Das Geheimnis des Schneemädchens - Marc Levy - E-Book + Hörbuch

Das Geheimnis des Schneemädchens E-Book

Marc Levy

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Beschreibung

Um ihr Leben zu retten, schickte er sie fort. Doch nun soll das Geheimnis um das Schneemädchen gelüftet werden ...

Im Wrack eines Flugzeugs, das im ewigen Eis des Mont-Blancs gefangen ist, findet Suzie Backer den Beweis dafür, dass ihre Familie zu Unrecht des Hochverrats beschuldigt wurde. Als der Reporter Andrew Stilman ihr begegnet, wittert er nicht nur eine einzigartige Geschichte, sondern er ist auch von dieser geheimnisvollen Frau fasziniert. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach der Wahrheit, doch dabei wecken sie schlafende Hunde und bringen sich in tödliche Gefahr. Denn ihre Nachforschungen führen sie auf die Spur einer unmöglichen Liebe und eines Mannes, der für ein gewisses „Schneemädchen“ sein Land und alles, woran er glaubte, verriet …

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Seitenzahl: 397

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Marc Levy

Das Geheimnis des Schneemädchens

Roman

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Un sentiment plus fort que la peur« bei Editions Robert Laffont, Paris.

Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

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Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.1. Auflage

© der Originalausgabe 2013 by Marc Levy / Susanna Lea Associates, Paris

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-15833-0V001www.blanvalet-verlag.de

Für meine Kinder,für meine Frau

Prolog

Flughafen von Bombay, 23. Januar 1966, drei Uhr morgens. Die letzten Passagiere der Maschine Air India 101 überqueren das Rollfeld und steigen die Gangway der Boeing 707 hinauf. In der leeren Abflughalle vor der Fensterfront stehen zwei Männer Seite an Seite.

»Was enthält dieser Umschlag?«

»Mir ist es lieber, Sie wissen nichts davon.«

»Wem soll ich ihn aushändigen?«

»Während Ihres Zwischenstopps in Genf begeben Sie sich an den Tresen der Bar. Ein Mann wird Sie ansprechen und Sie zu einem Gin Tonic einladen.«

»Ich trinke keinen Alkohol, Sir.«

»Dann rühren Sie das Glas einfach nicht an. Ihr Ge­­sprächspartner wird sich Ihnen unter dem Namen Arnold Knopf vorstellen. Der Rest ist nichts weiter als Diskretion, und darauf verstehen Sie sich ja bekanntlich.«

»Es behagt mir gar nicht, für Ihre kleinen Geschäfte benutzt zu werden.«

»Wer sagt Ihnen, dass es sich um kleine handelt, mein lieber Adesh?«

George Ashton schlägt einen wenig zuvorkommenden Ton an.

»Mag sein. Aber nach dieser Reise sind wir quitt. Es ist das letzte Mal, dass Sie indisches Diplomatengepäck für persön­liche Zwecke benutzen.«

»Wir sind quitt, wenn ich es beschlossen habe. Und zu Ihrer Information: Der Auftrag, den ich Sie auszuführen bitte, hat nichts Persön­liches. Verpassen Sie Ihre Maschine nicht. Ich bekomme gehörig eins auf den Deckel, wenn ich den Abflug verzögere. Nutzen Sie den Flug, um sich ein wenig auszuruhen, ich finde, Sie sehen ziemlich erschöpft aus. In wenigen Tagen sind Sie auf der Konferenz der Vereinten Nationen in New York. Sie haben wirklich Glück; mir hängt das Essen hier zum Hals raus, und ich träume manchmal von einem guten Hotdog auf der Madison Avenue. Genehmigen Sie sich einen auf mein Wohl.«

»Ich esse kein Schweinefleisch, Sir.«

»Sie machen mich rasend, Adesh. Aber trotzdem gute Reise.«

Adesh Shamal sollte seinem Kontaktmann am Airport von Genf nie begegnen. Nach einer Zwischenlandung in Delhi und Beirut war die Maschine um drei Uhr morgens erneut gestartet. Eines der beiden Funknavigationssysteme war de­­fekt.

Um 6 h 58 min 54 s erhielt der Flugkapitän vom Kontrollturm des Flughafens Genf die Erlaubnis, nach Überfliegen des Montblanc auf Flight Level 190 zu sinken.

Um 7 h 00 min 43 s meldete Kapitän d’Souza, das Gebirgsmassiv überflogen zu haben und jetzt zum Landeanflug auf Genf anzusetzen. Der Lotse erwiderte umgehend, seine Po­­sition sei falsch, er befinde sich noch fünf Meilen vor dem Mont­blanc. Flugkapitän d’Souza meldete um 7 h 01 min 06 s, die Nachricht empfangen zu haben.

Um 7 h 02 min 00 s Uhr am Morgen des 24. Januar 1966 verzeichnete das Radar die Maschine Air India 101 eine Minute lang auf einer festen Position, bevor sie vom Schirm verschwand.

Die Boeing 707 mit Namen Kanchenjunga war soeben in viertausendsechshundertsiebzig Meter Höhe am Montblanc-Felsmassiv Rocher de la Tournette zerschellt. Keiner der hundertsechs Passagiere und der elf Besatzungsmitglieder überlebte den Absturz.

Sechzehn Jahre nach dem Unglück der Malabar Princess war somit erneut eine Maschine der Fluggesellschaft Air India am Montblanc quasi an derselben Stelle verunglückt.

