Das Erbe der Macht - Band 2: Essenzstab (Urban Fantasy) - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Band 2: Essenzstab (Urban Fantasy) E-Book

Andreas Suchanek

4,8

Beschreibung

Um voll auf seine Fähigkeiten zugreifen zu können, benötigt Alexander Kent einen Essenzstab. Doch als er und Jen nach dem Stabmacher suchen, stellen sie überrascht fest, dass dieser verschwunden ist. Eine Jagd beginnt. Gleichzeitig wollen die Lichtkämpfer im Castillo endlich erfahren, was der Rat ihnen verheimlicht. Hierfür schmieden sie einen waghalsigen Plan. Niemand ahnt, dass das Böse in ihrer aller Mitte darauf lauert, erbarmungslos zuzuschlagen. Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.

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Table of Contents

»Essenzstab«

Was bisher geschah

Prolog

1. Die Geschichte, so wie du sie kennst …

2. Überraschung

3. Im Refugium des Stabmachers

4. Echos aus dem Gestern

5. Alles auf Risiko

6. Ein Ablenkungsmanöver

7. Trampel

8. Wir werden keine Freunde

9. Die Mentigloben

10. Memorum excitare I

11. Memorum excitare II

12. Aus zwei wird eins

13. Unum (Alex)

14. Unum (Jen)

15. Memorum excitare III

16. Memorum excitare IV

17. Verständnis

18. Contego Maxima

19. Die Geliebte des Stabmachers

20. Tu es!

21. Wer ist der Verräter?

22. Ich hasse Portale

23. Es beginnt

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 2

»Essenzstab«

von Andreas Suchanek

 

Was bisher geschah

 

Vor einhundertsechsundsechzig Jahren erschufen mächtige Magier den Wall, eine mystische Sphäre, die die Welt der Magie vor Menschenaugen verbirgt. Nichtmagier – sogenannte Nimags – sollten so dem Einfluss dunkler Kräfte entrissen werden. Gleichzeitig galt es, mächtige Artefakte den Händen gieriger Fürsten, Könige, Kaiser und Diktatoren zu entziehen.

Seither tobt ein Kampf im Verborgenen, speist sich der Wall doch aus der Essenz jedes lebenden Magiers und senkt damit das Potenzial der Magie in jedem von ihnen.

Während die Lichtkämpfer die Nimags beschützen, setzen die Schattenkrieger alles daran, den Wall zu Fall zu bringen; auch, wenn dabei Unschuldige verletzt werden.

Bei einem Einsatz in London stirbt der Lichtkämpfer Mark Fenton. Sein Sigil und die damit verbundene magische Macht geht auf Alexander Kent über, der neu in die Welt der Magie eingeführt wird. Ihm zur Seite stehen Jennifer Danvers und weitere Kämpfer des Guten, die vom Castillo Maravilla aus überall in der Welt Einsätze bestreiten.

Kurz nach seiner Erweckung wird Alex vom Bund des Sehenden Auges entführt. Die Kuttenträger konnten zuvor einen magischen Folianten an sich bringen, in dem wichtige Informationen niedergeschrieben zu sein scheinen. Enthält er tatsächlich Prophezeiungen, die der letzte Seher verfasst hat? Geheimes Wissen um den Wall, wodurch dieser zerstört werden könnte?

Bei der Befreiungsaktion werden die Lichtkämpfer von der geheimnisvollen Schattenfrau beobachtet. Sie lebt seit Jahrhunderten und ist in zahlreiche Katastrophen der Menschheitsgeschichte verwickelt. Niemand kennt ihr wahres Antlitz, das stets hinter einem Nebelfeld verborgen bleibt.

Alex kann schließlich gerettet werden, wobei sich herausstellt, dass Jennifer Danvers die Erbin des letzten Sehers ist. Der Lichtkämpfer lebte vor einhundertsechsundsechzig Jahren und starb bei der Errichtung des Walls. In Jen erwacht uraltes Wissen, mit dem sie den Folianten bald entschlüsseln kann.

