Das Erbe der Alpen - Felix Neureuther - E-Book

Das Erbe der Alpen E-Book

Felix Neureuther

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Beschreibung

Den Kulturraum der Alpen verstehen, die einzigartige Bergnatur erspüren und für die Zukunft erhalten - das ist die Herzensangelegenheit von Ex-Weltklasse-Skirennläufer Felix Neureuther. Denn die Alpen verändern sich rasant. Die Klimakrise nagt an den Gletschern, die Artenvielfalt ist in Gefahr, Felsstürze bedrohen Siedlungen. Dabei sind die Berge nicht nur Erholungsraum für Millionen von Urlaubern, sondern seit Jahrtausenden geprägt von Almbauern, mit einer Vielfalt an Handwerk, Musik und Küche. Als Botschafter der Berge spürt Felix Neureuther mit Experten wie Sven Plöger oder Alpinist Simon Messner dem geheimen Wissen der Alpen nach und zeigt innovative, zukunftsfähige Lösungen, um den nächsten Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen.

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Seitenzahl: 314

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Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer Edition ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: Katharina Katz

Bildredaktion: Katharina Katz

Redaktionelle Mitarbeit: Michael Ruhland

Umschlaggestaltung: Ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel

eBook-Herstellung: Maria Prochaska

ISBN 978-3-8338-9103-8

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: Peter Neusser; Portrait Klappe vorne: Schöffel

Fotos: Peter Neusser

Syndication: www.seasons.agency

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»Wir sitzen in der Morgensonne und schweigen. Am Berg, zumal in dieser Höhe und Abgeschiedenheit, stören Worte oft nur. Ich finde hier immer ins Lot zurück, spüre Ruhe tief in mir. Ohne Berge wollte ich nicht sein. Sie norden mich ein und erden mich.«

Auch ich möchte meinen Kindern die Alpen mit ihrem Reichtum an Naturschönheiten und Arten so vermitteln, wie Rosi und Christian das bei mir gemacht haben. Nachhaltiger Tourismus ist unsere einzige Chance, Massentourismus würde alles kaputt machen. Man kann also sagen: Die Zielrichtung ist längst vorgegeben. Wenn wir alle, und damit meine ich Einheimische genauso wie Urlauber, die Almwirtschaft in diesem Sinne unterstützen, dann habe ich keine Angst um ihre Zukunft.

VORWORT

In meinen jungen Jahren als Profiskifahrer hatte ich nur den Sport und den Wettkampf im Kopf. Was drumherum passierte, interessierte mich nicht groß. Oder sagen wir so: Es drang noch nicht bis zu meinem Herzen vor. Training, Rennen, Reisen, Regeneration, ich war jung und wollte gewinnen – alles war neu und spannend und begeisterte mich. Von außen wurde mir immer wieder eingehämmert: Wenn du Rennen gewinnen willst, musst du voll fokussiert sein, alles, was dich von diesem Ziel ablenken könnte, musst du ausschalten. Doch bald merkte ich, dass ich nicht dieser Rennläufertyp war, der ein Skifahrerleben lang in dieser Blase leben wollte. Ich war neugierig und nach den ersten Erfolgen wurde es Zeit, mein Umfeld zu hinterfragen und genauer zu beobachten. Ich war Ganzjahressportler und bei den Gletscher-Trainingseinheiten begann ich zu realisieren, wie mir mein Lebensinhalt quasi unter den Füßen wegschmolz. Mir wurde klar, dass ich selbst und wir alle ein Teil des Problems sind. Seit einigen Jahren äußere ich mich laut und versuche Lösungen und Anpassungen zu finden, die uns erlauben, auch weiterhin noch Ski zu fahren oder Rennen auszurichten. Ein Grundstein dafür ist die Suche nach den Ursachen und nach den zu erwartenden Folgen der Klimakrise für unsere so einzigartige Bergwelt. Wir müssen Möglichkeiten finden, die uns aus der Krise helfen können.

Meine Frau Miri und ich haben inzwischen drei Kinder. In welche Zukunft schicken wir sie, welche Hypotheken bürden wir ihnen auf? Für mich ist es entscheidend, dass schon Kinder von klein an lernen, wie die Natur funktioniert. Das ist ein Auftrag an alle Eltern, aber auch an unser Bildungssystem. Warum gibt es kein eigenständiges Fach, in dem es allein um Natur und Umwelt geht? Man müsste dabei auch unterrichten, was gerade mit unseren Bergen los ist, was mit den Gletschern und dem Permafrost passiert. In Österreich fahren Schulklassen beispielsweise aufs Kitzsteinhorn und bekommen dort live mit, wie die Wissenschaftler die Felsen und den Gletscher untersuchen. So ein praxisnaher Unterricht bleibt hängen, weil es für die Kinder spannende Erlebnisse sind.

Wir sind beide positiv denkende Menschen, dem Leben zugewandt und wollen keine apokalyptischen Bilder heraufbeschwören. Das wäre nur destruktiv. Gleichzeitig wissen wir, dass es nicht 5 vor 12 ist, sondern vielleicht schon ein paar Minuten danach. Gerade diese Erkenntnis ist ja umso mehr ein Auftrag, etwas zu ändern. Die großen globalen Herausforderungen können wir nicht lösen, aber es gibt so vielfältige Möglichkeiten, etwas im Kleinen zu bewegen. Und es gibt erfreulicherweise so viele außergewöhnliche Menschen, die uns – ohne groß Aufhebens zu machen – vorleben, wie es gehen kann. Und genau darum soll es in diesem Buch „Das Erbe der Alpen“ gehen. Es ist so viel an Wissen da, an gelebter Tradition, an neuen Ideen, die auf alten Techniken fußen, dass man nur mal genauer hinschauen muss.

»Im Kern geht es um die Frage: Wie kann ein gutes Leben in den Alpen künftig ausschauen und wie ein nachhaltiger Tourismus?«

Genau dazu will ich in dem Buch Anregungen geben, indem ich Menschen vorstelle, die für mich Vorbilder sind. Keine Heroen, keine Nobelpreisträger, auch keine Umweltaktivisten, sondern einfach Menschen, die durch Traditionen oder innovative Ideen das Erbe der Alpen in eine gute Zukunft tragen.