Kapitel 1

24. Januar 2013

Der Sturm tobte über dem Gebirgszug, heftige Böen wirbelten den Schnee auf und reduzierten die Sichtweite praktisch auf null. Die beiden angeseilten Bergsteiger konnten kaum die Hand vor Augen sehen. Es war fast unmöglich geworden, in diesem weißen Magma voranzukommen.

Seit zwei Stunden dachte Shamir an nichts anderes als ans Umkehren, aber Suzie hatte sich in den Kopf gesetzt weiterzugehen und nutzte das Heulen des Windes aus, um seine Ermahnungen ganz einfach zu überhören. Sie hätten anhalten und ein Loch graben müssen, um darin Schutz zu suchen. Bei diesem Tempo würden sie die Hütte vor Einbruch der Nacht niemals erreichen. Shamir fror entsetzlich, sein Gesicht war mit Reif überzogen, und die zunehmende Taubheit seiner Glieder bereitete ihm Sorgen. Alpinismus in großer Höhe kann sehr schnell zu einem Versteckspiel mit dem Tod werden. Der Berg kennt keine Freunde, sondern nur Eindringlinge; wenn er einem seine Türen verschließt, muss man ihm bedingungslos gehorchen. Dass Suzie sich nicht daran erinnern wollte, was er sie gelehrt hatte, bevor er sich bereit erklärt hatte, sie zu begleiten, machte ihn wütend.

In viertausendsechshundert Meter Höhe mitten im Schnee­­sturm ist es geboten, einen kühlen Kopf zu bewahren, und so suchte Shamir in seinen Erinnerungen nach etwas, um sich zu beruhigen.

Letzten Sommer hatten Suzie und er begonnen, am Grays Peak im Arapaho Nationalpark zu trainieren. Aber Colorado ist völlig anders, und die klimatischen Bedingungen sind nicht mit denen zu vergleichen, mit denen sie an diesem ausklingenden Tag konfrontiert waren.

Diese Besteigung des Grays Peak hatte eine Wende in ihrer Beziehung eingeleitet. Zurück im Tal, hatten sie in einem kleinen Motel in Georgetown übernachtet und zum ersten Mal ein Zimmer geteilt. Die Unterkunft besaß nicht den geringsten Charme, das Bett aber war so groß, dass sie es zwei Tage lang nicht verließen. Zwei Tage und zwei Nächte, im Laufe derer einer die Wunden am Körper des anderen gepflegt hatte, die der Berg ihnen zugefügt hatte. Es bedarf bisweilen nur einer kleinen Geste, einer Aufmerksamkeit, um sich überzeugen zu lassen, jenen anderen gefunden zu haben, der einem so ähnlich ist. Genau das hatte Shamir im Laufe dieser kleinen Auszeit gespürt.

Ein Jahr zuvor hatte Suzie an seiner Tür geklingelt, mit einem Lächeln, das ihn sofort entwaffnet hatte. In Baltimore sind Menschen, die lächeln, eher eine Seltenheit.

»Wie es scheint, sind Sie der beste Bergführer und -lehrer des ganzen Bundesstaates!«, sagte sie statt einer Begrüßung.

»Selbst wenn das stimmen würde, wäre es keine besondere Leistung, denn Maryland ist so flach wie eine Wüste! Die höchste Erhebung beläuft sich auf tausend Meter und ein paar Zerquetschte. Ein fünfjähriges Kind hätte keine Probleme, sie zu …«

»Ich habe in Ihrem Blog den Bericht über Ihre Expedi­tionen gelesen.«

»Was kann ich für Sie tun, Miss?«, antwortete Shamir.

»Ich brauche einen Führer und einen geduldigen Lehrer.«

»Ich bin nicht der beste Bergführer des Staates und auch kein Lehrer.«

»Mag sein, aber ich bewundere Ihre Technik und schätze Ihre Einfachheit.«

Suzie trat ungebeten ins Wohnzimmer und erklärte ihm den Grund ihres Besuchs. Sie wollte innerhalb eines Jahres eine erfahrene Alpinistin werden, wobei sie zugab, noch nie geklettert zu sein.

»Warum jetzt und warum so schnell?«, wollte Shamir wissen.

»Manche Leute hören eines Tages den Ruf Gottes – ich höre den des Bergs. Ich habe jede Nacht denselben Traum. Ich sehe mich in totaler Stille die verschneiten Gipfel er­­klimmen, und das ist überwältigend. Warum also nicht den Traum wahr machen und mir die Fähigkeiten aneignen?«

»Beides schließt sich nicht aus«, gab Shamir zur Antwort. Und angesichts von Suzies fragender Miene fügte er noch hinzu: »Von Gott und vom Berg gerufen zu werden. Aber Gott ist stiller, der Berg ächzt, kracht, und das Heulen des Windes ist manchmal furchterregend.«

»Was die Stille betrifft – kein Thema. Wann können wir anfangen? «

»Miss …«

»Baker. Aber nennen Sie mich Suzie.«

»Wenn ich einen Berg besteige, dann um eben allein zu sein.«

»Man kann auch zu zweit allein sein, ich bin nicht geschwätzig.«

»Man wird innerhalb eines Jahres kein erfahrener Bergsteiger, es sei denn, man widmet dem Training seine ganze Zeit …«

»Sie kennen mich nicht. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, bin ich durch nichts aufzuhalten. Eine so motivierte Schülerin wie mich hatten Sie noch nie.«

Klettern zu lernen war für sie zur Obsession geworden. Um Argumente verlegen, bot sie an, ihn zu bezahlen, damit er seinen Lebensstandard verbessern und sein bescheidenes, leicht baufälliges Haus renovieren könnte. Shamir unterbrach ihren Redefluss, um ihr einen Rat zu erteilen, den sie für ihre erste Lektion hielt. An einer Felswand hieß es, still zu sein, sich und jede Bewegung im Griff zu haben. Genau das Gegenteil von ihrem Verhalten.

