Das Geheimnis der versteinerten Träume - Ralf Isau - E-Book

Das Geheimnis der versteinerten Träume E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Zwei Jugendliche, ein geheimnisvolles Internat und die Kraft der Träume

Der 15-jährige Leo erwacht eines Morgens – und findet in seinem Bett einen Wetterhahn! Der Hahn ist nicht das erste Mitbringsel aus seinen Träumen und so ist Leo dankbar, dass er statt in der Psychiatrie in einem geheimnisvollen Internat am Bodensee landet: Die Traumakademie wurde als Nachwuchsschmiede der Firma „YourDream” gegründet, die Millionen begeisterte Kunden mit maßgefertigten Träumen beliefert. Doch hinter dem Geschäft mit den Designerträumen steckt ein gefährlicher Mann: Refi Zul, Herrscher über den unsichtbaren Kontinent Illúsion, das Reich der ungeträumten Träume. Er zieht immer mehr Traumenergie aus der Menschenwelt ab und bringt die beiden Welten damit aus dem Gleichgewicht. Um eine Katastrophe globalen Ausmaßes zu verhindern, müssen Leo und seine Mitschülerin Orla das Geheimnis der versteinerten Träume lösen ...

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Seitenzahl: 555

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Inhaltsverzeichnis

InschriftKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Über den AutorCopyright

Im Bereich des Geistes ist das wahr oder wird wahr,was man für wahr hält …Im Bereich des Geistes gibt es keine Grenzen.

John Cunningham Lilly

Es gab Tage, an denen graute es Leo Leonidas davor aufzuwachen. Dies war so ein Tag. Schon als ihm das Reich der Träume entglitt, hatte er ein komisches Gefühl. Am liebsten wäre er gleich wieder eingeschlafen.

Irgendetwas lag neben ihm im Bett. Es war kalt, ungefähr so groß wie eine Bulldogge und scharfkantig. Vielleicht Krallen?, überlegte er. Konnte er nicht einfach aufwachen wie ein normaler Fünfzehnjähriger, mit zerstrubbeltem Haar, Mundgeruch und schlechter Laune? Stattdessen ständig diese Überraschungen – Mitbringsel eines Schlafwandlers.

Inzwischen passierte das fast wöchentlich und von Mal zu Mal wurden die Souvenirs ausgefallener. Oft verwirrten, manchmal ärgerten sie ihn und immer öfter fürchtete er sich davor. So wie an diesem Morgen, zwei Tage vor dem Ende der Sommerferien. Vorsichtig öffnete er die Augen.

Neben ihm lag ein Wetterhahn.

Leo blieb ein paar Atemzüge lang stocksteif liegen. Er musste sich zunächst darüber klar werden, ob er wirklich schon wach war. Sollte er noch träumen, könnte ihn der Vogel attackieren. Sehr behutsam rückte er ein Stück weiter zur Bettkante und hob die Decke an, um das Biest genauer zu beäugen. Es bestand aus grün angelaufenem Kupferblech und war ziemlich windschnittig. Aus seinem Rücken ragte ein Spieß, an dessen Spitze eine stachlige Kugel stak. Früher hatten Ritter mit solchen Morgensternen ihre Feinde erschlagen. Kein Wunder, dass ihn das Ding gekratzt hatte.

Er kannte den Blechgockel. Leos Vater Emanouel hatte die Figur erst beim Abendessen im Scherz erwähnt. »Jetzt mach dir keine Gedanken über Mamas Handy«, spielte er den Umstand herunter, dass sich Selbiges, nachdem es tagelang vermisst worden war, in der Gefriertruhe angefunden hatte. »Solange du nicht aufs Dach der Kreuzkirche raufkletterst und den Hahn runterholst, ist alles im grünen Bereich. Obwohl …« Er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Hab ich das Telefon wirklich in die Pute gesteckt, Mama?« Leos Blick war zur Mutter gewandert, einer blauäugigen Hanseatin mit blonder Kurzhaarfrisur und wetterfestem Optimismus. Ihr bevorstehender vierzigster Geburtstag war das einzige emotionale Tiefdruckgebiet, das ihre Laune einzutrüben vermochte.

»Also, wir waren es nicht«, hatte sie vergnügt gesagt. Severina neigte dazu, in jeder noch so bizarren Aktion ihres Sohnes einen Ausdruck von überragender Intelligenz zu sehen.

Leo hatte einen Mundwinkel hochgezogen, um wenigstens so zu tun, als fände er die Situation komisch. Ihm war überhaupt nicht zum Lachen gewesen. Die Vorboten von Geisteskrankheiten werden oft nicht ernst genommen, behauptete das Internet. Beim Googeln zum Thema »gespaltene Persönlichkeit« hatte er beängstigende Dinge erfahren. Vielleicht war er schizophren und brauchte dringend ärztliche Hilfe. Seine Eltern spielten die Sache ständig herunter.

»Du bist in der Pubertät. Da stellt sich der Körper um«, fügte Severina hinzu, als wäre damit alles erklärt. Sie kannte sich mit Naturvorgängen aus. Als hyperaktives Mitglied des World Wildlife Fund telefonierte sie fast ununterbrochen für den Schutz bedrohter oder für die Anerkennung unterprivilegierter Arten. Erst kürzlich war sie als »Stimme des Wattwurms« mit einem Umweltpreis geehrt worden.

»Nicht dass der Wetterhahn sich neben dem Gartenteich schlecht machen würde«, sinnierte derweil Emanouel. Leos Vater war gebürtiger Grieche, ein quirliger, kleiner Mann, der es mit Im- und Exportgeschäften zu einem Magengeschwür und ansehnlichem Wohlstand gebracht hatte. Sein Steckenpferd war die dekorative Verunstaltung des Familienanwesens an der Hamburger Elbchaussee.

Jetzt, ungefähr zwölf Stunden später, hatte Leo es also wieder getan. Er war schlafgewandelt und hatte dabei etwas völlig Unsinniges angestellt. Wie sollte er das seinem Vater beibringen? Papa, ich habe dir den Kupfergockel vom Kirchendach geholt. Stell ihn doch im Garten neben die Gipsfigur vom Diskuswerfer. Ob er den Vorschlag begrüßen würde?

In seiner Karriere als Schlafwandler war Leo schon in mancherlei aberwitzige Situation geraten. Meistens impfte ein fixer Gedanke oder wie am Abend zuvor eine dahingesagte Belanglosigkeit seine Träume. Die waren ohnehin recht farbenfroh, weil er schon seit jeher eine rege Fantasie besaß. Am Morgen nach einer lebhaft durchträumten Nacht erlebte er immer häufiger unliebsame Überraschungen, für die er den Begriff »Traummüll« geprägt hatte. Der Wetterhahn in seinem Bett war der bisherige Höhepunkt. Wie wurde er das Ding wieder los?

Ungefähr eine halbe Stunde lang brütete er über dem Entsorgungsproblem und entschied sich schließlich für die Zwischenlagerung des Kupfervogels in der Remise. Früher hatten in dem Schuppen Pferdekutschen gestanden, heute beherbergte er die zwei Wagen seiner Eltern und Emanouels Projekte. Wohlmeinende Zeitgenossen würden selbige für ausgemusterte Theaterkulissen oder Altmetall halten, Leos Mutter nannte es »Gerümpelkitsch«, sein Vater sprach von »Kunstwerken im Dornröschenschlaf«. Er fühlte sich dazu berufen, diese Königstöchter wachzuküssen. Gewöhnlich blieben die mit Feuereifer begonnenen Restaurierungsvorhaben unverwirklicht, weil die Firma seine Zeit und Kraft verschlang oder Severina die Dekostücke ächtete. Zwischen den Geschmacklosigkeiten, die sie in die Remise verbannt hatte, fiel der Kupfervogel garantiert nicht auf.

Nun, da er einen Plan hatte, fühlte sich Leo gleich viel besser. Endlich wagte er sich aus dem Bett. Er schlurfte ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Die nächtliche Exkursion aufs Kirchendach hatte äußerlich keine Spuren hinterlassen. Seine Mutter behauptete immer, er sei ein hübscher Bursche, ein richtiger kleiner Adonis, der das Beste von zwei Völkern in sich vereine: die Wildheit der Nordvölker und das Edle der alten Hellenen. Ihre maßlosen Übertreibungen nervten ihn. Eigentlich fand er sich eher hässlich.

Die Verwirbelungen, die seinen braunen Haarschopf wie ein Kornfeld nach einem Sommergewitter aussehen ließen, verbuchte er als Geburtsfehler. Sein Gesicht war schmal und hatte ausgeprägte Wangenknochen. Die gerade Nase verleihe ihm etwas Vornehmes, behauptete Severina. Nach Leos Geschmack war sie einen Tick zu lang. Das alberne Grübchen auf dem Kinn verdankte er dem griechischen Familienzweig. Gut, die Augen, die waren okay: ausdrucksstark, groß, braun, mit Wimpern, um die ihn die Mädchen beneideten. Seine schlaksige Statur täuschte ein wenig über den Mangel an Wachstumshormonen hinweg. Wenigstens war er mit einem Meter zweiundsiebzigeinhalb noch kein Zwerg.

Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, um die Lebensgeister zu wecken. Allmählich kam er in Fahrt. Schwungvoll angelte er die Jeans von der Stuhllehne und das rote T-Shirt von der Stehlampe, zog flugs den mit »L« gekennzeichneten blauen Socken auf den rechten Fuß und fand nach einigem Suchen den mit »R« markierten im Aquarium. Weil er nasse Strümpfe an den Füßen nicht mochte, zog er links einfach einen grünen an.

Leise wie ein Einbrecher öffnete er die Tür seines Zimmers. Es lag im ersten Stock der alten Villa, die ursprünglich einem Hamburger Kaffeebaron gehört hatte. Leo lauschte, ob er seine Mutter telefonieren hörte. Im Haus war es still. Vermutlich kämpfte sie aushäusig für den Artenschutz. Elena, die griechische Hausangestellte, hatte montags sowieso ihren freien Tag. Er schlich sich über die hölzerne Treppe zur Diele nach unten und rief nach seiner Mutter. Niemand antwortete. Glück gehabt!

