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Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Eingesponnen in den abstrusen Wahn, er trage das »Gen des Bösen« in sich, beginnt Daniel König damit, seine Familie und alle Menschen, die ihm übel mitgespielt haben, auszurotten. Vera Bilewski, die unkonventionelle Kommissarin mit dem untrüglichen Gespür, kommt ihm auf die Spur. Aber den Wettlauf mit der Zeit scheint sie zu verlieren; er macht die Jägerin selbst zur Gejagten ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Klaus-Peter Wolf

Das Gen des Bösen

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Vera Bilewski findet die durchsichtigen Plastikhandschuhe unangenehm. Sie erinnern sie an ihr Praktikum in der Gerichtsmedizin. Ihr Lehrer, Kunstmann, hatte damals darauf bestanden. »Wer Mörder fangen will, muß sich mit Leichen auskennen.«

Am liebsten würde sie die Plastikdinger in den Abfalleimer zu den Slipeinlagen werfen, aber ihre Freundin Anna Koligk hat sie gewarnt: »Du kriegst knallrote Finger, und das Zeug geht tagelang nicht ab.«

Vera kniet vor der Badewanne und massiert sich die Schaumtönung in die Haare. Die silbernen Strähnchen sollen verschwinden. Einen leichten rötlichen Glanz, ein kupferfarbenes Schimmern hat Anna ihr versprochen. Je nach Licht immer ein bißchen anders in der Wirkung.

Vera stützt sich am Wannenrand ab, als sie aufsteht. Die Knie schmerzen, und sie merkt die Belastung im Rücken. Ich werde älter, denkt sie. Daran können Fitneßstudio und Waldläufe auch nichts ändern. Der Lack ist ab. Noch vor einem Jahr hätte es mir nichts ausgemacht, eine halbe Stunde so zu knien. Jetzt reichen schon wenige Minuten, um mich daran zu erinnern, daß ich einen Körper habe.

Sie wickelt sich ein Frotteehandtuch um den Kopf und sieht noch einmal auf die Packung: Fünf bis zehn Minuten einziehen lassen.

Ob Hans überhaupt etwas merkt? Er ist eigentlich ein sehr aufmerksamer Ehemann, aber was, wenn er überarbeitet heimkommt und, weil er so entnervt ist, gar nicht richtig hinguckt? Vera befürchtet, daß es sie verletzen würde. Er hat die grauen Strähnen nicht bemerkt, warum soll ihm der rote Glanz auffallen?

Sie bewegt sich leichtfüßig die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Der Schmerz in den Knien ist schon verflogen. Vera biegt den Rücken durch und schaut auf die Uhr. Fünf nach acht. Um spätestens viertel nach, wenn die Tagesschau vorbei ist, muß der Tönungsschaum raus.

Sie hat die Fernbedienung schon in der Hand, aber dann entscheidet sie sich gegen die Nachrichten. Sie nimmt die Tarotkarten aus ihrer Schachtel und fächert sie mit der linken Hand auf.

Das Keltische Kreuz dauert zu lange. Aber die Zeit reicht, um schnell eine Karte zu ziehen … Nein, so geht es nicht. Ich bin zu fahrig, zu unkonzentriert.

Sie legt die Karten wieder zusammen, nimmt sie in beide Hände und schließt für einen Moment die Augen. Sie atmet tief durch und versucht, mit der Ausatmung zu entspannen. Es gelingt nicht wirklich, aber jetzt spürt sie wenigstens, wo die Verspannungen sitzen. Im Magen.

Vera spürt, daß sie vor Veränderungen steht. Für einen Augenblick ist sie geradezu elektrisiert von dem Gedanken. Alles wird anders werden. Nichts wird bleiben, wie es war. Sie fühlt es wie eine große, bedrohliche Kraft. Unwillkürlich dreht sie sich um und schaut nach, ob sie auch allein im Raum ist.

Dann fächert Vera Bilewski die Karten erneut auf und zieht eine mit links.

Sie dreht sie um. Es ist der Tod.

Vera erschrickt. Ein leises »Nein!« entfährt ihr.

Sie hat diese Karte noch nie gezogen. In all den Jahren nicht. Vorsichtig nimmt sie sie in die Hand und betrachtet das Bild. Wie verrenkt dieses Skelett dasteht. Es muß jeden Moment umfallen. Oder ist es im Sprung? Erst jetzt sieht sie, daß das Totengerippe an Fäden hängt wie eine Marionette. Schneidet der Tod die Fäden durch, an denen er tanzt, behindern oder halten sie ihn? Schneidet er sich vielleicht gar mit der Sense ins eigene Bein?

Über dem Kopf des Todes schwingt sich ein blauer Adler auf. Er scheint aus dem Helm zu erwachsen. Unten im Bild reckt ein Skorpion seinen giftigen Stachel. Daneben eine Schlange. Das Symbol der Transformation.

Vera kennt sich mit Schlangen nicht aus, doch sie weiß, daß diese giftig ist und bereit, zuzubeißen.

Der Tod tanzt zwischen dem gefährlichen Getier. Kein Wunder, daß er sich so verrenkt und versucht, den Boden möglichst nicht zu berühren, um nicht angegriffen zu werden.

Nur selten greift Vera zum Tarotbuch. Sie braucht die Buchstaben nicht, um die Karten zu deuten. Sie nutzt die Bilder nur, um über sich selbst und ihre Situation nachzudenken.

Die Karte weist auf eine radikale Veränderung hin. Das ist ihr gleich klar. Vera liest im Handbuch: »An welchen überlebten Beziehungen oder Situationen hältst du im Moment noch fest? – In der Sufi-Tradition gibt es eine bekannte Aussage: ›Sterbe, bevor du stirbst‹. – Sie ist eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit der Kunst des Sterbens. Solange du noch einen Rest von Angst vor dem Tod und dem Sich-Fallen-Lassen in dir hast, kannst du nicht richtig leben. – Jedes Festhalten, jedes ›Nein‹ hindert dich, im natürlichen Lebensfluß zu sein. – Ich sage jetzt: ›Ja zum Leben, Ja zum Tod, Ja zu mir.‹«

Die Karte macht Vera wütend. Sie wirft sie auf den Tisch. »Sterbe, bevor du stirbst.« So ein Quatsch!

Ich habe mich einfach vergriffen. Die Karte paßt nicht zu mir. Der Tod. Nee. Nicht mit mir.

Sie setzt sich auf den Teppich, als sei ihr die Anstrengung, bis zum Sessel zu gehen, zu groß. Sie zieht sich ein Kissen heran und schiebt es sich unter den Hintern. Dann verschränkt sie die Beine. So, die Knie fest auf dem Boden, kann sie lange sitzen.

Früher hat Vera in dieser Stellung oft meditiert. Dafür fehlt ihr in letzter Zeit jeder Impuls. Sie hängt lieber vor dem Fernseher, die Fernbedienung in der Hand. Switchen zu können, empfindet sie als Form direkter Demokratie.

Vera versucht, sich an den letzten Krimi zu erinnern. Sie will sich ablenken. Die Fernbedienung liegt neben der Tarotkarte. Vielleicht greift sie deshalb nicht danach.

Der Tod. Sterbe, bevor du stirbst. Was soll das? Warum sitze ich hier und schalte nicht in die Nachrichten? Traue ich mich nicht? Ich, die Kommissarin Vera Bilewski? Oder liegen dazwischen Abgründe? Ablenkung oder Auseinandersetzung mit mir selbst? Ist das die Entscheidung?

Vera versinkt langsam, aber stetig immer tiefer. Erst als sich das Garagentor öffnet, schreckt sie hoch.

Hans! Da ist er. Sie wollte vorher noch so viel machen.

Hans Bilewski sieht müde aus. Eine fahle Gesichtshaut. Die Augen liegen tiefer als sonst. Er muß sich beim Fahren ein paarmal mit den Fingern durch die Haare gestrichen haben. Es ist strubbelig. Seine Lippen sind schmaler als sonst. Er ist echt mies drauf. Vera weiß gleich, daß sie heute abend nicht die Kraft hat, ihn hochzuziehen.

Sie versucht es freundlich, bietet ihm einen Drink an. Er nickt, wirkt aber dabei, als wolle er Nein sagen.

Er schaut sie so komisch an, findet sie. Sie hat das Handtuch um ihren Kopf vergessen.

Hans läßt sich auf das Sofa fallen. Er sinkt tief ein, dabei betrachtet er die Karten auf dem Tisch. Sein Magen knurrt.

»Ich habe seit heute morgen nichts Vernünftiges mehr gegessen.«

Die Betonung liegt auf »Vernünftiges«. In dem Satz schwingt viel mit. Sie hört es und sie weiß es.

