Das Gesetz des Sterbens - Ian Rankin - E-Book

Das Gesetz des Sterbens E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

In seinem 20. Fall ermittelt John Rebus gemeinsam mit Siobhan Clarke und Malcolm Fox.

Detective Inspector Siobhan Clarke untersucht den Tod eines Edinburgher Anwalts, der von einem Einbrecher in seiner Wohnung getötet wurde. Doch der Fall wird rätselhaft, als man eine anonyme Botschaft an den Anwalt findet: "Ich bringe dich um für das, was du getan hast." Dieselbe Botschaft hat auch Edinburghs Unterweltgröße Big Ger Cafferty erhalten, kurz bevor auf ihn geschossen wird. Cafferty bleibt unverletzt, schweigt aber über mögliche Feinde. Schließlich bittet Clarke den kürzlich in den Ruhestand versetzten John Rebus um Hilfe. Er ist der Einzige, mit dem Cafferty zu sprechen bereit ist. Steckt hinter den Taten ein Verbrecherclan aus Glasgow? Dem geht DI Malcolm Fox nach, während Rebus eine andere Spur verfolgt. Die führt ihn in Edinburghs Vergangenheit, zu einem Haus, in dem Schreckliches geschehen ist ...

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Inhalt

Detective Inspector Siobhan Clarke untersucht in Edinburgh den Tod eines berühmten Anwalts, der offensichtlich von einem Einbrecher in seinem Haus erschlagen wurde. Doch der Fall wird immer rätselhafter, als in der Brieftasche des Opfers ein Zettel mit einer anonymen Botschaft gefunden wird: »Ich werde dich töten für das, was du getan hast.« Dieselbe Warnung geht auch Edinburghs Unterweltgröße Big Ger Cafferty zu; kurz darauf wird durch sein Wohnzimmerfenster auf ihn geschossen. Cafferty bleibt unverletzt, schweigt aber über mögliche Feinde und weigert sich beharrlich, der Polizei zu helfen. Schließlich bittet Clarke den kürzlich in den Ruhestand versetzten John Rebus um Hilfe. Er ist der Einzige, mit dem Cafferty zu sprechen bereit ist. Steckt hinter den Taten ein Verbrecherclan aus Glasgow, der gerade ziemlich viel Wirbel macht? Dem geht DI Malcolm Fox nach, während Rebus eine andere Spur verfolgt. Die führt ihn in Edinburghs Vergangenheit, zu einem Haus, in dem Schreckliches geschehen ist …Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.ian.rankin.de.

IAN RANKIN

Das Gesetz des Sterbens

Kriminalroman

Aus dem Englischen vonConny Lösch

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Even Dogs in the Wild« bei Orion Books, London.

Manhattan Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2015 by John Rebus Limited

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit

freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Redaktion: Alexander Behrmann

Umschlagkonzeption und Gestaltung: buxdesign | Münchenunter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock/Zlatko Guzmik

Autorenfoto: Hamish Campell

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18307-3V001www.manhattan-verlag.de

Prolog

Der Beifahrer zog die Kassette aus dem Player und warf sie auf den Rücksitz.

»Hey, das waren die Associates«, beschwerte sich der Mann am Steuer.

»Sollen sich woanders assoziieren. Der Typ singt, als würden ihm die Eier zerquetscht.«

Der Fahrer dachte einen Augenblick darüber nach, dann grinste er.

»Weißt du noch, wie wir das gemacht haben, mit diesem … wie hieß der nochmal?«

Der andere zuckte mit den Schultern. »Der hat dem Boss Geld geschuldet – das war das Entscheidende.«

»Aber viel war’s nicht, oder?«

»Ist es noch weit?« Der Beifahrer spähte durch die Windschutzscheibe.

»Ein Kilometer. In dem Wald hier wird’s langsam voll.«

Der Beifahrer enthielt sich einer Bemerkung. Draußen war es dunkel, und auf den letzten knapp zehn Kilometern waren sie keinem anderen Wagen mehr begegnet. Sie waren in Fife, abseits der Küste, karge Felder warteten hier auf den Winter. Eine nicht allzu weit entfernte Schweinefarm, die sie früher schon mal zweckentfremdet hatten.

»Was ist der Plan?«, fragte der Fahrer.

