Das dritte Königreich - Karl Ove Knausgård - E-Book

Das dritte Königreich E-Book

Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Etwas ist in Bewegung in der Welt, es ist, als würde sie heimgesucht – aber von was? Und warum?

Die Tage sind endlos lang in diesem Sommer in Norwegen, und die Hitze ist schier unerträglich. Die Welt scheint irgendwie still zu stehen, und als Erstem fällt dies Syvert, dem Bestatter, auf. Immer mehr Tage vergehen, ohne dass Todesfälle gemeldet werden. Wie kann das sein? Viele Fragen hat auch die neunzehnjährige Line, die sich in Valdemar, den Frontmann einer sagenumwobenen Band, verliebt. Sie wird in eine geheime, faszinierende Welt hineingezogen, die sie aber auch ängstigt und an die Grenzen des Verstehbaren bringt. Dies wiederum hat sie mit dem Polizisten Geir gemeinsam, der in einem makabren Dreifachmord ermittelt und über die vermeintlich abwegige Theorie, die er am Ende aufstellt, mit niemandem sprechen kann. Ist es letztlich die fragile Künstlerin Tove, die mehr versteht als die anderen? Sie erschafft Bilder, die von den untergründigen Strömungen aus Sexualität und Tod in den Volksmärchen inspiriert sind. Eines Tages hört sie eine Stimme, die zu ihr spricht – und ihr etwas abverlangt.

„Das dritte Königreich“ ist Teil der großangelegten Romanreihe „Der Morgenstern“, die Leser und Kritikerinnen in der ganzen Welt begeistert. Auslöser der Geschichte ist das plötzliche Auftauchen eines neuen Sterns am Himmel. Unter diesem Stern leben die Menschen ihre Leben wie früher, während sich die Welt um sie herum langsam verändert. Es geht um das, was wir nicht verstehen, um das große Drama, betrachtet durch die Linse des kleinen Lebens, und es geht darum, was geschieht, wenn die dunklen Kräfte in der Welt freigesetzt werden

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Buch

Die Tage sind endlos lang in diesem Sommer in Norwegen, und die Hitze ist schier unerträglich. Die Welt scheint irgendwie still zu stehen, und als Erstem fällt dies Syvert, dem Bestatter, auf. Immer mehr Tage vergehen, ohne dass Todesfälle gemeldet werden. Wie kann das sein? Viele Fragen hat auch die neunzehnjährige Line, die sich in Valdemar, den Frontmann einer sagenumwobenen Band, verliebt. Sie wird in eine geheime, faszinierende Welt hineingezogen, die sie aber auch ängstigt und an die Grenzen des Verstehbaren bringt. Dies wiederum hat sie mit dem Polizisten Geir gemeinsam, der in einem makabren Dreifachmord ermittelt und über die vermeintlich abwegige Theorie, die er am Ende aufstellt, mit niemandem sprechen kann. Ist es letztlich die fragile Künstlerin Tove, die mehr versteht als die anderen? Sie erschafft Bilder, die von den untergründigen Strömungen aus Sexualität und Tod in den Volksmärchen inspiriert sind. Eines Tages hört sie eine Stimme, die zu ihr spricht – und ihr etwas abverlangt.

»Das dritte Königreich« ist Teil der großangelegten Romanreihe »Der Morgenstern«, die Leser und Kritikerinnen in der ganzen Welt begeistert. Auslöser der Geschichte ist das plötzliche Auftauchen eines neuen Sterns am Himmel. Unter diesem Stern leben die Menschen ihre Leben wie früher, während sich die Welt um sie herum langsam verändert. Es geht um das, was wir nicht verstehen, um das große Drama, betrachtet durch die Linse des kleinen Lebens, und es geht darum, was geschieht, wenn die dunklen Kräfte in der Welt freigesetzt werden.

Autor

KARLOVEKNAUSGÅRD wurde 1968 geboren und gilt als einer der wichtigsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christian-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

KARLOVEKNAUSGÅRD

DAS DRITTE KÖNIGREICH

Roman

Aus dem Norwegischenvon Paul Berf

Luchterhand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossenDie Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich sehr herzlich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 2022 Forlaget Oktober, Oslo

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 Luchterhand Literatur Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Regina Kammerer

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29622-3V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für Michal

Wo ich bin, ist kein Gott

TOVE

Sie sagen, Depression sei erstarrte Wut. Ich selbst stelle sie mir als einen versteinerten Troll vor. Ein Geschöpf der Dunkelheit – rasend, gefährlich –, vom Tageslicht in etwas Unbewegliches und Lebloses verwandelt.

Manie ist, denke ich, wenn man sich selbst vergisst, wie man einen kochenden Topf auf dem Herd vergisst.

Zur Psychose kommt es, sobald die Manie ausgeschöpft ist, wenn ihr nur noch die Begegnung mit der Wirklichkeit bleibt (und mehr als alles andere fürchtet die Manie die Wirklichkeit). Die Psychose ist also eine Möglichkeit. Die Psychose ist wie eine der drei Türen im Märchen, diejenige, die auf keinen Fall geöffnet werden darf. Sie darf nicht geöffnet werden. Alle wissen es. Dennoch wird sie am Ende immer geöffnet. Hat man die Wahl zwischen Nichts und Etwas, versucht man erst Etwas.

Die Märchen.

Die Trolle, die drei Türen, der Wald. In dem die Tiere sprechen können und die Menschen zu Tieren werden. In dem es Hexen, Kätner, Könige, unterirdische Gewölbe und Hallen, Baumstümpfe, Prinzessinnen, die niemand zum Schweigen bringt, Stiefmütter und Bettelweiber, Sennhütten und blau schimmernde Höhen gibt.

Schon als ich klein war, ahnte ich, dass die Märchen etwas verbargen. Und dass ihre Geheimnisse bedeutsam waren. Später las ich Jung und seine Theorie über Archetypen und das kollektive Unbewusste, aber es war nicht das, was ich in den Märchen geahnt hatte, es war etwas anderes. Von Jung nahm ich mit, dass ich eine Magierin und Arne eine Waise war (wenngleich er zu seinem Vater bis zu dessen Todestag ein gutes Verhältnis hatte und bis heute ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter hat) sowie das Wissen um die Universalität und die Kraft der Symbole, sonst nichts.

Jemand, der verändert, das ist der Magier. Der Magier ist ein Revolutionär. Jemand, der bedürftig ist, das ist der Waisenjunge. Der Waisenjunge ist ein Manipulator.

Die Psychose ist nicht die Hölle. Aus der Psychose herauszukommen ist die Hölle. Es ist die Hölle auf Erden. Nichts von all dem, was man gedacht, gesehen oder gefühlt hat, ist wahr gewesen. Und mit jeder Faser seiner selbst hat man gedacht, gesehen und geglaubt. Und damit nicht genug. Da stehen sie plötzlich und starren einen an, Mann und Kinder. Flehend oder wütend, ich weiß nicht, was schlimmer ist.

Dann ist die Zeit für Tränen gekommen. Für die bodenlose Trauer. Worum?

Um mich selbst und meine Unzulänglichkeit.

Niemand will eine verrückte Mutter haben. Es will auch niemand eine sein.

»Bist du jetzt normal?«, fragte Heming einmal, als sie mich besuchten.

Was konnte ich anderes tun, als zu nicken und zu weinen und seinen widerwilligen Körper an mich zu drücken?

Wir kamen am späten Abend beim Sommerhaus an, nachdem wir den ganzen Tag gefahren waren. Heming, Asle und Ingvild auf der Rückbank, von der Monotonie mehr oder weniger paralysiert. Arne, der in den letzten Stunden begeistert gewesen war, wieder in der Landschaft zu sein, in der er aufgewachsen war, schaltete den Motor aus und drehte sich lächelnd zu den Kindern um.

»Acht Stunden und zwei Minuten«, sagte er. »Dreizehn Minuten schneller als letztes Jahr!«

»Das ist gut«, sagte Ingvild und erwiderte sein Lächeln.

Die Zwillinge verzogen keine Miene.

»Ihr tragt eure Sachen selbst ins Haus«, sagte Arne. »Macht es gleich, dann ist es erledigt. Ingvild, du nimmst die Katze?«

»Die Kindersicherung«, sagte Heming.

»Ja, ja, ich mache auf«, erwiderte Arne.

Ich begegnete Ingvilds Blick. Sie lächelte mich auf die gleiche Art an wie Arne. Hob die Transportbox mit der Katze vom Schoß, stellte sie neben sich und öffnete den Sicherheitsgurt, während die Jungen auf der anderen Seite zur Tür hinaus verschwanden.

Sie war zu lieb.

»Weißt du, du kannst es auch mal lassen«, sagte ich.

»Das weiß ich«, entgegnete sie und lächelte wieder, aber in ihren Augen zeigte sich ein Anflug von Dunkelheit. Sie hatte viel davon in sich.

War sie sich dessen bewusst?

Ich nahm die Zigaretten und das Feuerzeug aus dem Handschuhfach, zündete mir am Auto stehend eine an. Die anderen verschwanden Rucksäcke und Koffer tragend um die Ecke.

Es roch nach Meer. Und es rauschte von der Bucht her. Gleichmäßig und behutsam, als läge da unten jemand und schliefe.

Schhhh – schhh. Schhhh – schhh.

