Das Café, der Wald und der Tod - Franziska Steinhauer - E-Book

Das Café, der Wald und der Tod E-Book

Franziska Steinhauer

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Beschreibung

Angela Liebetanz, bis vor kurzem Polizistin, will sich verändern und verabschiedet sich von dem aufreibenden Job zwischen Leben und Tod. Sie trennt sich von ihrem Ehemann und zieht ins brandenburgische Heidesaum. Dort verwirklicht sie ihren Traum und eröffnet ein Café, das schnell zur Attraktion wird. Als Angela am Fluss Kräuter sammelt, entdeckt sie einen Gummistiefel, in dem noch ein Fuß steckt. Angela zieht daran und findet die Leiche eines ortsbekannten Anglers, der durchaus nicht bei allen beliebt war. Kurze Zeit später erfährt sie, dass auch ein Camper, der in der Nähe ihres Cafés ein Lager aufgeschlagen hat, verschwunden ist. Diese vermeintlichen Zufälle kann Angela nicht auf sich beruhen lassen. Sie beginnt zu ermitteln und stößt bald auf ein finsteres Geheimnis der Heidesaumer.

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Franziska Steinhauer

Das Café, der Wald und der Tod

Inhalt

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Die Gestalt huschte am Spreeufer entlang.

Geduckt.

Ungelenk.

Als täte sie dergleichen nicht oft.

Aus der Deckung des Buschwerks starrte sie suchend in die Dunkelheit.

Wo zum Henker war der Kerl denn nur?

Irritiert überlegte die Gestalt, ob etwas an der »Einladung zum Gedankenaustausch« missverständlich formuliert gewesen sein könnte. Rief sich die überschaubaren Zeilen ins Gedächtnis. »Sehen uns am 25. um vier Uhr morgens an der Spree. Bekannte Kurve, üblicher Platz. Verkleidung als Angler! Wenn du nicht kommst, findet dich der Tod!«

Nein! Da gab es kein Vertun!

Wo hockte der Kerl bloß?

Die Gestalt lief möglichst geräuscharm weiter. Ganz ließen sich Rascheln und Knacken nicht vermeiden. Gerade bei einem, der im Anschleichen ungeübt war.

Glaubte der Arsch etwa, er könne die Sache aussitzen? Sich unsichtbar machen und einfach abwarten? Das konnte und würde ihm nicht gelingen! Die Sache duldete keinen Aufschub.

Weil Zorn sich in ihm ausbreitete, wurden die Bewegungen eckig und der herumschleichende Schatten blieb nicht länger unentdeckt. Vögel schreckten im Schlaf auf, die eine oder andere Ente startete einen Fluchtversuch ins Wasser.

Da!

Plötzlich tauchte der Angler direkt vor ihm auf!

Wirkte, als sei er von den Geräuschen der Tiere nicht irritiert, glaubte wohl an einen jagenden Fuchs.

Idiot!

Was für eine unprofessionelle Verkleidung!, amüsierte sich der Schatten still, sieht man sogar im Finstern, dass das kein echter Angler ist! Klapphocker, mehrere ausgeworfene Angeln in Halterungen, Eimer für den Jagderfolg, ein Weidenkorb, aus dem eine Thermoskanne herausragte, daneben ein Päckchen, in dem sicher Proviant für den Angler steckte. Und der Mann selbst in regendichtem Cape und kniehohen Gummistiefeln.

Viel zu plumper Versuch, zu dick aufgetragen!

Drei schnelle Schritte.

Ein kräftiger Schlag mit dem unterwegs aufgelesenen Stein.Das Knacken von Knochen. Die Gestalt spürte deutlich, wie Gewebe, Blut, Splitter und Hirnmasse zusammen mit dem Stein anhaftenden Erdresten auf ihn niederprasselten. Bis ins Gesicht war ihm das widerliche Zeug gespritzt. Zur Sicherheit holte er noch mehrfach aus, kraftvoll trafen seine Schläge den Hinterkopf. Er war froh, dass er im Dunkeln nicht genau sehen konnte, was genau er anrichtete.

Sprang vorsichthalber zurück, falls der Typ ihn packen wollte.

Ein einzelnes leises Aufstöhnen noch.

Ruhe.

Alles erledigt.

Der Schatten schlich wieder näher an den Körper heran. Drehte mit dem Fuß den Kopf des Niedergestreckten in seine Richtung und leuchtete dem Erschlagenen ins Gesicht.

Pfiff erschrocken durch die Zähne.

»Scheiße!«, fluchte der Schatten. »Der ist es nicht.«

Er hatte einen in der Gegend namhaften Angler erwischt.

»Nun ja, schade ist es um dich nun auch wieder nicht«, murmelte er dann, schlug mehrfach auf das Gesicht ein, als ließe sich sein Fehler durch die Verwüstung wortwörtlich unerkennbar machen, brach mit derart gereinigtem Gewissen zur Suche nach dem Richtigen auf.

Wenig später entdeckte er einen weiteren Angler am Ufer.

Diesmal war er sicher, den Gesuchten vor sich zu haben. Der Dilettant hatte nicht einmal eine Angel ausgeworfen, geschweige denn irgendwelche Utensilien parat, die das Jagen und Töten von Fischen notwendig machte.

Diesmal war es bestimmt der Richtige!

Alles lief wie beim ersten Mal.

Kein Wunder – er hatte nun schon Übung.

Zufrieden grunzte der Schatten, als er kurz in das Gesicht seiner Beute leuchtete.

Dann zerstörte er es.

2

Angela Liebetanz sprang gut gelaunt noch vor dem Klingeln des Weckers aus dem Bett. Strubbelte durch die Kurzhaarfrisur, wurde von Jonas, dem anhänglichen Mischling, freudig begrüßt. Nach einem schnellen Frühstück für beide schlüpfte sie in Jeans und ein rotes T-Shirt mit dem Namenszug ihres Cafés: Gurken, Quark und Leinöl. Jonas setzte sich neben die Tür. Wartete.

