückte sich der menschliche Wille durch den menschlichen Körper aus, und dies war etwas, das zu jeder Zeit Gültigkeit besaß. Die meisten Stummfilmkomödien machten sich kaum die Mühe, eine Geschichte zu erzählen. Eher glichen sie Gedichten, nachgestellten Traumszenen, komplexen Choreographien des Geistes; und da sie längst überholt waren, sprachen sie uns Heutige wahrscheinlich sogar noch intensiver an als das Publikum ihrer Zeit. Wir sahen sie über einen breiten Abgrund des Vergessens hinweg, und die Dinge, die uns von ihnen trennten, waren in Wirklichkeit genau die, die sie für uns so fesselnd machten: ihr Stummsein, ihre Farblosigkeit, ihr ruckhafter, beschleunigter Rhythmus. All das waren Hindernisse, die uns das Sehen erschwerten; andererseits befreite es die Bilder von der Last, etwas darstellen zu müssen. Es stand zwischen uns und dem Film, und daher brauchten wir nicht mehr so zu tun, als ob wir die reale Welt betrachteten. Die flache Leinwand war die Welt, und sie existierte in zwei Dimensionen. Die dritte Dimension befand sich in unserem Kopf.

Nichts hielt mich davon ab, meine Koffer zu packen und am nächsten Tag abzureisen. Für das laufende Semester hatte ich mir freigenommen, und das nächste fing erst Mitte Januar an. Ich konnte tun, was ich wollte, konnte gehen, wohin meine Beine mich trugen, und falls ich mehr Zeit brauchen sollte, konnte ich auch einfach immer weitergehen, über den Januar hinaus, über den September hinaus, über alle September und Januare hinaus, so lange wie es mir gefiel. Denn auch dies zählte zur Ironie meines absurden, erbärmlichen Lebens: Der Tod von Helen und den Kindern hatte mich zum reichen Mann gemacht. Als Erstes kam das Geld von der Lebensversicherung, zu deren Abschluss Helen und ich uns kurz nach Beginn meiner Lehrtätigkeit in Hampton hatten beschwatzen lassen – das beruhigt ungemein, hatte der Mann gesagt–, und da sie in das Gesundheitsprogramm des Colleges integriert war und nicht viel kostete, hatten wir den niedrigen Monatsbeitrag gezahlt, ohne viel darüber nachzudenken. Als das Flugzeug abstürzte, hatte ich gar nicht mehr an diese Versicherung gedacht, aber keinen Monat später tauchte ein Mann bei mir auf und überreichte mir einen Scheck über mehrere hunderttausend Dollar. Wenig später einigte sich die Fluggesellschaft mit den Familien der Opfer, und da ich bei dem Absturz gleich drei Angehörige verloren hatte, bekam ich den größten Batzen aus dem Entschädigungstopf zugeteilt, einen gigantischen Trostpreis für einen willkürlichen Tod und das unerforschliche Walten Gottes. Helen und ich hatten immer Mühe gehabt, mit meinem Gehalt und den gelegentlichen Honoraren auszukommen, die sie mit ihrer freiberuflichen Schriftstellerei erzielte. Tausend Dollar zusätzlich wären uns jederzeit eine enorme Hilfe gewesen. Jetzt hatte ich das Tausendfache, und es bedeutete mir nichts. Als die Schecks bei mir eintrafen, schickte ich die Hälfte des Geldes an Helens Eltern, aber die sandten es umgehend zurück, dankten mir für die Geste, versicherten jedoch, dass sie es nicht haben wollten. Ich kaufte für Todds Grundschule neue Spielplatzgeräte, spendete Marcos Kindergarten zweitausend Dollar für Bücher und einen hochmodernen Sandkasten und bewegte meine Schwester und ihren Mann, einen Musiklehrer, dazu, einen größeren Geldbetrag aus dem Zimmer-Sterbefonds zu akzeptieren. Hätte es noch mehr Menschen in meiner Familie gegeben, würden auch sie etwas bekommen haben, aber meine Eltern lebten nicht mehr, und außer Deborah hatte ich keine Geschwister. Stattdessen stiftete ich, um einen weiteren Batzen loszuwerden, am Hampton College ein Stipendiat auf Helens Namen: das Helen-Markham-Reisestipendium. Die Idee war ganz einfach. Jährlich sollte einem Hochschulabsolventen ein Geldpreis für außerordentliche geisteswissenschaftliche Leistungen zuerkannt werden. Das Geld war zur Finanzierung von Reisen bestimmt, ansonsten waren keinerlei Bestimmungen, Bedingungen oder Ansprüche damit verbunden. Der jeweilige Preisträger sollte von einem turnusmäßig wechselnden Komitee aus Professoren verschiedener Fakultäten (Geschichte, Philosophie, Anglistik, Fremdsprachen) gewählt werden, und solange das Geld zur Finanzierung einer Auslandsreise verwendet wurde, konnten die Markham-Stipendiaten damit machen, was sie wollten; Rechenschaft war nicht erforderlich. Um das zu arrangieren, musste ein gewaltiger Kapitalbetrag angelegt werden, aber so groß dieser Betrag auch war (das Äquivalent von vier Jahresgehältern), er riss nur ein kleines Loch in mein Guthaben, und als mir schließlich nichts Sinnvolles mehr einfiel, was ich mit dem vielen Geld noch finanzieren konnte, besaß ich immer noch mehr, als ich jemals hätte ausgeben können. Es war eine groteske Situation, ein entsetzliches Übermaß an Reichtum, bis zum letzten Penny erworben durch Blut. Hätte ich meine Pläne nicht so plötzlich geändert, würde ich das Geld wahrscheinlich einfach irgendwie vergeudet haben, bis nichts mehr übrig gewesen wäre. Aber eines kalten Abends Anfang November setzte ich mir in den Kopf, selbst auf Reisen zu gehen, und ohne die nötigen Mittel dazu hätte ich ein so spontanes Vorhaben niemals verwirklichen können. Bis dahin war mir das Geld nur eine quälende Last gewesen. Jetzt betrachtete ich es als Heilmittel, als Medizin, mit der ich meinen endgültigen Zusammenbruch abwenden konnte. In Hotels zu leben, in Restaurants zu essen – das war ein kostspieliges Unternehmen, aber ausnahmsweise hatte ich diesmal keinen Anlass zur Sorge darüber, ob ich mir das, was ich tun wollte, überhaupt leisten konnte. Verzweifelt und unglücklich, wie ich war, war ich auch ein freier Mann, und da ich Gold in den Taschen hatte, konnte ich die Bedingungen dieser Freiheit selbst festlegen.

