Das Geheimnis des perfekten Tages - Dieter Nuhr - E-Book

Das Geheimnis des perfekten Tages E-Book

Dieter Nuhr

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Beschreibung

Unnachahmlich charmant stellt sich Dieter Nuhr den elementaren Fragen des Daseins: Wie hat man in der Urzeit gelebt ohne QR-Codes, Wetter-App und Wasserwaage im Smartphone? Wieso treffen sich jedes Jahr Menschen, um den "hässlichsten Hund der Welt" zu wählen? Gibt es in der eigenen Art nicht genügend abstoßende Exemplare? In diesem Buch nehmen wir teil an 24 Stunden im Lebens eines fragenden, denkenden, lachenden, vom Irrsinn des Daseins faszinierten Zeitgenossen. Selten war Nachdenken so lustig. Vom Wachwerden bis zum Wiederwegnicken entstehen absurde Gedanken, exakte Beobachtungen und gefühlte Wahrheiten. Und vielleicht erfährt man am Ende sogar Das Geheimnis des perfekten Tages. Wer weiß? Der ultimative Gedankenstrom vom Philosoph unter den Comedians. Viel Vergnügen!

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Seitenzahl: 293

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

05:21 PROLOG

07:30 VOR DEM AUFWACHEN

07:35 AUFWACHEN

08:15 NACH DEM AUFWACHEN

08:51 FRÜHER MORGEN

10:13 MORGEN

14:00 NACHMITTAG

18:28 ABEND

21:31 TAGESAUSKLANG

07:03 EIN NEUER TAG

Über dieses Buch

Die zentrale Frage des Morgens ist: Wie viel mehr Sinn steckt im Aufstehen als im Liegenbleiben? Und hat nicht jeder Zustand seine Berechtigung? Seine Selbstverständlichkeit? Ein Hahn denkt nicht nach über das Aufstehen. Ihm ist es auch egal, dass er an den Füßen keine Federn hat. Ich habe ebenfalls keine Federn an den Füßen, stehe dennoch nur ungern auf.

Ich liege. Ich lebe. Ich fühle mich wohl. Ich weiß, dass diese Feststellung auf irgendeine Art und Weise den Eindruck erzeugt, mir fehle die Tiefe. Aber warum sollte man sich nicht wohlfühlen? Man kann das Leben auch als Glücksfall begreifen! Ich sehe die Welt als Lebensort und nicht als Sterbehospiz. Sie ist bunt. In Indien stehen Sadhus für 20 Jahre auf einem Bein, um den Göttern ihre unabdingbare Unterwerfung zu beweisen. Ich glaube: Wenn Gott gewollt hätte, dass wir auf einem Bein stehen, hätte er uns das zweite nur für Notfälle im Rucksack mitgegeben.

Über den Autor

Dieter Nuhr studierte Kunst und Geschichte. Seit fast 20 Jahren ist er mit seinen Soloprogrammen auf Tour. Seine Vorstellungen sind durchweg ausverkauft. Er ist der einzige Künstler, der sowohl den deutschen Kleinkunstpreis in der Sparte Kabarett als auch den Deutschen Comedypreis und den Friedensnobelpreis (gemeinsam mit 500 Mio. anderen EU-Bürgern) gewonnen hat. Seine Bühnenshows sind die erfolgreichsten deutschen Kabarettprogramme aller Zeiten. Sein Buch DER ULTIMATIVE RATGEBER FÜR ALLES (Lübbe 2011) stand 79 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste.

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Der öffentliche Vortrag des Werkes oder von Auszügen hieraus ist ohne ausdrückliche Genehmigung des Nutzungsberechtigten nicht gestattet.

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: KD Langenstein, Köln

Umschlaggestaltung: Pauline Schimmelpenninck, Büro für Gestaltung, Berlin

Einbandmotiv und alle Fotos im Innenteil: © Dieter Nuhr

Gestaltung Innenteil/Satz: Ralf Schroeder, Köln

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-2434-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

05 21„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!“, sagt der Volksmund. Dem kann ich nicht zustimmen. Nicht dass der Volksmund grundsätzlich Unrecht hätte, aber oft hat er auch schlechte Zähne, faulen Atem und keine Ahnung.

Man darf einen Tag auch ruhig schon vor 10:00 Uhr loben, wenn man beim Frühstück feststellen durfte, dass man im Lotto gewonnen hat, der Kläffer der Nachbarin entlaufen ist und die komischen Pusteln weg sind. Wenn dann um 18:00 Uhr Freund Hein vor der Tür steht, um einem mit der Sense ein Ende zu bereiten, dann hat man wenigstens noch einen ganzen Arbeitstag lang gute Laune gehabt.

Ich liege. Der Blick auf die Uhr sagt mir, dass der Tag noch gar nicht begonnen hat. Normalerweise schlafe ich wie ein Stein, wie ein Baby, eine Leiche oder ein Regierungsrat im Verkehrsdezernat. Jetzt aber bin ich kurz wach und freue mich, dass ich mich umdrehen und weiterschlafen kann.

Drehung nach rechts auf die Seite. Mir fällt eine weitere Weisheit ein, die völlig blödsinnig ist: „Du sollst das Fell des Bären nicht verteilen, bevor du ihn erlegt hast.“ Völliger Unsinn! Bären kommen fast nur noch im Zoo vor. Dort aber wird man mit dem Bärentöter gar nicht eingelassen. Mir wurden selbst kleine abgesägte Schrotflinten am Eingang weggenommen. Will man ein Bärenfell verteilen, sollte man sich an die örtliche Schmugglerbande wenden, die auch ausgestopfte Komodowarane, Krokodilleder am laufenden Meter und geriebene Rhinozeroshörner anbietet. Ich werde mich aus dem Geschäft aber lieber ganz heraushalten.