Es sind die Begegnungen mit Menschen, die mich bei diesem Buchprojekt am allermeisten fasziniert haben. Bei allem Wissen um Zahlen, um Wahrscheinlichkeiten, um Prognosen und düsteren Aussichten für die Gletscher und die Natur in den Alpen gibt es doch Hoffnung. Am Spinnrad mit Waltraud Schwienbacher in ihrem Kräuterhof Wegleit im Südtiroler Ultental zu sitzen und die Ruhe und Kraft dieser außerordentlichen Frau zu spüren, in der Stube der Familie Schuen in den Dolomiten ladinischen Liedern zu lauschen, über die Skulpturen des Holzbildhauers Christoph Finkel zu streichen, der aus Lawinenholz filigrane Kunstwerke für die Ewigkeit macht, dem jungen Spitzenkoch Thomas Gufler in seiner Küche über die Schulter zu schauen, auf der Alpspitze eine Bergmesse zu erleben und mit einem Bergbauern auf 2400 Metern Höhe mit Sense und Steigeisen eine Steilflanke zu mähen – das sind alles Geschichten, die von unheimlicher Energie und Zuversicht zeugen.

»Dieses Buch bringt mich selbst zurück zu den Wurzeln meiner Familie.«

Was viele nicht wissen: Wir sind nicht etwa nur Skifahrer und Langläufer beziehungsweise Biathleten. Die Geschichte der Neureuthers ist eine Bergsteigergeschichte gepaart mit wissenschaftlichem Anspruch. So führt die Spur zurück ins 19. Jahrhundert zu den Schlagintweits. Die Brüder Hermann, Adolph und Robert haben damals Großartiges für die Wissenschaft geleistet, sie kartierten und vermaßen Gletscher in den Alpen, im Karakorum und Himalaya und waren Pioniere. Ich bin in vierter Generation direkt mit ihnen verwandt. Das ist für mich eine Ehre, aber auch Auftrag, selbst etwas Gutes zur Zukunft der Alpen beizutragen. Gerade der Wintersport muss sich Gedanken über Alternativen machen. Auch das ist im Buch thematisiert. Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch im Einklang mit den Bergen leben kann. Was mich tief beeindruckt hat, war der Schafauftrieb im Juni im Schnalstal. Man nennt diese Wanderweidewirtschaft Transhumanz und sie verläuft heute noch in etwa nach den gleichen Prinzipien wie vor 6000 Jahren. Unglaublich, aber wahr.

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, wir brauchen aber eine Transformation“, sagt der Meteorologe und Klimaexperte Sven Plöger, mit dem ich mich auf der höchsten Wetterstation Deutschlands, getroffen habe. Ich gebe ihm da vollkommen recht, zumal das Denken der Shareholder von Aktiengesellschaften in Quartalen verläuft. Wir aber benötigen ein langfristiges Denken über mehrere Generationen. Dafür gibt es in der Hotellerie längst einen Begriff: Enkeltauglichkeit. Auch darum wird es in meinem Buch gehen. Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland ist Meinungsforschern zufolge bereit, etwas zu tun, und will etwas ändern. Das macht mir Mut. Ich glaube fest daran, dass es mit der Haltung im Kopf losgeht. Als Wegweiser kann die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung dienen. Diese wurde am 25. September 2015 von 193 Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen der Vereinten Nationen in New York verabschiedet. Die Agenda ist eine Art Weltzukunftsvertrag.1Das Wissen um die richtigen Weichenstellungen ist längst da. Wir müssen endlich ins Handeln kommen.

Wenn man mich fragt, dann ist das die Botschaft dieses Buches: Es gibt viele Gründe zur allergrößten Sorge, was die Zukunft in einer durch die menschengemachte Klimaerwärmung aus allen Fugen geratenen Welt betrifft. Es gibt aber auch die Signale der Menschen, die sich aktiv um den Schutz der Alpen bemühen, sei es durch ihren Einsatz für die gute Sache, sei es einfach durch ihr Tun. Daraus sollten wir Hoffnung ziehen und Inspiration, es ihnen gleichzutun.

Ihr Felix Neureuther

DIE SCHÖNHEIT DER ALPEN

EINE GESCHICHTE VOLLER BERGE

Manche Erkenntnis dauert, bis sie einem wirklich bewusst ist. Bei mir war das so beim Thema Berge. Klar, ich wollte Ski fahren, am besten die ganze Zeit. Diesen Drang, auf den Brettern zu stehen, konnte ich auch dank der Unterstützung meiner Eltern Rosi und Christian austesten und ausleben. Meine Mutter Rosi Mittermaier gewann 1976 bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck zwei Gold- und eine Silbermedaille. Mein Vater Christian Neureuther war Slalomspezialist und siegte bei insgesamt sechs Weltcuprennen. Doch welche Bedeutung die Berge für mein Leben haben, ist mir erst in den letzten Jahren klar geworden. Die Leidenschaft für sie liegt in der DNA unserer Familie, sie wird seit Generationen weitervererbt. Seit ich genauer hinschaue, finde ich überall die genetischen Bausteine, die auch bei mir die Liebe zu den Bergen vorherbestimmt haben. Dabei hätte ich schon vor 25 Jahren einen wichtigen Schlüssel dazu entdecken können. Denn mein Großvater väterlicherseits, Gottfried Neureuther, den seine Freunde und Bekannten „Goggi“ nannten, hatte sich zu meiner Firmung im Jahr 1998 ein ganz besonderes Geschenk einfallen lassen: Er wollte mir ein historisches Himalaya-Aquarell aus dem Jahre 1856 schenken, gemalt vor Ort vom Naturforscher und Geografen Hermann von Schlagintweit, dessen vor allem symbolischen Wert ich damals vermutlich nicht zu schätzen gewusst hätte.

