Das Geheimnis des Feuers - Henning Mankell - E-Book

Das Geheimnis des Feuers E-Book

Henning Mankell

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Beschreibung

Die Geschichte von Sofia und ihrer Familie, die versuchen, dem Krieg zu entfliehen. ›Das Geheimnis des Feuers‹ beschreibt den Lebensweg der 12- jährigen Sofia aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Mosambik. Als Sofia auf eine Landmine tritt, verliert sie beide Beine. Aber sie verliert dennoch nicht den Lebensmut. Mithilfe eines Arztes erkämpft sie sich trotz ihrer Behinderung eine eigene Zukunft. Henning Mankells Jugendbuch-Afrika-Trilogie erstmals als eBook!

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Seitenzahl: 178

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Henning Mankell

Das Geheimnis des Feuers

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Zur Erinnerung an Maria Alface

Ein afrikanisches Mädchen, das sterben musste, als es noch sehr jung war

Das Buch handelt von ihrer Schwester Sofia.

Die überlebt hat

Einige Worte, bevor du dieses Buch liest …

Es gibt Wörter in unserer Sprache, die sehr viel ausdrücken.

Unbezwinglich ist so ein Wort.

Wenn man es laut vor sich hin spricht, hört man, was es bedeutet.

Dass man nicht auf sich herumtrampeln lässt.

Dass man nicht aufgibt.

Dieses Buch handelt von einem unbezwinglichen Menschen, von dem Mädchen mit Namen Sofia. Es gibt sie in Wirklichkeit und sie ist zwölf Jahre alt. Sie lebt in einem der ärmsten Länder der Welt, in Mosambik, das tief in Afrika an der Ostküste liegt.

Mosambik war einmal ein reiches Land. Aber es ist arm geworden, weil dort seit fast zwanzig Jahren ein Krieg tobt. Bis 1975 ist Mosambik eine portugiesische Kolonie gewesen. Als das Land selbstständig wurde und seinen eigenen Weg gehen wollte, versuchten viele das zu verhindern. Nicht zuletzt die Portugiesen, denen es gut ging und die ihre alte Macht schwinden sahen. Viele von ihnen zogen nach Südafrika. Auch die Rassisten in Südafrika sahen nicht untätig zu, was im Nachbarland Mosambik geschah. Sie gaben den unzufriedenen und armen Mosambikanern Geld und Waffen und ermunterten sie, einen Bürgerkrieg zu beginnen. Und wie in allen Kriegen traf es das Volk am schlimmsten. Viele Menschen starben, viele flohen. Sofia war eine von ihnen. Aber sie hat überlebt.

Dieses Buch handelt von ihr und davon, was ihr geschah.

Von etwas, das ihr ganzes Leben verändert hat.

 

Henning Mankell

Dies ist meine Geschichte und ich will, dass sie in eurer Erinnerung weiterlebt.

 

Das afrikanische Herz ist wie die Sonne, groß und rot, ein Stück Seide, blutrot gefärbt.

 

Die afrikanische Dämmerung tanzt. Aus der aufsteigenden Sonne wachsen die ersten Laute, zuerst flüsternd, murmelnd und schließlich immer stärker.

 

Aber noch ist es Nacht. Und Sofia träumt …

1.

Sofia läuft durch die Nacht.

Es ist dunkel und Sofia hat große Angst.

Sie weiß nicht, warum sie läuft, warum sie Angst hat oder wohin sie unterwegs ist.

Aber hinter ihr ist etwas, tief verborgen in der Dunkelheit, etwas, das ihr Angst macht. Sie weiß, dass sie schneller werden muss, schneller laufen muss, das, was da hinter ihr ist und das sie nicht sehen kann, kommt näher und näher.

Sie hat große Angst und ist sehr allein und sie kann nichts tun als laufen.