DIE Hälfte der Filme befand sich an Orten, die ich von zu Hause aus mit dem Auto erreichen konnte. Rochester lag ungefähr sechs Stunden westlich, New York ebenso wie Washington genau südlich – die erste Etappe etwa fünf Stunden, dann nochmal fünf für die zweite. Ich beschloss, mit Rochester anzufangen. Der Winter stand vor der Tür, und je länger ich die Fahrt dorthin aufschob, desto größer wurde das Risiko, in Sturm und Glatteis zu geraten und im rauen nördlichen Wetter stecken zu bleiben. Am nächsten Morgen rief ich im Eastman House an und fragte, ob ich mir die Filme dort im Archiv ansehen könne. Ich hatte keine Ahnung, wie so etwas zu arrangieren sei, wollte aber, als ich mich am Telefon vorstellte, nicht allzu unwissend erscheinen und fügte daher hinzu, ich sei Professor am Hampton College. Damit hoffte ich, die Leute dort hinreichend zu beeindrucken, dass sie mich für einen ernsthaften Menschen hielten und nicht für irgendeinen Irren, der einfach so bei ihnen anrief, was ja im Grunde der Fall war. Ach, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung, Sie schreiben also etwas über Hector Mann? Sie stellte die Frage so, als gäbe es nur eine einzige mögliche Antwort darauf, und nach einer kleinen Pause brummte ich die Worte, die sie zu hören erwartete. Ja, sagte ich, richtig, stimmt genau. Ich schreibe ein Buch über ihn, und zu meinen Recherchen gehört auch, dass ich mir seine Filme ansehe.

Und damit hatte das Projekt angefangen. Es war gut, dass dies so früh geschah, denn als ich die Filme in Rochester(Der Jockeyclub und Der Schnüffler) erst einmal gesehen hatte, stand für mich fest, dass es keine Zeitverschwendung war, was ich da trieb. Hector war in jeder Hinsicht so talentiert und vielseitig, wie ich es mir erhofft hatte, und wenn die anderen zehn Filme auf dem gleichen hohen Niveau wie diese beiden waren, verdiente er, dass ein Buch über ihn geschrieben wurde, verdiente er die Chance, neu entdeckt zu werden. So kam es, dass ich mir Hectors Filme von Anfang an nicht nur ansah, sondern sie studierte. Ohne dieses Telefonat mit der Frau in Rochester wäre mir das nie in den Sinn gekommen. Mein ursprünglicher Plan war viel einfacher gewesen, und ich bezweifle, dass ich mich über Weihnachten oder Neujahr hinaus damit beschäftigt haben würde. So aber wurde es Mitte Februar, bis ich mein Studium von Hectors Filmen abgeschlossen hatte. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, mir jeden seiner Filme nur einmal anzusehen. Nun aber sah ich sie mir alle mehrmals an, und statt mich nur für wenige Stunden in einem Archiv aufzuhalten, saß ich dort tagelang, studierte die Filme auf Projektoren und an Schneidetischen, beobachtete Hector ganze Vor- und Nachmittage lang, spulte die Kopien vor und zurück, bis ich die Augen nicht mehr offen halten konnte. Ich machte mir Notizen, konsultierte Bücher, schrieb erschöpfende Kommentare über Schnitttechnik, Kamerawinkel und Beleuchtung, analysierte sämtliche Aspekte jeder einzelnen Szene bis zu den nebensächlichsten Einzelheiten, und erst wenn ich mit alldem fertig war, wenn ich so lange mit dem Material gelebt hatte, dass ich jeden Zentimeter dieser Streifen auswendig kannte, reiste ich weiter.