Im Castillo stellen die unsterblichen Ratsmitglieder Johanna von Orléans und Leonardo da Vinci fest, dass es einen Verräter unter ihnen geben muss. Bereits bei der Errichtung des Walls vermochten Schattenkrieger in das Hauptquartier einzudringen, weil ein Ratsmitglied sich auf ihre Seite stellte. So etwas darf nie wieder geschehen. Doch wer ist der heutige Feind?

Niemand ahnt, dass die Schattenfrau ihre Hände im Spiel hat. Sie konnte einen Wechselbalg in das Castillo einschleusen. Der Gestaltwandler hat einen Lichtkämpfer ersetzt, der nun in einer Zelle dahinvegetiert. Der Wechselbalg hat sogar das Bewusstsein des echten Kämpfers kopiert und glaubt nun selbst, jener Mensch zu sein. Eine perfekte Infiltration.

 

 

Prolog

 

Das Licht fiel durch die runden, mit Metallkreuzen beschlagenen Fenster in den gewaltigen Raum. In jenem mystischen Schein tanzte der Staub, flirrte vorbei an Regalen, alten Folianten und Papyri. Der Teppichboden, mochte er noch so sehr gepflegt werden, war ausgetreten; verschlissen vom Zahn der Zeit.

Der Essenzstabmacher rumorte leise. Gebeugt über alte Schriften hatte er die Welt um sich herum vergessen.

Gut so.

Die Schattenfrau glitt unbemerkt heran. Das Nebelfeld umhüllte ihr Angesicht, den gesamten Körper, ließ nur die Umrisse sichtbar erscheinen.

In stiller Erregung stellten sich die Haare auf ihrem Arm empor; sie bekam eine Gänsehaut. Nach einem solch langen Leben geschah das kaum noch. So kurz vor der Vollendung des Meisterplans konnte jedoch selbst sie sich der Aufregung nicht entziehen. So viel hing von so wenig ab. Ein fragiler Plan.

In einigen Stunden sollten Alexander Kent und Jennifer Danvers hier auftauchen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Mark Fentons Essenzstab bei dessen Tod vernichtet wurde. Normalerweise suchte der Stab des Magiers selbstständig nach dem Erben, tauchte einfach bei ihm oder ihr auf. Nur wenn das kostbare Artefakt wider Erwarten zerstört wurde, musste der Stabmacher tätig werden.

Alles fügt sich.

Der alte Mann durchwühlte einen Stapel Pergamente, brabbelte etwas Belangloses.

»Du hast dich nicht verändert.« Sie glitt auf ihn zu.

Sein Kopf ruckte herum. Augen, die die Ewigkeit gesehen hatten, taxierten sie. Eine Narbe zog sich über die rechte Wange, ein kleineres Gegenstück über die linke. Ein Vollbart bedeckte sein Gesicht. »Du.« Er nahm es hin, dass sie die Schutzzauber um das Refugium hatte überwinden können. »Das ist das dritte Mal, dass unsere Wege sich kreuzen. Ich hätte dich für klüger gehalten.«

»Nun ja, beim ersten Mal hast du gewonnen, beim zweiten Mal ich.« Sie kam gemächlich näher. »Unentschieden ist so langweilig. Es heißt doch: Aller guten Dinge sind drei.«

Sie zog ihren Essenzstab.

Er tat es ihr gleich.

Natürlich achtete sie sorgfältig darauf, dass das Nebelfeld auch den Stab umhüllte. Gerade er durfte ihn auf keinen Fall sehen, er würde das Artefakt sofort erkennen und zuordnen können.

»Was willst du?«, fragte er. »Bist du gekommen, um mich zu töten?«

»Aber keineswegs«, erwiderte sie. »Das hätte ich damals schnell und sauber erledigen können. Du wirst noch gebraucht, alter Mann. Nein, ich will etwas haben, das sich in deinem Besitz befindet.« Sie ließ ihn sogar wissen, worum es sich handelte.

Ein Lachen hallte ihr entgegen. »Niemals. Es ist nicht nur mein kostbarster Besitz, er wird auch benötigt, um Essenzstäbe herzustellen.«

Sie bedachte ihn mit einem höhnischen Blick. »Das ist mir völlig egal. Ich brauche es. Natürlich wirst du es mir nicht geben, aber damit habe ich auch nie gerechnet.« Sie hob den Stab. »Andere werden mir die Tür öffnen. Ob sie es wollen oder nicht.«

Mit einer Agilität, die niemand dem alten Mann zugetraut hätte, sprang er zur Seite, sein Essenzstab zuckte.