 

Sie läuft einen Pfad entlang, der sich durch Gebüsch und Dorngestrüpp schlängelt. Den Pfad kann sie nicht sehen, aber sie kennt ihn auswendig, ihre Füße wissen, wo der Pfad abbiegt und wo er gerade ist. Diesen Pfad geht sie jeden Morgen mit ihrer Schwester Maria, hinaus zu dem kleinen Acker, auf dem sie Mais, Salat und Zwiebeln anbauen. Jeden Morgen in der Dämmerung geht sie dorthin und jeden Abend, kurz bevor die Sonne untergeht, kehrt sie zurück, zusammen mit Maria, und dann ist auch ihre Mama Lydia dabei; sie kehren zurück in ihre kleine Hütte, in der sie wohnen.

Aber warum läuft sie jetzt dort, es ist doch Nacht und dunkel? Was jagt sie in der Dunkelheit, ein Untier, das nicht einmal Augen hat? Sie kann seinen Atem im Nacken spüren und sie versucht noch schneller zu laufen. Aber sie kann nicht. Sie denkt, sie muss sich verstecken, vom Pfad abweichen und sich zusammenkauern und sich klein machen im Gebüsch. Sie setzt zum Sprung an, so wie sie die Antilopen hat springen sehen, und sie verlässt den Boden.

 

Und in dem Augenblick weiß sie es.

Genau das wollte das Untier in der Dunkelheit, das sollte sie tun.

Den Pfad verlassen. Das Gefährlichste, was sie tun konnte.

Jeden Morgen hat Mama Lydia gesagt:

»Verlasst niemals den Pfad. Keinen Meter. Nehmt niemals Abkürzungen. Versprecht mir das.«

 

Sie weiß, dass Gefahren in der Erde lauern. Bewaffnete Soldaten, die niemand sehen kann. Vergraben in der Erde, unsichtbar. Die dort warten, dass ein Fuß auf sie tritt. Verzweifelt versucht sie in der Luft zu verharren. Sie weiß, dass sie ihre Füße nicht auf den Boden setzen darf. Aber sie kann nicht in der Luft bleiben, sie hat keine Flügel wie die Vögel und sie wird heruntergezogen zur Erde und schon berühren ihre Fußsohlen den trockenen Boden.

 

Da wird sie wach.

Sie ist schweißnass, ihr Herz hämmert und im ersten Augenblick weiß sie nicht, wo sie ist. Doch dann hört sie die Atemzüge ihrer schlafenden Geschwister und ihrer Mama. Sie liegen dicht nebeneinander auf dem Fußboden der kleinen Hütte. Vorsichtig streckt sie die Hand aus und tastet über Mamas Rücken. Die bewegt sich, ohne wach zu werden.

Sofia liegt mit offenen Augen in der Stille und der Dunkelheit. Mama Lydias Atemzüge sind leicht und unregelmäßig, als ob sie schon wach wäre und die Grütze vorbereitete, die sie morgens essen. Links von ihr liegen Alfredo und Faustino.

Sofia denkt daran, dass bald noch jemand auf dem Boden der Hütte schlafen wird. Mama Lydia wird bald ein Kind gebären. Sofia hat sie schon so viele Male dick werden sehen. Sie weiß, dass es nur noch wenige Tage dauert.

Sie denkt an den Traum.

Jetzt, da sie wach ist, ist sie gleichzeitig erleichtert und froh, aber auch traurig.

Sie denkt daran, wovon der Traum handelt. An das, was an jenem Morgen vor einem Jahr geschah.

Sie denkt an Maria, deren Atemzüge sie nicht mehr in der Dunkelheit hört.

Maria, die fort ist.

Sofia liegt lange wach in der Dunkelheit. Irgendwo da draußen ruft eine Eule, eine vorsichtige Ratte raschelt draußen vor der Strohwand der Hütte.

Sie denkt an das, was an jenem Morgen geschah, als alles wie immer war und sie und Maria auf dem Weg zum Acker draußen vor dem Dorf waren, um Lydia beim Unkrautjäten zu helfen.