»Wir haben nur eine Schaufel. Die Münze entscheidet, wer schwitzen muss. Seine Klamotten verbrennen wir später.«

»Hat ja eh kaum was an.«

»Tätowierungen oder Ringe hab ich keine gesehen. Nichts, was wir abschneiden müssten.«

»Da sind wir.« Der Fahrer hielt, stieg aus und zog das Tor auf. Ein zerwühlter, matschiger Pfad führte in den Wald. »Hoffentlich bleiben wir nicht stecken«, sagte er und schob sich wieder auf den Sitz. Dann, als er den Gesichtsausdruck des anderen Mannes sah: »War bloß ein Witz.«

»Will’s hoffen.«

Langsam fuhren sie ein paar hundert Meter weiter. »Hier ist Platz zum Wenden«, meinte der Fahrer.

»Dann bleiben wir doch hier.«

»Erkennst du die Stelle?«

Der Beifahrer schüttelte den Kopf. »Ist schon eine Weile her.«

»Ich glaube, da vorn liegt schon einer unter der Erde und da drüben links noch einer.«

»Dann versuchen wir’s lieber auf der anderen Seite vom Weg. Ist die Taschenlampe im Handschuhfach?«

»Mit neuen Batterien, wie du gesagt hast.«

Der Beifahrer vergewisserte sich. »Also dann.«

Die beiden Männer stiegen aus und blieben eine knappe Minute stehen, warteten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und lauschten nach ungewöhnlichen Geräuschen.

»Ich such die Stelle aus«, sagte der Beifahrer, nahm die Taschenlampe und zog los. Der Fahrer zündete sich eine Zigarette an und öffnete die hintere Tür des schon etwas älteren Mercedes, die Scharniere quietschten. Er nahm die Kassette der Associates vom Rücksitz und steckte sie sich in die Jackentasche, wo sie auf ein paar Münzen fiel. Die würde er noch brauchen, wenn es um Kopf oder Zahl ging. Er schlug die Tür wieder zu, umrundete den Kotflügel hinten und öffnete den Kofferraum. Die Leiche war in ein schlichtes blaues Bettlaken eingewickelt. Oder besser, eingewickelt gewesen. Auf der Fahrt hatte sich das improvisierte Leichentuch gelöst. Nackte Füße, bleiche, dünne Beine und ein Brustkasten waren zum Vorschein gekommen. Der Fahrer lehnte die Schaufel an eines der Rücklichter, aber sie fiel um. Fluchend bückte er sich danach.

In diesem Augenblick erwachte der Tote mit aller Macht zum Leben, sprang aus dem Kofferraum und hätte den Fahrer beinahe umgeworfen. Letzterer stöhnte auf, die Zigarette fiel ihm aus dem Mund. Mit einer Hand an der Schaufel versuchte er, sich wieder hochzuziehen. Das Laken hing halb aus dem Kofferraum, während der eben noch darin Eingewickelte zwischen den Bäumen verschwand.

»Paul!«, brüllte der Fahrer. »Paul!«

Der Lichtkegel kündigte die Rückkehr des Mannes namens Paul an.

»Was zum Teufel ist denn los, Dave?«, schrie er. Der Fahrer konnte nur mit zitternder Hand in die Richtung zeigen, in die der Totgeglaubte geflohen war.

»Der ist abgehaun!«

Paul warf einen Blick in den leeren Kofferraum und zischte durch die zusammengebissenen Zähne.

»Dann nichts wie hinterher«, knurrte er. »Sonst gräbt bald einer ein Loch für uns.«

»Der ist von den Toten wiederauferstanden«, sagte Dave mit bebender Stimme.

»Müssen wir ihn eben nochmal töten«, befand Paul und zog sein Messer aus der Innentasche seiner Jacke. »Aber diesmal ein bisschen langsamer …«

Tag eins

1

Wieder erwachte Malcolm Fox aus einem Albtraum.

Er glaubte zu wissen, warum er neuerdings so schlecht schlief – es musste an der Ungewissheit liegen, was seinen Job anging. Eigentlich war er gar nicht sicher, ob er ihn überhaupt noch wollte, und gleichzeitig fürchtete er, längst überflüssig geworden zu sein. Gestern hatte man ihn nach Dundee geschickt, wo er jemanden vertreten sollte. Als er sich nach den Gründen erkundigte, hatte man ihm erklärt, der Kollege dort sei nach Glasgow beordert worden, um für einen anderen einzuspringen.

»Wär’s dann nicht einfacher, ich würde nach Glasgow fahren?«, hatte Fox vorgeschlagen.