»Na, du Drängler! Ich bin ja gleich so weit.« Sie strich dem Tier über den Kopf, kraulte es an den Ohren, was Jonas ganz besonders liebte. »Nur noch ein bisschen Farbe ins Gesicht zaubern, dann gehen wir los.« Mit geübten Bewegungen zog sie die Augenbrauen nach, konturierte die Augen mit schwarzem Kajal und betonte die kräftigen Wimpern mit Tusche. Zum Schluss bekamen die Lippen die für ihr neues Leben als Besitzerin eines Cafés typische rote Farbe. Zufrieden strahlte sie sich im Spiegel an.

»Für heute Abend hat sich eine Geburtstagsfeiergruppe angesagt und vorab aus der Karte nur die besten Gerichte gewählt.« Die junge Frau lachte leise bei diesen Worten, schließlich war in ihrer Karte ausschließlich das Beste zu finden. »Wir brauchen noch ein paar Dinge für die Würze und die Tischdeko«, informierte sie ihren Mitbewohner, der sich fest an ihr Bein schmiegte, als sie vorbeigehen wollte, ohne noch einmal zärtlich zu kraulen.

Damit der Hauch des Besonderen den Gästen in Erinnerung bleiben würde, waren noch einige spezielle Zutaten notwendig, die das Festessen um eine markante Note bereicherten und nur frisch gesammelt die gesamte Fülle ihres Aromas beisteuerten.

Als die beiden Frühaufsteher sich vom Parkplatz aus zur Spree aufmachten, freute sich Angela auf die Sonne, die schon den Himmel zaghaft erhellte. Ihr Schritt war forsch und fest, Jonas hielt locker mit. Ihre Gedanken kreisten um die Veränderungen, die sich in ihrem Leben ergeben hatten. Sie fand, alles sei gut. Die kleine Konditorei »Gurken, Quark und Leinöl« in Heidesaum brummte, die »Gurke«, wie man das Café liebevoll nannte, war längst in der weiten Umgebung ein Geheimtipp. Man verschenkte gern exklusive Keksvarianten, die ungewöhnlichen Marmeladensorten, extravagante Torten und Kuchen. Ihre überschaubare Speisekarte bot Gourmets überraschende Zungen- und Gaumenerlebnisse und Gourmands mussten nicht hungrig vom Tisch aufstehen. Das Lob der Gäste beflügelte ihre Fantasie.

Sicher, eine einstweilige, vielleicht gar endgültige Trennung hinterließ die eine oder andere Narbe, auch wenn man sich in Freundschaft verbunden blieb. Ihr Noch-Ehemann Hagen war Stammkunde in ihrem Café.

Auch den Job an den Nagel zu hängen, der mal der Traumberuf war, war nicht leichtgefallen. Sie seufzte, schulterte ihre Tasche für die Kräuter neu. Von Polizistin in Dauerstress auf null Action. Wenn sie jetzt gelegentlich der Drang nach Spannung und Abenteuer überfiel, probierte sie ein neues Rezept aus!

Ihre Hand strich sanft über Jonas’ Rücken.

»Aber das Beste bist du!«, versicherte sie ihm, dachte dankbar an ihre Freundin Nele, die den Welpen zu ihr gebracht hatte. Angeblich mutterlos, sollte Angela ihn für eine gewisse Zeit aufnehmen und hochpäppeln. Die ganze Hunde-Familie sei verendet bei einem illegalen Züchter aufgefunden worden – es gab nur einen Überlebenden. Natürlich hatte Nele gewusst, dass sich die Freundin von ihrem Jonas nie wieder trennen würde.

In der letzten Nacht war leichter Regen gefallen und nun hatte sich der Boden an manchen Stellen in eine glitschige Rutschbahn verwandelt.

Vorsichtig quietschten sich die Gummistiefel voran.

Jonas war unruhig, stupste sie nervös gegen den Oberschenkel. »Na, was ist denn? Gehe ich dir zu langsam? Auf dem Rückweg toben wir noch eine Viertelstunde – versprochen!«

Schnell entdeckte sie, wonach sie gesucht hatte.

Ziegenfuß!

Angela zückte die kleine Sichel, beugte sich über ein paar kurze Büsche am Ufer, packte die Pflanze am Stiel, kappte gekonnt knapp oberhalb der Erde, während Jonas immer wieder witterte und um sie herum durch den Matsch patschte, auffordernd bellte. »Hey. Ich muss mich ja komplett umziehen, wenn du so spritzt«, lachte sie über das Ungestüm des Hundes.

Ihre Augen entdeckten plötzlich etwas anderes.

Der Schuh gehörte da nicht hin!

Es gab genug Mülleimer hier, in die man so etwas hätte entsorgen können – aber einfach ins Wasser? Eine einzige Dreistigkeit! Ein Gummistiefel! Der würde hier vielleicht tausend Jahre rumdümpeln und am Ende noch immer als Zivilisationsmüll zu erkennen sein. Sie beschloss, ihn mitzunehmen. Was genau sie damit beginnen wollte, stand so schnell nicht fest, aber ihr würde schon etwas einfallen, um die Menschen für das Thema »Bewusste Müllentsorgung« zu sensibilisieren.

Entschlossen packte sie nach dem schwarzen Gummiding, fühlte irritiert, dass der Schaft gar nicht leer war! Möglicherweise hatte sich ein kleiner Säuger eingemietet? Dann würde sie ihn nicht der wetterfesten Behausung berauben, sondern nur ein Foto machen. Jeder hat ein Recht auf ein Dach über dem Kopf, dachte sie und ihre Blicke tasteten sich über den Stiefel weiter in Richtung Wasser voran, die freie Hand hielt Jonas automatisch am Halsband zurück.

Erschrocken ließ sie den Stiefel los.

Unterdrückte das Bedürfnis, mit einem großen Satz zurückzuspringen.

Fingerte stattdessen ihr Handy hervor und verständigte die Polizei.

»Leichen verfolgen mich! Das kann doch gar nicht wahr sein, früher gehörte das quasi zum Job – aber den habe ich schließlich aufgegeben. Das ist nicht fair!«, murmelte sie fassungslos und wartete auf die Beamten des nahe gelegenen Reviers. Warf einen professionellen Blick auf die Spuren am Tatort. Im Wasser trieb eine Jacke. Jeder in Heidesaum und Umgebung wusste, wem die gehörte.

»HL? Du liebe Güte. Hast du wieder einen Streit angefangen?«, murmelte sie leise.