Der Himmel grauweiß. Der Rasen grauschwarz. Die Bäume und Sträucher schwarz.

Dann ging die Außenbeleuchtung an und färbte das Gras unnatürlich grün.

»Ich kann mir vorstellen, dass jetzt eine Zigarette gut wäre«, sagte Arne, der zurückkehrte, um weiteres Gepäck zu holen.

»Ja«, sagte ich. »Möchtest du eine?«

»Ha, ha«, erwiderte er und hievte sich einen prallvollen Rucksack auf den Rücken, nahm die Tüten mit den Lebensmitteln, die wir im Supermarkt unterhalb der Brücke gekauft hatten, in die Hände und verschwand erneut um die Ecke.

Die Nachbarn mit den Rottweilern waren da, in ihrem Haus hinter mir brannte Licht.

Jetzt, da die Betriebsferien begonnen hatten, waren sicher alle da.

Ich warf die Zigarettenkippe auf den Kies und trug einen Koffer hinein. Begegnete unterwegs Arne, der den Kopf mehrmals vor und zurück schob, wie er es manchmal tat, wenn er Musik hörte, die ihm wirklich gut gefiel.

»Tanzt du für mich?«, fragte ich.

Er beugte sich zu mir herab und küsste mich.

»Es tut gut, hier zu sein«, sagte er. »Findest du nicht auch?«

»Doch.«

»Ich mache uns eine Flasche Wein auf.«

»Haben wir denn welchen?

»Ja, klar. Hier stehen noch eine Menge Flaschen vom letzten Jahr. Wenn Egil sie nicht getrunken hat. Aber das bezweifle ich. Was wir trinken, ist ihm nicht gut genug!«

Im Haus gingen Heming und Asle von Zimmer zu Zimmer, ihr letzter Besuch lag gerade so lange zurück, dass dies ein bisschen spannend war. Ingvild war nirgendwo zu sehen, sie war mit der Katze bestimmt in ihrem Zimmer. Ich schleppte den Koffer zu unserem Schlafzimmer in der ersten Etage hinauf und ging anschließend in den Garten, zu der Kante, wo der steile Hang zur Bucht hinab begann. Zündete mir eine Zigarette an, versuchte mich in die Landschaft einzufühlen, mit ihr zu verschmelzen. Da zu sein.

Der Sommerabend. Das gräuliche Licht mit einem Hauch von Blau darin. Der Schein der Hauslampen darin.

»Wollen wir draußen sitzen?«, fragte Arne laut in der offenen Tür hinter mir stehend. »Ich kann die Gartenmöbel genauso gut gleich herausholen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, überquerte er den Hof und schloss die Tür zum Gästehaus auf, kam im nächsten Moment mit einem Stuhl in jeder Hand wieder heraus und stellte sie unter dem Apfelbaum auf den Rasen.

»Soll ich dir bei dem Tisch helfen?«

»Ach was. Aber könntest du den Wein und zwei Gläser holen?«

Ich hielt die Weinflasche zwischen den Knien und versuchte den widerspenstigen Korken herauszuziehen, als Asle in die Küche kam.

»Wir haben Hunger«, sagte er. »Gibt es bald was zu essen?«

»Was möchtest du denn haben?«

»Tacos.«

»Gute Idee«, sagte ich. »Die sind leicht zuzubereiten und gehen schnell.«

»Kann Papa sie machen?«

»Sicher«, sagte ich und konzentrierte mich von Neuem auf den Korken, der sich endlich löste und durch den Flaschenhals glitt.

»Ach übrigens, warum möchtest du, dass Papa sie macht?«, rief ich Asle hinterher, der auf dem Weg ins Wohnzimmer war.

Er drehte sich um und zuckte mit den Schultern.

»Dann ist das Hackfleisch saftiger.«

»So, so«, sagte ich, nahm die Gläser in die eine Hand, die Flasche in die andere und ging hinaus. Arne war nicht da. Ich setzte mich, zündete mir eine Zigarette an und sah, dass ich nur noch drei hatte.

Ich musste früh ins Bett gehen, dann war es kein Problem.

Hinter mir wurde die Tür zum Anbau geschlossen, und Arne kam mit einer Laterne, die an seiner Hand baumelte, über den Rasen.

»Leih mir mal dein Feuerzeug«, sagte er.

Das gelbe Licht glitt ins Grau hinaus und füllte es wie in einer Schale rund um die Lampe, als er sie auf den Tisch stellte. Er schenkte uns ein und hob mir zugewandt sein Glas.

»Prost, Tove.«

»Worauf trinken wir?«

»Auf uns. Auf den Sommer. Darauf, dass wir hier sind.«

»Prost.«

»Ach, komm schon«, sagte er. »Ein bisschen Enthusiasmus wirst du ja wohl noch aufbringen können.«

»Ich bin müde. Es war eine lange Fahrt.«

»Aber ich bin doch gefahren.«

»Das stimmt.«

Er seufzte, und es wurde still. Nur das Flüstern des Meeres war zu hören.

»Ich mag das Licht hier«, sagte ich nach einer Weile.

»Natürlich magst du es. Schließlich bist du Malerin.«

»Ich habe schon immer das Licht von Lampen gemocht, wenn es noch nicht stockdunkel ist. Mitten am Tag oder in der Dämmerung.«

»Wie gesagt, du bist Malerin.«

»Ich mochte es schon, noch bevor ich anfing zu malen. Ich erinnere mich, dass ich das schon gedacht habe, als ich klein war.«

»Das ist die Romantik. Oder auch die Neoromantik. Sie haben es geliebt, Sommernächte und Abenddämmerungen zu malen. Die Mystik, verstehst du. Oda Krohgs bekanntestes Bild ist das von einer Laterne in einer hellen Sommernacht. Oder Richard Berghs Nordischer Sommerabend. Das hört sich für mich nach der gleichen Faszination an.«

»Mag sein.«

»Nicht, dass du eine Romantikerin wärst.«

»Ach nein? Und was bin ich dann?«

»Du? Eine Neosymbolistin vielleicht? Eine Post-Mythologin?«

»Das ist der große Unterschied zwischen uns. Du kategorisierst. Ich entkategorisiere.«

»Das sagst du immer.«

»Nicht, dass etwas daran auszusetzen wäre zu kategorisieren.«

Er lächelte schwach, während er aufs Meer hinaussah.

»Jedenfalls bezahlen wir damit unsere Rechnungen«, sagte er.

»Papa?«, rief hinter uns einer der Jungen.

Es war Asle.

»Ja?«, sagte Arne.

»Kannst du uns jetzt bitte Tacos machen?«

»In zwei Minuten.«

»Wir haben echt Hunger.«

»Papa kommt gleich«, sagte ich. »Geh schon mal rein.«

Er tat, wie ihm geheißen. Arne füllte erneut sein Glas.

»Wollen wir nicht versuchen, dieses Jahr einen schönen Urlaub zu haben?«, sagte er.

»Doch.«

»Vielleicht können wir uns ja beide etwas Mühe geben.«

»Ja.«

Mitten in der Nacht erwachte ich aus einem Traum. Obwohl ich ganz still lag und mich konzentrierte, gelang es mir nicht, mich an ihn zu erinnern. Geblieben war allein die Stimmung. Unbehagen, Missmut. Und dass Mutter auf irgendeine Weise dort gewesen war.

Arne lag auf dem Rücken und schnarchte, wie er es immer tat, wenn er getrunken hatte.

Draußen war es fast vollständig hell.

Ich versuchte wieder einzuschlafen, obwohl ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde. Und war es nicht gerade diese Gewissheit, die es unmöglich machte?

Vermutlich.

Ich stand auf, ging in den Flur und zog Stiefel und Jacke an, wollte im Garten eine rauchen. Erst als ich mich an den Tisch setzte, fiel mir ein, dass mir die Zigaretten ausgegangen waren.

Still herumsitzen, ohne zu rauchen, ging nicht, dann würde ich an nichts anderes denken können. Also stand ich wieder auf und lief über den Rasen, folgte dem Pfad den langen Hang zur Bucht hinunter. Das Gras hoch und taunass zu beiden Seiten, das Meer blank und still, der Himmel graublau.

Wie viel Uhr mochte es sein?

Es spielte keine Rolle. Ich war kein bisschen müde, und ich hatte die ganze Welt für mich allein.

Drei schwarze Schnecken setzten sich scharf vom gelben Gras neben dem Weg ab. Ich ging neben ihnen in die Hocke. Sie waren so schwarz wie Autoreifen. Und mit den Rillen, die nebeneinander über ihren Hinterleib liefen, sahen sie auch ein wenig aus, als kämen sie aus einer Reifenfabrik.

Kleine schwankende Fühler. Ein langsamer, zäher Wille.

Ich strich mit der Kuppe des Zeigefingers über den Kopf der nächsten. Sie zog sich zusammen, mochte das nicht. Das Gegenteil von einem Schwanz, der sich zu seiner vollen Länge ausstreckte, wenn man ihn so streichelte.

Die Schnecken liebten Feuchtigkeit. Die Schnecken liebten Schleim. Stammten vom Feuchten auf dem Grund des Waldes ab.

Ich richtete mich auf. Sie waren mit Sicherheit nur ein paar Monate alt. Dennoch, als ich sie studierte, kam es mir vor, als wären sie uralt. Als stammten sie vom Grund der Zeit.