Er wünscht sich eine Frau, die ganz für ihn da ist. Eine, die für ihn kocht, seine Hemden bügelt und ihm das Gefühl gibt, für sie der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein. Das kann sie nicht. Sie hat ihren Beruf, und obwohl er es weiß und akzeptiert, leidet er darunter.

Vera schlägt vor, den Pizzaexpreß kommen zu lassen. Hans reibt sich das Gesicht durch und lehnt ab.

Er zeigt auf die Karten: »Hast du dir wieder Karten gelegt?«

Warum fragt er, wenn er es sieht? denkt sie und spürt, daß seine Frage sie wie einen Vorwurf trifft.

»Hätte ich die Zeit besser nutzen sollen, um dir Königsberger Klopse zu machen?«

Hans stöhnt. Dieser schnelle, kurze Schlagabtausch zieht ihn nur noch weiter runter. Dabei ist heute gar nichts Schlimmes passiert. Halbjahres-Abschlußbesprechung in der Zentrale. Er steht gut da. Oberes Drittel. Er wird in diesem Jahr – trotz Steuern – noch mehr verdienen als im letzten. Sie könnten sich ein neues Haus bauen. Aber warum? Sie haben dieses hier. Alles, was er will, verdammt noch mal, ist eine Frau, die ihm abends eine Suppe warm macht. Aber weil er weiß, daß er mit dieser Forderung bei Vera falsch liegt und der Trend der Zeit gegen ihn ist, sagt er statt dessen: »Du glaubst den Quatsch wirklich? Eine klardenkende, gestandene Frau wie du?« Er lacht bitter. »Es ist zu komisch. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen. Was glaubst du, können dir diese Karten verraten?«

Vera wendet sich von ihm ab. »Als du deine Depressionen hattest, was hat dein Seelenklempner dir da gezeigt?«

Schützend verschränkt Hans Bilewski die Arme vor der Brust. »Das ist doch ganz etwas anderes.«

Weil er nur abwehrt, statt zu antworten, tut sie es genüßlich für ihn. »Klecksbilder hat er dir gezeigt. Darauf begründete er seine Diagnose. Klecksbilder.«

»Ich hatte ein Aha-Erlebnis, als ich sie ansah«, verteidigt Hans seinen Ex-Therapeuten.

»Siehst du«, setzt Vera nach, »so etwas habe ich beim Betrachten meiner Karten auch manchmal.«

Er nimmt den »Tod« in die Hand. »Hast du die gezogen?«

Vera nickt sauer.

»Dann würde ich an deiner Stelle die Warnung ernst nehmen und kündigen – oder mich wenigstens in den Innendienst versetzen lassen.«

Sie weiß, wie sehr ihr Mann den Gedanken haßt, daß sie es tagtäglich mit Kriminellen zu tun hat. Mörder. Drogendealer. Vergewaltiger. Sadisten. Einbrecher. Er muß sich schütteln bei der Vorstellung.

»So etwas«, sagt er sanft, »geht nicht ewig gut. Wer sich in Gefahr begibt, kommt irgendwann darin um.«

»Jetzt spricht der Versicherungsfachmann aus dir«, lacht Vera. Sie hat seine Bedenken nie ernst genommen.

Er will mich nur für sich allein, das ist es, denkt sie. Er wäre auch dagegen, wenn ich Apothekenhelferin wäre. Die Apotheke könnte ja von einem Junkie überfallen und ausgeraubt werden. Einem, der mich als Geisel nimmt und dann …

»Warum hast du eigentlich dieses alberne Handtuch um den Kopf? Ist dein Fön kaputt?«

Im selben Moment empfindet sie das Handtuch wie einen schweren Helm aus Gußeisen. Kaum zu ertragen. Wie konnte sie ihn nur vergessen?

Vera blickt zur Digitaluhr am Videorecorder, als könnte dort ein Heckenschütze auf der Lauer liegen.

»Oh, nein!« schreit sie. »Halb zehn! Das darf nicht wahr sein!«

Sie stürmt die Treppe hoch ins Badezimmer. Unterwegs reißt sie sich das Handtuch vom Kopf.

Hans folgt ihr. Für ihn sieht sie aus wie eine irre gewordene Patientin, die vor dem Gehirnchirurgen aus dem Operationssaal flüchtet und versucht, ihren Kopfverband loszuwerden.

Vera Bilewski steht vor dem Spiegel und ist dem Heulen nahe. Von wegen leichter rötlicher Glanz. Von wegen kupferfarbener Schimmer. Schreiend rot sind ihre Haare geworden.

Hans steht und staunt.

Vera spült die Haare wieder und wieder aus. Aber es ist sinnlos. Wie rotglühende Flammen, die aus ihrem Kopf schlagen, sieht es aus. Mit Wasser nicht zu löschen.

Zwei Stunden später, als sie nebeneinander im Bett liegen, fragt Hans vorsichtig: »Kündigt die Karte den Tod an?«

»Nicht unbedingt den physischen. Aber sie deutet auf eine Veränderung hin. Warum fragst du?«

»Ich … ich hatte einen Traum. Er war denen ähnlich, die ich während meiner Depressionen … ich sah dich in einer Schlangengrube. Du recktest mir den Arm entgegen, während giftige Schlangen …« Seine Stimme wird trocken.

Sie kuschelt sich an ihn. »Hast du mich gerettet?«

»Nein«, gesteht er. »Ich war wie gelähmt.«

Vera drückt sich im Bett hoch, bis ihr Kopf über seinem ist. Sie spitzt die Lippen zu einem Kuß. Plötzlich lacht er: »Soll ich dir etwas verraten? Ich habe mir immer eine rothaarige Geliebte gewünscht.«

Vera glaubt, daß nun etwas von ihm kommt. Eine Körperreaktion. Eine Berührung. Aber schnell erkennt sie, es war nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Ein Versuch, sie abzulenken und aufzuheitern.

Erschöpft schläft Hans neben ihr ein. Vera liegt wach und starrt die dunkle Decke an.

Sie spürt die Veränderung kommen. Sie ist schon da. Es sind nicht nur die roten Haare. Es ist eine Bedrohung. Mörderisch, verschlagen, völlig skrupellos. Auf eine nicht nachvollziehbare Art irre.

2

So ist das also, wenn man seinen Vater umbringt. Es macht Plopp. Nichts weiter. Einfach nur Plopp. Es zerreißt einem nicht das Herz. Man fühlt sich nicht einmal erleichtert danach.

Er hat mich nicht gesehen. Leider. Ich konnte es nicht riskieren, näher heranzukommen. Ich mußte im Schutz der Bäume bleiben. Vielleicht erkennt mich sonst doch ein Nachbar. Ich habe mich zwar verändert, aber man weiß ja nie.

Der Alte hat geahnt, daß ich es war. Er guckte sich so ungläubig um, bevor er zusammenbrach. Er blieb noch eine Weile, vom Pfeil getroffen, stehen. Er betastete ihn und schüttelte dann den Kopf. Irgendwie staunend sah er aus, ganz so, als könne er es nicht glauben.

Trotzdem: Er wußte genau, von wem der Pfeil kam.

Ich war es. Daniel. Dein Sohn. Ich bin nicht tot. Es war nur eine Finte, um euch zu entkommen und euch in Sicherheit zu wiegen.

Ich lebe, und ich bin zurückgekommen, um mich zu rächen. Für all die Lügen müßt ihr jetzt bezahlen. Mit eurem Leben. Ihr alle. Du bist nur der erste, weil du der Unwichtigste bist. Die anderen sollen länger leiden. Sie sollen Angst haben. Angst. Angst. Angst.

Mama, Schwester Tina, Wilfried, Schobert, Professor Alexander, Hans-Dieter Regenbraut, Gerda …

Ja, das habt ihr jetzt von eurer Geheimniskrämerei. Die Intrige richtet sich gegen euch. Ihr kommt aus eurem eigenen Komplott nicht mehr heraus. Ihr wißt genau Bescheid. Ich war es, und ihr seid die nächsten. Aber ihr könnt nichts machen. Gar nichts. Niemand würde euch glauben. Erstens bin ich tot, und zweitens ist eure Geschichte so irre, die Bullen stecken euch in die Klapsmühle, wenn ihr damit rauskommt. Bestenfalls. Ihr müßt schweigen, und das ist mein Triumph. Deshalb kriege ich euch alle.

Das Spiel läuft jetzt nach meinen Regeln ab. Endlich entscheide ich mal. Ich bestimme den Ort, den Zeitpunkt, die Reihenfolge und die Todesart. Jetzt bin ich am Zug. Ich kenne euch und eure Gewohnheiten in- und auswendig. Ich habe ja lange genug unter euch gelebt. Ich falle auf eure Tricks nicht mehr rein, und ich finde jedes Schlupfloch. Ihr könnt euch vor mir nicht verkriechen. Pech für euch, daß ihr nicht wißt, wo ihr mich suchen sollt. Wirklich zu dumm.