Die Kollegen der Forensik würden bestimmt versuchen, Schuheindruckspuren zu sichern. Doch offensichtlich war der Täter im Schlamm eher gerutscht denn gelaufen.

Knochenteile, Blut, Haarbüschel. Schaudernd wandte sie sich zu ihrem vierbeinigen Freund um.

»Weißt du, Jonas, den Ziegenfuß für die Küche werden wir besser an einer anderen Stelle ernten!«, beschloss sie dann.

3

Wie erwartet füllte sich das kleine Café zügig, kaum dass Angela die Tür geöffnet hatte.

Natürlich.

Schließlich gab es heute jede Menge Gesprächsbedarf.

Irmgard, eine mütterliche Freundin der Cafébesitzerin und Stammgast in der »Gurke«, bestellte wie immer ihren Kaffee mit Schuss, womit sie den heimischen Whiskey meinte, der »um die Ecke« gebrannt wurde.

Den duftenden Kaffee selbst bezog das Café aus einer Rösterei am Altmarkt in Cottbus, einer Universitätsstadt im Spreewald, und der Eierlikör, den es auf Wunsch auch als Topping gab, war »Sanftes Gelb« aus Senftenberg. Brandenburger Spezialitäten. Allesamt.

Angelas Kunden probierten sich leidenschaftlich gern durch all die verschiedenen Varianten.

Als sie die Tasse mit Sahnehaube und Schuss vor Irmgard abstellte, krallte diese ihre knochigen Finger um Angelas Handgelenk und wisperte eindringlich: »Der HL ist tot.«

Die Cafébesitzerin nickte so hart, dass ihre langen Ohrringe mit der giftgrünen Gurke am Ende lebhaft gegen ihre Wangen schlugen. »Ja, ich weiß.«

»Man hat ihn heute Morgen am Ufer der Spree gefunden! Ermordet. Noch warm, wie man so hört. Aber mal ehrlich, wer sollte den Hans-Ludwig umbringen wollen? Der hatte doch nur seine Arbeit als Pförtner bei Gerlach und Fische im Kopf«, meinte eine junge Frau, die gerade hereingekommen war.

»Erschlagen!«, steuerte eine andere Kundin vom Nachbartisch lebhaft bei. »Mit einem Stein, hat man mir erzählt.«

»Na, Hildchen. Wenn du dich da mal nicht täuschst. Erstochen! Mit einem langen Fleischermesser«, trumpfte Käthe auf und schmatzte laut ein Stückchen von ihrer Torte.

»Also dem Malko wäre so was vielleicht schon zuzutrauen, meint ihr nicht? Messer gehören zu seinem Alltag. Wer hat den HL denn eigentlich gefunden?« Magda beugte sich weit über den Tisch, damit sie die Antwort würde verstehen können, und stellte ihr Hörgerät vorsichtshalber etwas empfindlicher ein.

»Jonas und ich«, bekannte die Besitzerin des Cafés. »Es war reiner Zufall!«, beteuerte sie und hob abwehrend die Hände, um weitere Fragen abzublocken. »Und ich weiß auch nicht mehr als ihr!«

»Ha!«, mimte Irmgard die Empörte. »Da hast du Informationen aus erster Hand und fütterst uns neugierige Kundschaft nicht!«

»Na, weil ich doch auch nichts weiß! Man hat mich genauso weggeschickt, wie man es mit jedem anderen tun würde. Ich arbeite nicht mehr für den Verein! Aber warum es jemandem notwendig erschien, ausgerechnet unseren Superangler umzubringen, würde mich schon auch interessieren.«

Sie stand inzwischen hinter der Theke und verpackte die Schokolade mit Zimt und Thymian für Karin in eine dekorative Schachtel. Die Leckerei sollte sicher ein Geschenk werden. »Fahren Sie heute wieder zu Ihrer Tante?«

Die Kundin nickte.

»Sie wissen ja, die schwört auf Zartbitter plus.« Karin strahlte. »Sie sagt, in ganz Berlin gibt es so etwas Leckeres nicht. Seit ich Ihre Schokolade mitbringe, bin ich zur Lieblingsnichte aufgestiegen.«

Irmgard warf der plaudernden Angela einen nachdenklichen Blick zu. Einmal Polizei, immer Polizei, dachte sie und die junge Frau tat ihr plötzlich leid. Da wollte sie eigentlich nur ihre Ruhe und möglichst viel Abstand zu den Gräuel der Welt haben – und zack! wurde sie davon eingeholt, stolperte unversehens in einen Mordfall. Der würde sie nun nicht mehr loslassen, hatte sie den Toten ja gefunden. Hoffentlich, dachte Irmgard halb besorgt, halb wohlig erwartungsvoll, weitete sich das Ganze nicht noch aus.

»Warst du denn nicht erschrocken, als du den Toten gesehen hast?«, fragte Käthe, leckte sensationslüstern über ihre Lippen. »War doch sicher alles voll Blut, oder? Ist es wohl in jedem Fall, nicht wahr? Egal ob er nun erstochen, erschossen oder erschlagen wurde.« Sie beugte sich noch weiter vor. »Nun sag doch mal!«

»Nein!«, entschied Angela. »Morgen steht alles in der Zeitung. Tatortbeschreibung passt nicht zu einem Plausch bei Schokolade und Plätzchen.«

Sie reichte Karin das liebevoll verpackte Kistchen über die Theke. »Vielen Dank, Frau Liebetanz. Da ist ja schon die Verpackung ein Erlebnis.« Die Kundin wandte sich zu den Gästen um. »So eine schreckliche Tat in unserem friedlichen Heidesaum. Hoffentlich klärt die Polizei den Fall schnell auf«, meinte sie und winkte freundlich zum Abschied.

»Weiß eine von euch eigentlich, wie alt Thomas Kluge heute wird?«, lenkte Angela die Damen zu einem neuen Thema um.

»Der Thomas Kluge? Ich wusste gar nicht, dass der heute schon wieder dran ist! Hm, damals, als der seinen Job bei der NVA verloren hat, war er da erst 25 oder schon 30?«, wandte sich Käthe an Irmgard.