Man sollte den Tag so nehmen, wie er kommt, und sich freuen! Ich mache es so. Ein guter Tag beginnt selten mit den Worten: „Verdammte Hacke! Sodbrennen, Mundgeruch und Risse in der Hornhaut, wie scheiße kann das noch werden?“ Oft wacht dann auch der Lebenspartner auf und denkt: „Mit diesem Mann gehe ich durchs Leben. Morgen werde ich mir eine weit entfernte Grabstelle suchen! In Ewigkeit halte ich das nicht aus.“

Drehung linke Seite. Ich lobe den Tag! Egal wann! Uhrzeitunabhängig! Ich sehe die Chance und nicht das Risiko! Tief hängende Wolken und Graupelschauer im Juni sind vielleicht nur versteckte Zeichen für Sonnenschein in 8.000 Meter Höhe. Selbstverständlich hat das Wetter in unseren Breiten Spiel nach oben. Aber man muss auch bedenken: Wer ständig Sonne hat, freut sich nicht mehr darüber. Da kann man die zahlreichen Leichen in der Sahara fragen, die sind da garantiert einer Meinung mit mir!

Aber selbst wenn man sich in der Wüste verirrt hat, sollte man nicht den Mut verlieren. Wenigstens ist man gut gebräunt und sieht gesund aus, wenn man dem Tod ins Auge blickt. Oder man freut sich, wenn der Sonnenbrand aufhört zu schmerzen, weil die Lebensgeister verdunsten. Das ist allemal besser als das Schicksal jener, die vielleicht seit 30 Jahren tot sind, aber immer noch regelmäßig zur Arbeit gehen.

Das Dasein ist eigentlich ein angenehmer Zustand, vorausgesetzt, die Verdauung ist in Ordnung und die Warmwasseraufbereitung funktioniert! Gut, das Leben könnte etwas länger sein. Das Altern ist unangenehm. Und warum verkrumpeln Fußnägel? Aber das Dasein birgt auch wunderbare Seiten: der Schmetterling, der mit seinen bunten Flügeln auf der heißen Herdplatte Platz nimmt, ein letztes Liedchen singt und dann zurückkehrt in den Kreislauf aus Werden und Vergehen. Der wunderbare Eichelhäher im grauen Gefieder, der sich für seine Mittagsmahlzeit aus den Nestern kleinerer Vögel bedient und fremde Küken verspeist. Will man ihm deshalb Vorwürfe machen? Er ist ein Familienmensch und nicht gewillt, die eigene Brut zu vertilgen. Das ist doch verständlich! Dann nimmt man eben die anderen. Was soll’s!

Immer entspannt bleiben! So ist sie eben, unsere fantastische Natur. Ich freue mich, wenn ich einen Golden Retriever in freier Wildbahn beobachten kann! Mit Arthrose in der Hüfte schlurft er durch das Haus, weil er es nicht mehr bis nach draußen schafft, und verrichtet sein Geschäft auf dem Flokati-Teppich. Unsere Welt hat so viele bunte Seiten! Ich wälze mich auf den Rücken.

Wer positiv ins Leben blickt, hat mehr davon. Es ist eine Frage der Erwartung, ob etwas perfekt ist oder lächerlich. Die Schönheit liegt oft im Auge des Betrachters. Auch mächtig aus dem Leim gegangene Schlauchbootlippen, botoxgelähmte Gesichter, plastinierte Augenlider und gewaltsam aufgepumpte, aber im Laufe der Zeit der Schwerkraft gefolgte Riesenmöpse kann man schön finden, vor allem, wenn man sie bezahlt hat. Was soll das Hadern? Sind wir ehrlich: Vorher sah es auch nicht besser aus. Und wenn man selber eine von zu viel Alkohol aufgeschwemmte Plauze vor sich herträgt, als hätte man einen Medizinball verschluckt, dann sollte man demütig sein, wenn es darum geht, ästhetische Beurteilungen abzugeben.

Wer sein positives Lebensgefühl nicht verliert, hat nicht nur Glück gehabt, sondern auch die Sensibilität eines Schnitzelklopfers. Gut so! Ich will mir unbedingt mein sonniges Gemüt bewahren! Ich hüte mich vor jenen, die mir weismachen wollen, ein gutes Leben sei nur eine Frage der inneren Einstellung. Die haben keine Ahnung. Man braucht auch Alkohol, Sex und eine gewisse innere Gelassenheit, die ins Gleichgültig-Weggetretene oder ins Hypnotisiert-Betäubte changiert. Ich höre nicht auf die Psychoratgeber dieser Zeit, die so tun, als wären sie Schamanen. Als wüssten die, wo das Glück wohnt! Sie predigen Liebe, sind aber meist selber vier Mal geschieden und in ihren schäbigen Cordanzügen von Gin Tonic zerfressen, weil sie im Innersten wissen, dass sie nur hohle Phrasen dreschen, um uns allen den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen.

Das Leben ist ein Wunder! Aber ist es wirklich perfekt? Manchmal! Ganz selten ergreift mich das Gefühl, dass nichts schöner wäre, als wenn der gerade erlebte Moment ewig bliebe, wenn zum Beispiel der Verein meiner Nachbarstadt verloren hat. Das ist herzergreifend! Das Glück ist ein kurzer Moment! Wie pocht das Herz vor Freude, wenn man bei einer Polizeikontrolle mit 1,8 Promille durchgewinkt wird? Wie schön ist das Leben, wenn die Darmspiegelung nur eine leichte Reizung des Ileums ergeben hat?

Was macht einen Tag perfekt? Das ist ein Geheimnis! Aber ich bin sicher, irgendwann wird es gelüftet. Vielleicht noch heute. Wer weiß? Drehen, weiterschlafen. Nachts sollte man nicht grübeln, sondern träumen.

WOHNZIMMER

Daraus, dass Sie gerade meine Gedanken lesen, schließe ich, dass bei Ihnen ein gewisses Grundinteresse an meiner Person besteht. Sie fragen sich vielleicht: Wer ist dieser Durchgeknallte? Wie lebt der? Wie wohnt er? Und weil Sie so nett fragen, will ich Ihnen gerne meinen Lebensraum öffnen. Schließlich prägen uns die Dinge, mit denen wir uns umgeben.