Rasch kehrte er wieder in sein Zimmer zurück, zog dem Wetterhahn einen alten Tennispullover seines Vaters an (in Leos Sweatshirts passte der Vogel nicht hinein) und schleppte ihn aus dem Haus. Das Gartengrundstück war von außen kaum einsehbar, was ihm nur recht sein konnte. Es lag zwischen der stark befahrenen Elbchaussee, wo eine efeubewachsene Mauer es vor dem Verkehrslärm schützte, und dem parallel dazu verlaufenden Zypressenweg, einer ruhigen Sackgasse. Hier, gleich neben der Zufahrt und ungefähr zwanzig Meter vom Wohnhaus entfernt, stand vor einer dichten Hecke die Remise.

Leo wankte mit seiner Last die Auffahrt hinab. Über den alten Bäumen hing die Morgensonne und bewarf ihn mit tanzenden Tupfen aus Licht. Er ächzte wie ein Schauermann. Mehrmals musste er den schweren Vogel absetzen, ehe er endlich das mit roten Ziegeln gedeckte Nebengebäude erreichte. Das Remisentor war unverschlossen. Als er es öffnete, kreischte es, als wolle es gegen sein Vorhaben aufbegehren. Er ignorierte den Protest, hievte den Kupfervogel hinein und sperrte hinter sich zu.

Zwei Paar kleine Sprossenfenster sorgten für die stimmungsvolle Ausleuchtung seines zwielichtigen Treibens. Er kam sich vor wie ein Museumsdieb beim Verstecken der Beute. Sein Blick erklomm die Zwischendecke unter dem flachen Spitzdach. Sie erstreckte sich über zirka Dreiviertel der Gebäudelänge. Dort hinauf musste Emanouel das Gelumpe schaffen, das Severina mit dem stärksten Bann belegt hatte, weil ihr angeblich schon der Anblick Brechreiz verursachte – der »Kotzübeltrödel«, wie Leo ihn insgeheim nannte. Er nickte. Das ideale Zwischenlager für den Traummüll.

Links an der Wand hing eine Holzleiter. Er nahm sie von den Eisenhaken, riss sich einen Splitter ein und lehnte sie an die Kante der aus Bohlen gezimmerten Decke. Weil ein Wetterhahn in einem weißen Tennispullover nur unnötig Aufmerksamkeit erregte, entkleidete Leo die Figur. Hierauf stemmte er sie hoch und ließ sie gegen die Holme der Leiter sinken, um sie beim Aufstieg vor sich her zu schieben. Nach zwei Sprossen war klar, dass ihn das schwere Federvieh erschlagen würde, bevor er es auf den Dachboden hinaufbekam.

»Mist!«, keuchte er und setzte den Vogel wieder ab. Er sollte sich dringend etwas einfallen lassen, ehe seine Mutter nach Hause kam. Wie war das noch gleich bei den ägyptischen Pyramiden? Im Schulunterricht hatte er gelernt, dass die frühgeschichtliche Baukunst auf schiefen Ebenen, Seilen und Menschenkraft basierte. Was bei einer Sphinx funktioniert hat, müsste doch auch einem verflixten Gockel Flügel verleihen.

Nach kurzer Suche im hinteren Teil der Remise wurde Leo fündig und kehrte mit einem Strick zurück. Das eine Ende knotete er unterhalb des Morgensternes fest, mit dem anderen erklomm er die Leiter. Die Bevölkerungsdichte auf dem Speicher war überraschend gestiegen, seit er das letzte Mal Vaters Kuriositätenkabinett durchstöbert hatte. Eingezwängt zwischen einem Blechdrachen und einer Vogelscheuche begann Leo den Kupfervogel nach hoben zu hieven; die geneigten Leiterholme dienten ihm dabei als Schienen. Ja, so ging es besser.

Über der elenden Plackerei gelangte er zu dem Schluss, dass Außerirdische die Cheopspyramide errichtet haben mussten. Alles andere wäre eine Zumutung gewesen. Während er keuchte und schwitzte, beobachteten aus den Schatten in seinem Rücken Zwerge, schlangenhäuptige Gorgonen und eine barbusige Gipsgöttin das Geschehen. Als der Morgenstern gerade über dem Horizont des Dachbodens aufging, kreischte die Remisentür.

Leo war vor lauter Keuchen und Ächzen völlig entgangen, dass jemand sie aufgeschlossen hatte. Entsetzt blickte er nach unten. Im sonnendurchfluteten Eingang stand eine Gestalt, die im Schattenriss eine deutliche Neigung zum Übergewicht erkennen ließ. Es schien sie zu überraschen, was sie da sah: einen Jungen mit einem straff gespannten Seil in den Händen, an dem der kupferne Wetterhahn der Kreuzkirche von Ottensen hing.

»Papa?«, fragte Leo ungläubig. Vor Schreck entglitt ihm der Strick, der Kupfervogel rumpelte die Leiter hinab, schepperte über den steinernen Boden und kam direkt vor Emanouel Leonidas’ Füßen zum Stehen – ganz sacht berührte der Morgenstern noch seine Zehenspitzen.

»Au!«, rief Leos Vater. »Was um Himmels willen treibst du hier?«

»Ich … äh … ich habe dir den Kupfergockel vom Kirchendach geholt. Stell ihn doch in den Garten neben die Gipsfigur vom Diskuswerfer.«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch nicht einfach …« Emanouel schüttelte fassungslos den Kopf.

Ein Versuch war’s wert, dachte Leo und verzog das Gesicht.

Sein Vater bückte sich, um das Corpus Delicti genauer in Augenschein zu nehmen. »Schönes Stück. Ist das wirklich die Wetterfahne von der Kreuzkirche in Ottensen?«

Leo nickte aus sicherer Höhe herab. Sein Vater hatte die ersten Jahre seines Lebens in Griechenland verbracht, wo man von laxer Kindererziehung nicht viel hielt. Auch nach dem Umzug der Leonidas’ nach Deutschland war Opa Kostas ein Kritiker der antiautoritären Erziehungsmethoden geblieben. Trotz Zeitmangels schaffte es Emanouel immer wieder, den ihm wichtigen Wertekodex der Familie im Alltag aufblitzen zu lassen. Vor allem in Momenten wie diesem.

Er zitierte seinen Sohn mithilfe eines hektisch zappelnden Zeigefingers zu sich und sagte: »Komm bitte mal da runter. Ich muss mit dir reden.«

Leo stieg die Leiter hinab, riss sich einen zweiten Splitter ein und schlich zu seinem Vater.

»Du hast mir den Hahn nicht wirklich für den Garten beschafft?« , fragte der.

Mehr als ein klägliches Kopfschütteln brachte Leo nicht zustande.

»Mich würde interessieren, wie du das angestellt hast. Rein vom logistischen Standpunkt aus, meine ich. Die Wetterfahne war auf einem Kirchendach, vermutlich gut befestigt, und ziemlich schwer dürfte sie obendrein sein. Wie hast du sie losbekommen, aus schwindelnder Höhe runtergeschafft und drei Kilometer weit hierher geschleppt?«

Der Gefragte zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht.«

»Die Antwort reicht mir nicht, Leo. Das da ist kein Handy in einer Pute.« Sein Vater deutete auf den Kupfervogel zu seinen Füßen. »Du hast eine Straftat begangen. Die können dich wegen Hausfriedensbruch, schwerer Sachbeschädigung und Kirchenfrevel oder wie das heißt rankriegen. Mama und mir werden sie die Verletzung unserer Aufsichtspflicht vorwerfen. Bitte erkläre mir, was da passiert ist. Wieso stiehlst du eine Wetterfahne und versteckst sie zwischen meinen Projekten?«

Leo erzählte die Wahrheit. Das war bei seinem Vater immer das Beste.

Kommentarlos zog Emanouel darauf sein Handy aus der Tasche, drückte eine Taste und sprach das Wort: »Herzmuschel.« Hierauf stellte das Telefon eine Verbindung zu Severina Leonidas her. Von dem folgenden Gespräch bekam Leo nur die Hälfte mit.

»Schatz? … Ich komme gerade nach Hause, weil ich wichtige Unterlagen auf meinem Nachttisch hab liegen lassen, da erwische ich deinen Sohn dabei, wie er den Wetterhahn der Kreuzkirche in der Remise versteckt … Was? … Ja, ich weiß, er ist auch mein Sohn … Wie das passieren konnte?« Emanouel lachte kurz auf. »Na wie schon? Beim Schlafwandeln … Ja.… Ja … Nein! … Jetzt bleib bitte mal realistisch, Schatz. Wenn der Junge nicht in Hahnöfersand landen soll … Ich rede von der Jugendstrafanstalt. Von kriminellen Elementen, die so alt sind wie Leo. Wir müssen sofort etwas unternehmen, damit er nicht … Mit ›wir‹ meinte ich eigentlich dich. In der Firma brauchen sie mich heute für… Was? … Die Sandklaffmuschel kann warten, Severina. Es geht hier um unseren … Ach so … Na schön, dann kümmere ich mich eben darum. Bis später.« Er legte auf.

»Was hat Mama gesagt?«, fragte Leo kleinlaut.

Sein Vater verdreht die Augen. »Sie findet dich genial.«

Der Pastor der Kreuzkirche sah nicht begeistert aus. Die vor der Brust verschränkten Arme waren Vorboten drohenden Unheils. Vielleicht würde er kein himmlisches Feuer auf den jugendlichen Frevler herabrufen, schien aber fest entschlossen, ihn die ganze Härte irdischer Gerichtsbarkeit spüren zu lassen. Sein von Missmut umwölkter Blick starrte mal auf den Wetterhahn im Laderaum von Emanouel Leonidas’ Edelkombi, dann wieder in das zerknirschte Gesicht des Sünders. Die drei standen vor dem aus roten Backsteinen errichteten Gotteshaus, das der Schlafwandler in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte.

»Jetzt geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und drücken Sie ein Auge zu«, sagte Leos Vater in flehendem Ton. »Für den Schaden komme ich natürlich auf.«

Figürlich ähnelten sich die beiden Männer. Pastor Hoogenkamp war geringfügig größer als Emanouel und etwas rundlicher. Seine vorstehenden, grüngrauen Augen hatten die Farbe von Gletschereis. Er strich sich eine graue Strähne aus dem Gesicht, die ihm der Wind von der kahlen Stelle am Hinterkopf gerissen hatte.