So war es mit allem. Alles, was wir sahen, war ungefähr so alt wie wir. Aber ihre Formen, ja, es waren ihre Formen, sie waren uralt.

Puh.

Ich kam zu den glatten, flachen Uferfelsen und blickte auf die spiegelblanke Meeresfläche hinaus. Ich wollte, dass die Gedanken sich öffneten, wie sich das Meer und der Himmel öffneten, dass sie nicht feucht und schleimig und schwarz und langsam waren.

Als Kind hatte ich Tiere mehr als alles andere geliebt, ohne Unterschiede zwischen ihnen zu machen, ich sammelte Schnecken und verwahrte sie in den Jackentaschen, und Käfer und Würmer und Spinnen, baute ihnen in Schuhkartons ein kleines Zuhause, gefüllt mit Erde und Gras und Blättern, unter meinem Bett, weil Mutter das hasste und hysterisch reagieren konnte, wenn sie die Tiere fand.

Dann wurde sie so wütend wie sonst immer nur, wenn sie die Böden geputzt hatte und ich mit schmutzigen Schuhen hereinkam. Sie muss geglaubt haben, dass ich es absichtlich machte, um sie zu provozieren. Und sie ließ sich provozieren. Du verdammtes, kleines Stück Scheiße, schrie sie etwa. Es lag ihr auch nicht fern, mir eine Ohrfeige zu verpassen. Und hinterher ihre heftige Reue, die ganze Frau völlig aufgelöst. Plötzlich gab es ein Übermaß an Küssen und Liebkosungen und Tätscheln und Umarmungen, und ich durfte dicht neben ihr schlafen, denn sie wollte mir all die Fürsorglichkeit schenken, die sie in sich barg. Und das war nicht wenig.

Schade nur, dass sie so ungleich verteilt war.

Warum dachte ich an sie?

Der Traum. Als ich schlief, stieg sie in mir auf wie eine Leiche vom Grund eines Waldsees.

Nicht dass ich erhört worden wäre. Schließlich lebte sie noch. Für mich jedoch nicht. Für mich war sie eine Leiche, die hochtrieb.

Ich lief zum äußeren Rand eines Felsens und ging in die Hocke. Das Wasser dümpelte nur ganz schwach, wie in einem riesigen Gefäß, das jemand vorsichtig trug, und der Tang glitt sachte vor und zurück, gelblich braun im Blanken, Schwarzen, Kalten.

Der Wald hinter mir war vollkommen still. Außer den behutsamen Bewegungen des Wassers rührte sich nichts.

Das musste die schönste Stunde von allen sein. Die Stunde vor Sonnenaufgang.

War es so einfach, dass ich Müll, Dreck, Mutterboden, Erde, Ameisen, alles, was krabbelte und kroch, mochte, und es für Mutter umgekehrt war und für sie alles klinisch rein und am liebsten desinfiziert sein musste?

Natürlich nicht.

Wenn man doch nur eine Zigarette hätte.

Ich umrundete die Landzunge und überquerte das kurze Geröllufer, kletterte auf den Felsen am anderen Ende hinauf und folgte ihm, während sich der Himmel im Osten zunächst rötete und nur Sekunden später von den ersten Strahlen der Sonne, die noch für kurze Zeit unsichtbar war, golden gefärbt wurde, ehe sie sich über den Rand der Welt wälzte und ihr Licht auf sie schleuderte.

Aurora.

Mit ihr war es das Gleiche: vier Milliarden Jahre jeden Morgen wieder genauso neu.

Ich lachte laut.

Vielleicht kann der Urlaub trotz allem ganz okay werden, dachte ich, als ich weiterging. Wenn sich das Wetter hielt, tat es gut, an diesem Ort zu sein. Nicht zuletzt den Kindern.

Fröhlich, aber nicht zu fröhlich.

Als der Fels sich zu einem neuen Geröllufer senkte, fiel mir ein, dass Egils Sommerhaus nicht weit entfernt lag. Luftlinie war es nicht mehr als zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Und Egil rauchte. Egil hatte Zigaretten!

Es war nicht unbedingt gesagt, dass er sich darüber freuen würde, um diese Uhrzeit geweckt zu werden. Aber war ich auf die Welt gekommen, um ihn zu erfreuen?

Nein, das war ich nicht.

Happiness is easy, sang ich.

Joy be written on the earth!

And the sky above.

Jesus, star that shines so bright

Gather us in love!

Erstaunlich, wie die Lieder so häufig als Kommentare zu etwas auftauchten, was ich dachte oder fühlte.

Dieses war eigentlich ironisch gemeint. Aber das verstand mein Unterbewusstsein offensichtlich nicht.

Die frische Meeresluft vermischte sich mit etwas Fauligem. Bestimmt Tang oder Seegras, das in einem Sturm an Land gespült worden war.

In dem Winter, als ich Arne kennenlernte, ergriff ich jedes Mal die Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen, nachdem er gerade dort gewesen war, um ihn zu riechen. Hätte ich ihm erzählt, dass ich das tat, wäre er entsetzt gewesen, hätte vielleicht sogar das Interesse an mir verloren.

Nein, das hätte er nicht. Aber er hätte kräftig die Nase gerümpft.

Ich wollte einfach alles an ihm kennen.

Der Himmel war jetzt vollkommen blau, und die Sonnenstrahlen strömten auf die Welt herab. Ein Fischkutter dümpelte vor einem kleinen Eiland, holte bestimmt ein Netz ein. Die Welt war voller Menschen, die wussten, was sie taten. Die es konnten. Sie mochten Leute nicht, die das nicht konnten. Was brachte es denn, ein Mensch zu sein, wenn man nichts konnte, dachten sie in ihrem verhärteten Gemüt. Aber die Hilflosigkeit konnte auch ein Freund sein. Nur wer nicht wusste, wie etwas sein sollte, konnte etwas erschaffen.

Möwen hingen in der Luft. Auch wenn ich in dem Wald hinter mir nichts anderes sah als Bäume, hatte ich das Gefühl, dass auch dort das Leben erwacht war.

Als ich erneut auf die Uferfelsen hinaustrat, zog ich die Stiefel aus und ging barfuß, in jeder Hand ein baumelnder Schuh. Egils Sommerhaus lag hinter der nächsten Bucht, kaum mehr als fünf Minuten entfernt.

Wann ging im Juli eigentlich die Sonne auf? Um vier? Um fünf?

Es kam mir eher vor wie fünf als vier.

In der Ferne sah ich sein rot gestrichenes Bootshaus. Spürte, dass ich mich freute, ihn wiederzusehen. Könnte mich in sein Schlafzimmer schleichen und ihm die Haare zerzausen. Das würde ihm einen gehörigen Schrecken einjagen!

Als ich auf der Terrasse vor seinem Haus stand, begnügte ich mich jedoch damit, an die breite Glastür zu klopfen, die außerdem abgeschlossen war.

Nichts geschah. Ich schirmte die Sonne mit den Händen ab und lugte hinein.

Es sah ziemlich unaufgeräumt bei ihm aus. Überall Bücher und Zeitungen. Hier und da auch Kleider.

Ich klopfte noch einmal an.

Eine Tür ging auf, und Egil tauchte mit verwuschelten Haaren und einem um die Taille geschlungenen Handtuch auf.

Er sah mich durch das Glas verwundert an, schloss auf und zog die Schiebetür zur Seite.

»Tove? Ist etwas passiert?«

»Mir sind die Zigaretten ausgegangen. Hast du welche?«

Er warf einen kurzen, musternden Blick auf mich, ehe er nickte. Es dauerte nicht mehr als eine oder zwei Sekunden, aber ich nahm es wahr.

Er überlegte, in welchem Zustand ich war.

»Sure«, sagte er. »Warte mal kurz.«

Er ging zum Tisch, kehrte mit einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug in der einen Hand zurück, während er die andere benutzte, um das dämliche Handtuch festzuhalten.

»Du bist ein guter Mensch«, sagte ich und zündete mir eine an. »Mein Retter in der Not.«

»Ich wusste nicht einmal, dass ihr hier seid. Wann seid ihr gekommen?«

»Gestern Abend.«

»Aha.«

»Ich konnte wie üblich nicht schlafen.«

»Das habe ich mir fast gedacht. Wenn du mich kurz entschuldigst, ziehe ich mich schnell an. Möchtest du einen Kaffee?«

»Wenn du einen hast!«

»Haben und haben«, murmelte er und verschwand im Schlafzimmer. Ich zog einen der Stühle ein wenig heraus und setzte mich, lehnte mich zurück und legte die Füße auf das Geländer.

Nicht eine Wolke am Himmel. Nicht ein Kräuseln auf der See.

Er kehrte in einer weiten Baumwollhose und einem weißen T-Shirt zurück, barfüßig wie ein Matrose, und stellte zwei Tassen auf den Tisch.

»Der Kaffee ist gleich fertig«, sagte er und ging wieder.

Er war nicht der gesprächige Typ, eher vorsichtig und verlegen, so dass ich mich fragte, wie das jetzt laufen würde.

Schöne Tassen. Hauchdünne Wände, blauweißes Blütenmuster. Erbgut des Reedersohns.