Erst kontrolliert ihr jeden meiner Schritte und lest in mir wie in einem Buch. Dann wißt ihr nicht mal mehr, ob ich lebe oder nicht, wo ich bin, wie ich heiße und wen ich mir als nächsten vorknöpfen werde. Früher hing ich nur an euren Fäden. Tanzte nach eurer Melodie. Aber jetzt hat die Marionette die Fäden durchgeschnitten. Sie fällt nicht um. Oh, nein. Sie kann ohne eure Hilfe laufen.

Euer Spielzeug hat einen anderen Namen angenommen. Eine ganz neue Identität. Ihr würdet mich nicht wiedererkennen. Ich bin ein freier Mensch geworden. Ich werde geliebt. Ich habe eine neue Familie und … ich habe Arbeit. Selbstverdientes Geld macht frei. Ich bin perfekt getarnt.

Klar werdet ihr mich jetzt auf eigene Faust suchen, um mich auszuschalten, bevor ich euch erwische. Aber ihr könnt mich nicht finden. Ihr sucht einen Killer. Halb wahnsinnig vor Angst und Haß. Einen wurzellosen, abgerissenen Herumtreiber. Nur: Das bin ich nicht. Wer würde schon vermuten, daß ich der zukünftige Schwiegersohn von Edmanns bin. Ja, ich kriege richtige Eltern. Ich weiß jetzt, wie echte Eltern sind. Meine Schwiegermutter ist fast so verknallt in mich wie Jutta. Stellt euch vor, die mag mich wirklich. Sie hofft, daß ich ihre Tochter glücklich mache.

Das muß für euch ein irrer Gedanke sein. Schier unvorstellbar. Es gibt Eltern, die wollen einfach nur, daß ihre Kinder glücklich werden. Es dient keinem höheren Ziel. Keinem Glauben, keinem Gott oder so. Auch nicht der Wissenschaft. Es ist sich selbst genug. Weg und Ziel zugleich.

Ein glückliches Kind. Wie einfach das klingt …

Fast tut es mir leid, daß ich diese liebenswerten Menschen als Tarnung benutzen muß. Aber es geht nicht anders. Ihr würdet mich sonst finden, und ihr habt Mittel und Wege genug. Ich kenne euch. Eure Macht ist groß, aber ich werde sie brechen.

Nur ein einziger Pfeil – und der Alte liegt da in seinem Blut. Ich bin froh, daß ich dich nicht voll Blei pumpen mußte. Das stelle ich mir häßlich vor. Irgendwie primitiv. Ich wollte einen Pfeil mit Federn am Ende und einer vergifteten Spitze vorn. Ich habe lange geübt, denn ich wollte ganz sicher gehen.

Das war es: Der erste Teil einer längst fälligen Abrechnung.

Jetzt ganz ruhig. Nur nicht die Nerven verlieren. Die Armbrust in die Sporttasche. Handtuch um den Hals. Mütze in die Stirn ziehen.

Ruhig Blut. Es ist für alles gesorgt. Der Bus kommt nur jede Stunde vorbei. Bis dahin bin ich über alle Berge. Kein Mensch wird mich sehen. Hoffentlich hat jetzt keiner mein Rennrad geklaut. Na, zum Glück. Da steht es. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal nicht gerade mein Spitzenrad nehmen. Das Ding ist einfach zu wertvoll. Aber wenn ich erst einmal draufsitze, kriegt mich keiner mehr.

Na bitte!

Die Steigung hier bin ich früher im ersten Gang hochgefahren, nur um hinterher bergab sausen zu können. Hier bin ich einmal so richtig auf die Schnauze geflogen. Damals. Mit blutenden Knien kam ich nach Hause. Die Haut an den Handinnenflächen abgeschabt. Eine Acht im Vorderrad.

Damals warst du noch lebendig. Einen Riesentanz habt ihr veranstaltet, Mama und du. Ich könnte eine Blutvergiftung bekommen, und dann gleich ab ins Krankenhaus. Eine Tetanusspritze. Vorbeugend.

Lächerlich. Alles Theater. Reine Heuchelei, um mir zu zeigen, wie besorgt ihr um mich seid und wie gefährlich das Leben ohne euren Schutz ist.

Ihr habt mich reingelegt, wie so oft. Ich sollte nur das Fahrradfahren sein lassen. Unbeweglich werden. Euch ganz ausgeliefert.

Vollbremsung. Ich Blödmann! Du bist gar nicht tot. Wie konnte ich mich davon täuschen lassen? Natürlich hast du dich nicht mehr bewegt. Ich sollte denken, daß du draufgegangen bist.

Du hast mich geleimt. Schon wieder. Aber ich durchschaue deine Tricks. So gut wie du bin ich schon lange.

Jetzt verpaß ich dir den Fangschuß.

Noch reicht die Zeit.

Damit rechnest du nicht, was? Ich komme zurück.

Zum Glück habe ich mein leichtes Rennrad dabei. Diesmal stelle ich es nicht einfach am Waldrand ab, damit es jemand klaut. Ich trage es bis an die Schußposition.

 

Daniel bleibt an der Birke stehen. Von hier aus kann er das ganze Grundstück einsehen. Er will das Rad sorgfältig an den Stamm lehnen, aber er reißt die Tasche herunter und wirft es hin.

Er packt die Waffe aus, ohne hinzusehen. Er kann den Blick nicht von seinem Vater wenden.

An Daniels Hals baumelt ein batteriebetriebenes Diktiergerät. Wenn er spricht, schaltet es sich automatisch ein. Wenn er länger als fünf Sekunden schweigt, wieder aus.

Jetzt piepst es, und ein winziges rotes Lämpchen leuchtet auf. Ausgerechnet jetzt. Die Kassette ist voll.

Ohne hinzusehen, öffnet er das Gerät, dreht die Kassette um und schaltet es wieder ein. Dann erst fährt er mit seiner Arbeit fort.

Er tut nichts stumm. Er kommentiert jede seiner Handlungen. Er braucht ein Dokument. Einen unbestechlichen Zeugen. Eine Videokamera wäre ihm lieber. Aber wie soll das gehen? Er ist allein.

 

Lagst du vorhin nicht anders da?

Denkst du, ich merke nicht, daß du dich bewegt hast? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?

So. Jetzt ein sauberer Schuß in die Glatze.

Ja, meine Hand zittert. Aber das liegt nicht an dir. Ich habe keinen Respekt mehr vor dir, und erst recht keine Angst. Ich bin nur gerannt. Schlepp du mal ein Fahrrad quer durch den Wald.

 

Daniel schiebt seinen rechten Schuh durch die Metallfußschlaufe. Sie erleichtert ihm das Spannen der Sehne. Er braucht trotzdem beide Hände. 70 Kilo Zuggewicht.

Dann legt Daniel einen Pfeil ein. Das Zielfernrohr wackelt vor seinem Auge. Der Balkon. Die Terrasse. Das Wohnzimmerfenster.

Daniel schafft es plötzlich nicht mehr, die Waffe ruhig auf sein Ziel zu richten. Es müßte jetzt eigentlich einfacher sein, er liegt doch schon unbeweglich am Boden.

Daniel setzt die Waffe ab und atmet tief. Er hat plötzlich die simpelsten Regeln vergessen. Er sagt sie sich selbst auf: Beim Einatmen zielen, beim Ausatmen schießen.

So zittrig, wie er jetzt ist, würde er nicht einmal das Haus treffen.

Ein Specht hämmert über ihm eine Salve in das Holz. Daniel wirbelt herum. Er richtet die Waffe in den Wald.

Er kriegt kaum noch Luft.

Da pocht der Specht erneut. Daniel reißt die Waffe hoch und feuert auf das Geräusch. Er verfehlt den Vogel. Der Aluminiumpfeil bleibt vibrierend in einem dicken Ahornast stecken. Der Specht flattert aufgeschreckt davon.

Daniel erkennt seinen Fehler. Langsam bekommt er seine Atmung wieder unter Kontrolle.

Wieder spannt er die Armbrust. Es ist, als würde die Kraft der Sehne in ihn übergehen. Er legt den Pfeil ein. Dann erst entfernt er die Kappe von der Stahlspitze. Er hat das tausendmal andersherum geübt. Aber was spielt die Reihenfolge jetzt noch für eine Rolle?

Im Fadenkreuz des Zielfernrohrs der Kopf des Vaters.

Daniel läßt den Giftpfeil fliegen.

Das Geräusch, mit dem er die Schädeldecke durchschlägt, erinnert ihn an Musik von Mozart.

Gleich beginnt in seinem Kopf ein Orchester zu spielen.

Requiem.