»Sind Sie katholisch, Herr Leonidas?«, fragte er kühl.

»Griechisch-orthodox.«

»Dann sollten Sie trotzdem das Prinzip der Buße kennen. Man macht eine Sünde nicht dadurch ungeschehen, dass wer auch immer ›ein Auge zudrückt‹. Außerdem habe ich den Vorfall schon der Polizei gemeldet.«

Emanouel erschrak. »So schnell? Laufen Sie täglich nach dem Aufstehen um Ihre Kirche, um Spuren von Vandalismus zu finden?«

»Selbstverständlich. Gehen Sie etwa nicht jeden Morgen um Ihr Auto und schauen nach Kratzern?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich, weil Sie Südländer sind. Bei uns ist Kirchenschändung ein ernstes Vergehen.«

»Jetzt bleiben Sie bitte mal auf dem Teppich, Herr Pastor. Mein Sohn schändet keine Kirchen.«

»Das sagen die Eltern immer.«

»Außerdem tut Leo die Sache leid. Meinen Sie, es ist ihm leichtgefallen, sich bei Ihnen zu entschuldigen, obwohl er die Wetterfahne nicht absichtlich vom Dach geholt hat? Er ist …«

»… ein Schlafwandler«, unterbrach Hoogenkamp mit wegwerfender Geste den bettelnden Vater. »Das sagten Sie schon. Offen gestanden empfinde ich Ihre Geschichte als Beleidigung meines Intellekts, Herr Leonidas. Anstatt wenigstens zuzugeben, dass Ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten ist, versuchen Sie mich für dumm zu verkaufen. Ein Mitglied meiner Gemeinde schreibt für das Hamburger Abendblatt. Er weiß bereits über den Vorfall Bescheid und wird darüber berichten. Nach den Grabschändungen im letzten Frühjahr müssen wir endlich die Samthandschuhe ausziehen und hart durchgreifen. Die jugendlichen Kriminellen glauben, sie dürfen sich alles erlauben.«

»Wäre Gott so streng wie Sie, käme jeder in die Hölle«, knirschte Emanouel.

»Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln, Herr Leonidas.«

Der zwinkerte. »Könnte etwas Fakelaki Sie gnädig stimmen?«

»Danke, ich habe schon gefrühstückt.«

»Eigentlich biete ich Ihnen an, Ihren Wetterhahn zu vergolden.«

»Wollen Sie mich jetzt auch noch bestechen?« Hoogenkamp war sichtlich entrüstet.

»Aber keineswegs«, sagte Leos Vater pikiert. »Ein Fakelaki ist nur ein ›Briefumschlägchen‹.«

»Ja, mit Schmiergeld drin. Korruption ist strafbar und verwerflich.«

»Ich bin Grieche. Wir sprechen vom ›Ölen‹. Geben nicht sogar Sie Ihren Schäfchen die Letzte Ölung?« Emanouel grinste schelmisch.

»Bei allem Respekt, Sie sind ein Schlitzohr, Herr Leonidas, und…«

»Danke. So etwas Nettes hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt.«

»… außerdem fehlt mir das Sendungsbewusstsein, orthodoxe Schlawiner in das Mysterium der evangelisch-lutherischen Krankensalbung einzuweihen.«

»Dann seien Sie bitte wenigstens so gnädig und ziehen Sie die Anzeige zurück, Herr Pastor.«

»Sie verwechseln Gnade mit Willkür. Wozu sollten sich die Rechtschaffenen anstrengen, wenn es ihnen nicht besser ergeht als den Übeltätern?«

»Sie könnten das Leben dieses Jungen zerstören.«

Der Priester musterte Leo aus seinen Gletschereisaugen und schüttelte den Kopf. »Nicht ich habe die Kirche geschändet. Das hat ganz allein er getan.«

Die Lokalpresse bauschte den Vorfall auf. Im Sommerloch gab es ohnehin nicht viel zu berichten, da kam Leos Eskapade gerade recht. Eine Woche lang las er über sich hanebüchene Artikel unter Schlagzeilen wie »Schlafwandler oder Vandale?«, »Jugendlicher Kirchenschänder hält die Justiz zum Narren«, »Leo L. beweist: Wer schläft, der sündigt doch« oder »Traumkarriere: Vom Schlafwandler zum Dieb«. Die Gazetten bedienten das Bedürfnis der breiten Masse nach Sensationen. Als habe Pastor Hoogenkamp den Schreiberlingen in die Feder diktiert, wurde ein »härteres Durchgreifen der Justizbehörden« gefordert. Ehe das Gericht sich des Falls annehmen konnte, war Leo in der Presse schon abgeurteilt.

Unterdessen taten seine Eltern ihr Bestes, um es nicht zum Schlimmsten kommen zu lassen. Wenige Stunden nach dem unerfreulichen Besuch beim Pastor der Kreuzkirche konsultierten Emanouel und sein Sohn einen Rechtsanwalt. Der empfahl dem besorgten Vater, seinen Sprössling in ärztliche Behandlung zu geben. So könne er der Jugendrichterin glaubhaft machen, dass man »Leos Problem« in den Griff bekommen werde. Er wolle alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, ihm den Prozess zu ersparen.

Drei Tage später – die Lokalseiten der Tagespresse hatten sich inzwischen auf den »Schlafwandlerfall« eingeschossen – saßen der Junge und seine Mutter im Sprechzimmer eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie. Die Praxis von Doktor Marius Hackmann lag in der Mönckebergstraße unweit der Binnenalster. Er war ein sportlich anmutender Endvierziger mit grau meliertem Haar, Schildpattbrille und einschläfernder Stimme.

»Sind Sie nicht die Gewinnerin des diesjährigen Wattenläuferpreises?« , fragte der Nervenarzt Severina nach eingehender Untersuchung ihres Sohnes. Er hatte sich für den Privatpatienten viel Zeit genommen, während Leos Mutter ungefähr zwanzig Telefonate führte.

Sie bejahte verlegen und richtete dabei ihre Kurzhaarfrisur. »Dann liegt die Umwelt Ihnen auch am Herzen, Doktor Hackmann ?«

»Ich spende regelmäßig.«

»Vielleicht kann ich Sie für mein neues Sorgenkind begeistern: den Nordsee-Schnäpel.«

Der Arzt lächelte. »Und ich dachte, Sie seien wegen Leo hergekommen.«

Severina blinzelte. Dann lachte sie gekünstelt. »Ja, natürlich! Was fehlt denn dem Jungen?«

»Ich konnte mir bis jetzt nur ein erstes Bild von ihm machen. Der Fall ist hochinteressant. Wussten Sie, dass Ihr Sohn sich für schizophren hält?«

»Nein«, staunte sie. »Woher sollte ich das wissen?«

»Sie sind seine Mutter.«

»Das ist unmöglich, so intelligent, wie Leo ist.«

»Die landläufig als Schizophrenie bezeichneten Psychosen gehen nicht unbedingt mit eingeschränkter intellektueller Leistungsfähigkeit einher. Selbst Nobelpreisträger leiden unter Dementia praecox.«

Severina erschrak. »Dann könnte er tatsächlich daran erkrankt sein. Leo ist nämlich ein außerordentlich begabter Junge.«

»Ohne Zweifel«, pflichtete ihr Doktor Hackmann mit gnädigem Lächeln bei. »Bis zu einer endgültigen Diagnose sollten wir noch ein paar Untersuchungen durchführen und die Testergebnisse für den organischen Befund abwarten. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass wir es hier mit einer Form der Schizophrenie zu tun haben. Wahrscheinlicher erscheint mir indes eine weniger schwere psychotische Störung, die man oft ambulant behandeln kann.«

»Dann muss ich nicht in die Klapsmühle?«, fragte Leo. Die Einweisung in eine Nervenheilanstalt war seine größte Sorge.

»Vorläufig würde ich davon absehen«, antwortete der Arzt träge. Danach erklärte er Severina die weitere Vorgehensweise. Unter anderem sollte Leo in den nächsten Tagen sein Gehirn einscannen und sich in einem Schlaflabor untersuchen lassen. Mit einem wohldosierten Händedruck verabschiedete er Mutter und Sohn.

»Und? Was hältst du von Doktor Hackmann?«, fragte Severina im Fahrstuhl.

»Dem kann man beim Reden ein Zungenpiercing schießen.«

»Ich meinte eigentlich, ob du ihm vertraust.«

Leo zuckte mit den Schultern. Immerhin taten seine Eltern jetzt irgendetwas für ihn. Ob es das Richtige war, musste sich erst noch zeigen.

Der betagte Lift kam ruckelnd zum Stehen, die Türen öffneten sich, ein Mann lächelte sie an. Er war ungefähr Mitte fünfzig, hatte auffällig behaarte Hände und sah ansonsten aus, wie sich Leo einen zerstreuten Professor vorstellte: verschmierte Nickelbrille, wirre Frisur, ausgebeulte dunkelblaue Breitkordhose, dazu unpassendes, kariertes Sakko in gedecktem Braun-Beige-Rot, vermutlich superbequeme Gesundheitsschuhe, die sich auch zum Austreten mittelschwerer Waldbrände eigneten.

»Frau Severina Leonidas?«, sprach er Leos Mutter an, wobei er das R auffallend rollte.

»Ja?«, erwiderte sie argwöhnisch.

»Ihr werter Gemahl sagte mir, wenn ich mich spute, erwische ich Sie hier vielleicht noch.« Er machte einen Schritt zur Seite, damit die beiden aus dem Fahrstuhl treten konnten. Während sie das taten, griff er in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Visitenkarte hervor und reichte sie Severina. »Ich bin Doktor Herger Dabelstein …«

»Ein Doktor der Psychologie und Internatsdirektor?«, las sie überrascht, was auf der Karte stand.

»Ganz genau.« Er nickte eifrig und schüttelte Severina die Hand. Mit dem Kopf deutete er auf den Jungen. »Das ist Ihr Sohn?«

»Ich heiße Leo«, sagte der unwirsch. Ihm gefiel es überhaupt nicht, wenn jemand wie von einem Taubstummen über ihn redete.