Und sie denkt an alles, was vorher geschah.

2.

Es war die alte Muazena, die Sofia und Maria vom Geheimnis des Feuers erzählt hat.

Jede Flamme hat ihr Geheimnis. Wenn man im richtigen Abstand von den Flammen sitzt, kann man tief hineinsehen und erfahren, was im Leben geschehen wird, in der Zukunft, während all der Tage, die ungenutzt vor jedem Menschen liegen. Muazena zeigte mit ihrer alten, runzligen und zitternden Hand zu einem Acker, auf dem verschiedene Pflanzen in Reihen standen.

»So sieht das Leben aus«, sagte Muazena. »Jeder Tag ist eine Pflanze, die ihr pflegen und gießen müsst, von Unkraut befreien und einmal ernten werdet. Jede Pflanze ist ein Tag in eurem Leben, den ihr noch nicht gelebt habt.«

Im Feuer leben auch alle Erinnerungen.

Auch das hatte die alte Muazena Sofia und Maria erzählt, als sie noch klein waren. Indem man ins Feuer schaut, kann man Erinnerungen hervorlocken, von denen man meint, man habe sie für allezeit vergessen.

 

Sofia dachte oft an Muazena. Aber Muazena war nicht mehr da. Genauso wenig wie Maria. Wenn Sofia an Muazena dachte, dachte sie an die Zeit, als sie noch nicht auf der Flucht sein mussten. Das war vor der langen Reise, ehe sie sich hier am Fluss niedergelassen hatten. Das war die gute Zeit gewesen, als sie kaum wusste, was Schmerz war. Oder Trauer. Oder Hunger. Oder das Schlimmste von allem: Einsamkeit.

 

Damals hatten sie gelebt, wo sie immer gelebt hatten. Am besten konnte Sofia sich an das Dorf erinnern. Dort waren alle Hütten rund und hatten kunstvoll geflochtene Dächer aus Palmblättern. Dort war sie geboren worden, genau wie Maria und Alfredo. Und ihr Vater Hapakatanda hatte sie hoch in den Himmel hinaufgehoben und sie die Sonne begrüßen lassen. Sie hatte festgebunden auf dem Rücken ihrer Mutter gesessen, Lydia, die damals die schönste und stärkste Frau des ganzen Dorfes war. Sofia hatte auf ihrem Rücken gesessen, während Lydia vorgebeugt in der trockenen Erde hackte. Wenn sie an diese Zeit dachte, hörte sie immer Musik in ihrem Innern. Die Trommeln und die eintönige Melodie einer Timbila1. In ihrem Körper verwahrte Sofia immer noch das Echo der schaukelnden Bewegungen, wenn ihre Mutter mit den anderen Frauen tanzte. Sie konnte sich nicht erinnern, damals je hungrig gewesen zu sein. Oder ängstlich. Das war die glückliche Zeit gewesen.

Auch davon hatte Muazena erzählt. Sie hatte vom Paradies erzählt. Und sie hatte gesagt, das Glück sei nur dort, wo wir einmal gewesen sind, nachdem wir es verloren haben.

 

Dann war das geschehen, was sie bis jetzt versucht hatte zu vergessen. Aber die Erinnerung war wie eine Narbe in der Haut, die niemals verschwindet.

Es war Nacht.

Kein Mond, keine Sterne.

 

Plötzlich explodierte ihr ganzes Leben. Ein scharfer weißer Schein füllte die Hütte, dann kam eine Serie starker Explosionen. In ihrer Erinnerung, jener Erinnerung, die sie am liebsten von allem in ihrem Leben vergessen wollte, sah sie verzerrte Menschengesichter im grellen Feuerschein. Es waren Menschen, aber sie glichen Monstern und Sofia hatte sofort begriffen, dass sie gekommen waren, um sie und alle anderen im Dorf zu töten.