Das erste Foto zeigt übrigens die obere linke Ecke meines Wohnraumes. Sie besteht ausschließlich aus rechten Winkeln und ist damit nahe dem, was man als perfekte kubische Gestaltung bezeichnen könnte. Wir achten zu wenig auf die Kleinigkeiten, die uns das Leben schöner machen.

07 30Der Mensch ist zu vielen großen Taten fähig, aber was er wirklich perfekt beherrscht, ist das Liegen. Als Zweibeiner befindet er sich tagsüber im labilen Gleichgewicht. Einen Teil seiner Kraft muss er stets darauf verwenden, nicht umzufallen oder mit dem kleinen Zeh gegen den Couchtisch zu laufen. Nachts aber, wenn er schläft, gehorcht er der Schwerkraft und bildet eine plump daliegende Masse.

Im Zustand der Bewusstlosigkeit baut der Körper seine Energiereserven auf. Überschüssiger Hirnstrom wird in Träume umgesetzt. Fantasierend stelle ich fest: Ich bin blind, weil meine Augen verklebt sind. Alle Versuche, sie zu öffnen, scheitern, meine Kraft reicht nicht aus. Jemand hat mir offenbar Sekundenkleber als Eyeliner verkauft. Wieso benutze ich Eyeliner? Ich weiß es nicht. Im Traum passieren komische Dinge. Man fällt, brennt oder erblindet. Nie wieder werde ich einen Sonnenuntergang sehen können, ein lachendes Kind oder die Samstags-Sportschau. Panik!

In meiner Angst bemerke ich, dass ich an einem Abgrund stehe. Ich stürze. Im Traum wird gerne gestürzt, oft tiefe Klippen hinab. Unten brandet das Wasser bedrohlich gegen die Felsen. Ich schlage auf. Vom Aufprall geschockt bekomme ich unter Wasser keine Luft mehr, während große Tiere mit scharfen Zähnen an mir knabbern, eine lose-lose-lose-Situation.

Oft laufe ich im Traum auch nackt durch den REWE. Gott sei Dank bin ich wenigstens kein Schlafwandler. Es sollen schon Menschen aus schlimmen Albträumen erwacht sein, in denen sie ohne Kleidung im Supermarkt standen, nur um nach dem Aufwachen verdutzt festzustellen, dass sie nackt im Supermarkt standen. Sehr unangenehm.

07 31Mein erster Gedanke im Wachzustand: War Jesus Nichtraucher? Ich bin mir nicht sicher, wie ich darauf komme, aber ich vermute, der letzte Rest meines Traumes spielte irgendwo in der Nähe von Golgatha. Gab es da irgendwo eine Raucherlounge?

Auch Winston Churchill, Helmut Schmidt und Lady Gaga haben angeblich von Kindesbeinen an auf Nikotin verzichtet, allerdings fast ausschließlich während sie schliefen, Schmidt sogar selbst dann nur widerwillig. Es macht eben den großen Charakter aus, dass er es schafft, der Sucht zu widerstehen. Er hört einfach auf mit der Qualmerei, und wenn es nur für fünf Minuten ist. Immer wieder sieht man große Geister ohne Zigarette, selten, aber immerhin! Meist suchen sie dann nach einer neuen Packung, nesteln in ihren Mänteln oder Taschen, in der Gewissheit, noch ein paar Kippen zu besitzen, die sie aber in Wirklichkeit schon vor Stunden weggequarzt haben.

Menschen sind süchtig, nach Qualm, Glücksspiel oder Nasenspray. Unser „Bewusstsein“, das eine Art innerer Herrschaft für sich in Anspruch nimmt, ist offenbar nur ein repräsentativer Herrscher, eine Art König ohne weitere Befugnisse, während die Triebe ihre Gewaltherrschaft verrichten, rauchen, Schokolade fressen und am Automaten spielen. Wie konnte sich so etwas in der Evolution durchsetzen? Keine Ahnung.

Spielsucht ist unter Weichtieren wenig verbreitet. Sind sie deshalb schlauer? Nein. Aber vielleicht besser organisiert. Tintenfische haben ein hochentwickeltes Gehirn und drei Herzen. Sie existieren seit Ende des Kambriums, sind also erheblich älter als Jesus Christus, aber ebenfalls Nichtraucher, obwohl ihnen selbst exzessives, tiefes Inhalieren kaum schaden würde. Sie haben keine Lunge, die geschädigt werden könnte, und würden selbst nach zwei Herzinfarkten noch über eine gesunde Ersatzpumpe verfügen. Sorgen sich Tintenfische um ihre Gesundheit? Wenigstens mühen sie sich nicht, einen geistigen Schein um ihr vom bloßen Überlebenswillen getriebenes Sein zu konstruieren.

Ich liege im Bett und lasse einen wirren Strom von Assoziationen über mich ergehen. Im Bottich meiner Erinnerungen steigen die Bilder der letzten Tage nach oben. Ein Foto von einem Pinscher erscheint in meinen Gedanken, darunter eine Nachricht: „Jedes Jahr treffen sich zahlreiche Menschen, um den ,hässlichsten Hund der Welt‘ zu wählen.“ Weshalb? Gibt es in der eigenen Art nicht genügend abstoßende Exemplare?

Statistisch gesehen besteht das Leben zu 98 Prozent aus Ungewissheit. Der Rest ist Stoffwechsel.

Aus Fragen werden Antworten, die neue Fragen generieren. Fakten bilden Gebirge aus Informationen: Jesus lebte nicht vegetarisch und hatte, wenn man Größe und Umfang aus mehr als 500 Gemälden alter Meister hochrechnet, einen BMI von 19, also leichtes Untergewicht. Lady Gaga dagegen trug Kleider aus Fleischlappen und hatte mit 21 einen Ruhepuls von 62. Zum Leistungssportler bringt man es damit nicht, außer beim Schach oder im Tor.