»Zu der Zeit, als der Wagen des Parteisekretärs vor dem Rat der Stadt in Brand gesetzt wurde, war er jedenfalls nicht dabei!«, behauptete Magda. Genüsslich nahm sie einen großen Schluck ihres Kakaos und schloss für einen Moment genießerisch die Augen. »Mhmm! Also wirklich, meine Liebe – Ihr Kakao, Ihre Torte, ein Träumchen!«

Irmgard verdrehte die Augen. Diese Formulierung, einem Fernsehkoch entliehen, ging ihr gehörig auf die Nerven. Wie hieß der gleich noch mal? Ach ja! Lichter! Der mit dem Bart!

»Wann soll das denn gewesen sein? Brandanschlag vor dem Rat der Stadt?« Käthe schüttelte den Kopf. »Doch nicht hier, oder?«

»Ne, Cottbus, glaube ich. Aber der Thomas geht doch auch in der besagten Kurve angeln, von der Hans-Ludwig immer geschwärmt hat. Wurde dort die Leiche …? Na, wenn das so ist, dann wird sich der Thomas sicher einen neuen Platz suchen. Wer mag schon im Dunkeln allein am Schauplatz eines Mordes sitzen? Unbewegt. Sonst erschrecken sich die Beutetiere und nix ist’s mit dem Angelerfolg. Mit dem Rücken zu all den Menschen, die dort rumschleichen und womöglich etwas Böses im Schilde führen!«

4

Bei Metzger Malko in Heidesaum wurde auch über den Mord diskutiert, wenn auch zunächst deutlich verhaltener als im Café.

»Der Hans-Ludwig? Ehrlich jetzt? Unser berühmter Angler?«

»Genau der! Heute früh hat man ihn gefunden. Ermordet.«

»Mann! Warum denn? Gab es wieder Streit über einen Fisch?«

»Ich hab’ jedenfalls nichts davon gehört. Ist ja schlimm, erst der Sohn und nun der Vater.«

»Mit dem Jungen hat er sich ja auch nie verstanden. Manchmal hat er gar behauptet, der Bastard sei nicht von ihm.«

»Nun, als Mann kann man sich letztlich in dieser Frage nie sicher sein.«

So ging es vor der Wursttheke hin und her.

Simone, Fachverkäuferin bei Malko, hörte zu, sah von einem zum andern. Wegen der Ablenkung dauerte das Bedienen des einzelnen Kunden sehr lang. Aber da ja alle mitredeten, störte es wohl auch keinen. Sie hätte sich gern in die Diskussion eingemischt, aber das war natürlich vollkommen ausgeschlossen. Schließlich durfte sie keinen Kunden vergraulen, ganz gleich, welcher Meinung der war.

Also beschränkte sie sich darauf, geschickt mit ihrer Frage in eine Atemholpause des Kunden zu stoßen.

»Hundert Gramm Bierschinken.« Sie legte das erste Päckchen zur Seite. »Darf es sonst noch etwas sein?« Dabei ließ sie die langzinkige Gabel über der Auslage schweben und lächelte einladend.

»Ach, was redet ihr für einen Blödsinn«, mischte sich die schwankende Fistelstimme Gottfrieds ein und er unterstrich diese Einleitung mit einem kräftigen Rums! seines Stockes. »Immer das gleiche Gesülze hier, wenn einer den Löffel abgibt! Wehe, ihr macht das auch bei mir so, wenn ich endlich in die Grube falle! Der Hans-Ludwig war ein Arsch, wie er im Buche steht!«

»Stimmt schon«, räumte ein Bariton zögernd ein. »Der HL hat immer gern queruliert!«

»Na eben! Hat so getan, als seien die Fische in der Spree sein Eigentum, er der Einzige, der zum Angeln berufen sei. Jeden anderen hat er abschätzig behandelt, fast so, als entstamme er fürstlichem Hause und der Rest der Menschen hier sei Plebs.«

Irmgard, die zwischen den anderen Kunden wartete, hatte eine Weile schweigend zugehört. Nun, entschied sie, war der richtige Moment, sich einzumischen.

»Deshalb ermordet man doch keinen!«, gab sie zu bedenken.

Gottfried konterte: »Ach, ich weiß nicht! Wenn einer ständig nur für Ärger und Unfrieden sorgt, mag mancher zu der Einsicht gelangen, die Welt sei ohne den Quertreiber eine bessere!«

»Wie ist er denn ermordet worden?«, fragte jemand aus der hinteren Reihe.

»Erschlagen!«, antwortete Irmgard prompt. »Die Angela aus der ›Gurke‹ hat ihn in der Frühe gefunden. Beim Kräutersuchen. War wohl kein schöner Anblick.«

»Erschlagen also. Hm. Dann war es am Ende möglicherweise gar kein Mord.« Pfarrer Schulzes tragender Bass mischte sich nun ein. Alle drehten sich verwundert bis empört zu ihm um. »Nun ja. Es könnte schließlich ein Stein verwendet worden sein, der am Ufer lag, eine Waffe, die man jederzeit finden, aufnehmen und benutzen konnte. Wir alle wissen um HL und seine Reizbarkeit. Möglich, dass er mit jemandem in einen heftigen Streit geriet, der ähnlich aufbrausend reagierte, einen Stein aufhob und im Zorn kräftig zuschlug. Dann ist es am Ende zwar ein Tötungsdelikt, aber nicht unbedingt ein Mord. Der Gesetzgeber unterscheidet da in mehrere Varianten.«

»Tot ist er allemal. Und seine arme Frau kann endlich aufatmen. Es wird Ruhe unter den Anglern eintreten. Alles gut«, fasste der Kunde vor dem Tresen kurz zusammen, zahlte den Bierschinken und schlurfte hinaus.

Die anderen sahen ihm nach.

Nachdenklich.

5

Als Pfarrer Schulze in die kleine katholische Kirche kam, wurde er bereits erwartet.

»Mein Mann ist tot!«, schluchzte die Witwe, wischte mit einem Tuch über die geschwollenen Lider, die rot geweinten Augen. »Stellen Sie sich nur vor: Jemand hat ihn …«, weiter kam sie nicht. Die Stimme versagte.

Mitfühlend legte der Seelsorger seinen Arm um die zuckenden Schultern der Trauernden.