 

Es waren die Banditen.

Sie hatten sich im Schutz der nächtlichen Dunkelheit an das Dorf herangeschlichen und sie hatten die Hütten niedergebrannt und die Menschen getötet. Irgendwo in diesem entsetzlichen Durcheinander von Feuer und Tod, von blutigen Körpern, Schreien und Rufen, hatte ihr Vater Hapakatanda versucht sie und Maria zu verstecken. Doch er war von einem Stich mit einem großen Messer getroffen worden, oder vielleicht war es auch ein Beil gewesen, und er war gefallen und sie hatte zusammen mit Maria unter ihm gelegen.

 

Dann war es sehr still gewesen und sie hatte verstanden, was mit der Stille des Todes gemeint war. Aber ihrem Vater war über den Tod hinaus gelungen, was er gewollt hatte: sie und Maria vor den Messern, Beilen und Gewehren zu schützen.

 

Am Morgen, als die Sonne zurückkehrte, wagten sie es hervorzukriechen. Ihr Vater war tot und sie hatten sehr geweint. Muazena war auch tot, sie lag vornübergefallen über dem verglimmenden Feuer. Aber Lydia war nicht da, auch Alfredo nicht. Weder Sofia noch Maria wagten zu rufen und sie weinten lautlos, während sie aus der Hütte krochen. Sie gingen durch das Dorf, überall lagen tote Menschen und sie kannten alle und waren mit ihnen verwandt, Menschen, mit denen sie gespielt, gearbeitet und gelacht hatten. Die Monster, die in der Nacht gekommen waren, hatten die Stille des Todes mitgebracht, sie hatten das Dorf in einen Friedhof verwandelt. Überall lagen tote Menschen in verrenkten Stellungen; die Monster hatten sogar die Hunde umgebracht. Manchen waren Arme und Beine abgeschlagen, einem auch der Kopf. Sofia und Maria gingen durch das tote Dorf, durch die Stille des Todes, bis sie die letzte der niedergebrannten Hütten erreichten. Sofia dachte, irgendwo müsse Lydia sein, ebenso Alfredo. Alle konnten doch nicht tot sein. Es konnte einfach nicht sein, dass nur Maria und sie übrig waren. Das war es, wovon Muazena erzählt hatte, das größte Grauen für einen Menschen ist es, der letzte Mensch auf der Erde zu sein.

Ich will nicht der letzte Mensch sein, hatte sie hinter ihrem lautlosen Weinen gedacht. Wenn Maria auch noch etwas zustößt, bin ich allein übrig.

Aber Lydia war dort gewesen. Am Rande des Dorfes, versteckt in einem Gebüsch, fanden Sofia und Maria sie, Alfredo war auch am Leben geblieben. Dort waren Lydia, Alfredo, zwei andere Frauen und drei Kinder. Sofia und Maria durften ihre Freude nicht herausschreien, vielleicht waren die Banditen noch in der Nähe und konnten sie hören. Sie umfassten einander nur und lagen den ganzen Tag im Gebüsch versteckt, ohne Wasser, ohne zu essen, und warteten, dass es wieder dunkel würde.

 

Dann waren sie geflohen. In der ersten Nacht schlugen sie sich durch das kratzende Gebüsch, solange sie konnten. Danach trauten sie sich auch tagsüber zu wandern. Da sie nicht wussten, wohin, gingen sie einfach geradeaus, geradewegs hinaus in das trockene Land, hin zu den hohen Bergen, die am Horizont zu sehen waren. Sofia erinnerte sich an ihren Hunger. Aber der Durst hatte sie noch mehr gequält.

Am dritten Tag zerstritt Lydia sich mit den anderen beiden Frauen darüber, in welche Richtung sie gehen sollten. Sie trennten sich und Lydia, Sofia, Maria und Alfredo wanderten weiter auf die Berge zu, während die anderen Frauen in eine andere Richtung abbogen.