Ob der Aufwand sich lohnte, fragte ich mich nicht. Ich hatte meine Aufgabe, und für mich zählte nur, daran festzuhalten und sie zu Ende zu bringen. Ich wusste, Hector war allenfalls eine Randgestalt, ein weiterer Name auf der Liste der Übergangenen und Durchgefallenen, aber das hielt mich nicht davon ab, sein Werk zu bewundern und mich an seiner Gesellschaft zu erfreuen. Seine Filme waren im Lauf eines einzigen Jahres entstanden, jeden Monat einer, mit winzigen Budgets weit unterhalb der Beträge, die sonst für die spektakulären Gags und atemberaubenden Sequenzen, wie man sie gemeinhin aus Stummfilmkomödien kennt, aufgebracht wurden; und so war es schon ein Wunder, dass er überhaupt etwas hatte produzieren können, zu schweigen von ganzen zwölf absolut sehenswerten Filmen. Nach dem, was ich gelesen hatte, hatte Hector als Requisiteur, Kulissenmaler und Gelegenheitsstatist in Hollywood angefangen, dann in einigen Filmen Nebenrollen gespielt und schließlich von einem gewissen Seymour Hunt die Chance bekommen, als Regisseur und Hauptdarsteller eigene Filme zu machen. Hunt, ein Bankier aus Cincinnati, der ins Filmgeschäft einsteigen wollte, war Anfang 1927 nach Kalifornien gekommen und hatte dort seine Produktionsfirma Kaleidoscope Pictures gegründet. Allem Anschein nach ein stürmischer, intriganter Charakter, wusste Hunt so gut wie nichts vom Filmemachen und gar noch weniger vom Geschäftemachen. (Kaleidoscope wurde nach nur anderthalb Jahren wieder aufgelöst. Hunt, wegen Aktienschwindels und Unterschlagung angeklagt, erhängte sich noch vor Prozessbeginn.) Finanziell und personell schlecht ausgestattet, geplagt von Hunt, der sich ständig einmischen wollte, ergriff Hector dennoch die Gelegenheit und versuchte, das Beste daraus zu machen. Selbstverständlich gab es weder Drehbücher noch irgendwelche vorher angefertigten Kulissen. Nur Hector und ein Gespann von Gagschreibern, Andrew Murphy und Jules Blaustein, die während der Arbeit improvisierten; gedreht wurde häufig nachts, an gemieteten Sets, mit erschöpftem Personal und altersschwacher Ausrüstung. Es war nicht drin, ein Dutzend Autos zu Schrott zu fahren oder eine Rinderstampede zu inszenieren. Sie konnten weder Häuser einstürzen noch Gebäude explodieren lassen. Überschwemmungen, Hurrikane, exotische Schauplätze waren ausgeschlossen. Extras waren unerschwinglich, und wenn etwas nicht funktionierte, konnten sie sich nicht den Luxus leisten, die Szene noch einmal neu zu drehen. Alles musste nach einem engen Zeitplan erledigt werden, Zeit zum Überlegen gab es nicht. Gags auf Kommando, drei Lacher pro Minute, dann die nächste Münze in den Schlitz. Trotz all dieser Nachteile schien Hector von den Beschränkungen, die ihm auferlegt waren, geradezu beflügelt. Die Bandbreite seiner Arbeit war bescheiden, und doch hatte sie etwas Anheimelndes, das den Betrachter fesselte und ihn zwang, darauf zu reagieren. Ich begriff, warum Filmexperten seine Arbeit schätzten – und auch, warum niemand völlig begeistert davon war. Er hatte keinerlei Neuland erschlossen, und nachdem jetzt alle seine Filme wieder zugänglich waren, stand fest, dass die Geschichte jener Zeit nicht würde neu geschrieben werden müssen. Hectors Filme waren gewiss nur kleine Beiträge zur Kunst des Kinos, klein, aber nicht unbedeutend, und je öfter ich sie sah, desto mehr Gefallen fand ich an ihrer Anmut, an ihrem subtilem Witz, an der komischen und liebenswerten Art ihres Stars. Wie ich bald erfuhr, hatte noch niemand alle seine Filme gesehen. Die letzten waren erst vor allzu kurzer Zeit aufgetaucht, und bis dahin hatte es nicht ein einziger Mensch auf sich genommen, die auf der ganzen Welt verstreuten Archive und Museen vollständig abzuklappern. Wenn es mir gelang, meinen Plan durchzuführen, wäre ich der Erste.