Zauber wurden gewirkt, magische Symbole leuchteten auf. War der Zauber sehr komplex, mussten Worte der Macht gesprochen werden. Und sollte er in Material einwirken oder wollte der ausführende Magier ihn verstärken, half nur der Stab. Doch das unterarmlange Artefakt besaß noch einen anderen Nutzen. Im Kampf konnte es geführt werden wie ein Schwert.

Blitze zuckten durch die Luft, als der Essenzstabmacher seinen Stab gegen den ihren schlug. Sie umtänzelten einander. Mal schleuderte sie einen Kraftschlag, mal er einen Feuerball. Jeder parierte die Attacke des anderen. Eine Finte jagte die nächste, dann prallten die Stäbe erneut gegeneinander. Blitz um Blitz flog umher, erhellte das Dämmerlicht in der Bibliothek.

Querschläger schossen davon, krachten in die Regale oder fraßen sich in Bücher. Papyri entflammten, Folianten verkohlten. Worte, geschrieben mit uralter Tinte, Blut oder Asche, wurden für immer ausgelöscht; das Wissen ging verloren.

Sie wusste, dass ihn der Verlust schmerzte.

Jene Bücher waren ihm wichtig. Zeit seines Lebens hatte er selbst zahlreiche ähnliche Schriften verfasst, was den besonderen Fähigkeiten geschuldet war, über die er gebot. Geboten hatte. Denn nach der Errichtung des Walls waren sie vollständig verschwunden.

Also hatte er damit begonnen, die Folianten und Bücher zusammenzutragen, die den Nachhall seiner alten Macht beinhalteten. Geschrieben von Menschen, die durch ihn beeinflusst worden waren oder selbst über eine ähnliche Macht verfügt hatten. Selbst heute noch war sein Name Legende.

»Degradiert von Saint Germain zu einer Puppe«, keifte er. »Du bist nicht mehr als der Schatten, der dein Antlitz umhüllt.«

Sie lachte. »Ein dreister Versuch, mich über meine Emotionen zu manipulieren. Ich versichere dir, der Schattenschleier wird fallen.« Beinahe hätte sie die Fäuste geballt. »Aber zur richtigen Zeit.« Nicht, dass sie dabei eine Wahl gehabt hätte, doch das musste er nicht wissen.

In einer blitzschnellen Fingerbewegung wob der Essenzstabmacher einen Transformationszauber, der die Luft um sie herum verfestigte. Ein simpler, aber effektiver Trick. Sie transferierte ihrerseits durch den Nebel an einen anderen Punkt des Raumes.

Während er noch verblüfft realisierte, dass sein Angriff erfolglos geblieben war, versetzte sie den Regalreihen einen Kraftschlag. Wie hintereinander aufgereihte Dominosteine kippten sie um, begruben ihren Gegner unter sich.

Sie trat an seine Seite.

Der Essenzstab ihres Feindes lag in unerreichbarer Ferne, irgendwo unter dem Trümmerfeld.

»Damit steht es zwei zu eins. Ich gewinne«, höhnte die Schattenfrau. »Das tue ich immer. Bereiten wir nun alles für die Ankunft unserer Ehrengäste vor.«

 

 

1. Die Geschichte, so wie du sie kennst …

 

Unruhig rutschte Alex auf seinem Sitz hin und her. Man mochte doch meinen, dass sich eine magische Bildungseinrichtung für angehende Lichtkämpfer bessere Stühle leisten konnte. Stattdessen saß er auf einem der unbequemen Holzsitze, die nach oben einklappten, sobald er aufstand. Lange gebogene Sitzreihen umgaben ein steinernes Pult, das mit Symbolen verziert war. Dahinter stand einer der Unsterblichen.

Als Alex an diesem Morgen Brixton verlassen hatte und mit dem Sprungtor hierher ins Castillo gekommen war, war er bereit gewesen, sein Leben als Magier zu beginnen.