Er kam mit der Kaffeekanne in der einen Hand, blankgewetzt und an manchen Stellen rußgeschwärzt, und einem Metallrost in der anderen heraus.

»Weiß Arne, dass du hier bist?«, fragte er, als er uns eingegossen hatte, und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.

»Arne schläft.«

Er nickte und hob die Tasse zu den Lippen.

Er hielt mir die Zigarettenschachtel hin. Als ich mir noch eine genommen hatte, nahm er sich auch eine.

»Und, wie geht’s?«, sagte er. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Möchtest du die höfliche oder die ehrliche Antwort hören?«

Er lächelte.

»Ich glaube, die höfliche.«

»Dann geht es mir gut.«

»Schön zu hören!«

Er lachte leicht kichernd.

»Was ist mit dir?«, sagte ich und blies einen Rauchring in die Luft.

Die Magierin.

»Hier ist alles wie gehabt.«

»Dir wird es nicht langweilig? Ich meine im Winter, ohne eine Menschenseele?«

»Ich langweile mich nie. Tust du das?«

»Manchmal. Wenn ich nicht arbeiten darf.«

Er nickte und trank einen Schluck Kaffee. Hatte die Beine übereinandergeschlagen. Die Hose war so kurz, dass fast der ganze Unterschenkel nackt war. Er war so gut wie unbehaart, nur etwas Flaum, der im Sonnenlicht glänzte. Hieß das, er hatte wenig Testosteron?

Kein Schatten auf den Wangen, obwohl er sich nicht rasiert haben konnte.

»Und woran arbeitest du im Moment?«

Ich zuckte mit den Schultern, schaute aufs Meer hinaus. Die Sonne brannte schon auf Schultern und Hinterkopf.

»Ich habe den ganzen Winter und das Frühjahr über gezeichnet.«

Er ging darauf mit keiner weiteren Frage ein, wie ich es eigentlich erwartet hatte.

Ich hatte angenommen, er wäre der interessierte und neugierige Typ.

Aber er war auch vorsichtig. Ja, behutsam wie ein Tier war er.

Warum eigentlich?

»Willst du mich nicht fragen, was ich gezeichnet habe?«, sagte ich und aschte auf den Boden.

»Was hast du gezeichnet?«

War das ironisch gemeint? Dann hatte ich keine Lust, dort zu sitzen.

Ich drückte die Kippe im Aschenbecher aus.

»Ja, ich muss heim, bevor sie da drüben aufwachen. Danke für die Zigaretten.«

»Nimm dir eine Schachtel mit«, sagte er und erhob sich.

»Geht das?«

»Ja, sicher, ich habe zwei Kartons voll.«

Als ich zurückkam, war es kurz nach sechs. Es war ganz still im Haus. Auch in den Nachbarhäusern herrschte Stille. Keine Autos, keine Boote, nur die Möwen in der Bucht und ein Eichhörnchen, das eine Zeitlang in der Ecke des Gartens hierhin und dorthin huschte, ehe es einen Baum hinauf verschwand.

Wenn ich so früh auf den Beinen war, konnte ich nicht begreifen, dass es möglich war, bis neun, oder noch schlimmer, bis elf oder zwölf zu schlafen, wie Ingvild es manchmal tat.

Ein Meer aus Zeit lag unberührt vor mir. Ich konnte es genauso gut für etwas Sinnvolles nutzen.

Ich ging ins Gästehaus und schaute mich um. So gute Gerüche darin. Terpentin und Ölfarben, schwach, weil es seit einer Ewigkeit nicht mehr genutzt worden war. Ein Dunst von etwas Rohem und Feuchtem, bestimmt aus den Wänden kommend. Und dann das Holz, der Boden und die Decke, etwas Trockenes und Staubiges.

Alles lag so offen in dem Sonnenlicht, das zu den Fenstern herein und auf die Bodendielen strömte, auf den Tisch mit all den Pinseln und Dosen und Paletten, und zu allen Bildern, die mit dem Rücken zum Raum an die gegenüberliegende Wand gelehnt standen.

Was sollte ich tun?

Woran ich im Winter und Frühling gearbeitet hatte, und wonach Egil mich nicht gefragt hatte, waren Zeichnungen zu Märchen gewesen. Ich war mit den alten Zeichnungen von Werenskiold, Gude, Peterssen und Kittelsen und der ganzen Bande aufgewachsen. Ich liebte sie, ich hatte so häufig Fantasien rund um diese Bilder entwickelt, sie waren ein ebenso wichtiger Teil meiner Kindheit wie das Haus, in dem ich aufwuchs. Aber es waren Illustrationen. Oberflächen. Sie hatten nichts von der Sinnfülle der Märchen. Vom Grotesken und Wilden. Und darin wollte ich mich vertiefen. Der Bergmann, der dem Mädchen den Kopf abdrehte und ihn zusammen mit ihrem Körper in den Keller wirft. Die Alte, die mit dem Troll schläft und versucht, ihn davon zu überzeugen, ihren Sohn umzubringen, damit sie allein sein und öfter vögeln können. Das Mädchen, das von den drei gigantischen Köpfen im Wasser verwandelt wird, so dass aus ihrem Mund Asche fällt, wenn sie spricht. Tiere und Menschen, die ineinandergleiten. Wölfe, die Kinder fressen. Das Blut und die Körper. Die Vergewaltigungen und Morde. Die Verstümmelungen, die Not, die Gelage, das geheime Zimmer, das keiner betreten darf, immer das dritte oder siebte.

Das waren die heiligen Zahlen. Das Heilige war mit anderen Worten eine Versuchung, vor der gewarnt wurde. Bloß nicht diese Tür öffnen! Meinten sie, dass das Heilige eine Gefahr war?

In den Märchen ging es um alles, was sich unter der Oberfläche einer Kultur bewegte. Worüber keiner sprach oder woran keiner dachte, nur wahrnahm, gestalteten sie um zu Geschöpfen und Geschichten.

Wie ließ sich das zeichnen?

Ich wollte, dass die Zeichnungen rochen, stanken, flossen, bluteten, sich drehten und wendeten. Aber ich bekam es nicht hin. Ich sagte mir, dass es die Schuld der Zeichnung war. Also der Form. Die Striche rahmten etwas ein, schlossen es, und daraufhin wurde alles kontrolliert und rational. Aber das waren nur Ausflüchte. Was hatte Goya nicht alles mit seinen Zeichnungen zu gestalten vermocht?

Ich hatte Arne einige von ihnen gezeigt, ich fand, dass ich ihm das schuldete.

»Die sind gut, die da«, hatte er gemeint und sie weggelegt.

»Ist das alles, was du zu sagen hast?

»Was soll ich denn sonst sagen, über die da.«

»Warum nennst du sie die ganze Zeit ›die da‹?«

»Das ist nur eine Art, mich auf deine Zeichnungen zu beziehen. Ich kann doch nicht die ganze Zeit ›deine Zeichnungen‹ sagen!«

Später an dem Tag kam mehr.

»Warum ist das, womit du dich beschäftigst, eigentlich so sexualisiert? Siehst du so die Welt?«

»Ist es jetzt zu dem geworden, ›womit ich mich beschäftige‹?«

»Also schön, deine Zeichnungen. Warum sind sie alle so sexualisiert?«

»Ich weiß es nicht. Das hat sich einfach so ergeben.«

Er fürchtete sich vor der Sexualität, mein Mann. Das würde er niemals zugeben, er verstand es nicht, und ich ließ es gut sein.

Die Energie in den Märchen ist eine rein sexuelle Energie. Daraus speisen sie sich. Diese Kraft formt die Geschichten. Und so ist es auch überall sonst. Der Hunger der Körper nach anderen Köpern ist gewaltig. Aber wir tun so, als wäre es nicht so. Wenn nicht, würde ja alles in Stücke gerissen.

Also ja, meine Zeichnungen waren sexualisiert.

Aber nicht genug.

Es gefiel mir, dass die Möse mancherorts auch »Maus« genannt wurde. Das traf es, manchmal sah es so aus, als läge eine Maus zwischen den Beinen. Außerdem musste das uralt sein, etwas, das man seit Tausenden von Jahren sagte. Und so verwandelte sich die Möse in ein Tier.

Deshalb hatte ich eine Maus zwischen gespreizten Frauenbeinen gezeichnet und zwei weitere, die davor herumkrabbelten.

Das Bild sah aus wie ein Witz. Wie eine dieser lustigen Zeichnungen in The New Yorker.

Ich hatte einen Wolf mit hängender Zunge zwischen zwei Beinen gezeichnet.

Das war besser, aber nicht viel, denn es illustrierte etwas, war nicht das Ding an sich, und es entstand nichts anderes aus dem Bild als das Bild, die Verknüpfung Mädchen/Wolf.

Ich hatte sämtliche Zeichnungen zu Hause gelassen. Hier war ohnehin nicht der richtige Ort, um an ihnen weiterzuarbeiten.

Ich legte mich auf die Couch, rauchte und sah zur Decke.

Was in der Tiefe war, wurde oft so platt, wenn es an die Oberfläche gelangte. Die Bedeutung kam abhanden, wenn die Symbole dafür zu offensichtlich waren.

Hätte ich Farben benutzt, hätte das mein Problem gelöst. Farben sind tief, Farben sind bodenlos. Farben gleiten ineinander. Bluten.