Dabelstein gab ihm ebenfalls die Hand. Sein rundliches Gesicht lächelte. »Hocherfreut, Leo. Die letzte Nacht konnte ich kaum schlafen, so aufgeregt war ich, dich endlich kennenzulernen. Was immer der Kollege in diesem Haus dir erzählt hat, ich gehe stark davon aus, dass du nicht krank bist. Das kommt dir jetzt vielleicht komisch vor …«

»In der Tat«, unterbrach ihn Severina misstrauisch. »Was befähigt Sie zu dieser Diagnose. Etwa das gründliche Studium der Tagespresse?«

»Die verbalen Blähungen der Journaille waren nur der Auslöser für mein Interesse. Ich durchforste seit geraumer Zeit das Internet nach den typischen Anzeichen, an denen man sie erkennt. Sogar die haarsträubendsten Schmierereien der Boulevardpresse können sie nicht gänzlich übertünchen. Das kurze Gespräch mit Ihrem Mann hat mich in meiner Vermutung bestärkt, dass Leo einer ist.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie reden.« Das verwirrende Gerede des Psychologen beschwor erkennbar Severinas Unmut herauf.

Sichtlich ergriffen deutete Dabelstein auf den Jungen. »Frau Leonidas, ich bin überzeugt, dass Leo eine seltene Begabung hat. Deswegen bin ich hier. Ich möchte Ihnen anbieten, sein Talent in einer besonderen Einrichtung zu fördern.«

Leos Mutter schien um einige Zentimeter zu wachsen. Ihre Miene hellte sich auf. »Eine seltene Begabung, sagen Sie? Endlich bemerkt das mal einer, ohne dass ich ihn mit der Nase draufstoßen muss. Was sehen Sie denn in Leo?«

Der Doktor strahlte. »Einen Traumschmied!«

Das Wiener Café Wirth lag über einem Juweliergeschäft in der Spitalerstraße 28, nur wenige Gehminuten von der Praxis des Nervenarztes entfernt. Leos Vater führte die Familie gelegentlich dorthin, da ihm der Kaiserschmarrn mit den Apfel-Zimt-Spalten so gut schmeckte. Severina meinte, in Wahrheit ziehe ihn der Plüsch in das mehr als einhundertdreißig Jahre alte Kaffeehaus. Sie hatte es Doktor Dabelstein empfohlen, weil sie seinen Geschmack ähnlich einschätzte.

So falsch lag sie mit ihrer Menschenkenntnis wohl nicht, denn als sie dem Internatsleiter die Nusstorte empfahl, begannen seine dunklen Augen begeistert zu leuchten. Sie bestellte sich Bienenstich und Leo nahm das Erdbeer-Baisér mit Vanille-Creme und Schlagobers. Anschließend knüpfte seine Mutter an das unterbrochene Gespräch an.

»Sie erwähnten vorhin eine ›besondere Einrichtung‹, in der man Leos Talente fördern könne. Was genau darf ich mir darunter vorstellen?«

Er öffnete die Hände über dem blütenweißen Tischtuch. »Sicher haben Sie die Adresse auf meiner Karte gesehen. Ich möchte ihn einladen, unser Internat auf Schloss Salem zu besuchen. Die Traumakademie.«

»Traumakademie?«, echote Leo.

Dabelstein nickte. »Eine private Stiftung von Robert Zaki. Ich weiß nicht, ob Sie schon von ihm gehört haben. Er lebt sehr zurückgezogen.«

»Gilt er nicht als einer der vermögendsten Männer der Welt?

»Richtig. Manche behaupten sogar, er sei der reichste von allen. Sein Firmenimperium umspannt den gesamten Globus. Die meisten seiner Unternehmen sind auf revolutionäre technologische Produkte spezialisiert.«

»So wie YourDream«, warf Leo ein.

»Da erwähnst du gleich das jüngste und, wie nicht wenige sagen, erfolgreichste Kind von RZ Enterprises«, pflichtete ihm Dabelstein bei. »YourDream hat seinen Sitz in München.«

»Die Traumfabrik«, sagte Leo eifrig nickend. So nannten sie die begeisterten Fans der Firma. Schlafen war gestern, heute ist YourDream, lautete der bekannteste Slogan des stark expandierenden Unternehmens.

»Ich habe meinem Sohn verboten, die künstlichen Träume auszuprobieren«, betonte Severina ernst.

Sehr zu Leos Bedauern. Einige seiner Klassenkameraden schwärmten vom YD-Abonnement, das für wenig Geld maximalen Spaß versprach. Damit konnte man sich auf dem Internetportal der Traumfabrik einen individualisierten Traum zusammenklicken. Der Server stellte aus hochgeladenen persönlichen Bildern der Kunden automatisch »Skins« her und legte sie über die vorgefertigten Traumbausteine. Nach einer kurzen Kompilierungszeit lud man sich den Traum aus dem Web in die DreamCap herunter. Das war eine bequeme Schlafmütze, die mittels sogenannter Induktoren gezielt die Gehirnaktivitäten stimulierte. Premiumkunden konnten zwei Mal im Monat ganz spezielle Traumwünsche an YD schicken und erhielten eine Maßanfertigung. In solchen Designerträumen war alles möglich.

Wenn stimmte, was Leos Schulfreunde erzählten, dann waren die Träume von YD aufregender und wirklichkeitsnäher als die virtuellen Realitäten der besten Computerspiele. Der Clou sei, dass man in ihnen mehrtägige Abenteuer erlebte, während man vielleicht nur eine Stunde schlief. Danach, so versprach die Werbung, wache man erfrischt auf und könne sich um seine Karriere kümmern oder um andere Beschäftigungen. So kamen die Kunden von YourDream dem sprichwörtlichen Vierundzwanzigstundentag greifbar nahe.

»Ich habe Eltern kennengelernt«, sagte Doktor Dabelstein, »die kontrollieren weder, auf welchen Websites sich ihre Kinder im Internet herumtreiben, noch beschränken sie den Umgang mit Computerspielen. Ihre kritische Haltung finde ich äußerst lobenswert, Frau Leonidas. Was YourDream anbelangt, kann ich Sie beruhigen. Die Designerträume sind eigentlich ein Abfallprodukt der medizinischen Forschung von RZ Enterprises. Ehrlich gesagt habe ich auch keine allzu große Meinung von vorgefertigten Träumen. Den Einsatz zu therapeutischen Zwecken dagegen befürworte ich als Psychologe voll und ganz. Wir haben schon Hunderten von Traumapatienten geholfen, Kindern aus Kriegsgebieten etwa oder Missbrauchsopfern …«

Die Bedienung brachte das Gebäck sowie Kaffee, Tee und Cola.

Severina beugte sich vor und senkte die Stimme. »Aber neulich stand im Abendblatt etwas von Todesfällen bei Träumern? Kunden von YourDream, meine ich. Ich habe gelesen, sie hätten die gleichen Symptome gezeigt, wie Menschen mit Burn-out-Syndrom. Der Artikel zitierte Experten, die Designerträume für gefährlich halten. Mein Mann und ich haben Leo streng verboten, damit herumzuspielen.«

»Ich bin auch Experte«, erklärte Dabelstein unaufgeregt. »Und zwar kein selbst ernannter wie diese Leute, die sich bei jeder Gelegenheit in die Medien drängen. Ich habe meinen Doktor in Traumpsychologie gemacht und kann Ihnen versichern, dass ich sofort kündigen würde, sollte meine Arbeit anderen – vor allem jungen – Menschen Schaden zufügen. Natürlich birgt jeder Eingriff in unser Leben ein gewisses Gefahrenpotenzial. Sogar Aspirin kann bei falscher Dosierung schädlich sein. Oder das Autofahren, wenn man die Regeln nicht beachtet. Aber würden Sie deshalb Ihrem Sohn das eine oder das andere verbieten?«

»Er ist fünfzehn.«

»Treibt er Sport?«

»Ich fahre Skateboard«, sagte Leo. Ihm ging das ständige Umihn-Herumreden auf die Nerven. »Sogar ziemlich gut. Neulich habe ich einen 360° Hardflip hinbekommen.«

»Einen was?« Endlich beachtete Dabelstein ihn.

»Das ist ein Frontside 360° Pop Shove-It mit einem Kickflip.«

»Klingt … äh … phänomenal. Ist … so was ganz ohne Risiko?«

»Wenn man sich blöd anstellt, bricht man sich sämtliche Gräten.«

Der Psychologe stach seine Kuchengabel in die Nusstorte. »Und was tust du dagegen?«

»Ich trage Ellbogen- und Knieschützer und auf der großen Halfpipe immer einen Helm.«

»Darauf habe ich bestanden«, betonte Severina mit Nachdruck.

»Und trotzdem verbieten Sie Leo das Skaten nicht«, sagte Dabelstein mit vollem Mund und fuchtelte beim Sprechen mit der Gabel herum. »Bildlich gesprochen sagen die Verantwortlichen der Traumfabrik genauso: ›Setzt den Helm auf!‹ Bei richtiger Anwendung gelten die von YourDream entwickelten Methoden als völlig unbedenklich. Es gibt bisher keine Belege für das Gegenteil, die einer streng wissenschaftlichen Überprüfung standhalten.«

Leo meinte, ein verhaltenes Aufatmen bei seiner Mutter zu bemerken. Der Doktor machte den Eindruck eines Mannes, der genau wusste, wovon er redete. »Warum heißt Ihre Einrichtung eigentlich Traumakademie?«

»Weil man bei uns das Träumen lernt. Natürlich sind wir eine staatlich anerkannte Schule und bieten unseren Schülern eine erstklassige Ausbildung durch die besten Lehrer.«

»Jeder kann doch träumen.«

»Aber nicht so wie du. Nach allem, was ich bisher von dir gelesen und gehört habe, bist du ein Naturtalent für Klarträume, in der Fachsprache luzides Träumen genannt. Darunter versteht man das bewusste Erleben und Beeinflussen des Trauminhalts.«

»Wollen Sie sagen, mein Sohn hat den Wetterhahn vorsätzlich gestohlen?«, fragte Severina. Ihre Stimmlage wechselte ins Schrille.