Gut, erst mal hatte er die Hälfte des Frühstücks wieder herausgewürgt, weil sein Körper den Portaldurchgang noch immer nicht so recht zu meistern vermochte. Danach hatte er mit Chris einen Kaffee getrunken, schließlich war er in den Vorlesungssaal geeilt. Dort angekommen, musste er einen neunmalklugen Neuerweckten vom Klappstuhl schubsen, der eine abfällige Bemerkung über Engländer und Gossenjungen im Speziellen gemacht hatte. Letztlich war die Welt doch recht einfach gestrickt.

Dummerweise hatte der andere sich gerächt und einen Zauber angewendet, der das Holz des Stuhls mit Alex’ Hose verschmolz. Bevor der etwas tun konnte, war der Professor eingetreten.

Und nicht irgendeiner.

Albert Einstein, wie man ihn von Bildern her kannte, mit schlohweißem, zerzausten Haar, hatte sich vor ihnen aufgebaut.

»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Und nein, ich werde nicht meine Zunge herausstrecken.«

Seitdem referierte Einstein über magische Geschichte. Mit jedem Informationshappen, den der Unsterbliche ihnen zuwarf, konnte Alex es weniger fassen.

»… bekannt, dass der Eisberg, mit dem die Titanic kollidierte, von einem Schattenkrieger manifestiert wurde, der dafür eine Elementtransformation benutzte. Auf alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen wurden Ordnungsmagier später fündig. An Bord des Schiffes waren bis kurz vor seinem Untergang sowohl der Graf von Saint Germain als auch ein Lichtkämpferteam. Letzteres war auf dem Weg nach New York, um dort ein Artefakt zu bergen, das auf einer Baustelle entdeckt worden war. Bedauerlicherweise wurde das gesamte Team auf dem Weg umgebracht. Die Kollision mit dem Eisberg diente lediglich der Ablenkung.«

»Aber … dabei starben so viele Nimags«, warf ein Franzose ein.

Einstein seufzte. Er kam um das Pult herum und setzte sich auf den Rand. »Bedauerlicherweise sind die Leben von Nichtmagiern für Schattenkrieger völlig unbedeutend. Kollateralschäden. Das wahre Ziel von Saint Germain war die Ermordung des Lichtkämpferteams. Als ein Ersatzteam in New York eintraf, war das Artefakt bereits verschwunden.«

»Aber«, Alex hielt inne, als alle Blicke sich auf ihn richteten. Er räusperte sich.

»Nur zu, mein Junge«, forderte Einstein ihn zum Sprechen auf.

»Wieso wurde kein Sprungtor benutzt? Oder ein Sprungmagier?«

Der Professor nickte. »Ein guter Einwurf. Sprungmagier gab es bis dahin nur einen und dessen Reichweite war begrenzt. Erst in den späteren Jahren, ab 1920 etwa, wurde die Fähigkeit bei weiteren Neuerweckten entdeckt. Das Portalnetzwerk war zu diesem Zeitpunkt recht überschaubar, primär auf Europa ausgerichtet. Natürlich gab es auch auf anderen Kontinenten in sich geschlossene Netzwerke, das erste wurde Australien zugeordnet, doch sie waren untereinander nicht verbunden. Reisen in die Neue Welt mussten daher mit den herkömmlichen Fortbewegungsmitteln angegangen werden.«

Er warf einen Blick auf eine antiquiert aussehende Taschenuhr. »Wie ich so schön sage: Zeit ist etwas, das man mit der Uhr messen kann. Und die sagt mir, dass unsere Vorlesung sich dem Ende zuneigt. Es gibt noch zahlreiche weitere Katastrophen in der Geschichte, die unmittelbar auf das Wirken von Schattenkämpfern oder Mitgliedern des dunklen Rates zurückgehen. Beim nächsten Mal möchte ich das Erdbeben in San Francisco von 1906 und den Großen Brand von London 1666 besprechen.«

Er schnippte mit den Fingern, ein weicher Dreiklang erscholl, der die Vorlesung beendete.