Er bat sie zu gehen und versprach, über ihr Angebot nachzudenken und sich dann bei ihr zu melden.

Als sie schon auf der Außentreppe war, stellte er ihr eine Frage: Warum er? Und darauf erwartete er eine Antwort, die nicht nur eine Schmeichelei war.

Suzie drehte sich um und musterte ihn lange.

»Wegen des Fotos auf Ihrem Blog. Ihr Gesichtsausdruck hat mir gefallen, und ich habe mich immer auf meinen Instinkt verlassen.«

Sie fügte nichts hinzu und ging.

Schon am nächsten Tag kehrte sie zurück, um seine Antwort zu hören. Sie stellte ihren Wagen in der Werkstatt ab, in der Shamir arbeitete, und eilte nach Befragen des Chefs energisch auf die Grube zu, in der Shamir einen Ölwechsel an einem alten Cadillac vornahm.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er und wischte sich die Hände an seinem Overall ab.

»Raten Sie mal!?«

»Ich habe Ihnen gesagt, ich würde drüber nachdenken und mich dann bei Ihnen melden.«

»Vierzigtausend Dollar für meine Ausbildung. Wenn Sie mich an den Wochenenden trainieren, acht Stunden pro Tag, das wären insgesamt achthundertzweiunddreißig Stunden. Ich kenne Alpinisten, die mit weniger Erfahrung hohe Berge bestiegen haben. Vierzig Dollar die Stunde, das verdient ein Allgemeinmediziner. Und ich werde Sie am Ende einer jeden Woche auszahlen.«

»Was genau machen Sie so im Leben, Miss Baker?«

»Ich habe mehrere überflüssige Studien hinter mir, dann habe ich bei einem Antiquar gearbeitet bis zu dem Tag, als mir seine Avancen zu lästig geworden sind. Seither suche ich meinen Weg.«

»Mit anderen Worten, Sie sind eine verwöhnte Göre und wissen nicht, wie Sie die Zeit totschlagen sollen. Wir haben nicht vieles gemeinsam.«

»Im vergangenen Jahrhundert waren es die Bürger­lichen, die blödsinnige Vorurteile in Sachen Arbeiterklasse hatten, jetzt ist es umgekehrt«, gab sie schlagfertig zurück.

Shamir hatte sein Studium aus finanziellen Gründen abbrechen müssen. Die Summe, die Suzie ihm für ein paar Trainingsstunden im Bergsteigen anbot, konnte so manches in seinem Leben ändern. Aber er hätte nicht sagen können, ob ihre Dreistigkeit und Unverfrorenheit ihn reizten oder aufregten.

»Ich habe keine Vorurteile, Miss Baker. Ich bin Automechaniker, und der Unterschied zwischen uns ist, dass Arbeiten eine täg­liche Notwendigkeit ist und ich nicht gern vor die Tür gesetzt werden möchte, weil ich mit einer hübschen jungen Frau plaudere, statt meinen Ölwechsel zu machen.«

»Sie plaudern nicht, aber trotzdem danke für das Kompliment.«

»Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mich entschieden habe«, erklärte Shamir und nahm seine Arbeit wieder auf.

Was er noch am selben Abend tat, während er seinen Teller in dem Fast-Food-Lokal gleich um die Ecke betrachtete, in dem er allabendlich »speiste«. Er rief Suzie Baker an, um sich mit ihr am folgenden Samstag, Punkt acht Uhr, im Sportcenter eines Vororts von Baltimore zu verabreden.

Ein halbes Jahr lang übten sie jedes Wochenende an der Kletterwand aus Beton. Während der folgenden drei Mo­­nate trainierte Shamir seine Schülerin an echten Felswänden. Sie hatte nicht gelogen, und ihre Entschlossenheit faszinierte ihn geradezu. Sie gab nie der Erschöpfung nach. Wenn ihre Glieder schon bis zu einem Punkt schmerzten, wo jeder andere aufgegeben hätte, blieb sie mit noch mehr Energie bei der Sache.

Als Shamir ihr ankündigte, dass sie jetzt bereit sei, dem Berg zu trotzen, und er sie zu Beginn des Sommers auf den höchsten Gipfel von Colorado führen würde, war sie so glücklich, dass sie ihn in ein Restaurant einlud.

Abgesehen von einigen Lunchpaketen, die sie bei ihrem Training geteilt hatten, war dies ihr erstes gemeinsames Essen. Im Lauf des Abends erzählte Shamir von seinem Leben – von der Ankunft seiner Eltern in den USA, ihrem bescheidenen Dasein, den Opfern, die sie gebracht hatten, damit er studieren konnte –, während Suzie praktisch nichts von sich preisgab, außer dass sie in Boston lebte und jedes Wochenende eigens anreiste, um mit ihm zu trainieren, und wild entschlossen sei, im kommenden Jahr den Montblanc zu besteigen.

Anlässlich einer Europareise, die er wegen eines gewonnenen Leistungswettbewerbs an der Uni vor einigen Jahren hatte unternehmen können, hatte Shamir diesen Aufstieg schon einmal versucht. Doch der Berg hatte seine Seilschaft nicht gewollt, und er hatte wenige Stunden vor dem Ziel umkehren müssen. Für Shamir war es eine bittere Enttäuschung gewesen, und er hatte sich nur damit trösten können, dass seine Kameraden und er wohlbehalten ins Tal gelangt waren. Der Montblanc hatte oft denen das Leben genommen, die nicht hatten aufgeben können.