3

Vera Bilewskis erste Reaktion ist Ablehnung. Sie weiß nicht, warum. Sie traut dem Angebot nicht. Sie spürt: Es ist nicht gut für sie. Irgend etwas stimmt nicht damit. Es ist nicht ehrlich gemeint, zumindest verschweigt Kunstmann ihr etwas. Etwas Entscheidendes. In seinem Lachen liegt Verlegenheit. Ein Heischen um Verständnis für eine Tat, die erst noch kommt.

Vera erschrickt manchmal selbst über ihre rasche Art, Menschen einzuschätzen. Es geschieht in Sekunden. Selten sind Worte notwendig. Sie weiß sofort, ob sie jemandem trauen kann oder nicht. Aber jetzt zweifelt sie an dieser »Fähigkeit«.

Vielleicht, denkt sie, bin ich nur eine eingebildete Ziege. Nichts weiter. Ich kultiviere meine Vorurteile als innere Stimme. Vielleicht bin ich nur ungerecht und selbstgefällig. Er war mein Lehrer. Ein verdammt guter. Er will mich in seine Truppe holen. Warum reagiere ich so abwehrend?

»Und wozu«, fragt sie spitz, »braucht Ihre Sonderkommission mich?« Sie zitiert aus dem Kopf. Sie kennt ihre Personalakte. »Ich dachte, daß gerade ich nicht teamfähig sei. Kaum zu kriminalistisch korrekter Arbeit in der Lage und …«

Kunstmann hebt abwehrend die Hände, nickt aber gleichzeitig.

»Vielleicht stand ich in letzter Zeit Ihren Methoden nicht immer sehr wohlwollend gegenüber …«

Laß dich von dem nicht einwickeln, flüstert eine mißtrauische Stimme in Veras Kopf.

»Ich habe keine Methoden«, formuliert Vera sachlich.

»Also gut, liebe Kollegin«, stöhnt Kunstmann genervt, »wir sind mit unserem Latein am Ende. Wir haben alle – und ich betone alle – kriminal- und labortechnischen Möglichkeiten ausgeschöpft.«

Kunstmann schluckt und guckt auf seine Schuhspitzen. Vera sieht, wie sehr er schwimmt. Er spielt mit seinem Pillendöschen.

»Aber wir sind keinen Schritt weitergekommen. Was wir brauchen, ist Intuition. Gespür für ungewöhnliche Möglichkeiten. Jedenfalls mehr, als unsere Polizeipsychologen zu bieten haben. Wir brauchen jemanden mit dem Riecher.«

Vera läßt ihn absaufen. »Sie meinen, einen Wahrsager?«

Kunstmann guckt sie groß an. »Ja, warum nicht?« Dann winkt er ab. Nur mürrisch gibt er es zu. »Haben wir schon versucht.«

»Herrmann?«

Er nickt.

»Aber das ist doch nur ein Scharlatan. Ein Kirmesprophet.«

Kunstmann antwortet nicht auf den Vorwurf, sondern geht zum Wasserhahn. Er zerkaut eine rosa Tablette und schluckt sie mit wenig Wasser aus dem Plastikbecher. Am liebsten würde er sie trocken runterwürgen. Der bittere Geschmack stört ihn nicht. Tief in sich drin glaubt er, daß etwas, das er nicht schmeckt, auch nicht wirkt. Je ekelhafter auf der Zunge, um so wirksamer, denkt er. Er weiß, daß es nicht stimmt. Aber das Wissen nutzt ihm nichts.

Er trinkt noch einen Schluck hinterher. Dann kippt er den ganzen Inhalt des Bechers.

Der Arzt hat ihn gewarnt. Seine Nieren spielen nicht mehr lange mit. Er braucht mehr Flüssigkeit. Er darf keine Tabletten essen wie andere Leute Bonbons.

»So schlimm ist es?« fragt Vera Bilewski.

Für einen Moment glaubt Kunstmann, daß sie von seinen Nieren redet, dann konzentriert er sich wieder auf das Gespräch und steckt das Pillendöschen ein.

»Ja. So schlimm. Da draußen rennt ein Irrer herum, der eine Familie ausrotten will. Wir haben keine Ahnung, wer er ist oder warum er es tut. Aber wenn wir ihn nicht bald erwischen, stirbt wieder jemand.«

Er legt Fotos auf den Schreibtisch. Klare Bilder. Gnadenlose Aufnahmen. Alle ein bißchen überbelichtet. Auf jedem Foto sieht Vera den Schatten des Fotografen. Sie kann seine Abgebrühtheit spüren und findet sie widerlich.

Der Mann wurde auf der Terrasse seines Wohnhauses mit Pfeilen getötet. Einer steckte im Herz. Einer ragte aus dem Kopf wie eine Antenne. Da wollte jemand ganz sicher gehen.

»Wir nennen ihn Viper.«

»Viper? Warum?«

»Weil er mit seinen Pfeilen Schlangengift in die Körper der Opfer jagt. Wie eine Injektion. Es hätte ausgereicht, um zehn Elefanten zu töten. Er hat die richtige Dosierung wohl noch nicht raus.«

Vera sieht Kunstmann kritisch an. »Sie gehen also davon aus, daß er weitermacht.«

Kunstmann nickt. »Darin sind sich die Psychologen einig. Alles deutet darauf hin.«

Vera nimmt die anderen Fotos in die Hand. Sie wirken weniger voyeuristisch auf sie. Wärmer.

»Ja, und das ist das erste Opfer. Daniel König. Seine Leiche wurde nie gefunden. Nur sehr viel Blut. Fetzen seiner Kleidung. Und sein kleiner Finger. Es muß in dieser Anglerhütte passiert sein. Sie sehen ja die Wände. Alles voller Blut. Es stank entsetzlich und die herumliegenden Fische faulten.« Er verzieht das Gesicht.

»Die Fotos hat ein anderer Fotograf gemacht«, sagt Vera beiläufig und legt sie wieder weg.

Kunstmann ist irritiert. »Ja, wie … weiß ich nicht. Warum fragen Sie?«

Vera zuckt mit den Schultern. Es ist ihr nicht wirklich wichtig. Sie wollte nur überprüfen, ob ihr Gefühl richtig war. Sie führt darüber eine innere Statistik. Es steht gut siebzig zu dreißig für ihre Gefühle.

Kunstmann dreht die Bilder um und schaut sich die Bemerkungen an. Tatsächlich, er sieht es gleich an den Kürzeln. Die Aufnahmen sind von zwei verschiedenen Fotografen.

»Sehen Sie«, sagt er, »genau das meine ich. Keiner Ihrer Kollegen wäre darauf gekommen.«

Vera lacht. »Aber Herr Kunstmann. Sie sehen sich doch auch Filme an, und dann denken Sie plötzlich, ah, den hat bestimmt der Regisseur gemacht, von dem auch der und der Film ist.«

Er nickt, aber er hat sich noch nie solche Gedanken gemacht. Er will jetzt nur nicht blöd dastehen.

»Sehen Sie, mehr ist es nicht. Bilder und Filme haben eine Atmosphäre. Die erkennt man manchmal wieder.«

»Hm. Ja. Ist ja auch für die Ermittlungen bedeutungslos.«

Kunstmann wird sehr sachlich. Diese Frau macht ihn nervös. Im Grunde hofft er schon, daß sie Nein sagt.

»Was ist denn nun? Sind Sie dabei oder nicht?«

Wie er so dasteht, in seinem grauen Anzug, athletisch und magenkrank, glaubt Vera, daß er jemanden braucht, der zu ihm hält. Er hat lange genug gebeten. Er hätte auch anordnen können, aber er will in seiner Truppe Freiwillige.

»Ich habe die Anglerhütte persönlich gesehen, und …« Kunstmann schluckt. »Daniel König war noch ein halbes Kind, als die Viper zuschlug. Und jetzt sein Vater. Als nächstes wird Frau König dran sein. Auch darin sind sich die Psychologen einig. Da will jemand diese Familie ausrotten.«

»Sie können auf mich zählen.«

Ein kurzes Lächeln huscht über Kunstmanns Lippen. Es gibt seinem Gesicht einen leicht säuerlichen, verächtlichen Zug.

Er hebt drei Elba-Ordner hoch. »Die Akten. Wie lange brauchen Sie, um sich einzuarbeiten?«

»Zwei Stunden.«

Er sieht Vera über seine Brillengläser hinweg an, als hätte er nicht richtig verstanden.

Sie lacht. »Drei Tage, wenn ich vorher alles lesen soll.«

Sie geht mit den Ordnern zur Tür. Kunstmann beeilt sich, sie ihr zu öffnen.

Dann kann er sich die Frage nicht länger verkneifen.

»Warum haben Sie das gemacht?«

»Was?«

»Na, Ihre Haare.«

Sie antwortet nicht. Sie schaut ihn nur so an, daß er kapiert: Er hat kein Recht, sie das zu fragen.