Die anderen strömten hinaus. Der Neuerweckte, den Alex ab sofort bei sich nur noch Nemesis nennen würde, warf ihm ein freches Zwinkern zu, dann war Alex alleine.

»Shit«, fluchte er. Ohne Essenzstab konnte er das dämliche Holz nicht von der Hose lösen.

Prompt steckte Jennifer »Jen« Danvers den Kopf herein. »Wartest du auf etwas?«

Die schlanke Lichtkämpferin mit dem dunklen, schulterlangen Haar hatte ihn seit dem Erwachen seiner Macht gefressen. Ständig sah sie arrogant auf ihn herab, gab schnippische Antworten oder verdrehte die Augen. Dass sie ihm das Leben gerettet hatte, als diese Irren vom Bund des Sehenden Auges ihm einen Dolch in die Brust hatten stechen wollen, machte es nicht besser. Damit war er ihr etwas schuldig.

Er deutete auf die Sitzfläche. »Ja, verdammt. Meinen Essenzstab!«

Sie kicherte. Räusperte sich. Kicherte erneut und half ihm schließlich aus der Patsche. Das Holz floss zurück. »Glückwunsch, dein Hintern ist wieder frei.«

»Haha.«

Sie stellte sich vor das Pult und ließ den Blick über die Bankreihen schweifen. Jen war sechsundzwanzig Jahre alt, hatte ein sinnlich geschnittenes, schmales Gesicht und seidig schimmerndes Haar. Sie fiel eindeutig in die Rubrik attraktiv. Bedauerlicherweise hatte er ihr das im Halb-Delirium im Krankenflügel auch gesagt. Seitdem hielt sie ihn für einen Macho.

»Ist echt schockierend, was?«, fragte sie.

»Hm?«

»Zu erfahren, dass die Menschheitsgeschichte, wie wir sie kennen, eine einzige große Lüge ist.«

»Stimmt.«

»Du hast doch was von Einsteins Vorlesung mitbekommen, oder?«, stichelte sie. »Oder waren zu viele attraktive Lichtkämpferinnen anwesend, die dich abgelenkt haben?«

Es brodelte in ihm. Jemand musste dieser verzogenen – und wie er wusste – reichen Schnepfe die Meinung sagen.

»Egal«, kam sie ihm zuvor. »Auf jeden Fall sind deine Vorlesungen für heute durch. Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug.«

»Wohin?« Er stand auf, reckte seine Glieder.

»Zum Stabmacher«, erwiderte sie. »Es wird Zeit, dass du deinen Essenzstab bekommst. Du musst lernen, damit auf Material einzuwirken. Außerdem starten demnächst die Vorlesungen im Stabkampf. Nein, schau nicht so, das tun wir in der Regel nicht untereinander. Aber im Kampf gegen Schattenkrieger ist das ganz nützlich.«

Sie verließen den Vorlesungsraum und traten auf den Flur.

Wie immer ging es im Castillo lebhaft zu. Gruppen aus Magiern eilten geschäftig umher, dazwischen sah man mit etwas Glück mal einen der Unsterblichen.

Sie stiegen die Treppen hinab in die Katakomben.

»Was ist mit den anderen?«, wollte er wissen.

»Kevin und Max wälzen seit Stunden Bücher«, erwiderte sie. »Sie wollen unbedingt Hinweise auf die Schattenfrau finden. Clara studiert die Unterlagen von Marks alten Fällen, um herauszufinden, weshalb die Schattenkrieger ihn so hartnäckig umbringen wollten. Zumindest die Unterlagen, die Leonardo nicht konfisziert hat, also eigentlich nur Notizen. Chris klebt förmlich an Leonardo, damit der ihm wieder den Außeneinsatz erlaubt, aber das sieht schlecht aus. Oh, hätte ich fast vergessen.« Sie griff in die Hosentasche und zog ein schmales Holzetui hervor.