»Wenn Sie vom Gebirge sprechen, könnte man meinen, es hätte eine Seele«, sagte sie am Ende des Abends.

»Das glaubt jeder Bergsteiger, und ich hoffe, Sie bald auch.«

»Werden Sie es noch einmal versuchen?«

»Wenn ich eines Tages die Mittel dazu habe, ja.«

»Ich habe Ihnen ein ›unmoralisches‹ Angebot zu unterbreiten, Shamir. Am Ende meiner Ausbildung werde ich Sie mitnehmen.«

Shamir war der Ansicht, Suzie sei längst nicht erfahren genug, das Montblanc-Massiv in Angriff zu nehmen. Außerdem wäre die Reise zu kostspielig. Er bedankte sich und lehnte das Angebot ab.

»In weniger als einem Jahr werde ich den Montblanc besteigen – mit Ihnen oder ohne Sie«, erklärte Suzie, als sie sich vom Tisch erhoben.

Nach ihrem Ausflug in Colorado und ihrem Kuss auf dem Gipfel des Grays Peak weigerte sich Shamir, sich weiterhin bezahlen zu lassen.

Im Lauf der folgenden sechs Monate bedrängte Suzie ihn mit ihrer neuen Obsession, den höchsten Berg Europas zu bezwingen.

An einem Vormittag im November stritten Shamir und sie das einzige Mal. Als er nach Hause kam, fand er Suzie im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerteppich vor, eine Karte vor sich ausgebreitet. Nur ein flüchtiger Blick, und er erkannte das Bergrelief, auf dem Suzie mit einem roten Stift die Kletterroute eingezeichnet hatte.

»Du bist noch nicht so weit«, sagte er zum x-ten Mal. »Du musst wohl immer deinen Kopf durchsetzen.«

»Ja!«, erklärte sie stolz und wedelte mit zwei Flugtickets. »Wir fliegen Mitte Januar.«

Schon im Sommer hätte er gezögert, sie mitzunehmen, aber im Januar kam ein solches Unternehmen überhaupt nicht infrage!

Suzie machte geltend, der Montblanc sei in der Hochsaison ein »Massenberg« geworden. Sie aber wolle ihn allein mit ihm besteigen. Sie hatte Wochen damit zugebracht, die Route zu studieren, bis sie diese von A bis Z kannte.

Shamir wurde zornig. Der in viertausendachthundert Me­­ter Höhe auf die Hälfte reduzierte Sauerstoffpartial­druck könne Migräne, Schwächeanfälle, Übelkeit und Bewusstseinsstörungen bei all denen hervorrufen, die solche Gipfel erklimmen wollten, ohne entsprechend darauf vorbereitet zu sein. Im Winter kämen dafür nur erfahrene Bergsteiger infrage, und davon sei Suzie weit entfernt.

Wie besessen trug sie ihre Lektion vor: »Wir nehmen den Weg über die Aiguille du Goûter, um zur Arête des Bosses zu gelangen. Am ersten Tag steigen wir vom Nid d’Aigle auf. Sechs, maximal acht Stunden brauchen wir, um zur Schutzhütte Tête Rousse zu gelangen. Wir erreichen den Col du Dôme bei Tagesanbruch und steigen weiter zum Refuge Vallot. In viertausenddreihundertzweiundsechzig Metern haben wir eine Höhe erreicht, die der des Grays Peak entspricht.« Dort versprach sie im Fall schlechter Wetterverhältnisse umzukehren. »Dann die Deux Bosses«, fügte sie aufgeregt hinzu und zeigte dabei auf ein rotes Kreuz auf der Karte, »und das Felsmassiv Rocher de la Tournette, bevor wir den Gipfel in Angriff nehmen. Oben angelangt, fotografieren wir uns und beginnen den Abstieg. Dann hast du endlich den Berg bezwungen, von dem du immer schon geträumt hast.«

»Nicht so, Suzie, nicht indem du derartige Risiken eingehst. Wir nehmen den Montblanc in Angriff, wenn ich die Mittel habe, dich dorthin zu begleiten. Ich verspreche es dir. Aber nicht im Winter, das wäre Selbstmord.«

Doch Suzie gab nicht nach: »Und wenn ich seit unserem ersten Kuss auf dem Grays Peak davon träumen würde, dass du auf dem Gipfel des Montblanc um meine Hand anhältst? Und wenn der Monat Januar für mich, was dieses Unternehmen betrifft, mehr als alles andere zählt – ist das nicht wichtiger als deine verdammten Wetterängste? Du verdirbst alles, Shamir. Ich wollte …«

»Ich habe überhaupt nichts verdorben«, murmelte er. »Aber du erreichst ja sowieso immer alles, was du dir in den Kopf setzt. Einverstanden, aber bis dahin lasse ich dir keine Atempause. Jeder freie Augenblick wird der Vorbereitung dieses Wahnsinns gewidmet. Du musst körperlich total fit sein, nicht nur, um einen Berg zu erklimmen, der hinterlistiger ist, als er erscheint, sondern um dich seinem Klima zu stellen. Und du hast noch nie ein Unwetter im Hochgebirge erlebt.«

Shamir erinnerte sich an jedes seiner Worte, die er in seinem wohlig geheizten Haus in Baltimore ausgesprochen hatte, während jetzt Graupel unerbittlich sein Gesicht peitschte.

Der Wind nahm noch an Stärke zu. Suzie, nur ein Dutzend Meter von ihm entfernt, war bloß noch ein Schatten in dem Orkan, der ihnen zusetzte.