»Ach Anne, es ist schwer, einen vertrauten Menschen zu verlieren.« Er vermied bewusst die Formulierung vom »geliebten Menschen«. Schließlich kam Anne regelmäßig zur Beichte. »Wenn es auf solche Weise passiert, fühlt es sich besonders boshaft und unverzeihlich an. Dein Mann war ein unbequemer Mensch, hatte viele Leute in Heidesaum mehr als nur gegen sich aufgebracht. Manche waren ihm gegenüber direkt feindselig eingestellt. Denk nur an die arme Familie und die bedauernswerte Katze. Was selbstverständlich keine Entschuldigung für eine solche Tat sein kann!«, schloss er eilig, weil er spürte, wie sich der Körper der Witwe in seinem Arm versteifte.

»Erschlagen!«, weinte sie. »Wie kann man nur einen Menschen totschlagen! Sicher, manche Bauern tun das mit jungen Katzen. Schlimm und absolut verabscheuungswürdig! Aber einen Menschen! Womöglich hat er ihm dabei in die Augen gesehen!«

»Damit hast du natürlich vollkommen recht, Anne. Die Polizei wird den Täter hoffentlich schnell finden. Ihn wird erst die irdische Gerechtigkeit einholen und später die göttliche. Der Weg in die Ewigkeit wird steinig und qualvoll für ihn sein.«

»Plötzlich reden alle schlecht über HL! Das haben sie sich nicht getraut, als er sich noch hätte wehren können.«

»Mag sein, dass sich nun die ihren Ärger von der Seele reden, die es zuvor nicht gewagt haben. Die zu feige waren. Sehr gut möglich. Aber dich hat er geprügelt. Kannst du ihm alle die Schläge, die Schmerzen vergeben?«, fragte der Pfarrer leise.

Anne senkte den Blick. Flüsterte: »Nein.«

»So mischt sich in deine Trauer Ärger über seine Brutalität.«

Sie nickte.

»Ihr habt euch gestritten gestern Abend?«

Wieder ein Nicken.

»Es fühlt sich für dich nicht richtig an, dass er im Zorn aus dem Haus gegangen ist und die Situation nun unbereinigt bleibt. Es ging um deinen Sohn?«

»Ja.«

»Nach all den Jahren?«

»Bevor er die Tür zuzog, erklärte er, es sei nur gut, dass der Junge schon tot sei, denn sonst hätte er all die Jahre ein Kuckuckskind durchbringen müssen. Einen Kegel! Den Bastard einer Hure!«

Der Pfarrer nahm die zitternde Hand der Witwe, streifte den Ärmel des Pullovers hoch.

»Was war es diesmal?«

»Der Schraubenschlüssel, mit dem er den Wasserhahn in der Küche repariert hatte. Vielleicht heißt das Ding auch Rohrzange – ist eigentlich gleichgültig, nicht wahr? Der Hieb kam ganz und gar unerwartet, ich konnte nicht ausweichen.«

»Soll ich dich zum Arzt fahren? Vielleicht ist der Arm gebrochen.«

»Nein. Es wird mich an meine Schuld erinnern. Manche sagen, er sei vielleicht mit jemandem in Streit geraten. Mag sein, weil er sich von mir provoziert fühlte und der Schlag nicht gereicht hat, ihn abzukühlen. Wütend war er. Meinetwegen.«

Sie stand langsam auf, trat aus der Bank.

Schwankte in Richtung Portal.

Pfarrer Schulze dachte an all die Beichten, in denen sie von den Übergriffen ihres Mannes berichtet hatte, von gebrochenen Rippen, Fingern, Armen, die der anstürmenden Gewalt nicht standhalten konnten, von brutaler Vergewaltigung. Und von den sündigen Gedanken und Wünschen der Frau, um deren Vergebung sie stets brav betete. Schließlich durfte man den Herrn nicht um den Tod eines Menschen bitten.

Ein bohrender Verdacht zupfte an des Pfarrers Magenwand: War sie diesmal nicht gekommen, um zu beichten, sondern um mit ihm zu sprechen, weil sie in die Tat umgesetzt hatte, was sie endlich befreien würde? Ein schlichtes Gespräch mit dem Pfarrer erforderte nicht das gleiche Maß an Tiefe und Wahrheit wie ein Bekenntnis im Beichtstuhl.

Nein, versuchte er den Aufruhr in seinem Inneren zu beruhigen, so konnte es nicht gewesen sein.

Obwohl … kreisten seine Gedanken weiter um diese Frage, Motive gab es mehrere und rein körperlich hätte sie es schaffen können. In einem Moment der Überraschung, an der Spree hätte ihr Mann sie sicher nicht erwartet … mit einem Schraubenschlüssel … Ja, konstatierte er, durchaus möglich, denkbar, vielleicht sogar gut vorstellbar.

6

Während Angela ihre Gäste bediente, in den Pausen letzte Vorbereitungen für die Geburtstagsgesellschaft traf, kreisten ihre Gedanken voller Sorge um den jungen Camper im Waldstück nah der Spree.

Vielleicht hatte auch er den Angler gekannt? War er mit dem schwierigen Hans-Ludwig in einen heftigen Streit geraten? Gar einen Kampf, der für den älteren Angler ein tödliches Ende genommen hatte? War der junge Mann vielleicht dabei verletzt worden, brauchte Hilfe?

»Weißt du, Jonas, morgen werden wir mal nach dem jungen Mann sehen. Wir nehmen wie immer ein paar Kekse für ihn mit und das Foto, das in der Zeitung war, als HL diesen großen Wels gefangen hatte. Wir fragen einfach mal, ob er ihm schon begegnet ist. Könnte doch sein, dass die beiden brummigen Typen sogar miteinander ins Gespräch gekommen sind. Fachsimpeleien zum Beispiel.«

Der Hund setzte sich auf, warf einen warmen, braunen Blick auf sein Frauchen, antwortete, als habe er jedes Wort verstanden, mit einem leisen, zustimmenden: »Wuff!«

»Echt, mein Lieber, manchmal glaube ich wirklich, wir beide verstehen uns perfekt – manchmal selbst ohne Worte. Auf jeden Fall bist du ein ganz besonderer Freund und Lebensbegleiter!«

Die Geburtstagsgesellschaft kam pünktlich, freute sich gut gelaunt auf Angelas kreative Kompositionen. Sie hatte einige typische Spreewaldgerichte »umkomponiert« und um überraschende geschmackliche Dimensionen erweitert. So mischte sie unter den Quark für die Backkartoffel eine geheime Kräutermischung, rundete ihn mit in winzige Würfel geschnittener Spreewaldgurke ab. Ihr leicht exotisch angehauchtes Würzfleisch schmeckte nicht nur dem Geburtstagskind sehr gut – auch seine thailändische Ehefrau und deren Verwandtschaft waren begeistert.