Dabelstein trank seelenruhig einen Schluck Kaffee. So leicht ließ er sich offenbar nicht aus dem Gleichgewicht bringen. »Nicht selten entsteht die Absicht im Unterbewusstsein. Vielleicht wollte er seinem Vater gefallen. Mir kam Ihr Mann etwas angespannt vor. Wahrscheinlich hat er im Geschäft so einiges um die Ohren. Ist es möglich, dass er Leo manchmal nicht so viel Zeit widmen kann, wie der Junge es sich wünscht?«

»Das trifft auf mich genauso zu. Das moderne Leben fordert eben seine Opfer.«

Leo musste an das Handy im Truthahn denken. Konnte es sein, dass dieser Dabelstein recht hatte und die Mitbringsel aus seinen Träumen nur der Hilfeschrei eines vernachlässigten Jungen waren? Er schob den unangenehmen Gedanken beiseite und stellte eine Frage, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte. »Was ist eigentlich ein Traumschmied?«

Der Internatsleiter lächelte. »Den Begriff hat Robert Zaki geprägt.«

»Klingt ziemlich angestaubt. Von einem Hightechbonzen hätte ich was Moderneres erwartet.«

»Der korrekte wissenschaftliche Terminus lautet Oneironaut. So bezeichnen wir jene, die das luzide Träumen beherrschen. Übrigens eine Fertigkeit mit enormem Karrierepotenzial. YourDream stellt vorzugsweise Absolventen der Akademie als Traumdesigner ein. Das sind hoch bezahlte Traumschmiede, die Maßanfertigungen für die Therapien oder für YD-Premiumkunden herstellen. Andere Designer entwerfen neue Traumbausteine für die Module, aus denen man sich im Internet seine Träume zusammenklicken kann.«

»Und Sie meinen, ich könnte das auch?«

»Vielleicht sogar noch viel mehr. Sag mal, Leo, hast du eine Ahnung, wie genau der Wetterhahn vom Dach der Kreuzkirche in dein Bett gekommen ist?«

»Keinen blassen Schimmer.«

»Hast du schon früher im Schlaf Dinge getan, die … sagen wir, unerklärlich sind?«

Severina lachte. »Er hat mal auf dem Fahrrad die Köhlbrandbrücke überquert …«

»Ich meinte eher etwas Spektakuläres, Unvorstellbares.«

»Der Junge ist auf dem Brückengeländer gefahren. Fast vier Kilometer weit. Mit fünf Jahren. Im Schlaf.«

»Oh! Das kommt meinen Vorstellungen schon ziemlich nahe.«

»Welchen Vorstellungen?«, brummte Leo.

»Ich denke, du könntest eine besonders seltene Begabung für etwas haben, das weit übers Klarträumen hinausgeht. Robert Zaki scheut weder Kosten noch Mühen solche außergewöhnlichen Talente zu finden und zu fördern. Die Traumakademie würde sämtliche Auslagen für dich übernehmen, sogar eine Bahnfahrkarte erster Klasse wird bezahlt. Nur müssten du und deine Eltern sich schnell entscheiden. Auch in Baden-Württemberg fängt das neue Schuljahr bald an.«

Severinas Mutterstolz schlug in Besorgtheit um. »Ich fürchte, da verlangen Sie etwas Unmögliches, Doktor Dabelstein. Das Jugendgericht hat eine einstweilige Anordnung erlassen – ich glaube, so nennt man das. Leo darf Hamburg nicht verlassen und muss sich in psychiatrische Behandlung begeben. Eigentlich hätte er bis zur endgültigen Klärung seines Falls sogar in die geschlossene Abteilung des Klinikums Nord in Ochsenzoll eingewiesen werden sollen. Der Anwalt hat das gerade noch abwenden können.«

Dabelstein wischte mit seiner Gabel durch die Luft und schleuderte dabei ein Kuchenstück in Richtung Nachbartisch. »Was die Scherereien mit dem Gericht angeht, machen Sie sich mal keine Sorgen. Robert Zakis Rechtsanwälte sind die besten, die man für Geld bekommen kann. Außerdem ist die Traumakademie eine staatlich anerkannte Therapieeinrichtung. Wir können die meisten Auflagen also auch in Salem erfüllen. Bei uns enden die Sommerferien einen Monat später als hier in Hamburg. Bis dahin sollten wir alle Hürden aus dem Weg geräumt haben.«

»Hauptsache, ich lande nicht in der Klapsmühle«, sagte Leo. Soweit er verstanden hatte, war er nicht geisteskrank. Trotzdem stimmte etwas nicht mit ihm. Er war nicht normal. Insofern gab es für ihn auch keinen Grund zum Jubeln. Die Aussicht, eines Tages zu den Freaks zu gehören, die bei YourDream Designerträume entwarfen, war dennoch verlockend.

»Dann würdest du in die Traumakademie kommen?«, vergewisserte sich Dabelstein.

Leo nickte.

»Und was sagen Sie dazu?«, fragte er Severina.

»Ich wusste schon immer, dass mein Sohn besonders begabt ist. Mir wäre es durchaus recht, ihm die nötige Förderung zu ermöglichen.«

»Schwingt in Ihrem Ja ein Aber mit?«

»Sie haben eben eine ›seltene Begabung‹ des Jungen erwähnt. Worum genau handelt es sich dabei?«

»Das ist kompliziert.«

»Ich besitze ein Diplom in Ökologie und Umweltschutz.«

»Was sich in diesem Fall eher als hinderlich erweisen könnte. Wussten Sie, dass die Psychologie von vielen lange als reine Geisteswissenschaft angesehen wurde?«

»Ich begreife nicht, was das mit meiner Frage zu tun hat.«

»Eine Menge. Geisteswissenschaftler werden von Naturwissenschaftlern oft belächelt. Letztere sind gewöhnlich Anhänger des Materialismus, den sie als unumstößliches Gesetz ansehen.«

»Und was ist er tatsächlich?«, fragte Leo.

»Deine Neugier gefällt mir. Der Materialismus ist eine philosophische Lehre. Manche sagen sogar, er sei eine Religion ohne Gott. Ihm zufolge ist die ganze Wirklichkeit – der Geist und das Denken eingeschlossen – ausschließlich auf die Kräfte oder Bedingungen der Materie zurückzuführen.«

»Das dachte ich auch.«

»Vermutlich hast du nie etwas anderes gelernt. Mich fasziniert der menschliche Geist, gerade weil er nur bedingt mess-und wiegbar ist. Wir verstehen noch immer nur einen kleinen Teil von dem, was unser Gehirn zur komplexesten Struktur des Universums macht. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir eines Tages eine immaterielle Komponente des Geistes fänden.«

»Sie meinen die unsterbliche Seele?«, fragte Severina mit spöttischem Unterton.

»Das ist ein Konzept, mit dem ich nichts anzufangen vermag. Ich denke eher an Dinge wie Fantasie, Kreativität und Schlafverwandlung – die seltene Begabung, die ich bei Leo vermute. Sie könnte der Schlüssel zum besseren Verständnis unserer unstofflichen Seite sein.« Dabelstein lächelte. Zum ersten Mal sah er verlegen aus. »Ich habe schon mehr gesagt, als ich eigentlich wollte. Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für einen Scharlatan.«

»Schlafverwandlung?«, wiederholte Leos Mutter nur. »Davon habe ich noch nie gehört. Was soll das sein?«

Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Ich möchte nichts verheimlichen, Frau Leonidas, was an sich keiner Geheimhaltung bedarf. Mir erscheint es nur vernünftiger, das Thema vorerst nicht weiter zu vertiefen. Sie könnten glauben, ich spräche von Zauberei.«

Nicht nur das Wetter war traumhaft. Noch in anderer Hinsicht fühlte sich Leo in einen Traum versetzt. Einen von der angenehmeren Sorte. In einer Gruppe von Jugendlichen näherte er sich einem weißen Barockschloss mit roten Dachziegeln und gelb oder grau abgesetzten Fenstereinfassungen. Sofern er keine weiteren Wetterhähne mehr entführte, sollte es bis zum Abitur sein zweites Zuhause werden.

Laut der Informationsbroschüre, die Direktor Dabelstein der Familie Leonidas überlassen hatte, befand sich die Traumakademie in einem ehemaligen Zisterzienserkloster oberhalb des kleinen Dorfes Salem. Die gesamte Anlage bildete ein großes Rechteck mit drei begrünten Innenhöfen. Das im gotischen Stil errichtete Münster der Abtei begrenzte zwei von ihnen im Norden. In unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche erstreckte sich bis hinüber zum Westflügel ein vorgelagertes langes Gebäude mit Unterrichtsräumen.

Die knapp dreihundert Schüler wohnten im westlichen Geviert des Schlosses. Von den Zwei- oder Vierbettzimmern blickte man entweder auf den Rasen des ruhigen Schlosshofes oder man hatte eine atemberaubende Aussicht auf die von Feldern, Weinhängen und Wäldern geprägte Hügellandschaft oberhalb des ungefähr elf Kilometer entfernten Bodensees. So versprach es der Schulprospekt. In der Broschüre stand auch, dass die Abtei Anno Domini 1134 gegründet worden war. Leo kannte unzählige Geschichten, die sich um solche ehrwürdigen Gemäuer rankten, manche spannend andere gruselig. Er war neugierig, welche aufregenden Geheimnisse das fast neunhundert Jahre alte Kloster barg.

Ein Bus der Akademie hatte ihn und etwa vierzig weitere Schüler in Friedrichshafen abgeholt. Auf der knapp fünfundzwanzig Kilometer langen Fahrt war er mit seinem Sitznachbarn Benno Kowalski ins Gespräch gekommen, einem pummeligen Rotschopf aus Potsdam. Benno hatte streichholzkurze Haare, ungefähr eine Million Sommersprossen im Gesicht und eine weithin hörbare, quäkende Stimme. Besonders helle war er wohl nicht, machte das mit seinem sonnigen Gemüt aber mehr als wett.

»Mein Vater ist ein Müllbariton«, sagte er, womit er gleich sein größtes Talent offenbarte: Er konnte Fremdwörter mit fast hundertprozentiger Sicherheit verwechseln.

»Du meinst Müllbaron?«, half Leo ihm auf die Sprünge.