Sie gingen weiter und drehten sich nicht mehr um.

 

Irgendwo auf dem Weg ins Unbekannte trafen sie eine alte Frau. Sie war sehr arm, ihre Kleider hingen in Fetzen an ihr herunter und die Beine waren geschwollen und voller Wunden. Sofia dachte, sie ist genauso alt wie Muazena. Plötzlich stand sie vor ihnen, und als Mama Lydia sie ansprach, konnten sie sich verständigen, denn ihre Sprachen waren ähnlich. Lydia erzählte, was geschehen war.

»Das waren die Banditen«, sagte sie. »Sie sind in der Nacht gekommen und sie haben meinen Mann umgebracht.«

»Wen noch?«, fragte die alte Frau. »Die Banditen sind Ungeheuer und sie töten niemals nur einen. Sie töten, so viele sie können.«

»Sie haben alle im Dorf getötet«, antwortete Lydia.

»Und die Hunde«, sagte Sofia. »Sie haben auch alle Hunde umgebracht.«

Die alte Frau begann den Körper zu wiegen, sie warf den Kopf hin und her und stieß klagende Rufe aus. Lydia machte dasselbe, dann auch Sofia, Maria und Alfredo. Sie wiegten die Körper und jetzt trauten sie sich zu weinen und ihre Trauer und ihren Schmerz herauszuschreien, sodass es zu hören war.

Dann gingen sie weiter auf die Berge zu. Die alte Frau folgte ihnen und sie teilte das Fleisch eines toten Vogels mit ihnen. In einem fast ausgetrockneten Flussbett fanden sie Wasser zu trinken.

Nachts schliefen sie am Feuer unter mächtigen Baobabbäumen und es geschah, dass Sofia Maria weckte, als sie einen Löwen in der Dunkelheit brüllen hörte.

Die alte Frau hatte ihnen nicht ihren Namen genannt. Aber sie hatte ein freundliches Lächeln, obwohl sie keinen einzigen Zahn mehr hatte.

 

In Sofias Träumen kehrten die Monster zurück. Wenn eins der Ungeheuer erneut sein Beil über ihrem Vater erhob, wurde sie wach. Lydia schlief zusammengerollt, Alfredo dicht an ihren Körper geschmiegt. Die alte Frau schlief am Feuer, das jetzt nur noch schwach glomm. Maria lag an ihrer anderen Seite. Sofia dachte, dass vielleicht Muazenas Geist in der alten Frau wiedergekehrt war, die ihren Namen nicht nannte.

 

In der frühen Morgendämmerung setzten sie ihre Wanderung fort, auf die Berge zu, die immer noch weit entfernt schienen. Plötzlich meinte Sofia zu hören, wie Mama Lydia die alte Frau nach der Stadt fragte.

»Ich bin niemals dort gewesen«, antwortete die Alte.

»Ist es weit bis dorthin?«, fragte Lydia.

»Die Stadt liegt weit entfernt, damit solche wie du und ich und deine Kinder sie nicht erreichen. Meine Beine sind alt und voller Schwären, die deiner Kinder viel zu kurz und zu jung. Keiner von uns hat Beine, die dazu gemacht sind, die Stadt zu erreichen.«

Lydia fragte nicht mehr. Schweigend gingen sie weiter. Es war sehr heiß. Sie versuchten sich vor der Sonne zu schützen, indem sie ihre Capulana2 um die Köpfe schlangen. Die alte Frau hatte noch ein wenig Wasser in einem schmutzigen Plastikbehälter. Doch als der Nachmittag schon weit vorangeschritten war, konnten sie noch immer keine Andeutung von Baumgruppen entdecken. Das wäre ein Zeichen gewesen, dass es in der Nähe Wasser gab.

In der kurzen Dämmerung blieb die alte Frau plötzlich stehen und setzte sich mühsam auf die trockene Erde.