4

Daniel drückt den Kopfhörer mit beiden Händen fest gegen die Ohren. Ihn stören die Geräusche, die Jutta beim Tischdecken macht. Er sieht ihr gern zu. Aber er will dabei seine Musik hören. Pearl Jam. Voll aufgedreht.

Jutta mag diese Musik nicht. Ihr ist das zu hektisch, sagt sie. Sie haben sich darauf geeinigt, daß er seine »Radaumusik« nur über Kopfhörer hört.

Jutta hat ihm einen Discman für CDs geschenkt, und beim Radfahren trägt er einen Walkman. Ein anderer liegt neben dem Bett.

Am liebsten würde er die Dinger gar nicht abnehmen und sich den ganzen Tag zudröhnen. Manchmal denkt er, ich brauche keine anderen Menschen. Sie stören mich höchstens.

Er braucht nur Musik. Das ständige Gerede anderer Leute empfindet er als Tonstörung. Juttas Geklirre mit dem »guten Porzellan« nervt ihn.

In seinem Kopf ist viel Musik abgespeichert. Er kann sie laufen lassen, wann er will. Er hat das trainiert.

Früher begann er dabei zu wackeln, bewegte die Finger im Takt und ahmte mit den Lippen die Bläser nach oder die Baßläufe. Heutzutage kann er völlig unbeweglich dasitzen, ja, sein Gegenüber interessiert ansehen und dabei im Inneren ein Konzert abrocken lassen.

Einmal hat er den Kopfhörer aufbehalten, als er mit Jutta schlief. Sie tun es fast immer im Dunkeln. Er lag still und hörte Springsteen, als sie sich an ihn kuschelte. Er wollte sie nicht beleidigen, hatte den Kopfhörer einfach vergessen.

Manchmal kann er nicht unterscheiden, ob die Töne in seinem Kopf sind oder von außen kommen. Er spürt dann die Musik in jeder Pore. Seine Zellen sind durchsetzt mit Melodien. Seine Organe arbeiten im Rhythmus.

Er muß grinsen bei der Erinnerung. Er war gerade in sie eingedrungen, als sie den Hörer von seinem Kopf riß.

»Du spinnst wohl? Äi! Ich glaube es nicht! Du machst mich echt fertig! Weißt du das?«

Beleidigt hatte sie sich umgedreht.

Er tastete nach ihr, doch sie entzog sich ihm sofort, rutschte bis an die äußerste Bettkante.

»Jutta. Entschuldige. Ich … ich hab es nicht so gemeint.«

»Manchmal«, hatte sie heulend gesagt, »kannst du so lieb sein. Und dann wieder benimmst du dich wie der letzte Arsch.«

Jetzt sieht er ihr beim Tischdecken zu. Sie hat breite Hüften, aber einen ziemlich schmalen Oberkörper. Er nennt das ein gebärfreudiges Becken. Sie mag diesen Ausdruck. Ihr Gesicht ist länglich, ihre Haare dünn. Sie trägt einen Mittelscheitel, er hat ihr zu einer weniger langweiligen Frisur geraten, doch sie sagt: »Mit meinen Haaren geht das nicht«.

Es duftet nach Schweinebraten. Kartoffeln. Soße. Brokkoli. Zum Glück ist er nicht an Körnerfresser geraten. Sie sind hier ziemlich alternativ. Klar, sonst hätten sie ihn, den angeblich aus einer Erziehungsanstalt ausgerissenen Vollwaisen, nicht ohne Papiere bei sich aufgenommen. Dafür waren sie locker genug, und Fleisch essen sie trotzdem. So etwas findet man selten.

Deshalb ist er zufrieden. Gut, Jutta ist nicht gerade mit Schönheit gesegnet, aber im Dunkeln stört ihn das nicht. Sie liebt es, geliebt zu werden. Dafür tut sie viel. Sie ist willig. Nur selten zickig, höchstens einmal im Monat. Immer kurz bevor sie ihre Tage kriegt. Dann wird die Welt plötzlich finster für sie.

Er kennt das schon. Er hat sich die Tage im Kalender angekreuzt. Er ist dann besonders nett zu ihr. Es ändert zwar nichts, er bietet ihr so aber weniger Angriffsfläche.

Leider ist sie furchtbar eifersüchtig. Das stört ihn. Nicht weil er andere Frauen hat, nein, er fürchtet die Überwachung. Einer wie er muß sich frei bewegen können, kommen und gehen, wie und wann er will.

Neulich hatte er einen Alptraum: Jutta verfolgte ihn, weil sie glaubte, daß er zu ihrer besten Freundin ins Bett steigen würde. Statt dessen beobachtete sie ihn, wie er seinen Vater erschoß.

Jetzt deckt sie den Tisch in nervöser Erwartung. Sie schielt immer wieder zu ihm herüber. Sie versucht einzuschätzen, wie er drauf ist. Sie weiß, daß er manchmal in etwas versinkt, das sie »dein schwarzes Loch« nennt. Dann ist er tagelang kaum ansprechbar.

Inzwischen lassen sie ihn dann in Ruhe. Sogar die zukünftige Schwiegermutter. Wenn er zwischen den Wirklichkeiten zu wandern beginnt, ist es sinnlos, ihn halten zu wollen. Er zieht sich dann zurück in seine Höhle zu seinen Schlangen. Zu den Tonbändern und zu seiner Musik.

Weil die Schwiegermutter sich weigert, mit »solchen Viechern« unter einem Dach zu leben, hat er sich den alten Kotten dafür ausgebaut. Keine zehn Minuten von hier. Ein verfallenes Häuschen im Wald. Seit Jahren soll es verkauft werden, aber niemand interessiert sich dafür. Ein idealer Schlupfwinkel.

Hier lagert er die Tonbänder. Hier stehen seine Terrarien. Ein Zuhause für Giftschlangen und schlechte Gedanken. Vipern, Kobras und Erinnerungen.

Dort hängt auch die fast zerfetzte Zielscheibe am Baum. Sechzig mal sechzig Zentimeter. Polyäthylenschaum. Dreißig Zentimeter dick und löchrig wie ein Schweizer Käse. Zerschossen von den Stahlspitzen seiner Pfeile.

Er schaltet Pearl Jam aus und steht auf. Jutta erwartet nicht, daß er mithilft. Es reicht ihr schon, wenn er bleibt.

Noch bevor sie fragt, schüttelt er den Kopf. »Ich kann deine Eltern heute nicht ertragen. Ich muß allein sein.«

Sie nickt traurig, aber verständnisvoll.

»Sehe ich dich heute abend?« fragt sie hinter ihm her. Er dreht sich nicht um, zuckt nur mit den Schultern, und schon besteigt er sein Rad. Er will nicht einmal etwas essen. Sie fragt sich sowieso, wovon er lebt. Manchmal ißt er tagelang kaum etwas. Kaffee und vielleicht ein bißchen Gebäck. Dann plötzlich seine Freßorgien.

Sie nimmt ihn, wie er ist. Er hat auch seine guten Seiten, und sie weiß: Es gibt auch Bessere als sie.

 

Daniel legt sich weit über den Lenker und tritt fast stehend in die Pedale. Er fährt mit größtmöglichem Kraftaufwand. Die Musik in seinem Kopf wird zum Chaos. Das Requiem gegen Pearl Jam. Jagger mischt sich ein, dann kommt von irgendwoher ein Trompetensolo. Eine Büffelherde stampft über schreiende Wickelkinder, dann, plötzlich, eine kurze Ruhe. Eine Oboe. Hörner. Die Geigen. Dann wieder der übersteuerte Nirvana-Sound.

Starb Kurt Cobain, um nicht zu werden wie ich, oder war er wie ich und wurde von den gleichen Leuten fertiggemacht? Oh, Kurt, würdest du noch leben! Komm, gib ein letztes Konzert für mich.

Daniel springt bei voller Fahrt vom Rad und läßt es weitersausen. Es kracht gegen den Kotten. Wenn er so drauf ist wie jetzt, verlieren die Dinge ihren Wert. Ex und hopp. Bald wird er das Rad wieder reparieren und blankputzen. Bald. Nicht jetzt. Jetzt will er überlegen, wer als nächstes dran ist. Mutter oder Schwester Tina. Sterben müssen sie sowieso beide. Die Frage ist nur, in welcher Reihenfolge.

Er schließt sofort hinter sich zu. Die Kette. Zwei Eisenriegel. Seine Finger berühren kurz den Lichtschalter, aber er knipst das Licht nicht an. Die Beleuchtung aus den acht Terrarien reicht ihm. Er mag dunkle Flecken in der Wohnung. Ecken, in denen ungesehen schmutzige Wäsche lagern kann. Raum für schattige Spinnennester und Puppen mit ausgerenkten Armen und eingedrückten Augen.