Vor der Abreise aus Rochester rief ich Smits an, meinen Dekan in Hampton, und teilte ihm mit, dass ich meinen Urlaub auf das folgende Semester auszudehnen gedächte. Zunächst reagierte er ein wenig ungehalten und behauptete, meine Vorlesungen seien bereits im Verzeichnis angekündigt, aber als ich ihm die Lüge auftischte, ich müsse mich psychiatrischer Behandlung unterziehen, bat er um Entschuldigung. Das war gewiss ein unfeiner Trick, aber zu der Zeit kämpfte ich um mein Leben und hatte einfach nicht die Kraft, ihm zu erklären, warum das Betrachten von Stummfilmen plötzlich so wichtig für mich geworden war. Am Ende unterhielten wir uns noch ziemlich freundlich, und er wünschte mir alles Gute; wir taten zwar beide so, als würde ich im Herbst wieder anfangen, aber ich denke, er hat gespürt, dass ich schon auf dem Rückzug war, nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache.

Skandal und Wochenende auf dem Lande sah ich in New York, dann fuhr ich nach Washington und sah mir Der Kassierer und Doppelt oder nichts an. Die Stationen der weiteren Reise buchte ich bei einer Reiseagentur am Dupont Circle (mit Amtrak nach Kalifornien, mit der QE 2 nach Europa), nur um am nächsten Morgen in einem jähen Anfall blindwütigen Heldentums die Fahrkarten wieder zu stornieren und dafür Flugtickets zu nehmen. Das war reine Torheit, aber da sich die Sache jetzt so verheißungsvoll angelassen hatte, wollte ich nicht den Schwung verlieren. Unwichtig, dass ich mich sehr dazu überreden musste, genau das zu tun, was niemals mehr zu tun ich mir geschworen hatte. Ich konnte jetzt einfach nicht langsamer werden, und wenn das Problem nicht anders als pharmakologisch zu lösen war, würde ich eben so viele Beruhigungspillen schlucken, wie dazu nötig wären. Eine Frau vom American Film Institute nannte mir den Namen eines Arztes. Ich nahm an, der Besuch in seiner Praxis würde nicht mehr als fünf oder zehn Minuten in Anspruch nehmen. Ich wollte ihm sagen, weshalb ich die Pillen brauchte, er würde mir ein Rezept ausstellen und fertig. Flugangst war schließlich ein verbreitetes Leiden, und ich hätte es gar nicht nötig, von Helen und meinen Söhnen zu erzählen oder ihm sonstwie mein Herz auszuschütten. Ich wollte mein Zentralnervensystem ja nur für ein paar Stunden ausschalten, und da man das Zeug nicht frei kaufen konnte, bestand seine Aufgabe allein darin, mir ein Stück Papier mit seiner Unterschrift in die Hand zu drücken. Dr.Singh erwies sich jedoch als gewissenhafter Mann, und während er meinen Blutdruck maß und mir das Herz abhorchte, stellte er mir so viele Fragen, dass ich eine Dreiviertelstunde in seiner Praxis verbrachte. Er war zu klug, nicht gründlich nachzuforschen, und so kam nach und nach die Wahrheit ans Licht.

Wir alle sterben einmal, Mr.Zimmer, sagte er. Wie kommen Sie darauf, dass Sie in einem Flugzeug sterben werden? Wenn man den Statistiken glauben darf, besteht eine viel größere Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu Hause im Sessel sterben werden.

Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst vor dem Sterben habe, antwortete ich, ich habe gesagt, dass ich Angst habe, in ein Flugzeug zu steigen. Das ist ein Unterschied.

Aber wenn das Flugzeug nicht abstürzt – warum sollten Sie sich Sorgen machen?

Weil ich mir selbst nicht mehr traue. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren, und ich möchte nicht unangenehm auffallen.

Ich kann Ihnen nicht recht folgen.

Ich stelle mir vor, wenn ich in ein Flugzeug steige, würde ich schon durchdrehen, bevor ich meinen Sitz erreicht habe.

Durchdrehen? Wie meinen Sie das? Geistig durchdrehen?

Ja, ich breche vor vierhundert Fremden zusammen und verliere den Verstand. Ich laufe Amok.

Und wie sieht das in Ihrer Vorstellung aus?

Kommt drauf an. Manchmal schreie ich. Manchmal schlage ich irgendwem ins Gesicht. Manchmal renne ich ins Cockpit und versuche, den Piloten zu erwürgen.

Hält Sie jemand auf?

Ja, natürlich. Die Leute stürzen sich auf mich und werfen mich zu Boden. Sie schlagen mich zusammen.