Mein „Abba“, wie ich ihn nannte, hatte also im Sinne, beim Enkel zum wichtigen christlichen Initiationsfest auch die Beschäftigung mit dem Bergsteigen und der geheimnisvollen Welt der Berge in Gang zu setzen. Es ist für mich im Rückblick kaum zu glauben, dass Abba, selbst lange Zeit Arzt in leitender Funktion, trotz eines ärztlichen Verbotes, Treppen zu steigen, eben jene Litografie des furchtlosen Forschungsreisenden Schlagintweit aus dem Obergeschoss unseres Hauses in Gerold holte, um sie mir dann später feierlich überreichen zu können. Es sollte sein letzter Gang im Haus gewesen sein, denn Abba erlitt genau an dem Tag einen Schlaganfall. Das Bild hatte er noch auf den Küchentisch gelegt, zur Übergabe kam es aber nicht mehr, wie mein Vater auf der Rückseite der Originallitografie mit dem Titel „Aussicht vom Morgan-Pass nach Süden“ handschriftlich notierte. „Von Abba, Dr. Gottfried Neureuther, an Felix zur Firmung 1998. Am 5.7.98, am Tag der Einweisung ins Krankenhaus, hat Abba das Bild von ‚oben‘ trotz Treppenverbots heruntergeholt, um es Felix zu schenken. Er kam nicht mehr dazu, da er am 19.7.98 starb.“

DAS ERBE DER SCHLAGINTWEIT-BRÜDER

Erst jetzt kann ich ermessen, welchen Schatz mir mein Großvater vermacht hat, der selbst ein passionierter Bergsteiger und anerkannter Forscher zu medizinischen Fragen im Gebirge war. Das Bild hängt zwar seither bei uns im Flur, doch erst vor wenigen Jahren habe ich realisiert, dass ich in direkter Linie mit den Schlagintweits verbunden bin. Die Brüder Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit waren wissenschaftliche Pioniere, sie vermaßen die Gletscher in den Alpen und später im Himalaya und bestimmten teils auch ihre Fließgeschwindigkeit. Ihr kaum zu bändigender Forscherdrang trieb sie auch zu bergsteigerischen Höchstleistungen. Im August 1851 machten sich Hermann und Adolph mit drei Bergführern ins Monte- Rosa-Massivs auf, darunter Peter Taugwalder, der später die dramatische Edward-Whymper-Erstbesteigung des Matterhorns gemeinsam mit seinem Sohn und Whymper überleben sollte. Ziel war der damals als „Höchste Spitze“ des Monte Rosa bezeichnete Gipfel, den sie am 22. August 1851 mittags erreichten. Als zweite Seilschaft überhaupt. Erst viele Jahre danach wurde festgestellt, dass der später als Ostspitze (4632 m) bezeichnete Gipfel nur die zweithöchste Erhebung des Grates im Monte-Rosa-Massiv ist. Bis zum höchsten Gipfel, heute als Dufourspitze (4634 m) bekannt und damals noch unbestiegen, kämpften sich die Männer nicht mehr durch. Es war damals auch gar nicht ersichtlich, welche Erhebung höher war.

Von der Besteigung berichtet die Schlagintweit-Nachfahrin Helga Alcock 1980 in einem Artikel über die drei Brüder im renommierten Himalayan Journal.2 Der Kanton Wallis 2014 und die Gemeinde Zermatt benannten die Ostspitze im Jahr 2014 in Dunantspitze um, zu Ehren des Gründers des Roten Kreuzes, Henry Dunant. Ich finde, die Schlagintweit-Brüder hätten den Gipfel auch verdient gehabt. Zumal sie vier Jahre später im Himalaya am Ibi Gamin – ein 7355 Meter hoher Gipfel im indischen Bundesstaat Uttarakhand – einen neuen Höhenrekord aufstellten. Sie erreichten am 19. August 1855 am Gletscher eine Höhe von 6758 Metern, wie sie in ihren wissenschaftlichen Berichten dokumentierten.3 Damals eine Sensation, denn ihr Mentor, Alexander von Humboldt, hielt den Höhenrekord (mit seiner schlussendlich nicht erfolgreichen) Besteigung des Chimborazo (6263 m) im Jahr 1802 in Ecuador mit den erreichten 5700 Metern mehr als 50 Jahre lang inne.4 Der Chimborazo galt zu seiner Zeit in der westlichen Hemisphäre als der höchste Berg der Welt. Man wusste es schlichtweg nicht besser. Humboldt war damals einer der erfahrensten Bergsteiger weltweit. Die Forschungsergebnisse seiner Besteigungen und Kartierungen in den Anden prägen noch heute unser Verständnis von den Vegetationszonen der Erde.

»Wie nahe wir als Familie an den Wissenschaftspionieren sind, erfuhr ich erst so richtig bei einem Termin im Alpinen Museum des Deutschen Alpenvereins in München.«

Stephanie Kleidt, Expertin für die Brüder Schlagintweit, legte mir einen von ihr erstellten Stammbaum vor, der über zwei DIN-A4-Seiten reicht und in dem sie mit roten Kästchen die für mich relevanten Familienmitglieder einrahmte. Über dem Stammbaum steht gewissermaßen der Urvater, der Münchner Augenarzt Josef August Schlagintweit (1791–1854). Er zeugte insgesamt 13 Kinder, die von drei Frauen stammten – die erste und die zweite Ehefrau starben früh. Der aus der dritten Ehe stammende Max August (1849–1935) heiratete Lina Sedlmayr, sie gebar fünf Kinder, darunter Clothilde Yolande. Clothilde Schlagintweit (1885–1953) ehelichte später einen Karl Neureuther und wurde somit zur Großmutter Christian Neureuthers. Es sind also nur vier Generationen bis zum Vater der Brüder Schlagintweit, denen das Alpine Museum 2015 eine große Ausstellung gewidmet hat. Sie hieß „Über den Himalaya. Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858“, und wenn ich heute in dem opulenten, fast 400 Seiten dicken Ausstellungsband blättere, dann bin ich voller Ehrfurcht vor den Leistungen der drei Brüder. Sie erstellten Dutzende Bände mit meteorologischen Messreihen, mit Manuskripten ihrer Beobachtungen und erstellten gut 750 Zeichnungen und Aquarelle, von denen 480 noch erhalten sind.5 Zudem erwarben sie Tausende Sammlungsstücke wie Gebetsketten und Musikinstrumente in den fremden Kulturen Zentralasiens und brachten sie mit zurück.