»Bis hierher bin ich gekommen«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens. »Und nun bin ich am Ende.«

Lydia trug Sofia und Maria auf, Holz für ein Feuer zu sammeln.

»Aber hier gibt es doch keine Bäume«, sagte Sofia. »Wo sollen wir schlafen?«

»Tut, was ich sage«, antwortete Lydia. Ihre Stimme klang müde. »Wir bleiben heute Nacht hier.«

Sofia wollte mehr fragen. Wer sollte sie gegen die Raubtiere schützen? Was würde geschehen, wenn das Feuer erlosch und kein Baumgeist da war, der über sie wachte? Aber sie wagte nicht zu fragen. Mama Lydias Stimme war anzuhören gewesen, dass sie im Augenblick keine Antworten mehr hatte. Zusammen mit Maria und Alfredo sammelte sie trockenes Gras und Holzstöckchen. Sofia hielt sich die ganze Zeit nah bei Alfredo. Es könnte Schlangen geben und er war noch zu klein und hatte nicht genügend Verstand, sich vor ihnen zu fürchten.

Sie zündeten das Feuer an und Sofia sah, dass die alte Frau unbeweglich mit offenen Augen dasaß.

»Will sie nichts essen?«, fragte Sofia, als sie den Rest des getrockneten Fleisches aßen.

»Sie hat keinen Hunger«, antwortete Lydia.

»Will sie nicht schlafen?«, fragte Sofia leise, als sie sich am Feuer zusammengekauert hatten.

»Sie schläft schon«, antwortete Lydia. »Frag nicht mehr. Schlaf.«

Am Tag darauf, in der Dämmerung, als Sofia erwachte, saß die alte Frau in derselben Haltung da.

Ihr Körper war ganz steif. Sofia begriff, dass auch sie nun tot war.

Sie berührte Lydia, die sofort wach war.

»Sie ist tot«, sagte Sofia.

Lydia erhob sich und ging zu der Alten. Sie schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Dann weckte sie Maria und Alfredo und befahl Sofia, den Plastikbehälter der alten Frau mitzunehmen.

Als sie schon ein ganzes Stück gegangen waren, drehte Sofia sich um. Wie einen fernen Schatten konnte sie die alte Frau erkennen. Vielleicht war sie schon in eine der verzerrten toten Baumwurzeln verwandelt worden, die auf der roten trockenen Erde verstreut lagen.

Sofia hatte viele Fragen. Sie fragte sich, warum sie in diese Welt von lauter Toten getrieben worden war.

Wenn ich nur die hohen Berge erreiche, dachte sie. Dahinter muss es lebendige Menschen geben.

 

Sie wanderten lange, viele Tage. Später dachte Sofia, alles sei wie ein Traum gewesen. Vielleicht war es so, dass man in Träumen auf Reisen gehen konnte? Vielleicht konnte man über Berge klettern und durch halb ausgetrocknete Flussbetten waten, ohne dass man wach wurde?

Aber in der Nacht kehrten die verzerrten Gesichter zurück. Die Monster beugten sich über sie und sie wurde mit einem Ruck wach. Dann wichen die Monster zurück. Doch sie waren immer in ihrer Nähe, das wusste sie. Die Monster sahen sie, ohne dass Sofia sie sehen konnte.

Sie wanderten lange, viele Tage.

Sofia fragte Lydia, wohin sie unterwegs waren.

»Fort«, antwortete Lydia. »Fort vom toten Hapakatanda und deinen Geschwistern.«

Sofia versuchte sich vorzustellen, dieses »Fort« sei ein Ort, vielleicht ein Dorf, das es schon irgendwo gab und das auf sie wartete. Aber gleichzeitig dachte sie, dass sie, die nicht mehr auf dem Rücken ihrer Mutter getragen wurde, nicht solche kindischen Gedanken haben durfte. Fort war fort, nirgendwo.