Wann hatten Sie das letzte Mal eine Schlägerei, Mr.Zimmer?

Das weiß ich nicht mehr. Als kleiner Junge, nehme ich an. So mit elf, zwölf. Auf dem Schulhof. Als ich mich gegen einen Schläger gewehrt habe.

Und was bringt Sie auf die Idee, dass Sie jetzt wieder anfangen könnten, sich zu schlagen?

Gar nichts. Ich spüre es einfach in den Knochen, das ist alles. Ich glaube, wenn mir irgendetwas auf die Nerven geht, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Da könnte alles Mögliche passieren.

Aber warum gerade Flugzeuge? Warum haben Sie keine Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn Sie auf festem Boden stehen?

Weil Flugzeuge sicher sind. Das weiß jeder. Flugzeuge sind sicher, schnell und effizient, und wenn man erst mal oben ist, kann einem nichts mehr passieren. Darum habe ich Angst. Nicht weil ich denke, ich könnte getötet werden – sondern weil ich weiß, dass ich nicht getötet werde.

Haben Sie jemals einen Selbstmordversuch unternommen, Mr.Zimmer?

Nein.

Haben Sie schon einmal daran gedacht?

Selbstverständlich. Ich wäre kein Mensch, wenn ich nie daran gedacht hätte.

Sind Sie deswegen gekommen? Um sich ein Rezept für ein schön starkes Medikament zu holen und sich dann umzubringen?

Ich suche Vergessen, Doktor, nicht den Tod. Das Medikament wird mich schlafen lassen, und solange ich nicht bei Bewusstsein bin, brauche ich nicht darüber nachzudenken, was ich tue. Ich werde da sein, aber nicht ganz, und in dem Ausmaß, in dem ich nicht da bin, werde ich mich sicher fühlen.

Sicher vor was?

Vor mir selbst. Vor der schrecklichen Gewissheit, dass mir nichts geschehen wird.

Sie erwarten, einen reibungslosen, ruhigen Flug zu haben. Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihnen das Angst machen sollte.

Weil meine Chancen so gut stehen. Ich werde sicher starten und landen, und wenn ich mein Reiseziel erreicht habe, werde ich lebendig aus dem Flugzeug steigen. Schön für mich, sagen Sie, aber indem ich das tue, spucke ich auf alles, woran ich glaube. Ich beleidige die Toten, Doktor. Ich mache aus einer Tragödie einen simplen Fall von «Pech gehabt». Verstehen Sie mich jetzt? Ich sage den Toten, dass sie umsonst gestorben sind.

Er verstand. Ich hatte gar nichts Konkretes gesagt, aber dieser Arzt besaß einen feinen, durchdringenden Verstand und war in der Lage, sich den Rest hinzuzudenken. J.M.Singh, Absolvent des Royal College of Physicians, Internist am Georgetown University Hospital, ein Mann mit präzisem britischem Akzent und vorzeitigem Haarausfall, verstand jetzt auf einmal, was ich ihm in dieser kleinen Kabine mit dem Neonlicht und den metallisch glänzenden Oberflächen zu erzählen versucht hatte. Ich saß noch auf dem Untersuchungstisch und knöpfte mir das Hemd zu, den Blick auf den Boden gerichtet (ich wollte ihn nicht ansehen, wollte die peinliche Situation vermeiden, in Tränen auszubrechen), als er mir nach einer, wie mir schien, langen und verlegenen Pause eine Hand auf die Schulter legte. Entschuldigen Sie, sagte er. Das tut mir wirklich sehr Leid.

Es war das erste Mal seit Monaten, dass jemand mich berührte, und ich fand es beunruhigend, ja beinahe Ekel erregend, zum Gegenstand solchen Mitgefühls gemacht zu werden. Ich will Ihr Mitleid nicht, Doktor, sagte ich. Ich will nur diese Pillen.

Er wich mit einer leichten Grimasse zurück und setzte sich auf einen Hocker in der Ecke. Während ich mir das Hemd in die Hose stopfte, sah ich, wie er einen Rezeptblock aus der Tasche seines weißen Kittels zog. Ich will Ihnen den Gefallen tun, sagte er, aber bevor Sie gehen, möchte ich Sie bitten, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich glaube, ich kann mir ungefähr vorstellen, was Sie durchgemacht haben, Mr.Zimmer, aber ich habe Bedenken, Sie in eine Lage zu bringen, die Ihnen so große Qualen bereiten könnte. Es gibt auch andere Reisemöglichkeiten. Vielleicht wäre es besser, Flugzeuge fürs Erste zu meiden.