Aber ich wollte keine Farben benutzen. Der springende Punkt daran, die Märchen zu machen, war die Lust, die von den alten Zeichnungen geweckt wurde. Die von Munthe, zum Beispiel, mit ihrem altnordischen Touch.

Ich stand auf und ging zu dem Regal mit Kunstbüchern und Bildern, die ich ausgeschnitten hatte. Zog eins über Gustave Moreaus Aquarelle zu Fontaines Fabeln heraus. Die meisten Bilder waren reine Illustrationen, aber zwei von ihnen schlugen in etwas anderes über, und ich setzte mich und betrachtete sie. Das erste zeigte einen Affen, der auf einem Delfin ritt. Sein Mund stand offen, und er schrie oder rief. Eine rosa Zunge in der dunklen Mundhöhle, zwei Zahnreihen, die das Licht einfingen. Es sah menschlich aus, so als riefe ein Mensch. Aber die Augen. Das war der Clou. Die Augen waren verschlossen. Sie waren völlig naturgetreu gemalt und hätten auch Menschenaugen sein können. Aber sie waren verschlossen. Die Augen des Tiers, der Schrei des Menschen.

Ich blätterte zu dem anderen Bild, an das ich mich erinnerte.

Es war irre. Ein Schlangenkopf mit entblößten Giftzähnen und aus dem Maul tropfendem Blut im Vordergrund. Dann fallende Farben, dunkle, braune, gelbe, rostrote. Zu einem See hinab. Und aus diesem heraus, am Bildrand, nackte, verdrehte Menschenleiber in Not.

In Fontaines Fabel hatte sich der Schwanz der Schlange darüber beschwert, dass er niemals anführen durfte. Immer bestimmte der Kopf. Warum konnten sie nicht gleich behandelt werden? Gleichwertig sein? Also ließen die Götter den Schwanz bestimmen. Und er kroch los, geradewegs in den Höllenfluss Styx. Er konnte ja nichts sehen, der Schwanz.

Die Schlange hatte etwas Ähnliches in den Augen wie der Affe, nur wilder.

Draußen bewegte sich etwas. Ich drehte mich um und sah aus dem Fenster. Arne. Er war mit einer Tasse in der Hand auf dem Weg über den Rasen.

Ich legte das Buch weg und ging ihm entgegen.

»Hattest du nicht gesagt, dass du im Urlaub nicht arbeiten willst?«, sagte er. Trank einen Schluck Kaffee und blickte in die Ferne.

»Ich habe nicht gearbeitet. Nur in ein paar Büchern geblättert.«

»Konntest du nicht schlafen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hast du deine Tabletten genommen?«

»Natürlich«, antwortete ich, obwohl ich das nicht getan hatte.

»Du weißt, wie wichtig es für dich ist zu schlafen.«

Ich wurde wütend, wollte mich aber nicht streiten.

»An einem neuen Ort schlafe ich immer ein bisschen schlecht«, sagte ich. »Das ist alles.«

»Wollen wir es hoffen«, erwiderte er. »In der Küche steht Kaffee, wenn du einen möchtest.«

Am Vormittag fuhren wir zum Leuchtturm hinaus. Er war alt und stand an der Mündung des Fjords. Ingvild wollte nicht mitkommen, aber Arne bestand darauf, deshalb saß sie neben mir auf der Ducht in der Mitte des Boots, als wir hinausglitten, während die Zwillinge im Bug knieten und Arne hinten saß und steuerte.

Sie war nicht sauer, aber auch nicht fröhlich. Neutral traf es wohl. Sie muss es ertragen, dachte sie sicher.

Es war etwas, was auch ich dachte.

Es war verrückt, so zu denken. Ich war auf einer Bootstour mit meinen Kindern und meinem Mann.

Meiner feinen, kleinen Familie.

Sie war so anders als ich. Fast wie ein anderes Wesen. Sanftmütig und tolerant. Tat, was sie daheim und in der Schule tun sollte, meistens sogar mehr als das. Sie litt am Tüchtigen-Mädchen-Syndrom. Für ihre Freundinnen galt das Gleiche.

Aber ich hatte sie sehr gern. Sie hätte meine vernünftige Freundin sein können.

Ich strich ihr über den Arm und lächelte sie an. Sie erwiderte mein Lächeln, ihre Haare tanzten im Wind.

»Woran denkst du?«, fragte ich.

Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»An nichts.«

»An nichts Wichtiges, oder an nichts?«

»An nichts Wichtiges.«

»Und was ist nicht wichtig?«

»Mama.«

»Ich frage mich nur, was in meinem hübschen Mädchen vorgeht.«

Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute zum Land. Strich das Haar fort, es wurde gleich wieder in ihre Stirn geweht.

Arne zog die Ruderpinne erst ganz zur einen und danach zur anderen Seite. Heming und Asle lachten. Arne grinste, strich sich mit der Hand durchs Haar, das von Wassertropfen nass war.

Die Tabletten schwemmten mich auf. Und ich wollte nicht aufgeschwemmt sein. Es kam darauf an, aufmerksam zu sein. Die Anzeichen nicht zu ignorieren, wenn sie sich zeigten.

Mit ihnen zusammen fühlte ich mich außerdem sicher. Was mich krank machte, war all das andere.

Was war es?

Es hatte lange vor ihnen existiert. Es war etwas in mir. Nichts da draußen. Aber es veränderte das da draußen.

Nein. So war es nicht.

Etwas in mir öffnete sich für etwas da draußen. Zog es herein. Zunächst vorsichtig, dann immer gieriger. Und das veränderte mich.

Dass ich mich veränderte, trennte mich von anderen. Zum Beispiel von Arne. Er stand mit beiden Beinen in dem, was er war. Konnte wegen etwas traurig sein, konnte sich über etwas freuen, konnte eifrig sein und sich begeistern, aber nichts davon veränderte ihn, er stand stabil. Er war Arne.

Der Mensch war nicht dafür gedacht, sich zu verwandeln.

Der Affe und der Delfin hatten fast ausgesehen wie biologische Maschinen.

Neben mir zog Ingvild eine Kordel vom Handgelenk, steckte sie in den Mund und sammelte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz, nahm wieder die Kordel und schlang sie mehrmals um das Haarbüschel.

Irgendetwas war komisch am Meer.

Wir waren nicht die Einzigen, die auf See waren. Der Sund zwischen der Insel und den kleineren Felseilanden war voller kleiner Boote, und an den Inselchen lagen Spitzgatt-Ruderboote und Jollen vertäut. Dicht an dicht waren Handtücher und Liegen auf den Uferfelsen platziert. Leute, die hineinsprangen und im dunkelblauen Wasser schwammen.

Wir näherten uns dem Leuchtturm. Arne fuhr langsamer und blinzelte in die Sonne. Er gefiel sich in der Rolle als Vater und Kapitän, als der Mann, der wusste, wie die Dinge gemacht werden sollten.

»Gibst du mir den Draggen, Ingvild?«, sagte er. Und lauter: »Nehmt ihr da vorn die Leine an?«

Er stellte den Motor auf Schubumkehr, richtete sich auf und nahm den Draggen an. Er glich einem zusammengefalteten Tintenfisch. Er warf ihn ins Wasser, wo er abwärts schoss, während das Tau hinauslief.

Asle und Heming standen an Land, und jeder der beiden hielt sein Teil des Taus. Blonde Köpfe, bronzebraune Jungenkörper, leuchtend weiße Zähne.

Als sie noch ganz klein gewesen waren und in ihrem Doppelkinderwagen lagen, war an der Bushaltestelle ein älterer Mann auf mich zugekommen und hatte gemeint, er habe auch Zwillinge gehabt. Sie seien mittlerweile erwachsen. Ich gebe Ihnen einen Rat, sagte er. Wenn sie in die Schule kommen, müssen Sie die beiden trennen. Sie müssen in verschiedene Klassen gehen. Wenn nicht, wird der schwächere Zwilling dem stärkeren folgen, und Sie werden es niemals schaffen, die beiden zu trennen. Sie werden niemals zwischen sie treten können.

Nachdem er das gesagt hatte, war er gegangen. Ich hatte ihn nie wieder gesehen.

Als ich Arne davon erzählte, lachten wir über seine Worte. Das mit dem stärkeren und dem schwächeren Zwilling erschien uns so unfassbar altmodisch, wie etwas aus einer primitiveren Zeit als unserer. Es kam einem fast so vor, als hätte er über Tiere gesprochen.

Dennoch war es mir niemals gelungen, den Gedanken abzuschütteln, er war immer da. Wer war der starke, wer war der schwache? Wenn die Frage auftauchte, schob ich die Antwort jedes Mal weg.

Sie gingen in dieselbe Klasse, und sie waren unzertrennlich. Es brachte nichts, mit dem einen etwas ohne den anderen zu machen, oder mit dem einen zu reden, ohne dass der andere entweder da war oder unmittelbar danach alles erfuhr, was gesagt worden war.

Aber war das schlimm?

Nein, das war nicht schlimm. Es war natürlich, so lebten sie. So war es, ein Zwilling zu sein.

»Geht ihr an Land?«, fragte Arne.