Es gibt in dem Ausstellungskatalog ein Bild, das Adolph und Hermann mit breitkrempigen Hüten, Lodenmänteln und mit langstieligen Eispickeln ausgerüstet zeigt und das vermutlich aus dem Jahr 1850 stammt.6 Die Gesichter wirken verwegen, die Blicke in die Ferne gerichtet, sie sehen aus wie zwei furchtlose Musketiere – nur nicht im Dienst der Infanterie, sondern der Wissenschaft. Adolph Schlagintweit hat seinen Entdeckergeist allerdings früh mit dem Leben bezahlt. Er überquerte im Frühsommer 1857 ohne seine Brüder ein weiteres Mal den Karakorum, wurde im chinesischen Turkestan unter nie ganz geklärten Umständen im August 1857 in der Stadt Kashgar hingerichtet – wohl auf Befehl eines lokalen Warlords und als Willkürakt.7 Mich fröstelt bei dem Gedanken, was in dem erst 28-jährigen Forscher in den letzten Stunden seines Lebens vorgegangen sein mag. Immerhin war es kein Geringerer als der große Geograf und Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769–1859), der Hermann und Adolph den Auftrag von König Friedrich Wilhelm IV. und der Britischen Ostindien-Kompanie vermittelte, eine wissenschaftliche Expedition in den Himalaya zu unternehmen, auf der sie auch der Bruder Robert begleitete.8 Doch die schützende Hand Humboldts, der damals als Naturforscher im In- und Ausland hoch angesehen war, reichte nicht bis nach Turkestan. Die überlebenden Brüder setzten verschiedene britische und russische Hebel in Bewegung, um Aufschluss über die Todesumstände zu bekommen. Erst 1859 bestätigte der Sultan des Bezirks die Hinrichtung, doch Kopf und Leichnam wurden nie identifiziert, auch von einem Grab ist nichts bekannt. So banal und furchtbar das klingen mag, aber Adolph Schlagintweit war damals schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort.

Beim Termin zur Ahnenforschung im historischen Gebäude auf der Münchner Praterinsel hatte die Schlagintweit-Expertin Stephanie Kleidt Originale und Litografien aus dem Nachlass der Brüder mitgebracht. 17,5 Regalmeter misst er allein in der Staatsbibliothek. Kleidt erzählte meinem Vater und mir damals, dass die jungen Forscher Mappen dabeihatten, in denen sie alle Notizen und Zeichnungen reinlegten, in Schnipsel zuschnitten und später neu ordneten und zusammenfügten. Allein aus diesen Beobachtungsmanuskripten sind 43 Bände entstanden. Die Aquarelle hielten sie frei von Notizen, denn daraus hervorgegangen zur damaligen Zeit Kartenwerke. Die Blätter wurden dazu abgepaust, Konturen und Schraffuren nachträglich eingezeichnet.

Meinen Vater und mich interessierten gerade auch die vielfältigen Arbeiten der Schlagintweit-Brüder über die Geologie und Geografie der Alpen. Ehrfürchtig blätterten wir im 1850 erschienenen „Atlas zu den neuen Untersuchungen über die physicalische Geographie und die Geologie der Alpen“. Darin finden sich Lithografien über Alpengletscher, die die Schlagintweit-Brüder mit schwerem wissenschaftlichem Gerät vor Ort vermessen haben. Besonders hatte es mir die „Geologische Karte der Zugspitze und des Wettersteins“ von Adolph Schlagintweit aus dem Jahr 1855 angetan, ist es doch meine Heimat – damals hatte der Zugspitzgletscher seine größte Ausdehnung nach dem Ende der letzten Eiszeit.

»›Schau mal, da ist Gerold‹, rief mein Vater plötzlich, ›das ist unser Haus, da bin ich geboren.‹«

Tief beugte ich mich über das in drei Farben kolorierte Werk – die Schlagintweit-Brüder ließen ihre Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen von Landschaftsmalern als Auftragsarbeiten fertigstellen und von den besten Lithografen drucken. Sie ließen etliche ihrer Aquarelle in München von renommierten Landschaftsmalern wie etwa Karl Millner und Fritz Bamberger vollenden. „Das war damals nicht ehrenrührig“, beschied Stephanie Kleidt. Meinem Papa entlockte es dennoch, begleitet von einem mächtigen Lachen, den Spruch: „Das war ja Fake.“ Plötzlich entdeckte ich in dem Atlas die Orte Kranzberg und Garmisch und Partenkirchen. Mein Papa merkte an: „Da ist noch kein Bindestrich dazwischen.“ Und ich antwortete ihm: „Der Bindestrich ist das Schlimmste, was es gibt“, in Anspielung auf die von vielen Einheimischen wenig geliebte Zwangsvereinigung der beiden Ortsteile auf Druck der NSDAP im Jahr 1935. Aus Garmisch und Partenkirchen wurde der Markt Garmisch-Partenkirchen.

Ich persönlich glaube, dass es ohne unsere direkte Verbindung zu den Schlagintweits dieses Buch „Das Erbe der Alpen“ gar nicht gäbe. Denn sie verkörpern für mich beides: die Leidenschaft für die Berge als Forscher und die Liebe zu den Bergen als Bergsteiger und Pioniere für Expeditionen ins (damals noch) Unbekannte. Sie haben in mir etwas bewegt, was ich als Profiskifahrer zwar schon an den schmelzenden Gletschern gesehen, aber erst nach Ende meiner Karriere richtig realisiert habe.