Man durfte nicht der Angst nachgeben, nicht schwitzen; Schweiß ist fatal im Hochgebirge. Er klebt einem an der Haut und kristallisiert, sobald die Körpertemperatur sinkt.

Die Tatsache, dass Suzie die Seilschaft anführte, beunruhigte ihn noch mehr. Er war der Führer und sie die Schülerin. Aber sie weigerte sich, das Tempo zu reduzieren, und lief schon seit gut einer Stunde vorneweg. Das Refuge Vallot war nur noch eine ferne Erinnerung. Sie hätten dort umkehren müssen. Das Tageslicht vermochte kaum, die dichte Wolkendecke zu durchdringen, als sie beschlossen, den Weg fortzusetzen und sich in diesem schwindelerregenden Korridor voranzubewegen.

Hinter dem windgepeitschten Schneevorhang meinte er, Suzie winken zu sehen. Es ist üblich, einen Sicherheitsabstand von mindestens fünfzehn Metern zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Seilschaft zu halten, aber Suzie verlangsamte endlich das Tempo, und Shamir beschloss, diese Regel zu brechen, um sich ihr zu nähern. Als er auf ihrer Höhe angelangt war, beugte sie sich vor und rief ihm ins Ohr, sie sei sicher, Rocher de la Tournette gesehen zu haben. Wenn es ihnen gelänge, sich bis dorthin vorzukämpfen, könnten sie an seinen felsigen Wänden Schutz finden.

»Wir schaffen es aber nicht, es ist viel zu weit entfernt«, brüllte Shamir zurück.

»Hast du eine bessere Idee?«, rief Suzie und zog an dem Seil.

Shamir zuckte die Achseln und ergriff die Initiative, um erneut die Führung zu übernehmen.

»Nicht so nahe hinter mir«, befahl er und setzte seinen Eispickel ein.

Als er spürte, dass der Boden nachgab, und ahnte, dass es zu spät war, drehte er sich zu Suzie um und wollte sie vor der Gefahr warnen.

Das Seil spannte sich urplötzlich. Suzie wurde nach vorn gerissen und versank mit Shamir in der Spalte, die sich zu ihren Füßen auftat.

Außerstande, irgendwo Halt zu finden, stürzten sie mit schwindelerregendem Tempo in die Tiefe. Shamirs Schneeanzug zerriss, und eine Felsspitze bohrte sich in seinen Oberkörper. Sein Kopf schlug auf das Eis, und er hatte den Eindruck, einen Uppercut mitten ins Gesicht zu bekommen. Das Blut, das aus seinen geplatzten Augenbrauen floss, machte ihn nahezu blind. Die Luft drang nur schwer in seine Lunge. Bergsteiger, die den Sturz in eine Gletscherspalte überlebt haben, sprechen von Untergang, dem Eindruck zu ertrinken. Und genau das empfand er jetzt.

Da sie sich nirgends festhalten konnten, rutschten sie weiter in die Tiefe. Shamir brüllte Suzies Namen, bekam aber keine Antwort.

Er schlug am Boden auf. Es war ein dumpfer, brutaler Aufprall, so als hätte der ihn verschlingende Berg ihn k. o. schlagen wollen.

Er hob den Kopf und sah eine weiße Masse auf sich herabstürzen. Danach herrschte nur noch Stille.

Kapitel 2

Eine Hand wischte den Schnee von seinem Gesicht. Aus der Ferne flehte ihn eine Stimme an, die Augen zu öffnen. In einem Lichtkreis sah er Suzie mit totenbleichem Gesicht über sich gebeugt. Sie schlotterte vor Kälte, zog jedoch ihre Handschuhe aus und säuberte ihm Mund und Nasenlöcher.

»Kannst du dich bewegen?«

Shamir nickte. Er sammelte all seine Kräfte und Sinne und versuchte, sich aufzurichten. »Ich habe Schmerzen an Rippen und Schulter«, sagte er und stöhnte auf. »Und du?«

»Als wäre ich unter eine Dampfwalze geraten, aber es ist nichts gebrochen. Ich habe beim Sturz in die Gletscherspalte das Bewusstsein verloren und keine Vorstellung davon, wie viel Zeit seither vergangen ist.«

»Deine Uhr?«

»Ist kaputt.«

»Und meine?«

»Ist nicht mehr an deinem Handgelenk.«

»Wir werden an Unterkühlung sterben, wenn wir nichts tun. Hilf mir, mich aus dem Schnee zu befreien.«

Suzie buddelte den Schnee weg, unter dem Shamir bis zum Becken vergraben war.

»Das ist alles meine Schuld«, jammerte sie, während sie ihre Anstrengungen verstärkte, ihn zu befreien.

»Konntest du den Himmel sehen?«, fragte Shamir, der versuchte aufzustehen.

»Ein kleines Stück, aber ich bin nicht sicher. Das Wetter müsste aufhellen.«

»Öffne meinen Schneeanzug und reib mich trocken. Beeil dich, ich bin kurz davor zu erfrieren. Und zieh sofort deine Handschuhe wieder an. Wenn deine Finger abfrieren, sind wir verloren.«

Suzie griff nach ihrem Rucksack, der sie bei dem Sturz geschützt hatte. Sie zog ein T-Shirt heraus und öffnete den Reißverschluss von Shamirs Schneeanzug. Sie rubbelte ihn ohne Unterlass ab, während Shamir einem Schmerz standhielt, der unerträglich zu werden drohte. Als er einigermaßen trocken war, legte Suzie ihm einen Behelfsverband um den Oberkörper, schloss den Schneeanzug und entrollte ihren Schlafsack.