Das habe ich mir auch schon überlegt, sagte ich, und mich dagegen entschlossen. Die Entfernungen sind einfach zu groß. Mein nächstes Ziel ist Berkeley in Kalifornien, und anschließend muss ich nach London und Paris. Der Zug an die Westküste braucht drei Tage. Die Rückfahrt dauert noch einmal so lange; dazu kommen weitere zehn Tage für die Fahrt über den Atlantik und wieder zurück, und schon haben wir mindestens sechzehn verlorene Tage. Was soll ich mit dieser ganzen Zeit anfangen? Aus dem Fenster starren und die Landschaft genießen?

Ein wenig innehalten könnte nichts schaden. Vielleicht würde es Ihnen helfen, den Stress ein wenig abzubauen.

Aber Stress ist genau das, was ich brauche. Wenn ich jetzt nachlasse, fliege ich auseinander. Ich würde in alle Himmelsrichtungen zerstieben und könnte mich nie wieder zusammensetzen.

Ich sprach diese Sätze mit solchem Nachdruck, in meiner Stimme schwangen solcher Ernst und solche Verrücktheit mit, dass sich der Arzt fast zu einem Lächeln hinreißen ließ – jedenfalls schien er mir eines zu unterdrücken. Na, das wollen wir natürlich nicht, sagte er. Wenn Sie so sehr aufs Fliegen aus sind, dann tun Sie’s. Aber wir wollen immerhin dafür sorgen, dass Sie’s nur in eine Richtung tun. Und mit dieser schnurrigen Bemerkung nahm er einen Stift aus der Tasche und kritzelte eine Reihe unleserlicher Zeichen auf den Block. Bitte sehr, sagte er, riss das oberste Blatt ab und drückte es mir in die Hand. Ihr Ticket für Air Xanax.

Nie davon gehört.

Xanax. Ein starkes, höchst gefährliches Medikament. Auch wenn Sie es strikt nach Anweisung nehmen, Mr.Zimmer, macht es Sie zum Zombie, zu einem Wesen ohne Ichbewusstsein, zu einem gefühllosen Klumpen Fleisch. Mit dem Zeug können Sie über ganze Kontinente fliegen, und ich garantiere Ihnen, Sie werden nicht einmal mitbekommen, dass Sie überhaupt abgehoben haben.

Am Nachmittag des folgenden Tages war ich schon in Kalifornien. Keine vierundzwanzig Stunden danach ging ich ins Pacific Film Archive und sah mir in einem separaten Vorführraum die nächsten zwei Hector-Mann-Komödien an. Wilder Tango erwies sich als die verrückteste, überschäumendste seiner Produktionen; Heim und Herd als die sorgfältigste. Ich verbrachte mehr als zwei Wochen mit diesen Filmen, stellte mich jeden Morgen um Punkt zehn in dem Gebäude ein, und wenn es geschlossen hatte (Weihnachten und Neujahr), arbeitete ich im Hotel weiter, las Bücher, ordnete meine Notizen und bereitete mich auf die nächste Etappe meiner Reise vor. Am 7.Januar 1986 schluckte ich wieder ein paar von Dr.Singhs Zauberpillen und flog von San Francisco nach London – sechstausend Meilen nonstop mit dem Katatonie-Express. Diesmal war eine größere Dosis erforderlich, aber ich machte mir Sorgen, dass auch die nicht reichen würde, und so nahm ich kurz vorm Besteigen des Flugzeugs noch eine Pille zusätzlich. Gewiss war es dumm von mir, mich nicht an die Anweisung des Arztes zu halten, aber die Vorstellung, womöglich mitten im Flug aufzuwachen, erschreckte mich dermaßen, dass ich mich beinahe für immer in Schlaf versetzte. Ein Stempel in meinem alten Pass beweist, dass ich am 8.Januar nach Großbritannien eingereist bin, aber ich habe keine Erinnerung an die Landung, keine Erinnerung an die Zollkontrolle, keine Erinnerung daran, wie ich in mein Hotel gelangt bin. Am Morgen des 9.Januar erwachte ich in einem fremden Bett, und erst da fing mein Leben wieder an. So gründlich hatte ich mich noch nie zuvor aus den Augen verloren.