Und natürlich gab es auch in dieser Runde nur ein Thema: Hans-Ludwigs gewaltsamen Tod.

»Wenn zwei Choleriker in Streit geraten, gehen manchmal Argumente und Puste aus. Wenn die fehlen, gilt plötzlich das Recht des Stärkeren und so setzt man gern durch Zuschlagen neue Akzente in der Diskussion.« Thomas Kluge zuckte mit den Schultern. »Dann muss man nur noch eine empfindliche Stelle treffen und schon ist einer der Streithähne tot.«

»Du meinst, er wurde Opfer seiner Streitlust? Hat provoziert?«, fragte seine Schwester nach.

»Er ist tot, wir können ihn nicht fragen. Aber vorstellen kann ich mir das gut.«

»Du willst damit sagen, er sei selbst schuld?«, bohrte die Schwester gereizt nach. »Das scheint die Lieblingsmeinung der meisten hier zu sein.«

»Nein, natürlich nicht. Schuld an seinem Tod ist der Täter. Aber der HL war, und das wissen wir alle, uneinsichtig bis zum Anschlag. Wenn Argumente fehlen, entscheidet gern das Faustrecht die Debatte.«

»Ach, das klingt nach dir! So hast du das schon gemacht, als wir noch Kinder waren!«, zickte die Schwester zurück. »Das Recht des Stärkeren! Pfffff. Keine Kunst, wenn man fünf Jahre älter als die Schwester ist!«

»Deshalb ist das Matriarchat besser!«, rief eine Freundin der Familie.

»Oh – das ist ein weitverbreiteter Irrtum, den die Frauen gern breit streuen«, widersprach deren Ehegatte sofort. »Gerade Frauen können Macht mit sehr gewalttätigen Mitteln durchsetzen!«

»Frauen verfügen über ein großes Empathievermögen«, protestierte die Gattin.

»Sie können sehr grausam sein. Denkt nur an die Machtkämpfe zwischen Elisabeth und Maria Stuart. Zwei brutale, intrigante, machtbesessene Frauen. Es konnte nur eine Siegerin geben. Eine Königin …« Thomas Kluge sah in die Runde. »Mord in der Familie«, setzte er dann leise hinzu.

»Na, Jonas, ich glaube, es wird Zeit für die nächste Runde Sekt«, murmelte Angela und gab dem für die musikalische Unterhaltung zuständigen Gitarristen ein Zeichen, begann damit, die gefüllten Gläser zu verteilen.

Schnell wandte sich die Gesellschaft nun dem eigentlichen Grund des Zusammenseins zu. Die Gemüter beruhigten sich, es wurden keine verfänglichen Themen mehr angeschnitten.

Als die Gäste aufgebrochen waren und Stille sich über das Café senkte, räumte Angela schnell auf und bereitete einige Dinge für den nächsten Morgen vor. Jonas, der nicht in die Küche durfte, stand geduldig in der Tür, verfolgte jeden ihrer Schritte aufmerksam.

»Gleich! Ich will nur noch ein paar Brote vorbereiten. Dann brechen wir auf.«

Angela legte die Kräuterquark- und Schinken-Käse-Sandwiches in einen Korb, stellte einen Becher mit heißem Kakao dazu und signalisierte dem Hund, es sei nun Zeit für den Aufbruch.

»Wir gehen noch schnell bei Anne vorbei!« Jonas tobte los. »Ja, ist gut. Wie nehmen einen längeren Umweg! Heute musstest du ja wirklich viel Geduld haben.«

7

»Ach Angela, wie lieb von dir vorbeizuschauen!« Die Witwe umarmte die Besucherin vorsichtig, um den Korb nicht umzukippen. »Kommt rein!«

»Ist doch das mindeste, was ich tun kann«, erklärte Angela und packte ihre Mitbringsel auf dem Küchentisch aus. »Vielleicht verführt dich das zum Essen. Und in dem Kakao ist ein kleiner Schuss.«

»Ach, Angela. Ich kann aber nicht bezahlen.«

»Das sollst du doch auch nicht. Kommt von Herzen!«

»Du hast ihn gefunden, nicht wahr? Das war doch sicher fürchterlich.«

»Nun, wir haben ihn gefunden, das stimmt. Und danach hat uns die Polizei weggeschickt. Mach dir um uns keine Gedanken.« Sie strich dabei dem Hund über den Rücken, der sich fest an sie gedrückt hatte.

»Setz dich doch einen Moment.« Anne wies auf einen der Küchenstühle. »Weißt du, Hans-Ludwig hat irgendwo so eine Plastikkarte für die Bank. Aber ich kann sie nicht finden. Und mir hat er das Haushaltsgeld für diese Woche noch nicht gegeben. Der Kühlschrank ist leer und ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt an Geld kommen soll, um einkaufen zu gehen.«

»Nun iss erst mal.« Angela schob eines der Sandwichpäckchen über den Tisch. »Wir gehen morgen zur Bank und klären das. Wenn du auf den Erbschein warten musst, helfe ich dir so lange aus. Hier wird nicht verhungert, verdurstet oder verzweifelt!«, versprach sie der Witwe des Getöteten, wunderte sich allerdings im Stillen über dessen Gebaren. Misstrauen gegen die eigene Frau, Angst vor Verschwendung? Verarmungswahn? Sonderbar.

»Mhmmmm. Ist das lecker!«, nuschelte Anne mit vollem Mund. »Und der Kakao! Eine einzige Verführung.«

»Weißt du, ob du je eine Kontoverfügung unterschrieben hast?«

Ratlose Blicke. Also wohl nicht.