Das Meerwasser hatte die Uferfelsen glattgeschliffen, und ich hielt mich an der schaukelnden Reling fest, als ich ausstieg. Sicher fühlte ich mich erst, als ich ein paar Meter weiter auf dem trockenen Felsen stand.

Arne reichte unsere Sachen an Ingvild weiter, und dann gingen wir den Anstieg hinauf, wollten uns auf der anderen Seite nach einer Stelle umsehen, wo wir liegen konnten. Der Leuchtturm erhob sich vor uns, ragte zum Himmel empor. Weißgestrichen mit einer roten Bauchbinde. Obwohl er außer Betrieb war, wirkte er nicht sonderlich verfallen. Offenbar kümmerte sich jemand um ihn.

Arne ging voraus, leichtfüßig wie ein Kind. Er legte die Hand auf Hemings Rücken, der zu ihm hochsah. Und schwupps schob sich Asle daneben. Wollte auch getätschelt werden.

Die Felseninsel war recht klein, nach zwei, drei Minuten gelangten wir auf die andere Seite hinunter. Dort war es ziemlich voll, aber die Jungen fanden eine freie Stelle auf einem flachen Felsen, und wir legten unsere Handtücher aus. Das Meer war hier, so weit draußen, unruhiger. Nicht viel, es konnte keine Rede von großen Wellen sein, aber das Wasser presste sich gegen die Felsen, zog sich gurgelnd zurück, offenbarte kleine Spalten, war voller Schaum und Wirbel, und mehrfach sandte es ein schwaches Dröhnen nach oben.

Arne und die Jungen zogen ihre Badehosen an. Ingvild und ich blieben sitzen.

»Willst du nicht schwimmen?«, fragte ich.

»Später vielleicht.«

»Möchtest du etwas? Chips oder Cola oder einen Apfel?«

»Nein, danke.«

Arne ging auf eine mannshohe Felskuppe hinaus, streckte die Hände aus und sprang hinein. Heming und Asle sahen ihm bewundernd zu, ehe sie zum Wasser hinunterkletterten und hineinglitten.

»Herrlich!«, rief Arne, oder Arnes Kopf, der das Einzige war, was ich von ihm sah. Nachdem sie da unten eine Weile geschwommen waren, kamen sie zu uns und setzten sich prustend und tropfend. Arne holte die Schachtel Kekse und für jeden eine Limonade heraus.

»Es ist wirklich nicht kalt«, sagte er zu mir. »Du hast doch deinen Badeanzug dabei?«

Ich nickte und lächelte.

Die Jungen knabberten Kekse, Ingvild lag auf dem Rücken, die Augen wegen der Sonne geschlossen.

»Wollen wir die Insel erforschen, Jungs?«, sagte Arne. Stand auf und sah mich an. »Kommst du mit?«

»Ich glaube, ich bleibe hier und sonne mich.«

»Okay.«

Als sie gegangen waren, legte ich mich zurück, rollte ein Handtuch zusammen und schob es mir unter den Kopf, breitete ein anderes als Schutz vor der Sonne über mich, schloss die Augen und lauschte allen Geräuschen. Das war meine Art einzuschlafen, und schlafen wollte ich, denn die Müdigkeit hatte begonnen, an mir zu zerren.

Ich wurde davon wach, dass ich fror. Es war niemand da, und ich schaute mich um. Alle vier waren im Wasser. Wind war aufgekommen. Es war die Brise vom Land her. Anscheinend hatte ich mehrere Stunden geschlafen.

Warum hatten sie mich nicht geweckt?

Ich suchte in den Tüten nach den Keksen, mein Blutzucker war niedrig, es war, als schrie mein Körper. Die Kekse hatten sie offenbar gegessen, aber in einer der Tüten gab es noch Chips.

Arne winkte und rief etwas.

Ich stopfte mir Chips in den Mund, ehe ich aufstand und zu ihnen hinunterging.

»Letzte Chance!«, rief er.

»Ich friere ein bisschen«, sagte ich.

»Was?«

»Friere ein bisschen!«

»Okay.«

Das Wasser war dunkelblau und sah kalt aus. Unfassbar, dass dort unten Geschöpfe leben konnten. Aber meine Leute schienen sich wohlzufühlen. Asle und Heming hatten Tauchermasken aufgesetzt und schwammen mit den Köpfen unter Wasser, nur der Schnorchel ragte heraus. Ingvild lag still und trieb auf dem Rücken, während Arne hinausschwamm.

Er schrieb seit vielen Jahren an einem Roman. Er hatte ihn mir nie gezeigt. Das Manuskript war auf seinem PC gespeichert und mit einem Passwort gesichert. Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um es zu knacken. Die Namen der Kinder oder meinen würde er nicht nehmen, da war ich mir sicher. Natürlich auch nicht seinen eigenen oder die seiner Eltern. Aber vielleicht den seines Idols Bowie? Das Problem war, dass das Passwort auch Zahlen enthalten musste. Nach ein paar Versuchen hatte ich es gefunden, es war der Todestag. Bowie10012016.

Der Roman begann mit zwei Brüdern, die im Dunkeln in einen Fjord sprangen. Das war wohl der Grund dafür, dass ich gerade jetzt an ihn denken musste.

Arne glaubte, in dem Manuskript sei die Wahrheit über ihn zu finden. Darum zeigte er ihn niemandem und wurde niemals fertig.

Aber das Gegenteil traf zu. In seinem Manuskript war nichts von ihm. Das machte es zu einem schlechten Buch. Aber es machte ihn nicht zu einem schlechten Menschen.

Im Gegenteil.

Er hatte nie begriffen, dass ich mich in ihn verliebt hatte, gerade weil er ein ganz durchschnittlicher Typ war. Er hätte das beleidigend gefunden. Aber ich liebte das Durchschnittliche. Arne war von allem etwas. Ein wenig eitel, ein wenig kleinlich, ein wenig amüsant, ein wenig fürsorglich, ein wenig liebevoll, ein wenig ehrgeizig. Ein wenig Handyman, ein wenig unbeholfen. Ein wenig Alkoholiker, ein wenig volksnah, ein wenig intellektuell. Ein wenig Sohn, ein wenig Ehemann.

Zusammen genommen wurde all das Unkomplizierte kompliziert. Aber nicht extrem. Ich hasste das Extreme, hasste es wirklich.

Das heißt, im Leben. Nicht in der Kunst.

Unter mir war Ingvild auf dem Weg aus dem Wasser. Eine Welle hob sie an, und sie griff nach einer Felskuppe und wollte sich gerade aufrichten, als sie abrutschte und das Wasser sich gleichzeitig zurückzog. Das sah nicht gut aus, aber sie schien in Ordnung zu sein, glitt erneut hinaus, machte ein paar Schwimmzüge zur Seite und fand eine Stelle, an der man leichter aus dem Wasser kam.

Kurz darauf stand sie vor mir und bückte sich nach einem Handtuch. Blut rann in dünnen, hellroten Striemen an ihrem Oberschenkel hinab.

»Hast du dir wehgetan?«

Sie schüttelte den Kopf, begrub ihn in dem Handtuch und begann sich die Haare abzutrocknen.

»Aber du hast dir da ganz schön was aufgeschürft?«

»Was?«

»Da, am Oberschenkel.«

Sie sah an sich hinunter.

»Oh. Das habe ich gar nicht gemerkt.«

Sie wischte das Blut mit dem Handtuch ab.

»Es ist nur eine Schürfwunde.«

Weiter draußen setzte ein Segelboot zurück. Eine vierköpfige Familie war auf dem Weg auf die andere Seite. Mittlerweile schäumten die Wellen, wenn sie an Land schlugen. Ich ging zu Asle und Heming hinunter und sagte ihnen, sie müssten jetzt herauskommen.

»Wir gehen raus, wenn Papa rausgeht«, erklärte Heming.

Arne war etwa hundert Meter weiter draußen. Ich winkte ihm zu, aber er sah mich nicht.

»Könnt ihr nicht jetzt herauskommen?«, sagte ich. »Ihr seid doch schon total lange im Wasser gewesen.«

»Wenn Papa kommt«, antwortete Asle.

»Okay«, sagte ich und kehrte zu Ingvild zurück, die Rock und Bluse angezogen hatte und mit einem Handtuch auf dem Oberschenkel dasaß.

»Was macht dein Vater so weit draußen?«, sagte ich.

»Er spielt für dich den starken Mann«, sagte sie und lächelte, während sie ihre Haare erneut im Nacken sammelte und, den Blick zum Himmel gerichtet, das Haarband darum schlang.

Auf halber Strecke zwischen der Schäre und der großen Insel, auf der wir wohnten, schaltete Arne den Motor ab und suchte das Angelzeug heraus. Das Boot begann in den Wellen zu schaukeln. Er hätte mich ruhig vorher fragen können, aber das hatte er nicht getan. Jetzt sollte gefischt werden.

»Sollen wir mit dem Schleppnetz fischen oder mit Pilkern?«, sagte Asle.

»Ich würde gern ein paar Makrelen fangen«, antwortete Arne. »Wollen wir nicht auf dem Heimweg mit dem Schleppnetz fischen?«

Er sah mich an.

»Es dauert nicht viel länger.«

»In Ordnung«, sagte ich.

»Wir müssen uns ein bisschen verteilen«, sagte Arne. »Damit wir uns nicht ineinander verheddern.«

Er suchte für jeden eine Blinkerangel heraus. Ingvild wollte keine. Ich legte meine auf den Boden zwischen meinen Füßen.