Es waren noch vier Filme übrig – Cowboys und Ein Niemand in London, Hampelmänner und Der Requisiteur in Paris–, und mir war klar, eine zweite Chance, sie zu sehen, würde ich nicht bekommen. Die amerikanischen Archive konnte ich, falls nötig, jederzeit wieder besuchen, aber eine Rückkehr zum BFI und zur Cinémathèque war ausgeschlossen. Ich hatte es geschafft, mich nach Europa zu befördern, aber ein zweiter Versuch, das Unmögliche zu vollbringen, würde über meine Kräfte gehen. Aus diesem Grund blieb ich viel länger als nötig in London und Paris – insgesamt fast sieben Wochen, den halben Winter lang vergraben wie ein wahnsinniges, im Boden lebendes Tier. Bis dahin war ich gründlich und gewissenhaft gewesen, jetzt aber steigerte sich das Projekt zu nie da gewesener Intensität, zu einer Zielstrebigkeit, die an Besessenheit grenzte. Nach außen gab ich vor, die Filme Hector Manns studieren und mir einverleiben zu wollen, in Wahrheit aber brachte ich mir bei, mich zu konzentrieren, an einen und nur einen Gegenstand zu denken. Es war das Leben eines Monomanen, aber an jedem anderen Leben wäre ich zerbrochen. Als ich im Februar schließlich nach Washington zurückkehrte, schlief ich die Nachwirkungen des Xanax in einem Flughafenhotel aus, holte am nächsten Morgen mein Auto vom Langzeitparkplatz ab und fuhr nach New York. Nach Vermont konnte ich noch nicht zurück. Wenn ich das Buch wirklich schreiben wollte, brauchte ich einen Ort, an dem ich mich verkriechen konnte, und New York schien mir von allen Städten der Welt diejenige zu sein, die mir am wenigsten auf die Nerven gehen würde. Fünf Tage lang suchte ich nach einer Wohnung in Manhattan, fand aber nichts. Die Wall Street hatte damals Hochkonjunktur, bis zum Crash von ’87 sollte es noch zwanzig Monate dauern, und Wohnraum zur Miete oder Untermiete war sehr knapp. Schließlich fuhr ich über die Brücke nach Brooklyn Heights und nahm die erstbeste Wohnung, die ich mir ansah – ein kleines Apartment in der Pierrepont Street, das gerade an diesem Morgen frei geworden war. Es war teuer, schmuddelig und schlecht geschnitten, aber ich pries mich glücklich, es ergattert zu haben. Ich kaufte eine Matratze für das eine Zimmer, Stuhl und Schreibtisch für das andere, und dann zog ich ein. Der Mietvertrag lief über ein Jahr. Er begann am 1.März, und genau an diesem Tag begann ich das Buch zu schreiben.

2 Vor dem Körper ist das Gesicht, und vor dem Gesicht ist die schmale schwarze Linie zwischen Hectors Nase und Oberlippe. Ein zuckendes Angstfädchen, ein metaphysisches Springseil, ein tänzelnder Verwirrungsindikator: der Schnurrbart als Seismograph von Hectors inneren Zuständen, der den Zuschauer nicht nur zum Lachen bringt, sondern ihm auch sagt, was Hector denkt, ihm direkten Eintritt in die Maschinerie seiner Gedanken verschafft. Auch anderes ist daran beteiligt – die Augen, der Mund, das präzis inszenierte Taumeln und Stolpern–, aber der Schnurrbart ist das wichtigste Werkzeug der Kommunikation, und mag auch seine Sprache keine Wörter kennen, so ist doch sein Wackeln und Zucken so klar und verständlich wie eine Mitteilung in Morsezeichen.

Nichts davon wäre möglich ohne die Mitwirkung der Kamera. Die Vertrautheit mit dem sprechenden Schnurrbart ist ein Werk des Objektivs. In jedem von Hectors Filmen gibt es plötzliche Änderungen der Perspektive, wird von einer Totalen oder Halbtotalen unvermittelt auf eine Nahaufnahme umgeschnitten. Hectors Gesicht füllt die ganze Leinwand aus, und wenn auf diese Weise jeglicher Bezug zur Umgebung eliminiert ist, wird der Schnurrbart zum Mittelpunkt der Welt. Er gerät in Bewegung, und da Hector die Fähigkeit besitzt, alle anderen Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu behalten, scheint der Schnurrbart sich selbständig zu bewegen, wie ein kleines Tier, das über eigenes Bewusstsein und Willen verfügt. Die Mundwinkel krümmen sich ein wenig, die Nasenflügel weiten sich kaum merklich, ansonsten aber bleibt das Gesicht, während der Schnurrbart seine Kapriolen macht, im Wesentlichen unbewegt, und in dieser Unbewegtheit sieht man sich selbst wie in einem Spiegel, denn in diesen Augenblicken ist Hector ganz und gar und am überzeugendsten menschlich, ein Abbild dessen, was wir alle sind, wenn wir uns allein mit unserem Innern befassen. Diese Großaufnahmen sind den entscheidenden Stellen der Geschichte vorbehalten, den Momenten größter Spannung oder Überraschung, und nie dauern sie länger als vier oder fünf Sekunden. Wenn sie erscheinen, bleibt alles andere stehen. Der Schnurrbart beginnt seinen Monolog, und für diese wenigen kostbaren Sekunden muss die Handlung dem Denken weichen. Wir können Hectors Gedanken lesen, als ob sie ausgeschrieben auf der Leinwand stünden, und bevor diese Schrift wieder verschwindet, ist sie nicht weniger sichtbar als ein Gebäude, ein Klavier oder eine Torte im Gesicht.