»Hat Hans-Ludwig nicht irgendwo im Haus Geld deponiert? Für den Fall, dass er krank wird und nicht zur Bank gehen kann?«

»Darum habe ich mich nie gekümmert. Er meinte, das ginge mich nichts an. Für ausreichend Geld sei gesorgt. Da war es besser, nicht nachzuhaken. Geld war ein Reizthema. Da konnte er regelrecht ausrasten. Wenn ich mal etwas außer der Reihe … nun ja. Es lag in seiner Natur. Ich bin sicher, er konnte nichts dafür, hätte lieber anders reagiert. Hinterher tat es ihm immer leid und er war richtig geknickt.«

Angela kannte das nur zu gut.

Viele Frauen warteten jahrelang auf den versprochenen Wandel, schafften es nicht, sich aus der Beziehung zu lösen – bis sie eines Tages lebensgefährlich verletzt oder gar getötet wurden.

»Aber bei welcher Bank er das Konto hat, weißt du?«

»Er hat immer gesagt, er geht zur Sparkasse Geld holen. Aber dann hätte die Karte rot sein müssen, oder?«

»Wir finden es raus. Komm morgen zum Frühstück zu mir ins Café. Wenn es ruhig ist, bitte ich Irmgard, mal eben einzuspringen. Dann suchen wir die richtige Bank, gibt schließlich nur zwei Filialen neben der Sparkasse hier, und klären alles andere. So! Aber nun muss ich los. Jonas ist noch nicht müde, wir laufen noch ein Stück!«

Draußen warf sie einen Blick zurück – auf das einzige erleuchtete Fenster.

Einsamkeit kann man einem Haus manchmal direkt ansehen, dachte sie noch, dann joggte sie mit dem begeisterten Jonas los.

8

»Dieser tote Angler, der an der Spree … Der war ein langjähriger Mitarbeiter von uns. Ich meine, der hatte so unglaublich viele Feinde. Da wird es für die Polizei sicher schwierig, den Täter zu finden.« Jesper Gerlach, Besitzer einer der größten Anbauflächen für Gurken im Spreewald und eines bekannten gurkenverarbeitenden Betriebs, ging, während er telefonierte, in seinem Arbeitszimmer auf und ab.

Blieb gelegentlich stehen und sah in den beleuchteten Park hinaus. Die Lichter sollten keine Einbrecher fernhalten, dazu lief in der großen Anlage ein pflichtbewusster Rottweiler umher. Eine Begegnung mit dem wachsamen Hubert konnte für Unbefugte im Park zu einem Erlebnis mit bleibenden Folgen werden. Die Lampen ermöglichten nur einen tieferen Blick in die Dunkelheit. Und Jesper war der Meinung, in seinem Leben habe es von Finsternis schon genug gegeben, da könnte er auf seinem eigenen Grund gut darauf verzichten.

»Ja. Das sehe ich auch so«, bestätigte er den Kommentar seines Gesprächspartners. »Ja! Aber die Witwe sollten wir unterstützen. Ist doch ein großer Schock, wenn der Mann derart gewaltsam … Wie wäre es, wenn die Firma die Kosten für die Beisetzung übernimmt? Kinder haben die beiden nicht, der einzige Sohn ist vor Jahren ertrunken. Es sähe sicher gut aus, würden wir der Witwe eine großzügige Spende überweisen. Zur Überbrückung der ersten Monate. Muss ja nicht wirklich viel sein, eher eine symbolische Hilfe, aber eben gefühlt großzügig. Immerhin hat er jahrelang für uns gearbeitet. ›Der Betrieb ist ihm zu Dank für seinen Einsatz und seine Loyalität verpflichtet‹, das macht sich gut in der Presse.«

Er lauschte auf die Antwort.

Reagierte gereizt. »Sie sind Leiter des Marketings, stimmt’s? Wie also können Sie so eine dumme Frage stellen? Natürlich bestellen wir keinen grünen Sarg mit dem Logo der Firma! Und natürlich gibt es keine öffentliche Mitteilung über eine finanzielle Zuwendung. Das werden andere machen! Erst geht es von Mund zu Ohr, dann zur Presse!« An dieser Stelle wäre Gerlach beinahe ein »Sie Volltrottel!« rausgerutscht. Im wirklich allerletzten Moment konnte er die Beleidigung zurückhalten.

Stattdessen forderte er: »Dann sorgen Sie gefälligst für eine undichte Stelle, die der Presse eine Information ins Ohr flüstert, das kann doch so schwer nicht sein! Sobald im Ort über die großzügige Unterstützung getuschelt wird, kommt mit Sicherheit die Interviewanfrage und wir nehmen bescheiden Stellung!« Jesper nickte beim Gehen vehement. Ja, so läuft das!, dachte er und verkürzte in Gedanken die Galgenfrist für den Leiter der Marketingabteilung. Dessen Mindesthaltbarkeitsdatum war abgelaufen. Das Geschäft mit der Gurke: ein Ellbogenbusiness.

»Genau. Sie leiten das alles sofort nach dem Aufstehen morgen in die Wege. Und die Todesanzeige wird auch umgehend in die Zeitung gesetzt.«

Er hörte zu.

»Nein! Es wird keinen seltsamen Eindruck machen, wenn innerhalb kurzer Zeit die zweite Todesanzeige von uns in der Zeitung erscheint!« Er ist schlicht ein Vollpfosten, stellte Jesper abschließend fest. »Nein! Der erste Todesfall war meine todkranke Mutter und nun ist es ein Mitarbeiter! Die beiden hatten weder im Leben noch im Tod etwas gemein. Unsere Kunden werden nicht von einer Seuche im Gurkenglas ausgehen! Eher bedauert man uns, der Schicksalsschläge wegen!«

Damit war das Gespräch beendet.

Grußlos. Floskellos.

Draußen schlug der Hund wütend an.

Darum würde sich der Haushälter kümmern.

Jesper zog sich beruhigt in sein Schlafzimmer zurück.

9

Lange vor Morgenanbruch waren Angela und Jonas schon unterwegs.

Ziel der kurzen Fahrt mit dem Auto war der Parkplatz am Rand des Waldes.