»Schlüpf mit mir zusammen hinein«, forderte er sie auf. »Wir müssen uns warm halten. Das ist unsere einzige Chance.«

Dieses eine Mal gehorchte Suzie. Sie wühlte noch etwas in ihrem Rucksack und überprüfte auf gut Glück das Display ihres Handys, bevor sie es ausschaltete. Dann half sie Shamir in den Schlafsack und kuschelte sich an ihn.

»Ich bin todmüde«, gestand sie.

»Wir müssen dagegen ankämpfen. Wenn wir einschlafen, wachen wir nicht mehr auf.«

»Glaubst du, man wird uns finden?«

»Vor morgen wird niemand unser Verschwinden bemerken. Und ich bezweifle, dass die Rettungsmannschaften uns hier suchen werden. Wir müssen hinaufklettern.«

»Wie willst du das machen?«

»Wir sammeln neue Kraft, und wenn uns der Tages­anbruch etwas Licht bringt, suchen wir unsere Eispickel. Mit etwas Glück …«

So verharrten sie viele lange Stunden und blickten prüfend ins Halbdunkel. Als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, entdeckten sie, dass es am Ende der Gletscherspalte zu einer unterirdischen Höhle weiterging.

Schließlich drang etwa dreißig Meter über der Stelle, an der sie sich befanden, ein Lichtstrahl durch das Dunkel. Shamir schüttelte Suzie.

»Aufstehen!«, befahl er.

Suzie blickte auf das Schauspiel, das sich plötzlich vor ihnen bot und so schön wie erschreckend war. Wenige Meter entfernt überspannte ein Eisgewölbe eine Höhle mit funkelnden Wänden.

»Das ist eine Karsthöhle«, flüsterte Shamir und deutete mit dem Finger nach oben. »Ein natür­licher Schacht, der eine Doline mit einer unterirdischen Höhle verbindet. Der Umfang ist gering, vielleicht könnten wir in diesem Kamin aufsteigen.«

Er zeigte ihr den Weg, der ihm machbar erschien. Das Gefälle war stark, aber in ein bis zwei Stunden würde die Sonne das Eis etwas aufgeweicht haben, und ihre Steigeisen könnten Halt finden. Fünfzig Meter, vielleicht sechzig, es war schwer abzuschätzen, welche Höhe sie von der Ober­fläche trennte. Aber wenn es ihnen gelänge, den Vorsprung zu erreichen, den sie von unten sehen konnten, war der weitere Verbindungsgraben schmal genug, um sich dort mit dem Rücken an der Wand und durch Abstoßen mit den Beinen hinaufzukämpfen.

»Und deine Schulter?«, fragte Suzie.

»Der Schmerz ist erträglich. Es ist jedenfalls unsere einzige Chance. Die Gletscherspalte hinaufzuklettern ist unmöglich. Aber zuerst müssen wir unsere Eispickel finden.«

»Und wenn wir in der Höhle weitergehen, vielleicht gibt es einen anderen Ausgang?«

»Nicht zu dieser Jahreszeit. Selbst wenn ein unterirdischer Fluss hindurchfließen würde, wäre er gefroren. Die einzige Möglichkeit ist der Aufstieg in dieser Karsthöhle. Heute können wir das nicht mehr in Angriff nehmen. Wir brauchen mindestens fünf Stunden zum Klettern, ich gebe uns höchstens noch zwei, bis die Sonne auf der anderen Hangseite steht, und im Dunkeln ist es nicht machbar. Wir sammeln erst einmal neue Kräfte und suchen unsere Ausrüstung. Die Temperatur in der Höhle ist weniger eisig, als ich dachte. Wir können sogar versuchen, uns im Schlafsack ein wenig auszuruhen.«

»Glaubst du wirklich, dass wir hier rauskommen?«

»Du hast das Können, um diesen Kamin aufzusteigen, du kletterst voraus.«

»Nein, du«, bat Suzie inständig.

»Meine Schmerzen in den Rippen sind zu stark, als dass ich dich hochziehen könnte, und sollte ich abstürzen, würde ich dich mitreißen.«

Shamir ging an die Stelle zurück, wo sie aufgeschlagen waren. Der Schmerz nahm ihm den Atem, aber er bemühte sich, es Suzie nicht zu zeigen. Während er mit seinen Handschuhen den Schnee umgrub, in der Hoffnung, die Eispickel zu finden, entfernte sie sich zum Ende der Höhle.

Plötzlich hörte er sie rufen. Shamir wandte sich um und lief zurück.

»Hilf mir, unsere Ausrüstung zu suchen, Suzie!«

»Vergiss deine Eispickel und schau dir das an!«

Hinten in der Höhle erstreckte sich ein Eisteppich, so glatt, als sei er von einer Maschine präpariert worden, und verschwand weiter hinten im Dunkeln.

»Ich hole die Taschenlampe.«

»Komm mit mir«, befahl Shamir. »Wir erkunden das ­später.«

Suzie machte widerwillig kehrt und ging an die Stelle zurück, wo Shamir mit seinen Ausgrabungen begonnen hatte.

Eine Stunde lang wühlten sie im Schnee. Shamir entdeckte einen Träger des Rucksacks, den er beim Sturz verloren hatte, und seufzte vor Erleichterung. Dieser Fund gab ihm neue Hoffnung. Keine Spur jedoch von den Eispickeln.