»Für mich?«, fragte Alex grinsend. »Schatz, das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Jen verdrehte die Augen. »Echt, ich nehme deinen Essenzstab und stecke ihn dir dorthin, wo keine Sonne scheint.«

»Ts, ts, ts, wir sind heute aber sehr aggressiv, Miss Danvers.«

Er nahm das Etui entgegen. Darin befand sich ein Kristall von klarer Färbung. Als er ihn herausnahm, tönte sich das Innere bernsteinfarben ein. »Was ist das?«

»Ein Kontaktstein«, erklärte Jen. »Er ist nun mit dir, oder genauer: deinem Sigil verbunden. Deshalb hat er auch die Farbe deiner Magiespur angenommen. Darüber kannst du mit dem Team gedanklich kommunizieren oder einen anderen Lichtkämpfer gezielt ansprechen. Außerdem neutralisiert er die Sprachbarriere. Wenn du in einem anderen Land mit jemandem sprichst, klingt es, als spräche dieser Englisch. Er hört aber automatisch seine Sprache, wenn du etwas sagst.«

»Wow.« Er hängte sich den in ein Lederbändchen eingeflochtenen Kristall um den Hals. »Praktisch. Was ist mit den Roaminggebühren im Ausland?«

Jen schlug die Hand vor die Stirn. »Ich muss mit Leonardo reden, ob wir nicht einen Kindergarten aufmachen können. Da würdest du super reinpassen.«

Sie ging ein wenig schneller, um ihn hinter sich zu lassen. Trotzdem hätte er schwören können, dass sie kurz grinste. Na also, geht doch. Du taust schon noch auf.

Schließlich erreichten sie die Kammern mit den Portalen. Sechs Stück insgesamt, die von einem zentralen Hauptraum abzweigten. Dort stand der Torwächter, der die Passagen zuteilte. Nur er konnte einem Sprung den Vorrang geben, andernfalls musste man oft warten. Glücklicherweise war momentan nicht viel los.

Sie betraten eine der Kammern.

Alex malte das Sprungsymbol. »Welche Stadt soll ich anvisieren?«

»Hier ist das etwas anders«, erklärte Jen. »Niemand weiß, wo das Refugium des Essenzstabmachers steht. Er mag seine Ruhe. Denk einfach an seine Bezeichnung.«

Alex tat es und murmelte gleichzeitig die Worte: »Porta aventum.« Im gleichen Augenblick verschwand die Karte mit den silbernen Punkten vor seinem inneren Auge. Stattdessen manifestierte sich ein wirbelnder Essenzstab. Er fokussierte ihn, das Portal entstand fast unmittelbar. »Wow.«

»Nach dir«, sagte Jen.

Alex zog einen Schmollmund. »Gut, dass ich noch nichts gegessen habe. Das käme alles direkt wieder raus.«

Noch einmal atmete er tief ein und wieder aus. Dann tat er den Schritt in das Portal.

 

 

2. Überraschung

 

Clara schob ihre Zehen unter der Bettdecke hervor – und zog sie sofort wieder zurück. Der Raum war eine Eisgruft. Einmal mehr verfluchte sie die Ungerechtigkeit der menschlichen Anatomie. Ständig fror sie, während den Männern so warm war, dass sie die Fenster aufrissen oder magisch die Temperatur senkten.

Neben ihr atmete Gryff Hunter, oberster Ordnungsmagier des Castillos, gleichmäßig ein und aus. Er schlief.

Sie drehte sich zur Seite, stützte den Ellbogen ab und betrachtete ihn. Sein Dreitagebart war drauf und dran, zu einem Vollbart zu werden, das dichte, dunkle Haar umrahmte wellig sein Gesicht. Die Decke reichte ihm nur bis zu den Hüften. Typisch. Vermutlich würde er sich nach dem Aufwachen darüber beschweren, dass es viel zu warm gewesen war.

Die nackte Brust war von dünnen Härchen bedeckt und so breit wie ein Wandschrank.

Sanft fuhr sie die Kuhle zwischen den Brusthügeln nach, was ihm einen leisen Seufzer entlockte.

Ein letztes Mal sog sie den Anblick ein, dann schlug sie die Decke zur Seite. Zitternd stieg sie in ihre Hose, streifte das Shirt darüber und richtete die Haare. Vermutlich würde ihr jeder ansehen, dass sie gerade wilden Sex gehabt hatte. Andererseits ahnte niemand etwas von der Affäre, die Gryff und sie am Laufen hatten. Und so sollte es auch bleiben.