Von dort aus liefen die beiden zügig los, über das Wehr, immer tiefer in den Wald über Trampelpfade und Nebenwege parallel zur Spree.

Angelas Rhythmus war gleichmäßig, die Bewegungen locker und entspannt, die Atmung ruhig.

Sicher, ihr neues Leben hatte ihren Körper weicher und runder gemacht, aber fit war sie geblieben. Nicht zuletzt durch die Extraportion Bewegung, die ein agiler Lebensgefährte wie Jonas einforderte.

Wahrscheinlich bin ich nur hysterisch. Ich habe keine Kinder und arbeite meine Instinkte an einem Fremden ab. Übertragung!, dachte sie und amüsierte sich über ihre offensichtlich aus dem Ruder gelaufenen Bemutterungsinstinkte.

Trotz der intellektuellen Analyse blieb die emotionale Sorge.

Kurz bevor sie den Lagerplatz des Campers erreichten, blieb Jonas unvermittelt stehen, sträubte die Nackenhaare, knurrte leise.

Selbst das Fell über der Wirbelsäule stand senkrecht.

»Was ist denn?« Angela war in die Hocke gegangen, sprach leise. »Dir ist doch irgendwas unheimlich!«

Sie schlich sich drei Schritte weiter, hielt sich geduckt, starrte in Richtung Camp.

Von einer Sekunde auf die andere sah sie all ihre dumpfen Befürchtungen bestätigt!

Das Zelt: zerfetzt.

Die Isomatte und der Schlafsack: zerschnitten.

Die Kleidung: zerrissen.

Die Vorräte: verstreut.

Hätte es sich um ein Haus und nicht um ein Zelt gehandelt, wäre die Formulierung »kein Stein blieb auf dem anderen« sehr passend gewesen.

Sie drehte sich einmal um sich selbst.

Niemand zu sehen. Rief laut. Doch kein Geräusch aus dem Wald kündigte die Rückkehr des jungen Mannes an.

Erschrocken wich sie ins Unterholz zurück, streichelte ihren Hund, was sie wohl beide beruhigen sollte, fotografierte den verwüsteten Platz. Sah sich immer wieder nervös um. Selbst die Feuerstelle war zertrampelt. Sie kehrte zum Lagerplatz zurück, hielt die Hand über das Häufchen Asche – vielleicht war das Verlöschen noch gar nicht lange her, stellte sie fest.

»Hallo Kollegen, ich schick euch mal die Koordinaten von einem Lagerplatz rüber. Hier hat ein junger Mann gewohnt. Nein, den Namen kenne ich nicht. Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Der Platz ist unweit der Stelle, an der ihr den getöteten Angler geborgen habt. Ist von hier aus fußläufig zu erreichen.«

Sie hörte dem Kollegen zu.

»Ja«, meinte sie dann, »schon möglich, dass nach Geld gesucht wurde. Alles in Fetzen. Nur noch kleine Stücke …«

Hatte der Fremde in jener Nacht etwas Verdächtiges beobachtet?

Wurde er bemerkt und befand sich nun selbst in höchster Gefahr? Ein unliebsamer Zeuge, der beseitigt werden sollte?

Oder war er selbst der Täter, hatte seine Habe zerstört und war untergetaucht?

Sie hatte sich bisher blind auf ihre Fähigkeit verlassen, Menschen schnell und sicher einschätzen zu können. Nun nagte für einen Lidschlag der Gedanke an ihr, sie habe vielleicht einem Mörder den Aufenthalt hier im wahrsten Sinne des Wortes »versüßt«. Unsinn!, schalt sie sich.

Möglicherweise würden Kollegen Reste der Keksbeutel aus ihrem Café unter den Fetzen identifizieren. Kleine Mitbringsel, die sie genutzt hatte, um mit dem Fremden ins Gespräch zu kommen, seine Brummigkeit zu durchdringen, die, da war sie sich auch jetzt noch sicher, ein Schutzmechanismus war.

»Nun, Jonas, wir haben einen sympathischen Bekannten gewonnen. Hoffen wir nur, dass der junge, nette Mann nicht in ernsten Schwierigkeiten steckt. Komm, wir gehen zurück. Die Kollegen wissen ja, wo sie uns finden!«

Was sie dem Hund verschwieg, war eine weitere Überlegung: Würde sie selbst vielleicht auch in den Fokus eines Täters geraten, der davon ausging, dass sie um sein Geheimnis wusste?

10

Hagen Bredow stand ein wenig ratlos im Chaos.

Du liebe Güte, überlegte er, war das nun Ergebnis einer Suche – vielleicht nach Drogen – oder schiere Zerstörung aus Wut, weil man den Bewohner des Zeltes hasste oder nicht gefunden hatte, wonach man suchte?

Mit der Schuhspitze hob er eine kleine Zellophantüte an.

Stöhnte.

»Mensch, Angela. Musst du eigentlich immer wieder in solche Geschichten reingeraten?«

»Was gefunden?« Einer der Kollegen des Spurensicherungsteams trat neben ihn, warf einen fachkundigen Blick auf den kleinen Beutel. »Aha. Wunderbare Kekse, die deine Frau backt. Ich kauf auch gern bei ihr. Ist nur blöd, dass die bei mir nie das Ende der Haltbarkeit erreichen. Einfach zu lecker.« Dabei strich er nachsichtig über seinen sich deutlich unter dem Schutzanzug abzeichnenden Genussbauch.

»Ja. Kochen und Backen. Sie hat ihre Passion zum Beruf gemacht.« Bredow klang bitter.

»Neidisch? Besorgt? Ach komm, es gibt sicher eine ganz einfache Erklärung für die Tütchen!«

»Die Tütchen?« Hagen bemerkte selbst den hysterischen Unterton, räusperte sich. »Es gibt mehrere davon? Dann hat er regelmäßig bei ihr eingekauft, sie kennt ihn also möglicherweise ganz gut.«

»Sie hat uns alarmiert, als sie das zerstörte Camp entdeckt hat. Einmal Polizistin – da weißt du, was du tun musst. Und es war ihr auch sofort klar, dass er nicht alles verstreut hat, um weiterzuziehen. Sie war tief besorgt.«

»Bisher habt ihr ihn nicht gefunden – oder?«