Benno nickte. »Genau. Dreißig Potenz der Müllwagen in Brandenburg gehören ihm.«

»Prozent«

»Was?«

»Dreißig Prozent.«

»Sag ich doch.«

»Bist du neu in Salem?«

»Nee. Seit der Achten. Die sollen aus mir ’n Expresschecker machen. Ist voll in die Hose gegangen – zum Leidwesen meiner Erzeugerfraktion. Hast du schon ’n Zimmer?«

»Nö. Bekommt man das nicht zugeteilt?«

»Normalerweise ja. Mein Zimmernachbar ist in die Oberstufe gewechselt. Da wäre ’ne Matratze frei. Soll ich mal checken, ob du bei mir einziehen kannst?«

Leo überlegte nicht lang. Abgesehen von der durchdringenden Stimme schien der Rotschopf ein ganz umgänglicher Typ zu sein. »Wegen mir.«

»Klingst ja nicht gerade begeistert.«

»Gib mir noch etwas Zeit. Für mich ist das alles ziemlich neu.«

Benno hatte diese Äußerung als Einladung aufgefasst, für den Rest der Fahrt ununterbrochen zu reden. Seine mit Wortverwechslungen gespickten Schilderungen erstreckten sich über die »Maroden« (Marotten) seines kürzlich verendeten Hundes Lupo bis zu den zehn ungenießbarsten Speisen in der Mensa des Internats. Auf dem Weg zum Sammelpunkt vor dem Münster redete er immer noch. Als er keuchend seine schwere Reisetasche abstellte, rutschte ein bronzefarbener Kettenanhänger aus seinem Halsausschnitt.

»Kreis und Dreieck? Was ist das für ein Symbol?«, fragte Leo. Die beiden geometrischen Figuren waren in vollkommener Symmetrie miteinander verschmolzen. Nur ihre jeweiligen Randbereiche ragten über die gemeinsame Schnittfläche hinaus. Ihr Zentrum beherrschte ein sitzender Vogel in Seitenansicht. Sein Flügel bildete ein großes Auge.

Hektisch stopfte Benno den Anhänger in den Ausschnitt zurück und murmelte: »Unwichtig. Vergiss es einfach.«

»Ist das ein Amulett? Bist du abergläubisch? Soll wohl niemand merken.«

»Blödsinn. Ich will nur nicht für ’n Weichei gehalten werden oder für ’ne Tunte. Den Ruf hast du hier schnell weg, wenn du als Kerl Schmuck trägst.«

Leo musste grinsen. »Warum hängst du dir dann so was um?«

»Du nervst.«

»Hat das Symbol eine bestimmte Bedeutung?«

»Geht’s noch lauter?«, zischte Benno. »Ja, es hat eine Bedeutung. Das Dreieck ist der Mensch. Die Spitzen stehen für seinen Verstand, die Gefühle und die Fantasie. Alle drei gehen in seinem Traum-Ich auf – dem Kreis.«

»Aber sie sind nicht völlig deckungsgleich.«

»So ist das mit Träumen nun mal. Sie zeigen immer nur einen Teil der Wirklichkeit und gleichzeitig ragen sie über sie hinaus.«

»Und das Vogel-Auge?«

»Es ist ein Traumauge. Nichts bleibt vor ihm verborgen, weil der Vogel frei ist zu fliegen, wohin er will. In Träumen ist eben alles erlaubt und alles möglich. Träume sind grenzenlos.«

»Mannomann! Klingt ja mega-philosophisch. So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt, Benno Kowalski.«

Der zog eine Grimasse. »Tja, jeder hat eben seine verborgenen Seiten. Können wir jetzt das Thema wechseln?«

Leo zuckte die Achseln und schmunzelte still vor sich hin. Der coole Rotschopf war in seinem Innern ein Sensibelchen. Eigentlich machte ihn das noch sympathischer. Leo wandte seine Aufmerksamkeit der näheren Umgebung zu.

An der Sammelstelle herrschte bereits ein munteres Durcheinander. Die Mehrzahl der Jungen und Mädchen hatte die Sommerferien bei ihren Familien verbracht und sie begrüßten sich, wie es Schulfreunde fast überall tun. Manche sprachen Englisch miteinander – sie gehörten zu den internationalen Klassen. Andere erzählten sich in Schweizerdeutsch, auf Berlinerisch oder im Wiener Dialekt von ihren Ferienerlebnissen. Einige waren wie Leo neu, was er an ihren unsicher umherschweifenden Blicken erkannte.

Während Benno nach wie vor seinen Einführungsvortrag hielt, fiel Leo ein schwarzhaariges Mädchen ins Auge, das ihm den Atem verschlug. Es war mehr als hübsch, es war … geheimnisvoll? Aufregend? Exotisch? Ihm wollte kein wirklich passender Ausdruck einfallen, um seine Empfindungen zu beschreiben. Dürfte die Menschheit nur eine einzige Botschafterin zu einem anderen Stern schicken, dann wäre sie die Richtige.

Na gut, die Kurzhaarfrisur hätte nicht sein müssen – sie erinnerte ihn an seine Mutter. Aber nur ganz entfernt. Bei dem Mädchen standen die pechschwarzen Strähnen so keck vom Kopf ab, als sei es aus einem Manga entsprungen. Ansonsten war die geheimnisvolle Fremde perfekt. Ihre großen Augen strahlten grün, und das schwarze Haar schimmerte blau, wo die Sonne schräg darauf fiel – es glich dem Gefieder eines Raben. Die Figur schien auch keine Mängel aufzuweisen, soweit die weiße, seitlich geschlitzte Baumwolltunika, die sie über ihrer Jeans trug, dies erkennen ließ. Zur Traumakademie gehört eine Traumfrau, dachte Leo. Unwillkürlich zogen sich seine Mundwinkel in die Breite.

Die Schöne wandte sich demonstrativ von ihm ab. Offenbar fasste sie sein Lächeln als plumpe Anmache auf.

»Vergiss es«, sagte Benno.

Leo blinzelte ihn irritiert an. »Was?«

»Die Nymphe«, schnaubte er. Seine Sommersprossen schienen ihm vor Verachtung aus dem Gesicht zu springen.

»Wen?«

Der igelige Rotschopf neigte sich in Richtung der Schönen. »Die Hippe, die du so anschmachtest, ist Orla Flaith. Kommt aus Irland oder Wales. Die darfst du nicht mal nach ihrem Namen fragen. Kalt wie eine Meerjungfrau ist die.«

»Sie hat so etwas …« Leo rang nach dem richtigen Wort, um das Fremdartige, beinahe Feenhafte des Mädchens zu umschreiben.

»Erotisches?«

»Exotisches trifft’s eher.«

»Meinte ich ja. Die Nymphe ist übrigens in meiner Klasse. Kam erst kurz vor den Sommerferien nach Salem. Sie spricht perfekt Deutsch.« Benno deutete zu einem korpulenten Lehrer in schwarzer Hose, dunkelblauem Cordhemd und grauem Sakko mit Fischgrätmuster, der sich gerade mit einem anhaltenden »Schsch!« Gehör verschaffte. »Das ist Osmund Okumus, unser Tutor – so ’ne Art Vertrauenslehrer. Ich kann ihn nicht besonders leiden. Ist mir zu überkandiert.« Er meinte wohl überkandidelt.

»Was stört dich an ihm?«, fragte Leo flüsternd.

»Er tut immer so geheimnisvoll. Außerdem schleicht er nachts in den Gängen herum wie ’n Schlossgeist. Deshalb nennen wir ihn ›Okkultus‹.«

»Hat nicht jeder seine Marotten?«

»Warte, bis du ihn kennenlernst. Er scheint versessen darauf zu sein, uns bei irgendwelchen Regelverstößen zu erwischen, damit er uns zum Montagmorgenstraflauf verdonnern kann. Zehn Kilometer grüne Hölle im Forst, wenn du verstehst, was ich meine. Der reinste Achselterror! Dabei soll er sich bei den Lehrern für uns einsetzen.«

Okumus war Brillenträger, etwa Mitte vierzig und mittelgroß. Die breite Nase im vierschrötigen Gesicht musste ihm irgendwann jemand platt gehauen haben. Er bevorzugte offensichtlich die Nassrasur, obwohl er Grobmotoriker war, wie ein weißes Pflästerchen auf der Wange und ein zweites auf dem kantigen Kinn vermuten ließen. Sein Haar sah aus wie Asche. Wahrscheinlich ein Fan der Beatles, dachte Leo, denn die Frisur des Vertrauenslehrers war eine entschärfte Variante des berühmten »Pilzkopfes«.

Osmund »Okkultus« Okumus erklärte nach knapper Begrüßung, dass die Gruppe ihm folgen solle. Im gemächlichen Schritt, die Hände im Rücken verschränkt, lief er voraus. Die Schülerschar folgte ihm wie eine Schafherde dem Hirten.

Benno wich kurz von Leos Seite, um sich an Okumus heranzupirschen. Dabei fiel auf, dass der Rotschopf Plattfüße hatte. Offenbar machte er wahr, was er bereits angekündigt hatte, und bat darum, seinen neuen Freund bei ihm einzuquartieren. Mit zufriedenem Grinsen kehrte er zurück und erklärte: »Okkultus ist einverstanden, dass wir uns die Bude teilen.« Anschließend kommentierte er im Flüsterton weiter alles, was geschah, damit Leo über nichts im Ungewissen blieb.

Unterdessen hatte der Tross einen von zwei Treppenaufgängen flankierten Eingang erreicht. In der Empfangshalle dahinter erwartete die Ankömmlinge bereits Durs Huber, der etwa sechzigjährige Hausmeister des Internats. Er trug ein rot-grün kariertes Flanellhemd und darüber einen Blaumann, der seinen Schmerbauch gut zur Geltung brachte. Mit seinem buschigen Schnurrbart und der etwas altmodischen braunen Brille war er eher der gemütliche Typ. Jeden Schüler begrüßte er mit Handschlag und einem freundlichen Lächeln.

Danach ging es durch überwölbte Gänge auf die Zimmer. Jungen und Mädchen waren in getrennten Flügeln untergebracht. Manche teilten sich zu viert einen Raum, Leo durfte tatsächlich bei seinem neuen Freund einziehen.

Ihre »Bude«, wie der Rotschopf zu sagen pflegte, war streng symmetrisch eingerichtet: an der rechten Wand ein Bett, links ebenso, rechts ein Kleiderschrank und gegenüber auch. Genau auf der Mittelachse befanden sich ein rechteckiger Tisch mit einem Computer und dahinter, in einer oben abgerundeten Nische, das Fenster. Eher praktisch als gemütlich war das graublau gesprenkelte Linoleum am Boden. Mehrere kleine Wandregale vervollständigten die Ausstattung. Zudem hingen an den weißen Wänden eine Reihe von Postern, die ausnahmslos blonde weibliche Stars der Musikszene in dürftiger Bekleidung zeigten.