So alt und verfallen dieses Haus auch von außen aussieht, er hat es zu einer Art Festung ausgebaut. Das Verlies einer mittelalterlichen Burg. Gitter vor den Fenstern, schwere Riegel vor den Türen. So schützt er seine Erinnerungen und seine Schlangen.

Als alles für ihn zu schwimmen begann, als er nicht mehr richtig unterscheiden konnte, was in seinem Kopf geschah und was in der Wirklichkeit, da begann er diese Bänder zu besprechen. »Wirklichkeit herstellen« nannte er das. Er wollte sich nichts mehr vormachen lassen. Er sprach, was geschah, auf Band, um es hinterher als »richtige Erinnerung« abrufen zu können. Tonbandkassetten als Gedächtnisspeicher. Hier führt er Akten über alle. Schwester Tina, Gerda, Mutter, Vater, Professor Alexander, Wilfried Schobert, Hans-Dieter Regenbraut und natürlich auch über sich selbst. Hier versucht er alles zu ordnen, die Dinge in ihre natürliche Reihe zurückzubringen.

Wer wird als nächstes dran sein? Das Hohe Gericht soll entscheiden. Er wird der Vollstrecker sein.

Er hat ihre Adresse bereits auf eine blaue Karteikarte geschrieben und mit einer Heftzwecke an die Wand gepiekst. Er nimmt die Tonbandkassette Nr. 45 aus dem Regal. Darauf steht: Schwester Tina. Nummer 1.

Er legt das Band ein. Es knistert ein wenig. Damals besprach er noch richtige Tonbandkassetten. Später ging er zu den kleinen Diktierkassetten über.

Daniel öffnet den Mäusekäfig und packt eine Maus beim Schwanz. Sie ist groß. Fett und grau. Mit dem zappelnden Ding lockt er Anja, seine Lieblingsschlange. Die helle Tigerpython. Fast achtzig Kilo schwer und gut vier Meter lang. Sie läßt sich von ihm aus der Hand füttern.

Die Maus baumelt vor dem Maul der Riesenschlange. Anja läßt die Zunge vorzischeln. Sie öffnet träge ein Auge. Die Maus stirbt schon fast vor Angst. Da packt Anja mit einem ruckartigen Vorstoß zu. Nur noch der Schwanz der Maus guckt aus ihrem geschlossenen Maul. Sie saugt ihn ein, wie Daniel es gern mit heraushängenden Spaghetti tut. Dann schlingt sie den Leckerbissen hinunter. Die Maus strampelt noch im Inneren der Schlange.

Das Tonband beginnt. Daniel hört seine Stimme. Wie aufgeregt er damals war … Das Knistern von Papier im Hintergrund. Er hatte sich die wichtigsten Stichpunkte aufgeschrieben.

Er hebt die Tigerpython aus dem Terrarium und setzt sich mit ihr in den Sessel. Er streichelt sie. Ihre Haut ist nicht schleimig, wie all die behaupten, die sich vor Schlangen ekeln. Sie ist trocken und kühl, glatt wie Metall und erinnert Daniel an einen Aluminiumpfeil.

Ihr Hauptgewicht liegt auf seinem Bauch und auf seiner Brust. Er kann spüren, wie sie die Maus hinunterwürgt. Dann schlängelt sie sich an seinem Hals entlang und legt ihren Kopf auf seine Schulter.

Er schließt die Augen. »Hör mal, Anja, das bin ich. Erkennst du meine Stimme? Es ist viele Jahre her.«

Vorsichtig, um Anja nicht zu erschrecken, streckt er seinen linken Arm aus. Er versucht den Ton zu regulieren. Das Knistern stört ihn. Dann nimmt ihn seine eigene Stimme gefangen und katapultiert ihn zurück.

 

Gleich gehe ich wieder zu meiner Untersuchung ins Luisenhospital. Ich kann es kaum noch abwarten.

Meine Eltern bringen mich schon lange nicht mehr hin, und ich gehe freiwillig. Ich habe noch nie gefehlt. Warum auch? Ja, früher hatte ich manchmal keine Lust mehr und bin nur durch sanften Druck von seiten der Eltern und die unterschwellige Angst, es könne doch etwas dran sein – an meiner Blutkrankheit –, dazu gebracht worden, hinzugehen. Seit mir nicht mehr diese alte Tante das Blut abzapft und die Routineuntersuchungen vornimmt, sondern Schwester Tina, fiebere ich jedem Termin entgegen. Also, ja, ähm … davon will ich jetzt erzählen.

Professor Alexander sehe ich nur noch selten. Vielleicht jedes halbe Jahr. Er spricht dann mit mir und macht sich Notizen. Er glaubt wohl selbst nicht mehr daran, daß ich wirklich so ein interessanter Fall bin. Er will die ganze Arbeit nur jetzt nicht abbrechen. Irgendwie habe ich das Gefühl, es kränkt ihn, daß es mir so gut geht.

Er hatte wohl damit gerechnet, daß ich an Blutarmut oder einem ähnlichen Quatsch sterbe. Zumindest aber, daß er die Chance hätte, mich zu retten. Nun, daraus wird nichts. Damit muß er leben. Ich komme trotzdem noch. Wegen Schwester Tina. Sie hat mich restlos verwirrt.

Dieses Weib macht mich fertig. Total. Die Geschichte glaubt mir keiner. Ich habe sie nicht einmal Wilfried erzählt. Ich fürchte, auch er wird mir nicht glauben und mich für einen Spinner halten, denn normal hört sich das nun beim besten Willen nicht mehr an.

Aber von Anfang an.

Ich hatte Wilfried während des Nachtangelns von meiner Vorliebe für dralle Brüste erzählt. Es war alles ganz locker und ging mir ziemlich leicht von den Lippen. Er reagierte wie immer und fand natürlich alles gaaaaanz normal. Ich berichtete auch davon, daß ich Gerda beim Ausziehen beobachtet hatte. Dann erzählte ich ihm von meinem feuchten Traum. Wir sprachen über Frauen, Mädchen, das Onanieren und wie es damals bei ihm war.

Ich hatte bis dahin noch nichts mit einem Mädchen, sehnte mich aber natürlich danach. Wilfried war genau der Typ, dem ich es erzählen konnte.

Ein paar Tage später war ich zur Blutuntersuchung im Luisenhospital. Ich muß immer runter in die untere Abteilung. Das normale Publikum hat dort nichts zu suchen. Ich mußte noch nie lange warten. Ich denke, Professor Alexander hat dort seine Räume für Privatpatienten oder besonders interessante Fälle wie mich.

Er sah mir in die Augen, drückte mir erst dann die Hand wie immer und winkte mich in den kleinen Behandlungsraum durch. Die Untersuchung nimmt er ja nie selbst vor. Das hat ein Professor wahrscheinlich nicht mehr nötig. Die Schwester besorgte das immer für ihn. Ohne große Höflichkeit, rasch, aber ohne Hektik.

Ich liege dabei auf einem ziemlich harten und schmalen Bett, das sie mit einem Fußdruck auf irgendeinen Knopf höher oder tiefer lassen kann. An der Decke hängt ein altes Röntgengerät, das wurde bei mir aber noch nie benutzt. Es geht wohl nur um meine Körperflüssigkeiten. Um mein Blut und meinen Urin.

Schwester Tina stellte sich mir mit einem warmen Händedruck vor. Sie streichelte dabei mit der anderen Hand scheinbar unabsichtlich über meinen Unterarm. Mir lief eine Gänsehaut den Rücken herunter. Ich wette, sie hat es bemerkt.

Sie hat tiefe, mandelbraune Augen. Sie hat für ihr schmales Gesicht sehr große Augen, und sie stehen dicht zusammen. Ständig streift sie sich die blonden Locken aus der Stirn. Und dann dieser Vorbau! Unter ihrem weißen Kittel zeichneten sich Titten ab, die mir den Atem verschlugen. Ich muß sie angestarrt haben wie der letzte Idiot.

Sie sagte etwas zu mir, aber ich habe keine Ahnung, was es war. Ich handelte nur noch automatisch. Ich machte den Oberkörper frei, legte mich hin und erwartete, daß sie mich jetzt abhört, meinen Puls fühlt, den Blutdruck mißt und mich dann anzapft.

Sie tat es auch. Allerdings öffnete sie vorher zwei Knöpfe von ihrem Kittel. Als sie sich dann über mich beugte, um mit dem Stethoskop irgendeinem Rascheln in meiner Lunge nachzuspüren, konnte ich ihr bis auf den Bauchnabel gucken.