»Wir haben zwei Taschenlampen, zwei Kocher, eine doppelte Ration Essen und zwei fünfundvierzig Meter lange Seile. Schau dir die Wand an, auf die jetzt der Sonnenstrahl fällt«, sagte er. »Das Eis schmilzt, wir müssen das Wasser auffangen. Wir werden sehr schnell dehydrieren.«

Erst jetzt wurde Suzie bewusst, dass sie vor Durst fast umkam. Sie griff nach ihrem Blechnapf und versuchte, ihn dort, wo das Eis herabtropfte, schön gerade zu halten.

Shamir hatte sich nicht getäuscht, das Licht verblasste und war bald verschwunden, als habe eine unheilvolle Präsenz das Himmelsloch über ihren Köpfen geschlossen.

Suzie schaltete ihre Stirnlampe ein. Sie sammelte ihre Sachen zusammen, öffnete den Schlafsack und schlüpfte hinein.

Shamir hatte seine verloren. Er nahm die Taschenlampe und fuhr fort, den Schnee zu durchwühlen, doch ohne Erfolg. Am Ende seiner Kräfte, kurzatmig und mit brennender Lunge, beschloss er, sich etwas auszuruhen. Als er bei Suzie ankam, brach sie ihren Müsliriegel durch und reichte ihm eine Hälfte.

Shamir konnte nichts essen, das Schlucken löste einen Brechreiz aus.

»Wie lange?«, fragte Suzie.

»Wenn wir das Essen rationieren, genügend Wasser auffangen können und keine Lawine die Karsthöhle zuschüttet, vielleicht sechs Tage.«

»Ich habe dich gefragt, wann wir sterben werden, aber wahrscheinlich war das die Antwort.«

»Die Rettungskräfte werden nicht ewig brauchen, bis sie anfangen, uns zu suchen.«

»Du hast selbst gesagt, dass sie uns nicht finden werden. Nicht hier unten in diesem Loch. Es wird mir niemals gelingen, den Vorsprung zu erreichen, den du mir vorhin gezeigt hast, aber selbst wenn ich bis dorthin kommen würde, ginge es über meine Kräfte, den Kamin sechzig Meter hinaufzuklettern.«

Shamir seufzte. »Mein Vater hat immer gesagt, wenn du dir nicht vorstellen kannst, eine Gesamtaufgabe zu bewältigen, gehe sie etappenweise an. Jede einzelne Etappe wird dir machbar erscheinen, und die Addition kleiner Erfolge wird dich bis zum gesetzten Ziel führen. Morgen früh, sobald das Tageslicht die Spalte ausreichend erhellt, werden wir prüfen, wie der Vorsprung zu erreichen ist. Für den Schacht müssen wir dann den nächsten Tag abwarten. Und jetzt schone deine Batterien und schalte die Lampe aus.«

In dem Dunkel, das sie umhüllte, hörten Shamir und Suzie über sich das Heulen des Windes. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und bat ihn um Verzeihung. Aber Shamir, von den Schmerzen erschöpft, schlief bereits.

Mitten in der Nacht erwachte Suzie von einem Donner­grollen, und zum ersten Mal dachte sie, dass sie hier unten sterben würde. Mehr Entsetzen als bei dem Gedanken zu sterben empfand sie bei der Überlegung, wie lange es bis dahin wohl dauern würde. Eine Gletscherspalte ist kein Ort für Lebende, hatte sie einmal in einem Bergsteigerbericht gelesen.

»Das ist kein Gewitter«, flüsterte Shamir, »das ist eine Lawine. Schlaf weiter und hör auf, an den Tod zu denken. Daran darf man nie denken.«

»Ich habe nicht daran gedacht.«

»Du hast dich so fest an mich gepresst, dass du mich geweckt hast. Wir haben noch Zeit.«

»Ich habe es satt zu warten«, sagte Suzie.

Sie verließ den Schlafsack und schaltete ihre Stirnlampe ein.

»Was hast du vor?«, wollte Shamir wissen.

»Ich werde mir etwas die Beine vertreten. Bleib hier und ruh dich aus, ich gehe nicht weit.«

Shamir hatte keine Kraft, ihr zu folgen. Bei jedem Einatmen drang weniger Luft in seine Lunge, und wenn sich sein Zustand weiter verschlechterte, würde er bald gar keinen Sauerstoff mehr bekommen. Er bat Suzie, vorsichtig zu sein, und schlief wieder ein.

Suzie bewegte sich auf die Höhle zu, wobei sie genau auf die Bodenbeschaffenheit achtete. Man wusste nie, wo bei einer Gletscherspalte tatsächlich der Boden war, der Untergrund konnte immer noch nachgeben. Sie ging unter dem Gewölbe durch und drang in den weiten Stollen ein, den sie bemerkt hatte, bevor Shamir sie zur Umkehr ermahnt hatte. Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und sie lief entschlossen weiter.

»Ich weiß, dass du da bist, ganz nah. Seit Jahren suche ich dich schon«, flüsterte sie.

Sie setzte ihren Weg fort, nahm den geringsten Winkel, die kleinste Nische um sie herum in Augenschein. Und plötzlich ließ der Lichtstrahl ihrer Stirnlampe eine silbrige Fläche aufblitzen. Suzie griff nach der Taschenlampe und schaltete sie zusätzlich ein. Es war unvernünftig, in so kurzer Zeit so viel Energie zu verbrauchen, aber die Erregung war zu stark, als dass sie daran gedacht hätte. Sie umklammerte den Griff der Taschenlampe und streckte den Arm aus.

»Zeige dich. Ich möchte mir einfach nur holen, was mir gehört, was du uns niemals hättest nehmen dürfen.«

Suzie näherte sich dem Widerschein. An dieser Stelle hatte das Eis eine merkwürdige Form. Sie wischte die dünne Reifschicht darauf ab und war sicher, unter dem beinahe glasklaren Eis ein Metallstück zu erkennen.