Stimmt das überhaupt? In diesen Zeiten kann man nicht mehr einfach irgendetwas erfinden. Heute trägt jeder einen Internetzugang mit sich herum, Google inklusive. Behauptungen werden heute nicht mehr einfach akzeptiert, sondern vor Ort online überprüft. Falsche Aussagen führen zur sofortigen sozialen Häme. Noch in der Kneipe wird vor versammelter Mannschaft festgestellt: Schmidt rauchte zeitweise Mentholzigaretten, oft zwei auf einmal, bei einem Ruhepuls von 198, aber sehr entspannt! Am Ende stehen alle zusammen, glotzen auf ihre Smartphones und stellen gemeinsam fest: Das Internet weiß auch nicht alles, aber immerhin hat man herausgefunden, in welcher Straße Scarlett Johansson wohnt. Auch nicht schlecht.

Ich merke, dass der gestrige Abend meine Gedanken beherrscht. Ein Treffen in der Kneipe, der übliche Verlauf. Floskelhafte Unterhaltung, dann App-Vergleich, downloaden, ausprobieren. Alle Anwesenden starren auf ihre Displays. Was wäre das Leben ohne Wasserwaage im Telefon? Wie hat man in der Urzeit gelebt ohne QR-Codescanner im Handy? Wie konnte man Bier trinken ohne Bier-App, die das iPhone zum Kölschglas werden lässt? In der Seitenansicht bildet der gelbe Pegel neigungstechnisch exakt den Horizont ab. Das virtuelle Bier ist der Schwerkraft angepasst, dank dreidimensionalem Bewegungssensor, ein Triumph der menschlichen Erfindungskraft. Es gluckert sogar. Wird es auch schal? Abwarten!

Das Leben muss so leer gewesen sein, damals in der guten alten Zeit. Kein Wunder, dass man freiwillig in den Krieg zog. Wahrscheinlich sagten sich die Menschen: „Die Erfindung des iPhones werden wir ohnehin nicht mehr erleben. Lasst uns Osteuropa überfallen.“ So nahm das Schicksal seinen Lauf. Schwarzweißbilder machen sich breit in meinem Kopf: regendurchnässte Schützengräben in Frankreich, halbvereiste Soldaten auf dem Rückweg aus Russland schleichen vorbei an jenen, die tiefgefroren am Wegesrand liegen. Die Funker funken nicht mehr. Kein Netz. Die Welt war früher ein einziges Funkloch. Entsetzlich!

Der Dritte Weltkrieg könnte irgendwann wegen einer fehlenden Flatrate verloren werden. Die westliche Welt steht kurz vor dem Sieg, da erscheint die Meldung: „Die Volumengrenze ihres Datentarifs ist erreicht. Zu Beginn des nächsten Monats steht Ihnen wieder die volle Bandbreite zur Verfügung.“ Todeskommandos wollen ihre Angriffe koordinieren, aber die MMS gehen nicht raus. Die Krieger fluchen. Dabei ist eh schon schlechte Laune. Im Display ist ein Sprung. Streifschuss. Die Partisanen werden über die Funktion „Ihr iPhone finden“ geortet und gefangen genommen und beschließen, nie mehr auf die dusseligen 3-Flats-in-einer-Angebote hereinzufallen. „Buchen Sie Ihre Flats flexibel“ hatte es geheißen. Aber wie, wenn an der Front immer wieder der Empfang abreißt? Hitler hat sich im Führerbunker vielleicht nur deshalb erschossen, weil er die Rechnung für die Auslandstelefonate seit 1939 erhalten hatte. Auch Historiker wissen nicht alles.

Während sich die Bilder vorwärtsbewegen, liege ich behütet im Warmluftraum unter meiner Daunendecke. Am Ende der Nacht gebiert der Schlaf Ungeheuer. Berlin 1945. Für viele, vor allem jüngere Menschen bedeutet diese Jahreszahl heute ähnlich viel wie die Ziffernkombination 333 (Schlacht bei Issos) oder 1789 (Uraufführung der komischen Oper „Der Schulz im Dorf oder Der verliebte Herr Doctor“ von Justin Heinrich Knecht in Biberach an der Riß). Ich aber bin ein Kind der Nachkriegszeit und habe noch schwarz-weiße Erinnerungen. Ich habe Sanostol und Caro-Kaffee getrunken. Ich will Frieden.

In der Folge: unruhiges Wälzen. Mein Weckprogramm berücksichtigt die Schlafphasen und kommt zu dem Ergebnis, dass nun der perfekte Zeitpunkt zum Aufwachen erreicht ist. Noch liege ich, aber häufiges Wenden erkennt mein Smartphone als sicheres Zeichen für das Erreichen meiner mentalen Dämmerung.

Ich liege im halbwachen Zustand da und denke darüber nach, ob der Tod auch im 21. Jahrhundert immer noch eine Sense benutzt. Oder kommt er im Morgengrauen auf einem fetten Sitzrasenmäher mit 13 Liter Tankvolumen, pendelnder Gussvorderachse, siebenfacher Schnitthöhenverstellung und elektrischer Messerkupplung? Heldenhaft durchpflügt der Sensenmann den Morgennebel! Dann röhrt sein 17,5-PS-Einspritzmotor die Nachbarschaft aus dem Bett, bevor er den Abzulebenden zerschreddert und im Grasfangkörbchen sammelt, um ihn der Ewigkeit zuzuführen. Ich fände das großartig. Ganz ehrlich! So habe ich mir meinen Tod immer vorgestellt: Wenn meine Seele den Körper verlässt, soll die Menschheit aufschrecken und sich fragen: Wo kommt der Krach her, morgens um sieben …?