»Ich möchte mich dafür einsetzen, dass möglichst viele Menschen mehr über die Berge erfahren und sehen, welchen großen Schatz wir dort vorfinden.«

Für mich sind die Berge Ruhepol und Kraftquelle gleichermaßen. Und das gilt für meine gesamte Familie. Mein Vater sagte einmal zu mir: „Warum habe ich die Rosi geheiratet und du die Miri? Das kann kein Zufall sein!“ Ich stimme ihm zu, denn alle waren oder sind sie Bergbegeisterte, auch mein Schwiegervater, der Bergführer ist, und meine Schwiegermama, die immer noch leidenschaftlich gerne klettert. Das ist unser Erbe und das ist mir zugleich Auftrag. Ich würde eigentlich gerne nach Kashmir und im dortigen höchsten Skigebiet Gulmarg auf fast 4000 Metern die indischen Meisterschaften mitfahren. Das wäre ein super Schlusspunkt meiner persönlichen Skikarriere und würde die Geschichte der Schlagintweits und Neureuthers mischen, die Forscher mit den Bergsteigern und Skifahrern. Mal schauen, ob das noch klappt.

MEIN „ABBA“: BERGWACHTLER UND BERGDOKTOR

Der Wunsch, die Menschheit durch Forschung voranzubringen, hatte auch meinen Großvater Gottfried, den „Abba“, umgetrieben, der mich, wie oben erwähnt, schon früh auf unsere Ahnen stoßen wollte. Im Zweiten Weltkrieg als Stabsarzt tätig, wurde der Facharzt für Innere Medizin später Landesarzt der Bergwacht im Bayerischen Roten Kreuz. „Er war ein fantastischer Bergsteiger und Bergwachtler“, sagt mein Papa über seinen Vater. Der Abba war aber auch einer, der ganze Stubn oder Säle in seinen Bann ziehen konnte, wenn er die Gitarre auspackte und sang oder wenn er vor Zuhörern sprach. „Den Goggi haben sie geliebt bei seinen Vorträgen“, erzählten mir meine Eltern rückblickend. Ein Entertainer, würde man heute sagen. Diese Eigenschaft hatte ihm im Krieg letztlich wohl das Leben gerettet. „Nur weil er lustig war und singen konnte, haben sie ihn nach Südtirol mitgenommen.“ Alle anderen seiner Kompanie seien wenig später an der Russlandfront umgekommen.

Sein Forschertrieb brachte ihn 1959 sogar auf eine wissenschaftliche Expedition in den Himalaya, wo er als Expeditionsarzt fungierte. Goggis Spezialgebiet war die allgemeine Unterkühlung, ein Phänomen, das beispielsweise bei Bergungen aus Gletscherspalten auftritt oder bei Unfallopfern, die Regen und Wind ausgesetzt waren. Immer wieder kam es vor, dass Gerettete falsch behandelt wurden und in der eigentlich sicheren Hütte oder unten im Tal unter den Augen der Retter einen Herzstillstand erlitten – man nannte das, eher hilflos, den Bergungstod. „In einer heizbaren Hüttenküche kann man mehr Leben erhalten als nach einem weiteren stundenlangen Abtransport ins Tal“, schrieb Dr. Gottfried Neureuther 1968 in der Broschüre „Erste Hilfe im Gebirge“, die der Österreichische Alpenverein für seine Nachwuchsgruppen herausgab.9

Mein Abba hatte herausgefunden, dass sich ein unterkühlter Körper nach einer gewissen Zeit damit behilft, innen, also im Kern, die überlebenswichtige Temperatur zu erhalten, während außen, also in der Schale, die Gefäße geschlossen werden. Haut, Fettgewebe, Muskulatur, Arme und Beine werden dann weiß und kalt, während Herz, Lunge, Bauchorgane und Gehirn möglichst lange funktionsfähig erhalten werden. Findet man einen Bewusstlosen, dessen Atmung und Herzschlag nur noch schwach spürbar sind, dann müsse man seine „Schale“ möglichst schnell erwärmen, sonst fließe das wärmere Kernblut in die noch kalte Schale und kühle sich dort ab und führe im weiteren Verlauf schlimmstenfalls zum Herzstillstand. Heißt: Nur in ein paar Decken einhüllen wäre der falsche Weg. „Wenn das Kernblut in die Schale kommt, muß die Schale schon so warm sein, daß kein Temperatur-Abfall des Kernblutes mehr eintritt“, erklärte Neureuther in seinem Aufsatz. Man müsse also möglichst schnell von allen Seiten Wärme an den Körper heranbringen. „Das geht am besten im heißen Bad.“ Oder in einem Waschzuber. Wenn beides nicht vorhanden sei, so riet er, dann müsse man das Unfallopfer mit feuchten, heißen Tüchern, Wärmflaschen, „Bierflaschen mit heißem Wasser“ – kurz: mit allem, was an Ort und Stelle aufzutreiben ist –, wieder möglichst an der ganzen Körperfläche aufheizen.

Bei örtlichen Erfrierungen, beispielsweise an Fingern und Zehen, erklärt mein Abba im weiteren Verlauf seiner Handreichung, müsse man es dagegen genau andersherum machen: „Die Wiedererwärmung muß ganz langsam vor sich gehen.“10 Sonst riskiere man, dass die geschädigten Gliedmaßen ganz abstürben. Denn ein weißer, praktisch lebloser Finger oder Zeh brauche zur Wiederbelebung Sauerstoff aus der Blutbahn. Nachdem aber meist die Gefäße in der Umgebung auch verengt seien, müsse die Erwärmung langsam vor sich gehen. Andernfalls produziere der wiederbelebte Stoffwechsel unter Sauerstoffentzug giftige Substanzen, welche die Zellen schädigten oder ganz zerstörten. Irreversibel.

»Beim Lesen seiner in leicht verständlicher Sprache geschriebenen Erklärungen und Tipps bin ich immer wieder fasziniert, denn sie haben nichts an Aktualität eingebüßt und haben bei mir reihenweise Aha-Effekte produziert.«

Ein Beispiel: „Ein schlotternder, zitternder Mensch befindet sich in einer guten Abwehrlage. Laßt ihn nur die Zähne klappern, er macht sich damit warm.“11 Denn die – nicht steuerbaren – Muskelzuckungen produzierten durch ihre Kontraktionen Wärme. Was ich auch nicht wusste: Im Wasser kühlt ein Körper 27-mal schneller aus als in unbewegter Luft. Auch nasse Kleider sind in diesem Zusammenhang Gift, weil Wasser die Wärme schnell ableitet. Im Schnee dagegen hält sich die Körperwärme dank der zwischen den einzelnen Kristallen liegenden Luftpolster verhältnismäßig lange. Unterkühlungen, schlussfolgerte mein Abba, treten demnach in der Sommerbergsaison eher häufiger auf als im Winter.