Bereits seit Jahren war Suzie von der Existenz dieser Höhle überzeugt. Sie hätte die Anzahl der Stunden nicht benennen können, die sie damit zugebracht hatte, die Berichte von Bergsteigern zu lesen, die sich an den Fuß des Felsmassivs Rocher de la Tournette vorgewagt hatten, die Unfallberichte oder das kleinste Foto zu analysieren, die Berichte über die Gletscherbewegungen der letzten fünfzig Jahre zu studieren, um sicherzugehen, dass ihr kein Hinweis entging. Und diese Sicherheit hatte dazu geführt, dass sie sich – ihr Ziel stets vor Augen – beim Klettertraining ihre Schmerzen nicht hatte anmerken lassen.

Sie warf einen kurzen Blick in die Richtung, wo Shamir schlief, doch er war zu weit entfernt, als dass sie ihn hätte sehen können. Schritt für Schritt bewegte sie sich mit angehaltenem Atem voran.

Der Stollen wurde breiter. Die von der Natur modellierten Wände im Inneren des Bergs hatten Ähnlichkeit mit den Mauern in einer Höhlenwohnung.

Plötzlich beschleunigte sich Suzies Herzschlag.

Die Cockpitzelle einer Boeing 707, überragt von einem Haufen verbogenen Schrotts, tauchte auf und schien diese sonderbare Besucherin mit einer Verzweiflung zu betrachten, welche die Zeit nicht hatte auslöschen können.

Ein Dutzend Schritte weiter lag ein Teilstück der Kabine inmitten von Verkabelungen und Sitzfragmenten, die im Schnee erstarrt waren.

Der Boden war von Trümmern übersät, zumeist abgerissene Metallstücke, die durch die Heftigkeit des Aufpralls verformt waren. Das Bugfahrwerk ragte senkrecht aus einem kleinen Hügel heraus. Ein Stück der Tür, auf dem noch die Aufschriften zu erkennen waren, hatte sich einige Meter über dem Boden im Eisgewölbe verklemmt.

Der vordere Teil der Kanchenjunga befand sich hier, er­­starrt in diesem Grab, das der Berg über ihm verschlossen hatte.

Langsam näherte sich Suzie, durch ihre Entdeckung wie elektrisiert, aber auch angsterfüllt.

»Da bist du ja endlich«, murmelte sie. »Auf diesen Mo­­ment habe ich so lange gehofft.«

Andächtig und schweigend verharrte Suzie vor dem Flugzeugwrack.

Sie hörte Schritte, drehte sich um und sah das Lichtbündel von Shamirs Lampe den Eingang der Höhle abtasten. Sie überlegte einen Moment und zögerte.

»Ich bin hier«, sagte sie schließlich und richtete sich auf.

Sie eilte zu ihm. Shamir sah mitgenommen aus.

»Du solltest liegen bleiben.«

»Ich weiß, aber ich hatte das Gefühl, völlig steif zu werden, und habe mir Sorgen um dich gemacht. Hast du hier einen Ausgang gefunden?«

»Nein, noch nicht.«

»Irgendetwas anderes, das es wert ist, deine Batterien zu vergeuden?«

Suzie sagte nichts und sah Shamir an. Nicht die Schmerzen, sondern das Bewusstsein der Gefahr gab ihm diese düstere Miene. Sein Blick rief ihr den Ernst ihrer Situation wieder in Erinnerung, den sie einige Augenblicke lang beinahe vergessen hatte.

»Geh dich ausruhen, ich erkunde noch ein wenig die Örtlichkeiten und komme dann wieder zu dir.«

Shamir schob sie zur Seite und betrat die Höhle. Als er das Flugzeugwrack entdeckte, riss er die Augen weit auf.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, meinte Suzie.

Er betrachtete die Aufschriften in Hindi, die sie mit ihrer Lampe beleuchtete, und zögerte weiterzugehen.

»Das sind wahrscheinlich Wrackteile der Malabar Prin­cess«, meinte Shamir.

»Nein, die Malabar war ein viermotoriges Propellerflugzeug, das hier ist die Kanchenjunga.«

»Und woher weißt du das?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Suzie.

»Du wusstest, dass sie hier ist?«

»Ich hoffte es.«

»Deine verbissene Entschlossenheit, den Montblanc zu besteigen, hatte ausschließlich damit zu tun, dass du dieses Wrack finden wolltest?«

»Ja, aber nicht so … Ich wollte, dass wir uns hierher abseilen.«

»Weil du von der Existenz dieser Höhle wusstest?«

»Ein Bergsteiger hatte den Eingang zu deiner Karsthöhle am Hang des Felsmassivs Rocher de la Tournette vor drei Jahren entdeckt. Das war im Sommer, er hatte das Fließen eines unterirdischen Flusses hinter einer Eismauer gehört. Nachdem er sich einen Durchgang verschafft hatte, wagte er sich bis zum oberen Teil des Schachts vor, ohne jedoch hinabzusteigen.«

»Und du hast mich die ganze Zeit über belogen? Als du mich aufgesucht hast, hattest du diese Idee bereits im Kopf?«

»Ich werde dir alles erklären, Shamir. Wenn du es dann weißt, wirst du verstehen«, sagte Suzie und wollte auf das Wrack zugehen.

Shamir hielt sie am Arm zurück. »Dieser Ort hier ist eine Grabstätte, er ist geheiligt, man soll die Toten nicht stören. Komm, lass uns gehen«, befahl er.