Es gibt so vieles, was ich mir nicht erklären kann: Warum schellen die Zeugen Jehovas nicht mehr bei mir? Hätte ich mir beim Türöffnen etwas anziehen sollen? Körperliche Offenheit wirkt auf religiös blockierte Persönlichkeiten oft verstörend. Andererseits: Warum soll ich mir von ungefragt klingelnden Fremden vorschreiben lassen, was ich im eigenen Hause anzuziehen habe? Bin ich damals von zu Hause ausgezogen, damit nun, statt meiner Mutter, religiöse Kräfte die Bestimmungshoheit übernehmen?

Immer muss man sich nach anderen richten! Überall Fremdbestimmung! In der Kindheit ist es die Mutter, die einem dicke Socken aufzwingt, weil sie selber kalte Füße hat.

Später wird diese Rolle von der Freundin übernommen, die die Musik avantgardistischer Undergroundbands ablehnt und stattdessen Dancefloortaugliches vorschreibt.Am Ende wird die Herrschaft vom Staat übernommen. Er bestimmt, wie mein Grabstein auszusehen hat, wann ich einkaufen darf und wo ich rauchen soll. Dabei rauche ich gar nicht! Ist es eigentlich erlaubt, sich in einer Raucherlounge aufzuhalten, ohne zu rauchen, einfach weil man es liebt, sich über Raucher zu beklagen, die die Luft verpesten? Ich würde gerne Jesus fragen, aber er antwortet nicht. Und Winston Churchill ist tot. Exakt wie Jesus. Oder Ghandi. Wenn man eins aus der Geschichte lernen kann, dann ist es, dass auch die Unsterblichen sterben. Wenn ich es mir recht überlege, sind fast alle Unsterblichen bereits von uns gegangen. Und beim winzigen Rest ist es eine Frage der Zeit.

Ghandi war ein großer Mann! Eine Auferstehung hätte auch ihn als Religionsgründer qualifiziert. Leider ist es für Hindus schwer, ins Leben zurückzukehren, da sie noch am Tag ihres Hinscheidens verbrannt werden. Wäre Jesus Hindu gewesen, wäre Ostern zwei Tage zu spät für ihn gekommen.

Wer will schon den Rest seines Lebens in einem Aschenbecher oder einer Urne vor sich hin vegetieren, selbst wenn der Geist noch rege ist?

Wenn man älter wird, stellt sich im Bekanntenkreis immer häufiger die Frage: Begraben oder Brandbestattung? Ich fände es stilvoll, Nichtraucher zu begraben, Raucher aber zu verbrennen. Sie haben im Leben genug Restriktionen über sich ergehen lassen müssen, haben vor Türen in der Kälte gefroren und auf Langstreckenflügen dem Entzug standgehalten. Ihr letzter Weg soll dem Objekt ihrer Sucht entsprechen, Sie sollen verglühen wie die Sternschnuppen.

Raucher sind in diesen Tagen bedauernswerte Gestalten. Sie werden gezwungen, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse speziell für sie aufgestellte Terrarien aufzusuchen. Dort versammeln sich die Süchtigen. Sie sind Schemen im Nebel und paffen den giftigen Qualm genusslos in sich hinein, um ihren Käfig möglichst schnell wieder verlassen zu können. Der Rauch setzt sich in ihre Kleidung und teilt für den Rest des Tages allen Menschen mit: „Ich bin abhängig! Ich brauche es! Ich bin willenlos!“ Kinder kleben an den Scheiben dieser Räucherkäfige und fragen ihre Mütter: „Was sind das für Menschen?“ Und die Mütter antworten: „Das sind keine Menschen! Das sind Raucher!“

Ich rauche nicht, aber ich habe mir ganz fest vorgenommen: Wenn das Rauchen auch noch auf der Straße verboten wird, fange ich damit an! Dann rauche ich auf dem Fahrrad. Ohne Helm! Mit 40 Kilometern in der Stunde. In der Kinderspielstraße. Hupend! Ja, ich werde mir für mein Fahrrad eine amtliche Hupe anschaffen! Die kann ich auch als Fußgänger brauchen. Ich werde mich rauchend in eine Parklücke setzen, und wenn erboste Autofahrer gestikulierend auf ihr Parkrecht pochen, werde ich laut hupen, damit ich das Schimpfen nicht mehr hören muss! Das ist kein Eingriff in den Straßenverkehr, sondern eine Kunstaktion, eine Performance im Sinne einer kreativen künstlerischen Umgestaltung des öffentlichen Raumes.

Ob das allerdings vor Gericht genauso gesehen wird, wage ich zu bezweifeln. Wer sich heute künstlerisch durchs Leben bewegt, sollte auf die Unterstützung eines Rechtsanwaltes bauen. Das gilt auch für den privaten Wohnraum! Gestalten Sie Ihre Butze nicht nur im Einklang mit den ästhetischen Grundsätzen der Zeit (Bauhaus, Feng-Shui, Ikea), sondern vor allem nach gründlicher Rechtsberatung! Auch in den eigenen vier Wänden kann man nicht einfach tun, was man will! Treppen beispielsweise sind nicht nur einfach willkürlich gestaltete Verbindungsadern zwischen den Geschossen, nein! Sie unterliegen in Form und Beschaffenheit der Landesbauordnung (in meinem Fall der BauO NRW). Deren Bestimmungen sind exakt zu erfüllen. Treppen sind deshalb vorschriftsgemäß in der Feuerwiderstandsklasse F 90 aus nichtbrennbaren Baustoffen herzustellen! Im Einzelnen gilt: „Treppengeländer müssen mindestens 0,90 m, bei Treppen mit mehr als 12 m Absturzhöhe mindestens 1,10 m hoch sein.“

DESIGN

Design heißt im Grunde nicht viel mehr als „Gestaltung“. Wird ein Gegenstand mit dem Begriff „Design“ geadelt, soll das vermitteln, dass sich jemand darüber Gedanken gemacht hat, wie Form und Farbe aussehen könnten. Wenn diese Gedanken ausbleiben, sind die Gegenstände oft hässlich und abstoßend. Man kennt dies von Windows-Computern oder Outdoor-Jacken mit Pfotenabdruck.