In Bewegung ist der Schnurrbart ein Werkzeug, das die Gedanken aller Menschen auszudrücken vermag. In Ruhe ist er wenig mehr als ein Ornament. Er bezeichnet Hectors Platz in der Welt, benennt den Charakter, den er repräsentieren soll, und erklärt, wen er in den Augen der anderen darstellt – aber er gehört nur einem einzigen Menschen, und da es sich um einen lächerlich dünnen und schmierigen kleinen Schnurrbart handelt, kann nie ein Zweifel daran aufkommen, was für ein Mensch das ist. Es ist der südamerikanische Dandy schlechthin, der Latin Lover, der dunkle Schurke mit dem heißen Blut. Zusammen mit dem ölig zurückgekämmten Haar und dem unvermeidlichen weißen Anzug ergibt dies eine unverkennbare Mischung aus Eleganz und Anstand. Das alles sagen die Bilder. Ihr Sinn wird mit einem einzigen Blick erfasst, und da in diesem mit ständig fehlenden Kanaldeckeln und explodierenden Zigarren präparierten Universum eine Sache stets zwangsläufig auf die andere folgt, weiß man, sobald man einen Mann im weißen Anzug durch die Straßen spazieren sieht, dass dieser Anzug ihn in Schwierigkeiten bringen wird.

Nach dem Schnurrbart ist der Anzug das zweitwichtigste Element in Hectors Repertoire. Der Schnurrbart ist die Verbindung zum inneren Ich, ein Metonym für Triebe, Überlegungen und geistige Unwetter. Der Anzug verkörpert Hectors Verhältnis zur Gesellschaft, und mit dem blitzblanken Weiß, das sich strahlend vom Grau und Schwarz seiner Umgebung abhebt, zieht er alle Blicke auf sich. Hector trägt diesen Anzug in jedem seiner Filme, und in jedem Film gibt es mindestens eine längere komische Szene, die sich um die Gefahren dreht, in die er bei dem Versuch gerät, den Anzug sauber zu halten. Schlamm und Kurbelgehäuseöl, Spaghettisauce und Melasse, Kaminruß und spritzende Pfützen – irgendwann droht jede dunkle Flüssigkeit und überhaupt jede dunkle Materie die makellose Würde von Hectors Anzug zu besudeln. Dieser Anzug ist sein stolzester Besitz, und er trägt ihn mit der gediegenen, kosmopolitischen Haltung eines Mannes, der die Welt zu beeindrucken gedenkt. Jeden Morgen steigt er in ihn hinein wie ein Ritter in seine Rüstung, wappnet sich für die Schlachten, die die Gesellschaft an diesem Tag für ihn bereithalten mag, und niemals kommt er auf die Idee, dass er damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich vorhat. Er schützt sich nicht vor möglichen Schlägen, sondern macht sich zur Zielscheibe, zum Brennpunkt jeglichen Missgeschicks, das sich im Umkreis von hundert Metern um seine Person ereignen mag. Der weiße Anzug ist ein Zeichen für Hectors Verletzlichkeit und verleiht den Streichen, die die Welt ihm spielt, ein gewisses Pathos. Hartnäckig in seiner Eleganz, geklammert an die alte Vorstellung, der Anzug mache ihn zu einer überaus attraktiven und begehrenswerten Erscheinung, erhebt Hector seine Eitelkeit zu einer Sache, mit der das Publikum sympathisieren kann. Sieht man ihn in Doppelt oder nichts imaginäre Stäubchen von seinem Jackett schnippen, während er an der Haustür seiner Freundin klingelt, dann ist das keine Demonstration von Eigenliebe mehr: Es sind die Qualen der Befangenheit. Damit zieht er das Publikum auf seine Seite, und wenn einem Schauspieler das erst einmal gelungen ist, kann er sich fortan alles leisten.

Er war zu groß gewachsen, um einen typischen Clown zu spielen, zu elegant, um wie andere Komiker den naiven Tollpatsch zu mimen. Mit seinen dunklen, ausdrucksstarken Augen und der vornehmen Nase sah Hector wie ein zweitklassiger Hauptdarsteller aus, wie ein übertreibender romantischer Held, der bei den Dreharbeiten zum falschen Film aufgetaucht war. Er war ein Erwachsener, und schon die Anwesenheit einer solchen Person schien den etablierten Regeln der Komödie zuwiderzulaufen. Lustige Männer hatten klein, verwachsen oder fett zu sein. Sie waren Zwerge und Trottel, Einfaltspinsel und Außenseiter, Kinder, die sich als Erwachsene maskierten, oder Erwachsene mit dem geistigen Horizont von Kindern. Man denke an Arbuckles kindliche Pummeligkeit, an seine affektierte Schüchternheit und seine feminin geschminkten Lippen. Man erinnere sich an seinen Zeigefinger, der ihm jedes Mal wenn ein