Auch mein Opa mütterlicherseits liebte die Berge und den Schnee. Er war Langläufer und Skispringer und wurde während seiner Zeit in der Heeres-Hochgebirgsschule Fulpmes Deutscher Reichsmeister in der 50-Kilometer-Staffel, wie mir meine Mutter einmal erzählte. Heinrich Mittermaier, gelernter Handelskaufmann, wollte raus aus München und nutzte die Gelegenheit seines Lebens: Er pachtete 1938 die Winklmoos-Alm oberhalb von Reit im Winkl, baute in den 1960er-Jahren als staatlich geprüfter Skilehrer eine eigene Skischule auf und pushte die Skirennläuferkarrieren seiner Töchter Heidi, Rosi und Evi. Mir ist er in allerbester Erinnerung, denn er baute bis ins hohe Alter (er wurde 98) riesige Schneeburgen. Die Schneeburgen baute er für seine Enkelkinder, aber ich glaube auch zu einem Großteil für sich selbst und sein Vergnügen. Bei allem war immer der Spaß im Vordergrund, das Leichte. Die Burgen zerbarsten und zerronnen manchmal schnell wieder, doch das störte ihn nicht. „Das ist der Lebenslauf“, sagte er dann.

Meine Mama erzählte mir einst eine Geschichte aus ihrer Jugend, die ich ziemlich stark finde. „Kinder, wir brauchen nicht in die Kirche zu gehen, wir gehen auf den Berg. Dort sehen wir alles, wie die Schöpfung funktioniert“, habe ihr Vater gesagt. Rosi hat sich zeitlebens das Bodenständige und Bescheidene bewahrt. Sie hat mir beigebracht, dass man die Dinge, die einem zukommen, schätzen lernen muss. „Es ist vieles auch eine Frage der Erziehung. Die Kinder haben und bekommen heute alles. Ich habe mein Skimaterial von meiner Schwester übernommen oder auf ein paar Ski vom Christkind gewartet. So haben wir es übrigens auch bei dir gehalten", sagte sie einmal bei einem abendlichen Plausch.12 Das ist mir natürlich sehr wohl bewusst und es ist mir weiß Gott nicht immer leichtgefallen, gerade wenn andere aus meinem Umkreis immer die neuesten Modelle fuhren und beim Training gleich mehrere Paar Ski zur Auswahl hatten. Aber ich respektierte die klare Ansage und finde den Erziehungsansatz im Rückblick aller Ehren wert.

»Die Tradition des Schneeburgenbauens führe ich übrigens nur zu gerne fort. Wenn, ja wenn denn genügend Schnee liegt.«

Aber dazu mehr im Kapitel 5 des Buches.

Das Geburtshaus meines Vaters in Gerold und das Haus meiner Eltern in Garmisch-Partenkirchen sind angefüllt mit Bergsteigergeschichte und -geschichten. Manchmal blättern wir im Familienkreis durch die alten Tourenbücher des Großvaters Goggi oder der Urgroßeltern Nonnenbruch oder durch die Fotoalben mit den Familientouren im Karwendel, Wetterstein und den Ammergauer Alpen. Berge können etwas sehr Verbindendes haben, die gemeinsamen Erlebnisse schweißen zusammen und sie formen, da bin ich mir sicher, auch den Charakter. Aber was macht das mit den Kindern, wenn einer aus der Familie neue Grenzen auslotet und die Entwicklung des Alpinismus für mehr als zwei Dekaden prägt, wie das Reinhold Messner zweifelsohne getan hat? Wie lebt es sich mit einem Übervater, dessen Ego meiner Einschätzung nach größer ist als alle 14 Achttausender zusammen? Wie kalt war/ist der Schatten für seinen einzigen Sohn Simon – er hat zwei Schwestern und eine Halbschwester – oder war der Vater sogar ein wärmender Schutzschild?

REINHOLD MESSNER – EINE ÜBERLEBENSGROSSE FIGUR

Zusammen mit dem Bergkenner Michael Ruhland und dem Fotografen Peter Neusser folge ich Simon Messners Einladung nach Juval in den Vinschgau, wo er gerade zwei Bergbauernhöfe seines Vaters übernommen hat. Doch bevor wir ihn besuchen, nähern wir uns dem Mythos Messner langsam an. Mich hat der Mann schon immer fasziniert, auch wenn ich zum Zeitpunkt seiner größten bergsteigerischen Erfolge noch nicht einmal geboren war.

Messner ist anziehend und irritierend zugleich. Gibt man seinen Namen bei Google ein, weist die Suchmaschine 4,48 Millionen Ergebnisse aus. Zum Vergleich: Bei mir erscheint die Zahl 903 000, Papst Franziskus liegt mit 4,52 Millionen Treffern immerhin knapp vor dem bekanntesten Bergsteiger der Welt.

Das Google-Ergebnis ist umso erstaunlicher, weil Messners – zweifelsohne grandiosen – Erfolge im Höhenbergsteigen 40 Jahre und mehr zurückliegen. So erreichte er 1986 die Gipfel von Makalu (8485 m) und Lhotse (8516 m) und war damit der erste Mensch, der alle 14 Achttausender bestiegen hatte.

Das Bahnbrechende seines alpinistischen Rekordzuges bestand auch darin, dass er den sogenannten Alpinstil ins Höhenbergsteigen überführte, also Besteigungen mit wenig Gepäck, ohne Flaschensauerstoff, ohne Fixseile, ohne Lastenträger und nur mit kleinen Gruppen, die flexibel agieren konnten. Das war mutig und geradezu revolutionär und es stellte die bergsteigerischen Leistungen der einzelnen Alpinisten stärker in den Mittelpunkt.