Bennos und Leos Zimmer lag im dritten Stock des Westflügels. Dieser Bereich, in dem insgesamt vierundzwanzig Schüler wohnten, hatte einen eigenen »Flügelleiter«, der Sprecher und in organisatorischen Belangen auch Koordinator seiner Gruppe war. Er hieß Mark, war sechzehn, ziemlich groß, dünn wie eine Bohnenstange, lockenköpfig, hoch begabt, bester Schwimmer des Internats und größenwahnsinnig. Das jedenfalls behauptete Benno. Deshalb sprach er gewöhnlich vom »Flüpo«, die Abkürzung für Flügelposten. Den Amtsträger nannte er Mark Laurel, wobei Leo nicht herausbekam, ob sein Zimmergenosse damit auf den Schauspieler Stan Laurel – den unintelligenteren von Dick und Doof – anspielte, oder eher an den römischen Kaiser Mark Aurel dachte. Vielleicht spielte er in einem Anflug von Genialität ja auf beide an, denn Mark Schröder, so sein richtiger Name, nahm sich ziemlich wichtig. Benno meinte, sein Berufsziel sei Diktator.

Mark stellte sich dem neuen Mitschüler vor, indem er ohne anzuklopfen die Tür aufstieß und »Antrittsappell!« brüllte.

»Blödhammel! Du kennst die Regeln. Nächstes Mal klopfst du an oder ich frottier dich«, schrie Benno und warf eine Socke nach ihm. Aufgrund des hohen Luftwiderstands fiel sie auf halbem Wege zu Boden.

Der Flügelleiter W3 grinste Leo an. »Du bist also der schlafwandelnde Kirchenschänder. Siehst genauso unterbelichtet aus wie im Internet.« Sein Blick wechselte zu Benno. »Und unser Pumuckl hat sich gleich beim neuen Superträumer eingeschleimt, was?«

»War gar nicht nötig«, konterte Benno. »Als er dich Hasenhirn sah, hat er mich angebettelt, bei mir einziehen zu dürfen.«

»Pumuckl?«, wiederholte Leo. Am liebsten hätte er laut losgeprustet. Ihm gefiel der Vergleich mit dem rothaarigen Kobold.

»Sag dieses Wort nie wieder«, knurrte Benno. »Ich bin kein Klabautermann.«

»Stimmt, dazu fehlen dir die grünen Zähne.«

Marks Blick wanderte zu Leo. »Ich geb dir ’nen guten Rat, Klugscheißer, weil du neu bist: Halt dich zurück! Tafelglotzer können wir hier nicht gebrauchen.« Er lief weiter den Flur entlang, um auch die anderen Zimmer zum »Antrittsappell!« zu rufen.

»Fängt ja gut an«, murmelte Leo.

Der Rotschopf machte eine wegwerfende Geste. »Den Flüpo darfst du nicht ernst nehmen. Hunde, die bellen, beißen nicht.«

»Wieso eigentlich Appell? Sind wir hier beim Militär?«

Benno schüttelte den Kopf. »Nee. Der Dabel lässt sich keine Gelegenheit entgehen, uns mit einer seiner berüchtigten Reden zuzutexten. Stell dir einfach vor, es wäre ’n Spiel. Wer am längsten wach bleibt, hat gewonnen. Komm, wir können später fertig auspacken. Das Ident findet im Südflügel statt.«

»Event.«

»Wie?«

»Ach, nichts. Geh vor. Ich folge dir unauffällig.«

»Erst müssen wir noch die Anstaltsklamotten anziehen.«

»Wie bitte?«

»Die Schuluniform. Markenjunkies sind auf Salem zum Abschuss freigegeben. Frei nach dem Motto: ›Wir sind alle eine große Gemeinschaft. Keiner ist besser als die anderen, weil er sich teure Markenklamotten leisten kann.‹«

Benno hatte etwas übertrieben. Die »Uniform« bestand aus Bluejeans, lang- oder kurzärmeligen Hemden mit blau-weißen Längsstreifen und Schulwappen auf der Brust sowie dunkelblauen Pullovern. In der Freizeit war individuelle Kleidung erlaubt.

Nachdem sich die beiden umgezogen hatten, ließen sie sich vom Strom der Mitschüler ins Erdgeschoss tragen.

Zur offiziellen Begrüßung anlässlich des neuen Schuljahres hatte der Internatsleiter ins Refektorium geladen, den ehemaligen Speisesaal der Mönche. Es war ein Raum mit prächtigen Stuckverzierungen und Gemälden aus der Barockzeit. In langen Stuhlreihen nahmen die Schüler Platz.

Der Direktor stand auf einem Podest hinter einem Pult, das ihn bis zur Brust verdeckte. Eine Lautsprecheranlage verstärkte seine Stimme. Leo fand die Rede gar nicht so ermüdend. Sie baute auf das Motto der Traumakademie auf. Es lautete: »Gut geträumt ist nichts versäumt.« Davon ausgehend sprach er von der besonderen Rolle, die ein Traumschmied in der Gesellschaft einnehme. »Begabung heißt Verpflichtung«, war eines seiner Schlagworte, das im Verlauf der Ansprache mehrmals fiel. Die Regeln des Internats, die auf Eigenverantwortung und Respekt für die Mitschüler und Lehrer gründeten, nahmen ebenfalls einen breiten Raum ein. Sie waren aus den »sieben Salemer Gesetzen« abgeleitet, den Grundprinzipien für die Erziehung in der Traumakademie.

Benno gähnte. Sein Kopf nickte ständig nach vorne. Er war drauf und dran, das Spiel zu verlieren. Leos Blick wanderte durch den Saal. Eine Reihe vor ihm saß Orla Flaith. Das schwarzhaarige Mädchen sah zu Doktor Dabelstein auf, als verkünde er eine Heilsbotschaft. Oder wollte sie nur unnahbar wirken, damit die Jungen sie in Ruhe ließen?

Der Internatsleiter kam endlich zum Schluss. »Luzides Träumen ist kein Verlust, wie manche meinen mögen«, sagte er mit erhobenem Finger. »Es macht das Träumen nicht weniger bunt und aufregend. Ganz im Gegenteil! Die meisten Träumer sind wie Kleinkinder, die mit ihren Händchen auf einer Klaviatur herumhämmern – zufällig und grauenvoll. Ist dagegen der Pianist, der nach jahrelangem Üben seine Zuhörer mit dem Konzertflügel bezaubert, ein Langweiler? Beileibe nicht! Genauso werdet ihr lernen, eure Träume so virtuos zu beherrschen wie ein Solist sein Musikinstrument. Homer sagte, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes. Ich sage euch: Der Traum ist der kleine Bruder des Lebens. Und für das Leben rüsten wir euch hier aus. Merkt euch also das Motto unserer Schule. ›Gut geträumt ist nichts versäumt.‹ Und jetzt nochmals herzlich willkommen. Ich wünsche euch ein gutes Jahr.«

Die Schüler applaudierten und trampelten mit den Füßen.

Bennos Kopf fuhr hoch. »Was? Schon vorbei?«

Leo grinste. »Ich hab gewonnen.«

Der Rotschopf gähnte. »Na ja, für dich war es das erste Mal. Da fand ich den Dabel auch noch imprägnierend.«

Am Montagmorgen erwachte Leo im Zustand fortgeschrittener Panik. Sein Laken war erschreckend nass. Du hast ins Bett gepinkelt!, dachte er. Er kniff die Augen zu. Seit dem Kindergarten war ihm das nicht mehr passiert. Die ganze Schule würde über den »Bettnässer von Salem« lachen. Megapeinlich!

Dann stieg ihm der Fischgeruch in die Nase. Leo schwante Schlimmes.

Seine Hand kroch über das Bettlaken und stieß gegen ein Hindernis. Es war nicht ganz so fest wie ein Räucherschinken, deutlich nasser und ziemlich glitschig. Als es sich unter seiner Berührung plötzlich bewegte, riss er die Augen auf.

Neben ihm lag eine Meerjungfrau.

Schreiend fuhr er aus den Kissen hoch. Erstes Morgenlicht sickert durch die Fensterläden, was die Inaugenscheinnahme der Nixe erleichterte. Sie hatte lange schwarze Haare, die nur unzureichend ihre nackten Brüste bedeckten. Vom Bauchnabel an abwärts war sie ein Fisch.

Die Seejungfer schrie ebenfalls, richtete sich zum Sitzen auf, drückte sich ängstlich an die Wand und zappelte gehörig mit dem schuppigen Schwanz, der zum Fliehen auf trockenem Land kaum taugte. Leo war da schon besser dran und zog sich im Krebsgang zur Bettkante zurück.

Durch den Lärm wachte nun auch Benno auf, knipste seine Nachttischlampe an und stimmte in das Gebrüll mit ein. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, fing er an zu lachen. »Jetzt kriegst du Ärger«, prustete er. »Damenbesuch auf der Bude ist den Schülern strengstens verboten.«

Leo fiel aus dem Bett. Weil es ihm an Fettpolstern mangelte, war die Landung auf dem Hinterteil recht schmerzhaft. Die Heiterkeit seines Freundes brachte ihn in Rage. »Das ist nicht witzig. Und es ist kein Traum, falls du das denkst.«

Benno wurde schlagartig ernst. »Nicht?«

»Nein. Die Nixe ist echt.« Leo stand auf und rieb sich den Hosenboden.

Der Rotschopf richtete seine Lampe wie einen Suchscheinwerfer auf die Meerjungfrau.

Ihre Augen leuchteten algengrün auf, ehe sie abwehrend den rechten Arm hob. Gleichzeitig verstummte sie.

»Wow! Das sind ja Aussichten«, staunte Benno. Sein Blick klebte an der Nixenbrust, die unter dem erhobenen Arm durch den Vorhang ihrer blauschwarzen Haare schimmerte.

Leo fand die Äußerung ziemlich daneben. Irgendwie fühlte er sich schuldig am Missgeschick der gestrandeten Seejungfer, denn er hatte in der letzten Nacht von ihr geträumt. Sie schien noch recht jung zu sein, dem Gesicht nach zu urteilen kaum älter als er. Schnell warf er die Bettdecke über ihre Blöße.