Trifft Farbgefühl auf ein Gespür für Proportion und handwerkliche Fähigkeiten, entstehen manchmal Gegenstände, die das Wohlbefinden fördern, indem sie einem das Gefühl verleihen, in einer Welt zu leben, in der ewige Schönheit möglich ist. Natürlich ist dies eine Illusion. Stellen Sie Ihren Design-Flachbildfernseher einfach einmal für sechs Monate in den Garten. Dann werden Sie erkennen, dass selbst Gegenstände, die sich scheinbar der Natur entzogen haben, ganz schnell wieder von organischen Kräften zurückerobert werden. Ein Flatscreen sieht immer noch gut aus, wenn er, vom Moos überzogen und vom Regen verwittert, im Gebüsch zu neuem Leben findet. Die Funktion aber leidet auf Dauer.

Ich stelle mir den Juristen vor, der diesen Passus formuliert hat. Er ist 1,40 Meter groß, hat Haare auf den Füßen und verfügt über keinerlei Geschlechtsteil. Er ernährt sich von Paragrafen und pflanzt sich per amtlicher Verfügung fort. Er ist unsterblich, weil er sich ausreichend versichert hat. In seiner Arbeitszeit ist er als Erfinder tätig. Er denkt sich Formulierungen aus, die ein normaler Mensch nicht verarbeiten kann. Er tut dies aus sozialen Gründen. Er versorgt die anderen Mitglieder seiner Sippe mit Arbeit, als da sind: Rechtsanwälte, Steuerberater oder Verwaltungsfachangestellte. Sie verfügen über die Fähigkeit, die kruden Formulierungen der Kaste der Paragrafenschweißer zu entschlüsseln. All diese Berufe bilden einen eigenen Kosmos, dessen einziger Zugang zur normalen Welt über den Weg der Gebührennote oder des Beraterhonorars führt. Wie entsteht so etwas?

Evolution. Der Jurist hat sich im Grunde genauso entwickelt wie der Gepard oder das Warzenschwein. Sein Lebensraum ist nicht die Serengeti, er bewegt sich geschmeidig wie ein Puma durch Flure oder Großraumbüros. Warum sind hier keine Kamerateams, die uns das Biotop zwischen Teeküche und Kopierer zeigen, Staatsdiener in freier Wildbahn? Tiefsee und Savanne sind uns teure Dokumentationen wert, aber auch das Treiben in den uns nahe gelegenen Lebensräumen enthält Rätselhaftes, Unvorstellbares und Furchterregendes.

Ich möchte auch einmal einen Paragrafen formulieren. Mein Vorschlag lautet: „Treppen mit einer Absturzhöhe von 90 bis 110 Metern dürfen nicht auf dem Luftweg verlassen werden, es sei denn, der Flugwillige gehört zur Familie der Meisen aus der Ordnung der Sperlingsvögel, Unterordnung Singvögel. Dann gilt die Luftverkehrsordnung vom 16. September 1963.“

Vielleicht sind auch die beiden Zeugen Jehovas, die mich regelmäßig bekehren wollten, irgendwo von einer Treppe gefallen. Und nirgendwo war ein Gott, der ihren Sturz gedämpft hätte! Verständlich. Der Schöpfer muss sich um Trilliarden von Planeten in wahrscheinlich nicht nur einem, sondern mehreren Universen kümmern. Es ist mir völlig schleierhaft, wie man behaupten kann, wir wären mehr als ein Trillionstel eines Staubkorns in Gottes Plan. Das muss die kindliche Naivität unserer beschränkten Fantasie sein, infantile Selbsterhöhung, die uns das eigene Ich für das Zentrum des Universums halten lässt.

Vielleicht haben die beiden Missionarinnen auch einfach aufgegeben. Ich weiß es nicht. Ich bin nur froh, dass sie nun darauf verzichten, meinen agnostischen Verstand als gottverlassen zu beschimpfen. Ich kann auf religiöse Rekrutierung verzichten! Irgendwann werden Islamisten bei mir schellen und mich lässig mit der Kalaschnikow fuchtelnd fragen, ob ich eventuell bereit wäre, mein bisheriges Leben zu beenden, um ein gottesfürchtiges zweites zu beginnen, das mich am Ende ins Paradies führen würde. Ich bezweifle, dass diese Leute einen abschlägigen Bescheid ihres Gesuches so klaglos hinnehmen würden wie die Damen mit dem Wachtturm.

Ich bin am Paradies nicht interessiert. Ich bezweifle sogar seine Existenz! Wie sollte so ein Paradies aussehen? Ein Paradies wäre nur dann ein Paradies, wenn man dort auf Vorschriften für Treppengeländer verzichten würde! Im Paradies könnten also auch Treppen über 14 Meter Absturzhöhe mit Geländern gesichert werden, die nur 60 Zentimeter hoch sind. Mit anderen Worten: Das Paradies wäre gefährlich!

Ich möchte nicht über Bauvorschriften nachdenken, vor allem nicht morgens, wenn der Tag noch gar nicht richtig begonnen hat. Ich will nicht schon vor dem Frühstück an Missionare diverser Weltreligionen denken. Ich bin doch noch gar nicht richtig wach! Ich liege in meiner dampfenden Koje und warte auf mein eigenes Aufwachen. Dann werde ich vergessen, worüber ich heute schon nachgedacht habe. Gut so!

Ich will keine theologischen Fragen erörtern vor meiner rituellen Waschung, die ich jeden Morgen durchführe, weniger aus religiösen als aus hygienischen Gründen. Hygiene ist wichtig!

Ich weiß, viele Leute sehen das anders. Vor allem im Bus trifft man immer wieder auf Anhänger der Theorie, zu viel Waschen würde die natürlichen Abwehrstoffe auf der Haut zerstören. Nicht dass sie ihre Ansichten diesbezüglich offen äußern würden. Aber man riecht es.