»Was macht deine Wunde?«, sagte ich. »Blutet sie noch?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Tut es weh?

»Es brennt ein bisschen.«

»Du Arme.«

»Mama, es ist eine Schürfwunde!«

Die Jungen wickelten das Lot und die Haken von der Angel und ließen sie ins Wasser gleiten. Ihre Bewegungen waren fast völlig synchron.

Arne ließ den Motor an, und wir fuhren langsam in Richtung Land.

»Angebissen!«, rief Heming nur ein paar Minuten später und begann die Schnur einzuholen.

»Ganz ruhig«, sagte Arne.

»Angebissen!«, rief Asle. Auch er holte die Schnur ein, so schnell er konnte.

»Vorsichtig mit dem Vorfach«, sagte Arne. »Passt auf, dass sich die Schnur nicht verheddert.«

Er warf mir einen Blick zu und schüttelte gespielt resigniert den Kopf. »Mein Gott, unsere Jungs.«

»Ich glaube, da sind noch mehr!«, rief Heming.

»Hier auch«, sagte Asle.

Ich legte die Hände um meine Oberarme und rieb ein paar Mal auf und ab, schaute zur Insel hinüber, der grüne Wald, umrahmt von gelbbraunen Uferfelsen. Das dunkle Blau des Meeres. Drehte mich um und sah zum Horizont. So viel Wasser. Einfach unglaublich. Wie tief mochte es hier sein? Direkt unter uns sicher fünfzig Meter. Wenn nicht hundert.

In der Küche war ein Liter Wasser viel. Hier war das nichts.

Ich hatte nicht wirklich Angst, war aber auch nicht weit davon entfernt.

Weißt du, was sie wirklich über dich denkt? Deine Familie?

Oh nein, nein.

Arne stand auf und stieg vorgebeugt über die Ducht, auf der Ingvild und ich saßen.

»Was habt ihr gefangen?«

»Weiß ich noch nicht«, antwortete Heming, über den sich Arne beugte.

»Da!«, sagte er.

»Ja!«, sagte Heming. »Es sind drei!«

Mein Herz schlug und schlug. Ich lehnte den Kopf vor und stützte die Stirn in die Hände.

Wenn es doch nur dabei blieb.

Arne hofft, dass du krank wirst, damit er dich ein paar Monate loswird.

Ich beachte dich gar nicht.

Ich denke schon, dass du das tust.

Ich höre überhaupt nicht hin. Sag, was du willst. Ich höre dir nicht zu.

Lachen.

Heming zog den ersten Fisch über die Reling. Er hing reglos und glänzend im Sonnenlicht, fiel klatschend auf die Ducht und begann mit dem Schwanz zu schlagen.

Die Zwillinge freuen sich auch, wenn du nicht da bist.

»Alles in Ordnung, Mama?«, sagte Ingvild. »Bist du seekrank?«

Ich richtete mich auf und lächelte sie an.

Jetzt war es Asle, der einen Fisch über die Reling einholte. Arne ging in die Hocke, löste Hemings ersten Fisch vom Haken und schlug den Kopf des Fischs mehrmals hart gegen die Reling. Das Geräusch war dumpf und schmatzend. Er legte ihn in den Eimer und machte mit dem nächsten weiter. Das Boot schaukelte steuerlos in den Wellen. Auf dem Weg zum Land fegte der Wind an uns vorbei.

»Ich bin okay«, sagte ich. »Nur ein bisschen müde. Ich habe diese Nacht schlecht geschlafen.«

»Aber du musst schlafen«, sagte sie. »Das ist wichtig für dich.«

»Das weiß ich. Aber das geht bei mir nicht auf Kommando. Außerdem ist es immer schwierig, an einem neuen Ort zu schlafen.«

Sie nickte und sah mich dabei an. Jetzt prüfender, bildete ich mir ein.

»Bist du sicher, dass du okay bist?«

»Ja, klar. Denk nicht an mich.«

Neues Lachen.

Vergiss nicht, dass du mir nichts verheimlichen kannst.

Verschwinde.

Das werde ich. Aber ich komme wieder.

Fünf Fische lagen jetzt im Eimer. Blau und schwarz schimmernde Rücken, weiße Bäuche.

»Gut gemacht, Jungs«, sagte Arne. »Ich denke, das sollte fürs Erste reichen.«

»Nein, wir haben doch gerade erst angefangen!«, sagte Heming.

»Allein eure Angeln in Ordnung zu bringen, wird zehn Minuten dauern«, sagte Arne. »Und mehr Fische brauchen wir nicht. Wir können ja morgen wieder fischen gehen.«

»Okay«, sagte Heming.

»Bringt ihr unterwegs eure Schnüre in Ordnung?«, sagte Arne.

Sie nickten beide ernst.

Als wir zum Haus kamen, lag die Katze auf der Türschwelle im Sonnenschein. Sie war prall, konnte jeden Tag werfen, bewegte sich ungern mehr als nötig.

Ingvild ging in die Hocke und zerzauste ihr Fell.

»Es ist kaum noch Katzenfutter da«, sagte sie. »Geht ihr heute einkaufen?«

»Wir haben doch Fisch.«

»Stimmt ja«, sagte sie. »Möchtest du Fisch haben? Fisch für die Miezekatze. Das ist gut für dich.«

Ich stellte die Kühltasche auf die Arbeitsplatte in der Küche, ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne einlaufen, denn nach dem Ausflug war mir immer noch kalt. Ich hörte die Stimmen von Arne und den Jungen den Hang heraufkommen.

Warum schaffte ich es nicht, wirklich bei ihnen zu sein, wenn wir zusammen waren?

Ich zog mich aus und legte mich in die Badewanne, obwohl der Boden nur knapp mit Wasser bedeckt war. Formte die Hände zu Schalen und goss Wasser über meine Schenkel und den Bauch. Ließ die Knie zur Seite gleiten, so dass mein Geschlecht in der blanken Scheibe um den Hahn sichtbar wurde.

Das war ein Motiv.

Frau im Bad.

Aber kein gutes Motiv.

Da hast du recht.

Die Möse ist für sich genommen nichts.

Der Meinung bin ich auch.

Das bist du mit Sicherheit nicht. Aber du denkst, du wirst mich los, wenn du alles bestätigst, was ich sage. Weil du glaubst, dass ich eigentlich du bin, ein Teil von dir bin. Ist es nicht so?

Stimmt genau.

Da irrst du dich aber. Ich bin nicht du. Nicht einmal ein Teil von dir.

Also nicht. Wer bist du dann?

Ich habe dir keinen Namen zu geben.

Ich schloss die Augen und ließ mich ins Wasser gleiten, das jetzt hoch genug stand, um meinen Kopf vollständig zu bedecken.

Blubb, blubb.

Ich setzte mich auf, strich die Haare zurück, drehte das laufende Wasser ab.

Was willst du von mir?

Ich griff nach der Seife auf dem Wannenrand und begann mich zu waschen, während ich auf Neues wartete. Aber es kam nichts mehr.

Hallo?

Nichts.

Ich lehnte den Kopf auf den Rand, schloss die Augen und versuchte das Gefühl des warmen Wassers auf meinem Körper zu genießen. Eins zu sein mit ihm. Nicht zu denken. Die Stimme gehörte zu den Gedanken. Nicht einmal an das Gefühl des warmen Wassers auf meiner Haut zu denken. Es nur zu fühlen.

Zu treiben.

Einfach nur zu sein.

Alles war dunkel und warm. Ich war dunkel und warm. Das war jetzt ich.

Etwas Feuchtes und Sämiges rann auf meine Lippen. Ich strich mit dem Finger darüber und hielt ihn hoch. Blut.

Hatte ich etwa Nasenbluten?

Das hatte ich nicht mehr erlebt, seit ich ein kleines Mädchen war.

Wie verhielt man sich?

Ich schob mich in der Wanne etwas höher und legte den Kopf nach hinten, so weit ich konnte über den Rand hinaus. Spürte, wie das Feuchte meine Nasenlöcher verstopfte.

Bah.

Aber es lief nicht mehr. Ich wusch das Blut ab, das schleierartig im ansonsten klaren Wasser trieb, stopfte in jedes Nasenloch einen kleinen Fetzen Toilettenpapier, trocknete mich ab, schlang ein Handtuch um meinen Körper und ging ins Schlafzimmer hinauf. Es war leer. Das Fenster zur Straße, die ebenfalls leer war, stand offen. Vorsichtig nahm ich die kleinen Papierbäusche heraus, legte sie in den Papierkorb, holte einen sauberen Slip aus dem Koffer.

Als ich hinauskam, stand die Sonne noch recht hoch am Himmel. Es sah aus, als badete sie im Blau. Aber in Wahrheit war es vollkommen schwarz, wo sie war.

Ein Auto kam die Straße herauf, hielt vor dem Nachbarhaus. Die beiden Rottweiler begannen zu bellen. Liefen an der Innenseite des Zauns auf und ab.

Wo waren sie alle?

Ich ging ins Wohnzimmer. Die Jungen saßen mit ihren iPads nebeneinander auf der Couch.

»Wo ist Papa?«

»Er wollte einkaufen gehen«, antwortete Asle.