Plötzlich flog die Tür auf. Aufgeregtes Geflüster drang ins Zimmer und Durs Huber stürzte herein. Mit ausgestrecktem Arm hinderte er Mark »Laurel« Schröder daran, ihm zu folgen. Der reckte neugierig den Hals, doch Leos Kleiderschrank versperrte ihm die Sicht auf die Seejungfer. Hatte der Flüpo Alarm geschlagen?

Im ersten Moment sah der Hausmeister wohl nur den Kopf der Nixe, die sich die Daunendecke bis zum Kinn hochgezogen hatte. Ein verängstigtes Mädchen im Bett eines Schülers, dachte er vermutlich und wirkte dementsprechend entsetzt. Sein Schnauzbart wölbte sich wie bei einem Walross vor, als wolle er gleich lospoltern. Dann bemerkte er den großen Fischschwanz, der unter dem anderen Ende der Decke hervorlugte, und schlug dem Flügelleiter die Tür vor der Nase zu.

»Was ist das?«, keuchte Huber. Er deutete mit zitternder Hand auf die Seejungfer.

»Also, wenn man das nicht checkt«, sagte Benno und verdrehte die Augen.

Der Hausmeister schnappte nach Luft.

»Gleich kollaboriert er«, kommentierte der Rotschopf.

»Du meinst, kollabieren?« Leo schlug das Herz bis zum Hals. Er fürchtete, der Alte könnte tatsächlich einen Kollaps kriegen.

»Wie…?« Huber blinzelte. »Wie kommt dieses Wesen hierher?«

»Ich glaube, das ist meine Schuld«, erklärte Leo zerknirscht. »Sie muss mir aus dem Traum gerutscht sein.«

Der Mann sah ihn nur entgeistert an. Jemand rüttelte hektisch an der Türklinke. »Da gibt’s nichts zu sehen. Geht auf eure Zimmer«, rief der Hausmeister.

»Ich bin’s. Machen Sie auf, Huber!«, verlangte von draußen eine energische Stimme.

Benno stöhnte. »Okkultus! Jetzt gibt’s Ärger.«

Der Alte öffnete die Tür gerade weit genug, um den Vertrauenslehrer hereinzulassen.

Osmund Okumus erfasste die Situation mit einem Blick. Seine Überraschung hielt sich in Grenzen. Er musterte kurz die Seejungfer, dann Leo und beugte sich in den Gang zurück, wo vielstimmiges Gemurmel auf die Anwesenheit etlicher Schüler hindeutete. »Geht wieder ins Bett!«, rief der Tutor. »Da hat nur jemand schlecht geträumt.«

Niemand konnte herein und niemand heraus. Okumus hatte die Tür zum Zimmer verriegelt und den Hausmeister angewiesen davor Posten zu beziehen. Nun näherte er sich staunend der Meerjungfrau. Neugierig erwiderte sie seine Blicke.

»Haben Sie einen Namen, Fräulein?«, erkundigte sich Okumus.

Sie sagte etwas, das so klang, als bliese sie mit gespitzten Lippen ins Wasser. Mit viel gutem Willen konnte man es als Bilibibb deuten.

»Sprechen Sie unsere Sprache, Bilibibb?«

Ihre Antwort hörte sich wie ein bedauerndes »Blubb-ba-lubbblubb« an.

Der Tutor versuchte es noch in Englisch, Französisch und Altgriechisch, mit ähnlich bescheidenem Erfolg.

»Kennen Sie sich mit Nixen aus?«, fragte Leo leise.

Okumus schüttelte den Kopf. »Ich habe in Märchen und Sagen von ihnen gelesen. Wie kommt sie in euer Zimmer?«

»Er meint, sie sei ihm aus dem Traum gerutscht«, knurrte Huber.

Leo zuckte mit den Schultern. »Ich kann es mir jedenfalls nur so zusammenreimen.«

»Ist dir dergleichen früher schon einmal passiert?«

»Mein Vater fand mal einen richtigen Drachen im Tresor, etwa so groß wie ein Kaninchen. Sah aus wie ein Leguan mit Fledermausflügeln.«

»Cool!«, entfuhr es Benno. »Wo ist er jetzt?«

»Im Garten verbuddelt. Er hatte ziemlich gestunken. Muss wohl im Safe erstickt sein.«

»Faszinierend«, sagte Okumus.

»Ich will ja Ihre Begeisterung nicht bremsen«, brummte der Hausmeister und deutete auf die Seejungfer Bilibibb, »aber wenn das da an die Öffentlichkeit dringt, bekommen wir Schwierigkeiten. Nachher interessiert sich keiner mehr dafür, ob sie einen Fischschwanz hatte oder nicht. Dann heißt’s nur noch, einer der Jungen hat ein nacktes Mädchen im Bett gehabt. Die Eltern werden ihre Kinder in Scharen von der Schule nehmen.«

»Sie haben recht.« Der Tutor rieb sich gedankenvoll das Kinn und murmelte: »Wer eine Traumgeborene in die Wirklichkeit versetzt, vermag sie auch wieder ins Reich der Träume zurückzuschicken.« Seine Augen fixierten unvermittelt Leo.

»Das Reich der Träume?«, erwiderte der unbehaglich. »Das existiert doch nur in unserer Fantasie.«

»Er meint, dass du die Nixe einfach auflösen könntest«, schnaubte Huber.

»Was?«, stieß Leo entsetzt hervor. Entrüstet schüttelte er den Kopf. »Das wäre Mord.«

»Kein Gericht dieser Welt würde dich dafür belangen«, sagte Okumus.

»Ich mache das nicht. Niemals! Ich bin Bilibibbs Schöpfer und ich sage Nein dazu.« Leo zitterte vor Abscheu und Zorn. Die Seejungfer auflösen! So weit kam es noch.

Der Vertrauenslehrer lächelte. »Im Deutschen hat das Wort Schöpfer mehrere Bedeutungen: So nennt man nicht nur einen Gott oder jemand anderen, der Neues hervorbringt, sondern man bezeichnet so auch eine Kelle, mit der man etwas herausschöpft. Schlafverwandler wie du schöpfen Traumenergie ab und gießen sie in eine Form, die allein ihre Vorstellungskraft bestimmt. Die Nixe ist also nur eine von vielen Möglichkeiten, die deine Fantasie dir eröffnet. Du könntest sie einfach umgestalten.«

»So?«, schnaubte Leo. »In was denn? Vielleicht in eine Barbiepuppe? Das können Sie vergessen, Herr Okumus. Ich habe sie erschaffen oder geschöpft oder was auch immer und deshalb beschließe ich, dass sie leben soll.«

Der Vertrauenslehrer musterte den Jungen mit bohrendem Blick, so als wolle er ihm gleich an die Gurgel gehen. Unvermittelt seufzte er. »Irgendwie habe ich damit gerechnet, dass du so entscheiden würdest. Dann müssen wir die Traumgeborene eben unauffällig hier wegschaffen. Am besten, wir bringen sie zum Bodensee.« Er wandte sich dem Hausmeister zu. »Haben Sie eine Idee, wie wir das diskret hinbekommen, Herr Huber?«

Der zupfte sich am Schnurrbart. Auf einmal hellte sich seine Miene auf. »Die Sänfte!«

»Eine Sänfte?«, wiederholte Leo erstaunt.

»Die Schüler vom Theaterdienst haben für die Hamlet-Aufführung eine gebastelt«, erklärte Benno.

Okumus schob die Unterlippe vor und nickte. »Darin ließe sich die Meerjungfrau wohl verstecken. Am besten, ich parke unseren Kleinbus hinter dem Langbau. Wir bringen die Nixe zum Bootshaus der Akademie. Es ist noch früh. Wenn wir uns beeilen, können wir sie unbemerkt in ihr Element entlassen.«

Die beiden Männer erörterten generalstabsmäßig die Details der »Operation Seejungfer«. Während Leo ihnen gebannt zuhörte, bekam er unvermittelt einen Stoß in die Rippen.

Benno grinst ihn an und flüsterte: »Bist wohl verknallt in sie.«

»In die Nixe? Spinnst du?«

»Nee, in Orla Flaith. Ist dir nicht aufgefallen, wie ähnlich deine Meerjungfrau ihr sieht?«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Mann, deine Bilibibb ist eine Traumgeborene. Bis heute dachte ich, das sind nur Spinnereien der Lehrer. So nennen sie hier Geschöpfe, die von ’nem Träumer erschaffen und in die Wachwelt hinübertranspondiert werden.«

»Du meinst, transportiert?«

»Genau. Du hast die Nixe buchstäblich im Schlaf gemacht. Cool, oder?«

Leo vermochte die Begeisterung seines Freundes nicht zu teilen. Bilibibb sah alles andere als glücklich aus. Vielleicht bekam ihr die Trockenheit nicht. Er schlug vor, sie für den Transport in nasse Decken einzuwickeln.

»Gute Idee«, sagte Okumus. »Das sollten wir aber erst im Bus machen, sonst ziehen wir eine Tropfenspur quer durch das Schloss.«

Mittlerweile hatten er und der Hausmeister eine Route ausklamüsert, auf der die Nixe hoffentlich unbemerkt zum Fahrzeug hinuntergeschafft werden konnte. Mark Laurel und die anderen Schüler waren nach einer nochmaligen Ermahnung des Vertrauenslehrers in ihre Betten zurückgekehrt. Abgesehen von Leo und Benno. Die mussten bei der Operation Seejungfer mithelfen. Während sie eilig die Sänfte aus dem Fundus der Theatergruppe herbeischafften, fuhr Okumus den kleinen Schulbus zu einer Durchfahrt hinter dem Langbau. Huber blieb bei Bilibibb und redete ihr gut zu. Wenig später trafen sich alle wieder im Zimmer der beiden Jungen.

»Wie geht es ihr?«, fragte Leo.

»Kommt mir etwas apathisch vor«, brummte der Hausmeister. »Wir sollten uns beeilen.«

Leo lief ins Gemeinschaftsbad und kehrte mit einem klitschnassen Handtuch zurück, das er Bilibibb reichte. Sie rieb sich damit den Körper ein. Verschämt drehten sich ihre Retter um, bis sie sich bis zur Schwanzspitze eingefeuchtet hatte. Danach luden sie die Seejungfer in die Sänfte.