Natürlich kann es für Hygienefeindlichkeit gute Gründe geben. Elefanten wälzen sich im Staub und schützen ihre Haut so gegen Parasiten, das geht auch. Schweine suhlen sich, warum nicht? Aber genau das ist der Grund, warum Elefanten oder Schweine so selten Bus fahren!

Ich habe nichts gegen Schweine, ich halte sie auch nicht grundsätzlich für unrein, aber einer der Vorzüge des Menschen als Krone der Schöpfung ist fließendes Wasser. Ich habe irgendwann als kleines Kind der Suhle Adieu gesagt, weil meine Mutter jedes Mal, wenn ich schlammgebadet nach Hause kam, die Hände über dem Kopf zusammenschlug und sich über Flecken beklagte, die sie „nie mehr herausbekommen“ würde.

Natürlich bekam ich die Klamotten immer irgendwann im neuwertigen Zustand wieder, rein und unbefleckt, musste dafür aber in Kauf nehmen, in langen Monologen auf die unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten hingewiesen zu werden, denen sich meine Mutter bei der Fleckentfernung ausgesetzt sah, Flecken, deren diabolischer Hartnäckigkeit nur mit heldenhaftem Mut und übermenschlichen Kräften beizukommen war, Kräfte, über die meine Mutter offenbar als einziger Mensch auf der Welt verfügte, Gott sei gepriesen … Meine Mutter war eine Superheldin, war Fleckenwoman, die alle Bösen dieser Welt besiegte, den Ketchupman, Schokoladendevil oder sogar den damals nur im Sommer erscheinenden Kirschfleckenjoker!

Meine Mutter besiegte ihn jedes Mal unter Einsatz ihres Lebens. Mütter neigten damals wie heute dazu, ihren Kampf gegen Lärmemission, Dekontamination und Entropie zu heroisieren.

Heute hat sich die Rolle der Erziehungsberechtigten noch erweitert. Sie sind nicht nur Reinigungskräfte und Ordnungshüter, sondern auch Dienstknechte und Chauffeure. Sie fahren ihre missratene Brut auf Befehl überallhin und haben sich widerstandslos in ihre Rolle als Sklave der Nachkommen gefügt.

Verbrauchte Frauen mit Kinderwagen stehen griesig, grau und müffelnd im Bus, weil sie glauben, dass jede Form der Körperpflege im Moment ihrer Befruchtung unnötig geworden sei. Sie tragen eine stachelige Mütze aus fettigem Haar wie eine Dornenkrone und reden mit ihren Mitmüttern lauthals über Pilzbefall an Stellen, die man sich als Mitreisender gar nicht vorstellen möchte. Und sie halten sich, Arm hoch, an der Halteschlaufe fest und geben dadurch den Blick frei auf ein in der Achselhöhle wachsendes kleines Mischwäldchen. Man meint Nadel- und Laubgehölze zu erkennen, Farne, Flechten und vor allem Weiden, traurig vor sich hin hängende Weiden, Trauerweiden, an deren Zweigenden sich Schweißkristalle festkrallen. Ich glaube nicht, dass früher alles besser war, aber früher trug man lange Ärmel. Schlimme Dinge blieben so verborgen.

Auch früher war man hygienisch nachlässig, aber im Schoß der Familie blieb das Übelste versteckt. Gebadet wurde ausschließlich am Wochenende. Heute 15-Jährige können sich nicht mehr vorstellen, dass früher die ganze Familie nur eine Wannenwasserfüllung verwendete, Vater zuerst, dann die anderen und am Ende der Kleinste, der sich, dem Wasserbüffel gleich, in lauer Brühe vergnügte, einem Sud aus Schweiß und Tränen, Haaren und Schuppen. Das ist vorbei. Wir leben heute in einer besseren Welt.

Heute gilt ein Duschbad am Morgen nicht mehr als Luxus. Nur in ökologischen Kreisen wird es abgelehnt. Dort heißt es dann, wir müssten Wasser sparen. Natürlich! Es regnet von Anfang November bis Ende Oktober, das Grundwasser steht bis zur Kellerkante, die Pumpe im Pumpensumpf pumpt, was die Pumpe hergibt, aber wir müssen Wasser sparen, selbstverständlich! Jeder, der aus Feuchtgebieten wie der Sahara oder der Namibwüste zu uns kommt, sieht sofort, dass bei uns schwerer Wassermangel herrscht. Aber ist das ein Grund, sich modernd in den Bus zu stellen und die Mitreisenden zu verseuchen? Nein!

Ist es spießig, der Sauberkeit das Wort zu reden? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Es gibt nichts Spießigeres, als darüber nachzudenken, ob etwas spießig ist. Es ist kurz nach halb acht. Um diese Uhrzeit weiß ich gar nichts. Ich weiß nur, dass ich gleich duschen werde, ohne mich ideologischen Zwängen zu unterwerfen. Ohne Dusche bin ich mental noch im Bett. Die großen Erfindungen, Feuer, Rad und Sanitärhygiene, haben uns aus der Tierwelt emporgehoben und in die Höhen der Zivilisation katapultiert. Ich dusche, also bin ich. Lavo, ergo sum. Ni feteo, itaque homo sum.

Ich wurde in der bürgerlichen alten Zeit geprägt. Die Aufrechterhaltung der Sauberkeit galt als oberstes Ziel der humanen Existenz. Bis heute irritiert mich, wenn sich die Ordnung der Dinge verschiebt. Das erinnert mich wieder daran, dass die Damen mit dem Wachtturm in den letzten Monaten verschwunden sind. Muss ich mir Sorgen machen, eine Vermisstenmeldung aufgeben? Sie erschienen immer wieder, ohne dass ich ihnen jemals Anlass gab, an eine erfolgreiche Missionierung zu glauben. Im Gegenteil! Meine Theorie, die Benutzung unserer Geschlechtsteile sei göttlicher Wille, denn alle Lust wolle Ewigkeit, kam an der Tür nie gut an. Und als ich die beiden einmal hereinbat, um ihnen die Theorie im Einzelnen zu erläutern, war die Ablehnung derart entschieden, dass ich glaubte, ich hätte die beiden argumentativ allzu sehr in die Enge getrieben. Dennoch kamen sie wieder. Bis vor kurzem. Vielleicht haben sie ihrem Glauben abgeschworen, haben sich tätowieren lassen und hören Punkmusik der Siebzigerjahre.