Der leuchtende Stern war er, Messner, der sich schon früh mit seinem Abenteuergeist und seiner Nonchalance in den Mittelpunkt zu rücken wusste. Er brach bewusst mit den vermeintlichen Tabus des Kameradschaftskults und des Heroismus und Nationalismus, der das Bergsteigen Jahrzehnte lang bestimmt hatte. Gegenwind, und davon gab es reichlich, verlieh ihm eher Flügel, als dass er sich aus der Bahn hätte werfen lassen.

Auch heute noch fasziniert Reinhold Messner als fast Achtzigjähriger die Menschen und füllt Saal um Saal, begeistert dank seiner grandiosen rhetorischen Fähigkeiten sowie seines enormen Erfahrungsschatzes und Wissens Tausende und signiert Buch um Buch aus seinem reichen Fundus. Mit Widmung. Oft fragt er selbst nach, wenn sich die Leute vor Ehrfurcht oder Nervosität nicht trauen. Auf fast allen Titeln ist das Gesicht des Mannes zu sehen, der dem Tod etliche Male nur knapp entronnen war. Sein Haar ist voll und wild, ungezähmt wie er selbst, weißer nun, aber es ist für mich aus seinem Antlitz nicht wegzudenken.

»Er wirkt selbst wie eine Naturgewalt, gegen die er als Alpinist und Abenteurer antrat – nach den Achttausendern mit Gewaltmärschen in der Arktis und Antarktis oder in der Wüste Gobi.«

Der Name Messner zieht nach wie vor, er weiß und schätzt das, und sein Alter macht ihn offenbar noch stärker zu einem magnetischen Pol, an dem sich seine Fans ausrichten.

Er hat sich längst sein eigenes Denkmal gesetzt. Und er hat eine Mission: den traditionellen Alpinismus. Der soll nicht sterben, nicht jetzt und nicht mit ihm. Das will er als Erbe weiterreichen. Deshalb erzählt er immer wieder und immer wieder berückend seine Geschichten im Grenzbereich zwischen Leben und Tod.

DAS DENKMAL DER MESSNER MOUNTAIN MUSEEN

Messner ist zu einer fast überlebensgroßen Figur geworden, als Bergsteiger, Publizist, Politiker, Schlossherr, Museumsgründer, Medienprofi und Filmregisseur. Auf der Fahrt nach Südtirol zu seinem Sohn Simon machen wir einen Schlenker zum letzten der sechs Messner Mountain Museen (MMM), zum „Corones“ auf dem Kronplatz, der mir als Skifahrer natürlich bestens bekannt ist. Der Kronplatz am Rande der Dolomiten ist ein schöner, viel genutzter, manche sagen auch: ein verbauter, übernutzter Aussichtsberg. Im Winter stehen einem 59 Skipisten zwischen 300 Metern und fünf Kilometern Länge zur Verfügung. Im Sommer gibt es Bikeparks und -routen für die „Bike Family“, aber auch für „Bike Explorer“, Dutzende Wanderwege (davon etliche auch im Winter präpariert) und oben auf dem 2275 Meter hohen Gipfelplateau stehen Restaurants, die Friedensglocke „Concordia 2000“, das Museum der Bergfotografie LUMEN und – seit 2015 – auch das MMM Corones. Messner hat dazu die international hoch angesehene und nur ein Jahr nach der Eröffnung verstorbene Architektin Zaha Hadid als Partnerin gewonnen. Genau genommen sollte Hadid im Auftrag des Liftbetreiberkonsortiums „Skirama Kronplatz“ eine spektakuläre Aussichtsplattform auf dem Gipfel verwirklichen, um dem Berg auch im Sommer genügend Besucher zu sichern.13 Die irakisch-britische Designerin und Hochschullehrerin war durch ihre kühnen Beton-Metall-Glas-Entwürfe bekannt geworden, wie zum Beispiel das Glasgow Museum of Transport, das Phaeno Science Center in Wolfsburg oder die imposante „Galaxy Soho“, ein Einzelhandels-, Büro- und Unterhaltungskomplex in Peking, der aus vier kugelförmigen Strukturen besteht, die mit Aluminium und Stein verkleidet und durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden sind.14 Als erste Frau wurde ihr 2004 der Pritzker-Architekturpreis verliehen, die bedeutendste Auszeichnung der Architekturwelt.

Die Besonderheit des MMM Corones (ladinisch für Krone, siehe auch Kapitel 4) liegt darin, dass der größte Teil innerhalb des meiner Meinung nach vom Menschen eh schon recht geschundenen Berges im Innern stattfindet. Die Verbindung zum Draußen stellen eine Art überdimensionale Kameraaugen aus Beton, Stahl und Glas dar, eines davon hat eine kühne, terrassenartige Auskragung, auf der man ins Freie treten und über die Bergketten bis zur Marmolada im Süden, dem Ortler im Westen und den nahen Geislerspitzen, den Bergen von Messners Heimat Villnöss, blicken kann.

Der Meister hat das Museum stärker als die anderen fünf dem traditionellen Alpinismus gewidmet und dem Klettern an den hohen Wänden der Weltberge als Königsdisziplin des Bergsteigens. „Als der Storyteller zum traditionellen Alpinismus will ich weder werten noch dramatisieren, es geht mir um das Verdichten von Erfahrungen, um eine Sache, die auch meine Sache ist, die 250 Jahre währende Auseinandersetzung zwischen Berg und Mensch. Nicht Sport und Rekorde stehen im Mittelpunkt, sondern die großen Persönlichkeiten des Alpinismus, auch Philosophen, Pioniere, die den ‚goldenen Schritt‘ wagen – von der Idee zur Tat, wenn die Frage nach dem Warum aufgehoben ist“, schreibt Messner selbst über den Schlusspunkt seines Museumsprojekts und bezeichnete es „als das Highlight meiner Bergmuseen: Einen Ort der Stille, der Entschleunigung und unvergessener Ausblicke. Dieser Rückzugsraum öffnet alle menschlichen Sinne für das Darüber und Dahinter. Die Berge werden zum Erfahrungsraum, Teil unserer Kultur. Im Geistesflug über alle Gipfel hinweg gilt es sie neu wahrzunehmen.“15 Die MMM haben ihn fast zwanzig Jahre lang Kraft, Zeit und viel Geld gekostet. Bei der Eröffnung bezeichnete er das Projekt als seinen 15. Achttausender.16 Und gestand in einem Interview, dass ihn die Museen „mehr gekostet haben als alle Expeditionen zusammen“.17