 

Eines Tages sah Sofia zum ersten Mal das Meer.

Sie waren einen Hügel hinaufgestiegen, es war spät am Nachmittag und Sofias Füße waren geschwollen und voller Wunden.

Da sah sie zum ersten Mal das Meer. Ein Fluss ohne Ufer auf der anderen Seite. Türkis schimmerndes Wasser, über das keine Brücken hinüberführen konnten.

Obwohl Sofia das Meer noch nie gesehen hatte, war ihr sofort, als ob sie heimgekommen wäre. Es war, als ob es auch im Unbekannten etwas Vertrautes gab. Vielleicht hatte sie jetzt eins der Geheimnisse entdeckt, über die Muazena mit ihr gesprochen hatte, eins der Geheimnisse des Feuers. Vielleicht war es so, dass auf alle Menschen, die von Banditen oder Monstern aus ihrer Heimat verjagt wurden, irgendwo ein anderer Ort wartete. Vielleicht musste man sich nur hinsetzen, wie es die alte Frau getan hatte. In dem Augenblick, wenn die letzten Kräfte den Menschen verließen, würde er eine Heimat erreichen, die er nicht kannte.

 

Sie gingen weiter bis ans Meeresufer. Der Sand war anders, weicher unter den Füßen. Lydia ließ sich im Schatten eines Baumes am Ufer niedersinken. Zusammen liefen Sofia und Maria hinunter zum Wasser. Sie kosteten davon und es war salzig. Sie wateten hinaus, bis sie hörten, wie Lydia ihnen zurief, vorsichtig zu sein.

Hinterher fragte Sofia, ob sie jetzt angekommen seien.

Lydia schüttelte den Kopf.

»Wie sollten wir hier leben können?«, fragte sie. »Wie sollten wir etwas zum Wachsen bringen im Sand? Wie sollten wir im Meer pflanzen? Wir müssen weiter.«

Das Meer vergaß Sofia nie. Als sie am nächsten Tag ihre Wanderung ins Landesinnere fortsetzten, schaute sie noch oft zurück, um das Wasser zu sehen, das kein Ende zu haben schien.

 

Nach einer langen Zeit erreichten sie ein Dorf, in dem Lydias Mann Hapakatanda entfernte Verwandte hatte. Der Anführer des Dorfes, ein alter Mann, der fast blind war, übermittelte ihnen die Botschaft, dass sie bleiben dürften. Sie bauten eine kleine Hütte aus Stroh und Lehm am Rande des Dorfes und morgens gingen Lydia, Sofia und Maria mit den anderen Frauen zur Arbeit auf die Felder. Doch eines Tages kam ein Mann angelaufen und erzählte, dass ein Nachbardorf in der letzten Nacht von den Banditen überfallen worden war. Am selben Nachmittag flohen alle aus dem Dorf und sie nahmen nur ihre Ziegen mit. Mehr als einen Monat versteckten sie sich aus Angst, die Banditen könnten sie finden. Sie hatten fast nichts zu essen und ernährten sich von Wurzeln, Eidechsen und Mäusen, die sie fingen.

Währenddessen wurde Alfredo sehr krank. Sofia glaubte, dass auch er sterben müsste. Wenn ein Kind vor Kälte zu zittern begann, obwohl die Sonne heiß brannte, dann wusste sie, dass der Tod begonnen hatte, dem Kind seinen gefährlichen Atem durch die Nasenlöcher einzublasen. Aber Alfredo wurde wieder gesund. Als die Dorfbewohner beschlossen, in ihr altes Dorf zurückzukehren, sagte Lydia, dass sie nicht mitkommen würden, sie wollten ihre Wanderung fortsetzen.

»Wohin wollen wir?«, fragte Sofia.

»Dorthin, wo es keine Banditen gibt.«

»Wo ist das?«

»Ich weiß es nicht. Frag nicht so viel.«