Ich habe die beiden Gläubigen (Warum gibt es keine spezielle weibliche Form von Gläubigen? Ich würde „Gläubiginnen“ vorschlagen. Die Kirchen sind voll mit alten Mütterchen.) immer sehr bewundert. Ihre Überzeugung, die aller Logik und jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis widersprach, beruhte auf nichts außer stumpfsinnigem Beharren auf dem für jeden Nichtwahnsinnigen völlig offensichtlich Abwegigen. Das ist eine Leistung! Auch Einstein gründete seine Weltsicht auf dem Nichtsichtbaren, hatte aber wenigstens die Mathematik auf seiner Seite.

Die Religiösen haben nichts außer ihren heiligen Büchern, die alle dasselbe behaupten, nämlich dass sie heilig sind und dass nur sie heilig sind und dass alle anderen Bücher, die behaupten, heilig zu sein, falsch sind und in die Hölle führen. Sich eines dieser Bücher auszusuchen und fortan zu behaupten, dass alle anderen Unrecht haben, dieses eine aber von Gott sei, und dann in der Folge an den offenbaren Unsinn dieser unbegründeten Behauptung zu glauben ist für einen denkenden Menschen allemal schwieriger, als eine Relativitätstheorie zu schreiben, die die Beschaffenheit von Raum und Zeit in Frage stellt.

Man muss den Schreibern der heiligen Bücher zugutehalten, dass sie schrieben, bevor Google das Wissen der Welt vergesellschaftete. Als die Apostel unsere Bibel formulierten, mussten Sie glauben, was man sich so erzählte. Das war das Internet von damals. Daten wurden von Tür zu Tür weitergegeben.

An den Pforten gab es noch nicht einmal Klingeln, die den Überbringern der Botschaften bei der Kontaktaufnahme behilflich gewesen wären, beim Einloggen ins Netz der interpersonalen analogen Kommunikation. Erst recht gab es keine Sprechanlagen, geschweige denn Videoüberwachung. Man trat auf die Katze, um auf sich aufmerksam zu machen, denn Haustiere galten damals noch als seelenlose Sache. Wer fremd war, schlug einfach die Tür ein, brannte alles nieder und nahm ausschließlich jene Frauen mit, die noch zu gebrauchen waren, dann sprach er ein Gebet, pries den Herrn und ging seines frommen Weges. So ging es zu! Wir leben heute in einer guten Zeit.

07 33 Dennoch! Auch heute ist nicht alles eitel Sonnenschein! Oft bin ich verunsichert und grüble. So viele offene Fragen! Selbst in unserer von Wissenschaft und Journalismus aufgeklärten Zeit bleiben noch zahllose Rätsel: Warum kriegt ein Specht beim Hämmern keine Kopfschmerzen? Ich habe im Deutschlandfunk gehört, dass sich Wissenschaftler mit diesem biologischen Spezialproblem auseinandersetzen. Weiter so! Es geht voran!

Es gibt noch viel zu lernen auf dieser Welt. Ist die reale Welt nur ein fehlerhafter Spiegel meiner Fantasien? Oder gibt es das alles da draußen wirklich, Materie, Schwerkraft, Übergewicht? Ist die Natur eine Art Perpetuum mobile, sich selbst erneuernd und entwickelnd? Oder braucht sie Pflege? Benzinvertikutierer? Motorsensen? Und elektrische Rasenkantenscheren? Ganz zu schweigen von neuen Modellen mit Mulcheinsatz, bei denen „durch die propellerartige Saugbewegung der Messer das Schnittgut noch im Korpus des Mähers gehäckselt wird und als feines Material wieder auf den Boden fällt“. So verspricht es zumindest der Hersteller.

Wer ist überhaupt dieser Hersteller? Und wenn er das Sein in sieben Tagen schuf, wo wohnte er vorher? Was war vor der Ewigkeit? Unsere religiösen Vorstellungen sind häufig reichlich naiv. Kann es ein Paradies geben, einen Ort, an dem nur Gutes ist? Und was bedeutet das: „nur Gutes“? Machen dort die Schokoriegel schlank? Wenn immer gutes Wetter ist, werden sich nicht einzelne Bewohner Regen wünschen? Oder bekommt jeder sein eigenes Wetter? Hat jeder alles, ein Flugzeug, einen Garten, einen Bestand an Mätressen? Und ist das für die Begleitdamen dann ebenfalls das Paradies? Oder holt man die aus der Hölle? Der Urgrund liegt im Nebel.

Wir werden uns damit abfinden müssen, die Dinge rein wissenschaftlich zu erklären, auch wenn das oft unbefriedigend ist. Selbst wenn wir irgendwann den Urknall erklären können, wissen wir immer noch nicht, warum überhaupt irgendetwas existiert. Was soll der ganze Protz? Hätte nicht eine Galaxie gereicht? Warum gleich so auf dicke Hose machen?

Was wissen wir? Mir scheint die Evolutionstheorie zwar insgesamt schlüssig, sie lässt aber viele Fragen offen. Nehmen wir als Beispiel das Ohr. Im Ohr fällt der Schall auf den Hammer, der wiederum auf einen Amboss klopft. Wie aber konnte sich so etwas Komplexes wie der Hammer entwickeln und wie der Amboss, wenn beides erst im Zusammenspiel einen funktionalen Vorteil verspricht, also das Hören ermöglicht? Gibt es doch eine Art Bauplan in der Schöpfung? Und wenn ja, warum hat sich Gott nicht für einen kleinen Mann im Ohr entschieden, der den Schall aufnimmt, digitalisiert, konvertiert und für lau ins Internet stellt? Man weiß es nicht. Man steckt nicht drin.