Wir gehen durch das nördliche, trapezartige Betonauge, den Eingang des Museums, ins Foyer. Ich bin sofort verblüfft ob der genialen Konstruktion des Gebäudes: Drei Raumstränge scheinen förmlich in den Berg hinabzufließen, die anthrazitfarben eingefärbten Betonschalen – laut Hadid eine Referenz an das tiefer liegende Gestein – verstärken den Eindruck, tief im Berg zu sein. Ich folge meinem Impuls, über die Treppenkaskaden hinabzusteigen, wiederum dem Licht entgegen, das durch die raumhohen Fenster – eben den von mir schon beschriebenen „Augen“ – hereinfällt. Es ist Mittag, das Sonnenlicht ist gleißend, sodass ich mich erst an die Helligkeit gewöhnen muss. Mein Blick fällt auf ein Zitat an der Wand, das von Messner selbst stammt. „Dem Verzichtsalpinismus geht es um die Menschennatur, nie um Zahlen.“ Das ist nicht nur die Essenz seines alpinistischen Wirkens, sondern gleichzeitig eine Kritik an den immer neuen Rekordversuchen vieler Profibergsteiger.

»Messner ging es immer um die persönliche Auseinandersetzung Mensch-Berg, um das Archaische.«

Im Museum finden sich neben großen Gemälden von schroffen Bergriesen und Reliefs berühmter Felswände auch viele historische Exponate, Sammlerstücke, Reliquien früherer Expeditionen. Wie etwa die Nagelschuhe Karlo Wiens, der 1937 die deutsche Nanga-Parbat-Expedition anführte. Sie endete in einer Lawinenkatastrophe, bei der 16 Expeditionsmitglieder ihr Leben verloren. Messner erzählt im Corones-Museum dreisprachig von der Entwicklung des modernen Bergsteigens, besonders von der Ausrüstung, die sich seit Beginn des Alpinismus vor etwa 250 Jahren18 enorm verbessert hat. In Vitrinen sind, Schmuckstücken gleich, Karabiner, zehnzackige Steigeisen, frühe langstielige Eispickel, Klemmgeräte zum Felsklettern und vieles mehr ausgestellt, meist mit Bezug zu den früheren Nutzern; zum Beispiel Helm und T-Shirt des deutschen Kletterers Alexander Huber, die dieser bei seiner legendären Free-Solo-Zinnen-Direttissima im Jahr 2002 getragen hat.

Ein wenig fühlt es sich nach Heldenepos an, doch die Zitate an den Sichtbetonwänden ordnen ein, geben die Richtung vor. „Das Können ist des Dürfens Maß“ ist so ein Leitspruch, er stammt von Paul Preuss (1886–1913), einem österreichischen Alpinisten, der zwar nur 27 Jahre alt wurde, aber mit 150 Erstbegehungen und 300 Solobesteigungen zu den besten Bergsteigern seiner Zeit gehörte. Er gilt als Vater des Freikletterns und seine Grundsätze sind heute noch all denen ein Glaubensbekenntnis, die beim Klettern auf technische Aufstiegshilfen verzichten. Jährlich wird von der Internationalen Paul-Preuss-Gesellschaft der Paul-Preuss-Preis an Bergsteiger vergeben, die bahnbrechende Leistungen im Sinne der puristischen Preuss-Philosophie erbracht haben.19 Messner zitiert sich in seinen Museen gerne selbst. „Kletterrouten sind wie Songlines. Weltweit durchziehen sie Felswände, ohne dass sie sichtbar wären. Wer sie zu lesen versteht, hat die alpine Geschichte verinnerlicht.“ Was mich beim Lesen zum Schmunzeln bringt, ist nicht die meiner Meinung nach etwas gewagte Analogie zu den Aborigines. Es ist vielmehr die Tatsache, dass das Messner-Zitat an der Wand unmittelbar nach dem Sinnspruch Buddhas („Du kannst keinen Weg gehen, wenn Du nicht selbst dieser Weg geworden bist“) platziert ist. Etwas erhöht sogar. Zufall? Oder sieht sich da einer selbst als Lichtgestalt, wenn nicht gar als Erleuchteter? Wie auch immer: Messner hat sich mit Corones sein eigenes Denkmal gesetzt, das steht für mich außer Zweifel. Warum auch nicht, denn er hat den Alpinismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt wie kaum ein anderer.

SIMON MESSNERS SCHWIERIGES ERBE

Wir fahren vom Pustertal zurück ins Eisacktal und über Bozen und Meran ins Tal der Etsch. Dort am Eingang ins Schnalstal, am Oberortl-Hof auf Juval, sind wir mit Simon Messner zum Mittagessen verabredet. Es bleibt Zeit, über diesen außergewöhnlichen Menschen Reinhold Messner nachzudenken, der den Alpinismus als Teil der europäischen Kultur versteht und sich selbst als „Bewahrer der letzten nicht urbanisierten Räume dieser Erde“.20 Die Museen hat er im Jahr 2017 an seine Tochter Magdalena abgegeben, die 35-Jährige ist seither Alleinverwalterin und Mehrheitsgesellschafterin der MMM in Südtirol. In einem Interview sagte sie, er lasse ihr freie Hand, was sie selbst erstaunt habe.21 Ihre Abschlussarbeit in Kunstgeschichte schrieb Magdalena Messner über Schloss Juval, jene Burg, die der Vater 1983 erworben hatte und in der die Familie im Sommer lebt(e) und das sich in den anderen Jahreszeiten als MMM Juval mit einer Dauerausstellung den heiligen Bergen widmet wie dem Kailash in Tibet oder dem Uluru in Australien. Der Ort könnte kaum besser gewählt sein: Schloss Juval thront wie ein Adlerhorst auf einem Felsvorsprung. Wenn hier Nebelschwaden über die Türme ziehen, geht mehr Mystik kaum.