Sie trug kein enges, fleischfarbenes Mieder wie Gerda. Sondern einen schwarzen BH, der durch seinen Inhalt fast gesprengt wurde. Er war von diesem durchsichtigen Schwarz, das ihre weißen Dinger noch mehr zur Geltung kommen ließ. – Ich krieg ’ne Latte, wenn ich davon erzähle. Also …

»Tief Luft holen«, sagte sie, »und dann anhalten.«

Aber ich schaffte es nicht. Ich hatte alle Mühe, nicht zu hecheln wie ein läufiger Hund. Ich wollte mit den Händen nach ihr greifen, traute mich aber natürlich nicht, denn nebenan, nur durch diesen Stoffparavent getrennt, saß Professor Alexander.

In meiner Hose wuchs ein Ständer an, hart wie eine Morgenlatte und zuckend wie ein an Land geworfener Raubaal.

Sie hörte meine Brust gar nicht richtig ab, oder ich bekam es nicht mit. Zumindest hat die alte Tante das immer ganz anders gemacht. Schwester Tina nahm das Stethoskop aus den Ohren und legte es auf das kleine Beistelltischchen, auf dem schon die Spritze für die Blutentnahme wartete. Sie schürzte ihre Lippen und legte den Zeigefinger darüber. Ich sollte still sein.

Ich biß mir auf die Lippen, weil ich glaubte, wieder in einem Traum zu sein, aber es war Wirklichkeit. Sie stand jetzt gerade vor mir, und die Kittelöffnung schloß sich durch ihre Körperhaltung. Sie legte ihre Fingerspitzen hinein und zog den Kittel wieder auseinander. Jetzt konnte ich sie noch besser sehen.

Sie blieb ruhig stehen und ließ mich gucken.

Als ich von der Liege hoch wollte, drückte sie mich aber sanft wieder zurück.

»Pst!«

Mehr sagte sie nicht.

Da soll einer nicht wahnsinnig werden! »Pst!« und sonst kein Wort.

Sie berührte mit ihren Fingerkuppen meine Brustwarzen, dann wanderten ihre Finger wie kleine, flinke Tierchen zu meiner Hose.

»Ja, aber …«, sagte ich, oder so was, und sie sagte nur: »Pst!«

Sie öffnete meine Gürtelschnalle und zog mir die Hose ein Stück weit herunter. Sie zog mich nicht wirklich aus. Es reichte ihr, meinen Dicken vor sich liegen zu sehen. Dann nahm sie ihn in die Hand und rieb daran.

Ich wagte nicht, mich dagegen zu wehren, denn ich wollte nicht, daß es aufhörte. Gleichzeitig fürchtete ich mich vor Professor Alexander. Ob er das auch ganz natürlich und normal finden würde, da war ich mir nicht sicher. Mir konnte er nichts anhaben, obwohl, es wäre mir unangenehm gewesen, wenn er meinen Eltern davon erzählt hätte. Aber was war mit Schwester Tina? Konnte sie rausfliegen?

Ich war verwirrt, lag ganz ruhig und tat so, als ob das alles zu meiner monatlichen Behandlung gehören würde. Meine Finger krampften sich um die harte Pritsche.

Sie streichelte mich nur ganz sanft. Es waren kaum Berührungen. Mehr Andeutungen davon. So als wolle sie es jeden Moment ungeschehen machen und so tun, als sei nichts passiert. Das Irre war: Sie trug dabei diese dünnen Gummihandschuhe für Krankenschwestern. Es waren Berührungen wie von … einer Schlange. Trotzdem dauerte es nur wenige Sekunden, und alles spritzte aus mir heraus. Über ihre Hände.

Sie lächelte. Ich sah es im Spiegel. Doch ich genierte mich. Ich wußte nicht, wohin ich gucken sollte.

Vielleicht saß Professor Alexander gar nicht mehr nebenan, oder er war schwerhörig geworden oder sonstwas?

Vielleicht hätte das hier eine der wilden Vögeleien werden können, von denen ich in den letzten Tagen so viel geträumt hatte.

Sie drehte sich abrupt um und machte sich am Waschbecken zu schaffen. Sie zog sich mit einem flitschigen Geräusch die Handschuhe aus. Es klang irgendwie unanständig. Dann rauschte der Wasserhahn.

Mir war es ganz recht. Ich riß mir die Hose hoch, und natürlich klemmte genau in diesem Moment mein Reißverschluß. Sie ließ mir Zeit, bis ich auch meine Gürtelschnalle wieder geschlossen hatte, dann erst drehte sie sich um. Sie lächelte immer noch. Deutete noch mal mit dem Finger über ihren Lippen an, daß ich leise sein sollte, dann band sie mir den Arm ab, als sei nichts gewesen, und zapfte mir ein paar Tropfen Blut ab. Ich wurde fast ohnmächtig dabei. Ich dachte, jeder kann es sehen, riechen, spüren, besonders Professor Alexander.

Den Rest der Untersuchung erlebte ich wie ohnmächtig. Weil ich so verwirrt war, knöpfte ich mir danach mein Hemd falsch rum wieder zu. Sie half mir. Ich wollte die Chance nutzen, sie an mich ziehen und küssen, doch ich wagte nicht einmal den Versuch.

Wir verließen gemeinsam den Untersuchungsraum. Professor Alexander saß nebenan, sah kaum von seinem Computerbildschirm auf, nickte mir fast abwesend nur freundlich zu. Ich war dankbar dafür, daß er mir jetzt kein Gespräch aufdrängte. Ich wäre auch nicht in der Lage gewesen, mich über meine Noten, das Angeln oder das Fernsehprogramm zu unterhalten.

Schwester Tina brachte mich noch bis zur Tür. Sie gab mir die Hand, fuhr diesmal nicht wie bei der Begrüßung über meinen Arm, sondern wirkte mit abgezirkelten Bewegungen sehr korrekt, sah mich nur vielversprechend an und sagte: »Bis nächsten Monat, Daniel.«

 

 – Oh, Gott, wenn meine Eltern dieses Tonband in die Finger kriegen, bin ich erledigt. –

 

Die Geschichte läuft nun schon seit einem halben Jahr und macht mich völlig verrückt. Fünfmal war ich inzwischen zur Blutabnahme. Jedesmal hat Schwester Tina mich empfangen. Ich legte mich auf die Pritsche, und dann hat sie mir mit der gleichen Selbstverständlichkeit einen runtergeholt, mit der sie mir das Blut abzapfte.

Es geschah immer wie beiläufig. Nicht der Rede wert, ohne Kommentar, als sei das Ganze selbstverständlicher Bestandteil einer medizinischen Routineuntersuchung.

Beim dritten Mal hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt. Diesmal ging ich forscher heran. Ich versuchte sie zu küssen, ihr den Kittel auszuziehen, sie anzufassen, aber sie wehrte ab.

Nebenan konnte ich Professor Alexander sogar telefonieren hören. Ich verstand Schwester Tinas stummen, aber verbissenen Abwehrkampf gegen meine Hände nicht. Warum zeigte sie mir ihre Brust, ließ sich aber nicht von mir berühren?

Dann hatte ich das Gefühl, wenn ich weitermache und nicht sofort aufhöre, ist das Spiel aus. Sie will es beherrschen. Ich darf gar nichts tun. Nur daliegen.

Sie flüchtete in eine Ecke des Behandlungsraums und schüttelte stumm den Kopf. Dann wies sie mit dem Finger auf das harte Bett. Ich gab auf und legte mich wieder hin.

»So ist’s brav«, flüsterte sie leise und machte sich wieder an meinem Schwanz zu schaffen.

»Zieh dich ganz aus«, flüsterte ich. »Ich will ihn dir reinstecken.«

Sie schüttelte stumm den Kopf, so daß die blonden Locken flogen, und drückte fester zu. Ich konnte es nicht länger halten. Nicht eine Sekunde. Ich bäumte mich dagegen auf, aber ich schaffte es nicht. Ein geradezu triumphierendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das werde ich nie vergessen. Es war irgendwie höhnisch.

Am schlimmsten ist die Zeit zwischen den Routineuntersuchungen. Ich flippe herum wie ein Kaninchen und weiß nichts mit mir anzufangen. Schwester Tina beherrscht all meine Gedanken.

Natürlich versuche ich, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Verdammt, warum haben Krankenschwestern nur Vornamen? Telefonbuch, Einwohnermeldeamt – alles sinnlos.

Ich gehe morgens Stunden vor Schulbeginn aus dem Haus, um den Wechsel zwischen Nachtschicht und Frühschicht vor dem Luisenhospital abzupassen. Aber ich sehe sie nicht. Ich lungere stundenlang vor dem Krankenhaus herum, kaufe Blumen, bewege mich damit durch die Flure wie jemand, der seine kranke Oma besuchen will, immer in der Hoffnung, einen Blick auf Schwester Tina zu erhaschen. Es muß doch möglich sein, sich mit ihr zu verabreden.