»Wir wollen grillen«, sagte Heming.

»Aha«, sagte ich.

Tat er das, um mich zu ärgern?

Keine Information.

Und wenn ich keine Lust hatte zu grillen?

»Und was macht ihr?«

»Spielen«, sagte Heming, ohne aufzuschauen.

Ich setzte mich neben ihn. Er rückte leicht genervt zur Seite.

»Was spielt ihr? Etwas, wovon ich schon einmal gehört habe?«

»FIFA.«

»Das ist Fußball, nicht?«

Er nickte.

»Und du, Asle?«

»FIFA.«

»Das macht bestimmt Spaß.«

Ich blieb ein paar Minuten sitzen und sah ihnen zu, ehe ich wieder aufstand.

»Aber spielt nicht zu lange. Nur am Bildschirm zu sitzen ist nicht gut.«

»Nein, nein«, sagte Heming.

»Wir helfen Papa nachher beim Grillen«, meinte Asle.

Den beiden ging es gut, sie kamen allein zurecht, und so machte ich mich auf den Weg zum Atelier hinaus, fand aber keine Ruhe und trat in den Garten, setzte mich und zündete mir eine Zigarette an.

War dort genauso rastlos.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen.

Ich lieh mir Ingvilds Joggingschuhe und nahm denselben Weg wie am Morgen.

Es war immer noch still, aber die Stille hatte sich verändert. Es lag am Licht. Dünn und zart am Morgen, satt und fett am Abend.

Der Unterschied zwischen dem, was entsteht, und dem, was vergeht.

Die Empfängnis dünn und zart. Der Tod satt und fett.

Ja! Das Leben, das wird, gleitet behutsam durch die Membran herein und wächst dort, und wenn es dann stirbt, stolpert es auf der anderen Seite groß und fett gegen die Membran, die platzt!

Wir leben innerhalb ihrer Hülle. Die Wirklichkeit ist eine Blase.

Sollte ich noch einmal bei Egil vorbeischauen?

Er würde nur glauben, dass ich etwas von ihm wollte.

Tat ich das?

Rittlings auf ihm sitzen und mich vorbeugen. Streckt er den Kopf meinen Brüsten entgegen, um an der Brustwarze zu saugen? So dass sich alles in mir spannt, bis in die Möse hinab. Glatt und feucht. Seine Hände um meine Pobacken. Stöhnen und Grunzen. Laute jenseits unserer Kontrolle, wie Tiere.

Das wäre mal was.

Unmöglich war es nicht. Er hatte mich häufig angesehen.

Egil fantasiert von dir. Aber er fürchtet sich vor Arne.

Erzähl mir etwas, das ich nicht schon weiß.

Seine Lieblingsfantasie ist, dass du am Geländer der Veranda stehst und er zu dir tritt und deine Hose herunterzieht und dir den Arsch leckt, und du stöhnst und bist so geil, dass du fast platzt, und er nimmt dich von hinten.

Das lässt sich einrichten.

Aber er traut sich nicht.

Das tut er wohl nicht.

Im Schatten des Felsens, auf dem ich stand, war das Wasser in der Bucht schwarz. Die Bäume oberhalb des Geröllufers waren leuchtend grün, fast so, als würden sie das Grün loslassen und sich in die Farbe darüber heben. Die wie war? Gelb, golden, weiß. In der anderen Richtung: weiß, golden, gelb, orange, rot, braun, schwarz. Wieder hoch: schwarz, braun, lila, blau, grün, gelb.

Du musst Erde malen. Dreck. Nacht. Blut. Braun und Schwarz und Rot. Das sollten deine Farben sein.

Sind das deine Farben?

Du bist gar nicht so dumm. Das sind meine Farben.

Bist du hier? In der Nähe?

Schweigen.

Ich drehte mich um und blinzelte in die Sonne. Sah das Dach des Nachbarhauses, unseres aber nicht, es lag hinter dem Hang verborgen.

Happiness is easy, sang ich und setzte meinen Weg fort.

Happiness is easy.

Als es mir das erste Mal richtig schlecht ging, war ich so verwirrt, dass ich nicht begriff, was mit mir geschah. Ich war an der Kunstakademie angenommen worden, das war mein Traum und im Grunde alles gewesen, was ich wollte. Dort war es, als würde ich in etwas hineingeschleust, das immer kleiner wurde. Im Frühjahr saß ich in einer Ecke meiner kleinen Bude auf dem Boden, umgeben von winzigen Puppenmännern und Puppenfrauen, die ich gebastelt hatte. Ich hatte eine kleine Puppenwelt für sie erschaffen. Es gab dort eine Burg und einen Wald und eine Dorfstraße mit Steinhäusern und Autos. Aber das war mir noch nicht klein genug, und als ich in dieser Miniaturwelt saß, zeichnete ich deshalb winzige Bilder, Blatt für Blatt voller mikroskopisch kleiner Figuren und Landschaften. Ich aß nicht, und ich glaube auch nicht, dass ich schlief, auch davon sollte es möglichst wenig geben. Ich weiß bis heute nicht, warum alles so klein sein sollte, worum es dabei ging. Das Ganze war nämlich nur in der Außenwelt klein. Denn während die äußere Welt schrumpfte, wuchs die innere. In ihr war alles groß. Und in ihr war das Papierschloss ein wirkliches Schloss, die Puppenfrauen und Puppenmänner waren wirkliche Frauen und Männer. Dort befand sich die eigentliche Wirklichkeit. Sie hieß Anara, und ich lebte mein Leben in ihr. Alles andere war schattenhaft, substanzlos, bedeutungslos. Anara übte einen Sog aus. Das Leben dort war reich.

Einige Kommilitoninnen machten sich Sorgen, als ich nie auftauchte. Sie fanden mich auf dem Fußboden sitzend und mit Puppen spielend. Sie kamen nicht an mich heran. Aber in Anara brodelte es. Sie haben nichts mit dir zu tun, sagten die Bewahrer. Sie wollen dir wehtun, sagten die Glücksbringer. Sie wollen dich vernichten, sagten die Erlöser.

»Fotzen«, sagte ich zu meinen Kurskameradinnen. »Macht, dass ihr hier rauskommt, ihr verdammten Fotzen.«

Ich saß auf der Rückbank eines Streifenwagens, zwischen zwei Polizeibeamten. König Torden persönlich, den ich in dieser langen Zeit noch nie gesehen oder gehört hatte, nach dem ich mich jedoch stets gesehnt hatte, zeigte sich mir. Gib nicht auf, sagte er. Gib niemals auf. Aus dem Wagen gekommen, versuchte ich wegzurennen. Nach ein paar Metern holten sie mich natürlich ein. Ich trat und zappelte und spuckte und fauchte.

Drei Wochen blieb ich in der geschlossenen Abteilung. Im Anschluss den Rest des Frühjahrs in der offenen.

Aber das war es. Keine weiteren Anfälle, keine weiteren Klinikaufenthalte. Ich schloss das Studium an der Kunstakademie ab. Dass die Stimmen blieben, erzählte ich keinem. Ich wollte nicht dorthin zurück und hatte sie im Griff. Ich wusste, was krank und was gesund war, was Stimmen waren und was ich war. Das war das Wichtigste. Solange ich das tat, konnte ich damit leben.

Einige der Puppen und Mikrozeichnungen wurden Bestandteil meiner ersten Ausstellung. Ich tapezierte die Wände mit Bildern, es waren hunderte Werke. Ich hatte Rückenwind, ich konnte davon leben, was ich machte, und lernte Arne kennen, einen Mann mit scharfen Umrissen, voller Selbstvertrauen und Ehrgeiz, selbstsicher, und wir bekamen Ingvild.

Ich las über innere Stimmen. Die meisten, die darüber geschrieben hatten, schienen sich einig zu sein, dass die Stimmen aus Teilen der Persönlichkeit kamen, die entweder unterdrückt wurden oder unterdrückten. Normalerweise bildet die Persönlichkeit mit all ihren Gegensätzen eine Einheit oder wird als Einheit empfunden, schrieben sie. Bei einer Persönlichkeitsstörung verliert das, was die Einheit zusammenhält, den Halt. Daraufhin wird die eine Stimme, mit der wir denken, zu mehreren.

Man kann lernen, mit diesen Stimmen zu leben, las ich, der Mann, der das schrieb, betreute mehrere Patienten, die es taten. Und Jung hörte sein ganzes Leben Stimmen. Ich hatte nie zuvor von Jung gehört und las über ihn und die Archetypen.

Ich war die Magierin. Arne der Waisenjunge. Der Manipulator.

Die Stimme, die ich an diesem Tag gehört hatte, war anders. Sie kam nicht aus einer anderen Welt. Und sie stand ganz allein. Sie war wie ein Mensch aus dieser Welt. Aber sie ertönte in meinem Kopf, musste ein Produkt meiner Gedanken sein. Drei Tage ohne Medikamente; das war der Grund.

Da gab es nur eins zu tun. Wieder Tabletten zu nehmen. Schon heute Abend.

Warum nicht sofort?

Ich blieb stehen. Das Meer blau. Die Sonne rot. Die Berge gelb.

Eine Aversion. Nicht gegen die Medikamente. Die musste ich nehmen.

Gegen das Haus, gegen die Kinder?