Ich will sie außerhalb des Krankenhauses treffen. Nur dort, in dieser blöden Situation im Untersuchungszimmer, hat sie so viel Macht über mich. Im Park, im Kino oder in einem Treppenflur würde es mir garantiert gelingen, sie zu küssen.

Ich schwänze die Schule, lasse mein Zimmer verlottern und bin kaum noch zu Hause. Ich habe schon einen Mathetest versäumt und eine Deutscharbeit. Jeder andere Schüler hätte bestimmt Ärger bekommen. Aber ich bin immerhin ein Genie. Da kann man sich schon einiges herausnehmen.

Meine Mutter erklärt sich selbst alles damit, daß in mir ein kreativer Prozeß stattfindet. Ich hörte zufällig, wie sie es Gerda erzählte. Sie glaubt, daß die Geburt eines Werkes von mir kurz bevorsteht. Sie hofft auf eine Komposition.

»Du mußt ihm nur zusehen, wenn er das Haus verläßt. Er geht nicht. Er tänzelt. Ein flirrendes Gefühl treibt ihn umher. Als würde er Töne jagen. Er braucht sein Instrument nicht zum Komponieren. Er trägt jeden Ton, jeden Takt in sich. Wir sollten ihn in Ruhe lassen. Ihn nicht drängen.«

Aber mich treiben keine Töne umher, sondern der Gedanke an Tinas Möpse. Ich muß sie entblättern. Unbedingt!

Sie hat so eine merkwürdige Macht über mich. Einerseits will ich mich dieser Macht gern unterwerfen, andererseits hoffe ich, sie zu brechen.

Ich muß Tina sprechen. Außerhalb des Krankenhauses, ohne Professor Alexander im Hintergrund.

Den Duft ihres Parfüms kann ich aus Hunderten herausriechen. Wenn ich mit meinen Blumen durch die Flure des Krankenhauses schleiche und die Sterilität der Gänge und Zimmer geradezu auf mich einschlägt, weiß ich gleich: hier ist sie nicht. Selbst wenn sie vor zwei Stunden hier entlang gegangen wäre, würde ich es spüren.

In den unteren Bereich des Krankenhauses, dort, wo meine Untersuchungen regelmäßig stattfinden, konnte ich nicht gelangen. Eine verschlossene weiße Tür, mit einem kleinen Namensschild »Professor Alexander«, versperrte den Weg. Ich lauschte zweimal an der Tür, hörte aber nichts. Nicht einmal die typischen Computergeräusche. Wahrscheinlich benutzte Professor Alexander dieses Zimmer nur sporadisch.

Alles an Schwester Tina ist rätselhaft. Inzwischen kenne ich die Gesichter, die das Krankenhaus verlassen und betreten, in- und auswendig. Ich kann mir Gesichter gut merken. Selbst wenn Schwester Tina eine neue Frisur gehabt hätte oder ständig andere Perücken tragen würde, mir wäre es aufgefallen.

Ich schwöre, ich sah dem Schichtwechsel zehn- vielleicht zwanzigmal zu – Schwester Tina entdeckte ich nicht.

Wahrscheinlich weiß sie längst, daß ich hier auf sie lauere und versucht irgendwie, ungesehen ins Krankenhaus zu kommen. Aber wie? Von wo? Krankenhäuser haben doch keine geheimen Ein- und Ausgänge wie Ritterburgen.

Ich habe sie jetzt vierzehn Tage nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht haben sie Schwester Tina rausgeworfen? Vielleicht hat sie das nicht nur mit mir gemacht, sondern auch noch mit anderen Patienten. Vielleicht haben nicht alle Männer so ruhig dagelegen wie ich. Vielleicht hat sich sogar einer beschwert.

Immerhin war ich beim dritten Mal clever genug, ihr einen Brief in die Kitteltasche zu stecken. Erst wollte ich einfach nur einen kleinen Zettel nehmen und draufschreiben: Wann können wir uns sehen?

Aus dem kleinen Zettel wurde dann ein sieben Seiten langer Liebesbrief.

Darauf mußte sie reagieren. Dachte ich. Ja, Scheiße! Irrtum.

Als ich nach einer Woche keine Antwort erhalten und sie vor dem Krankenhaus immer noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, griff ich zu einem Trick. Ich kaufte eine Schachtel Pralinen, packte sie hübsch ein und gab sie an der Krankenhauspforte ab, mit der Erklärung, dies sei für Schwester Tina. Sie hätte mich mal sehr gut gepflegt, und die Pralinen seien ein kleines Dankeschön.

Es gelang mir sogar, die Nonne an der Rezeption dazu zu überreden, Schwester Tina raufzurufen, damit ich ihr das Geschenk selbst aushändigen könne.

Während der wenigen Minuten, die ich wartend verbrachte, wippte ich fröhlich, erwartungsvoll von einem Fuß auf den anderen, fühlte mich durchtrieben und tatsächlich als Genie. Doch als Schwester Tina dann erschien, bekam ich augenblicklich einen roten Kopf. Sie war jung. Sehr hübsch. Feuerrote Haare, von denen ich nur den Ansatz erkennen konnte, weil der Rest unter eine Haube gezwängt war. Schwester Tina war eine OP-Schwester. Klein, schmalbrüstig, mit grünen Augen, einem fröhlich-freundlichen Gesicht, doch leider nicht meine Schwester Tina.

Noch bevor ich eine Erklärung herunterstammeln konnte, flötete sie: »Es muß sich um einen Irrtum handeln, junger Mann. Ich arbeite nicht auf der Pflegestation. Ich kann Sie unmöglich so liebevoll umsorgt haben.«

Ich wandte mich an die Nonne: »Gibt es hier noch eine Schwester Tina?«

Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf. Als ob sie nicht über alle Mitarbeiterinnen des Krankenhauses genau Bescheid wüßte! Sie blätterte in einem Buch nach und schüttelte dann den Kopf.

»Meinen Sie vielleicht Schwester Martina?«

»Wie alt ist Schwester Tina denn?« fragte die falsche Tina.

»Ich schätze, fünfundzwanzig. Vielleicht ein bißchen jünger.«

»Schwester Martina ist Mitte Vierzig.«

»Nein, das kann sie nicht sein.«

Ich gab mich geschlagen und zog verwirrt wieder ab. Meine Pralinen nahm ich mit und aß sie unterwegs auf. Alle. Was sind schon fünfhundert Gramm Pralinen, um den Weltschmerz eines Genies zu stillen?

Bei meiner vierten Routineuntersuchung konnte ich es zunächst nicht abwarten. Vor dem Krankenhaus wollte ich dann aber wieder umdrehen. Ich traute mich plötzlich nicht mehr rein.

Noch nie hatte ich einer Frau einen so offenen Liebesbrief geschrieben wie Tina. Es war nicht einfach das Gesülze von wegen »Ich liebe dich und kann ohne dich nicht mehr leben«, nein, mein Brief war voll mit erotischen Wünschen und Träumen.

Als ich ihn schrieb, glaubte ich, das würde ihr gefallen. Eine Frau, die wildfremden Männern einen runterholt, kann nicht besonders prüde sein. Aber dann, vor dem Krankenhaus, kamen mir plötzlich Zweifel. Niemand außer ihr und mir wußte ja, was in dem Zimmer geschehen war. Vielleicht hatte sie den Brief auf der ganzen Station herumgezeigt, und ich war bereits überall als der Schwachsinnige bekannt, der sich ständig vorm Krankenhaus herumtrieb, um ihr aufzulauern. Vielleicht schmuggelte man sie heimlich hinein, weil es ihr peinlich war, mit mir zusammenzukommen. Vielleicht durfte mir auch deshalb die Nonne keine Auskunft geben. Vielleicht hatte sie alle längst auf ihre Seite gezogen, und das Ganze wuchs sich zu einem Komplott gegen mich aus.

Ich schaffte es dann doch, wenn auch mit zitternden Knien, ins Krankenhaus zu gehen. Sie empfing mich mit der gleichen Freundlichkeit wie jedes Mal. Diesmal geleitete sie mich aber nicht gleich ins Behandlungszimmer, sondern ich sollte erst neben Professor Alexander Platz nehmen. Er hatte einen Fragebogen vor sich liegen, stellte mir ziemlich belanglose, zum Teil sogar blödsinnige Fragen, die ich rasch beantwortete, während er auf seinem Formular Kreuzchen machte.

Schwester Tina stand, natürlich mit zugeknöpftem Kittel, daneben, hörte geduldig zu und mimte Interesse. Nur ein einziges Mal gelang es mir, Blickkontakt zu ihr herzustellen. Ihre Mandelaugen machten mich total fertig. Meine Bedenken waren sofort weggewischt. Wahrscheinlich hatte sie einen Antwortbrief für mich dabei.