»Sie können ja mal nachhaken.«

Also hatte er den Hörer genommen, genau das getan und dabei erfahren, dass der Kollege aus Glasgow nach Edinburgh kommen sollte, um einen personellen Engpass hier zu überbrücken – an diesem Punkt hatte Fox sich geschlagen gegeben und war nach Dundee gefahren. Und heute? Wer wusste das schon. Anscheinend konnte sein Chef in St Leonard’s nichts mit ihm anfangen. Er war ein Detective Inspector zu viel.

»Die sitzen alle nur ihre Zeit ab«, hatte sich DCI Doug Maxtone herausgeredet. »Und verstopfen das ganze System, dabei sollten sich einige von denen endlich ihre goldene Uhr abholen und in den Ruhestand verabschieden …«

»Verstehe«, hatte Fox gesagt. Auch er selbst befand sich nicht mehr im idealistischen Rausch der Jugend – noch drei Jahre, und er konnte sich bei vernünftigen Bezügen und verbliebener Vitalität pensionieren lassen.

Unter der Dusche dachte er über die Alternativen nach. Für den Bungalow in Oxgangs, den er sein Heim nannte, würde er einen guten Preis bekommen und sich mit dem Geld auch woanders niederlassen können. Aber er musste auch an seinen Vater denken – Fox konnte nicht zu weit wegziehen, nicht solange Mitch lebte. Und dann war da noch Siobhan. Sie waren kein Paar, verbrachten aber immer mehr Zeit miteinander. War einem von beiden langweilig, wussten sie, dass man jederzeit anrufen konnte. Sie gingen zusammen ins Kino oder essen oder setzten sich mit Knabberkram vor eine DVD. Zu Weihnachten hatte sie ihm ein halbes Dutzend Filme geschenkt; drei davon hatten sie noch vor Ende des Jahres gesehen. Beim Anziehen dachte er an sie. Sie liebte ihren Job mehr, als er seinen liebte. Wenn sie sich trafen, war sie stets erpicht darauf, Neuigkeiten und Tratsch auszutauschen, er zuckte allerdings meist nur mit den Schultern, steuerte höchstens hier und da mal ein paar Brocken bei. Diese verschlang sie dann wie Delikatessen, selbst wenn er oft nur trockenes Brot servierte. Nach wie vor arbeitete sie am Gayfield Square, James Page war ihr direkter Vorgesetzter. Anscheinend waren die Strukturen dort besser als in St Leonard’s. Fox hatte an Versetzung gedacht, wusste aber gleichzeitig, dass dies ausgeschlossen war – dort würde genau dasselbe Problem entstehen. Ein DI zu viel.

Vierzig Minuten nach dem Frühstück parkte er hinter St Leonard’s. Er blieb ein paar Augenblicke länger im Wagen sitzen, sammelte sich, fuhr mit den Händen über das Lenkrad. In Zeiten wie diesen würde er am liebsten rauchen – nur um etwas zu tun zu haben und um sich von sich selbst abzulenken. Stattdessen legte er sich ein Kaugummi auf die Zunge und schloss den Mund. Ein uniformierter Kollege war durch den Hinterausgang der Wache auf den Parkplatz getreten und machte ein Päckchen Zigaretten auf. Als Fox auf ihn zukam, trafen sich ihre Blicke, der andere nickte fast unmerklich. Er wusste, dass Fox früher für Professional Standards gearbeitet hatte – alle auf der Wache wussten es. Einigen schien es nichts auszumachen; andere machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Sie sahen ihn böse an, antworteten mürrisch, schlugen ihm Türen vor der Nase zu, anstatt sie aufzuhalten.

»Du bist ein guter Polizist«, hatte Siobhan ihm mehr als einmal versichert. »Ich wünschte, du würdest das auch so sehen …«

Als er die Büros des CID erreichte, merkte Fox, dass etwas vor sich ging. Stühle und andere Möbelstücke wurden verschoben. Sein Blick traf den eines stinkwütenden Doug Maxtone.

»Wir müssen Platz schaffen für ein neues Team«, erklärte dieser.

»Ein neues Team?«

»Aus Gartcosh, das heißt eigentlich fast Glasgow – und Sie wissen ja, was ich von denen halte.«

»Aus welchem Grund?«

»Sagt einem ja keiner.«

Fox kaute auf seinem Kaugummi herum. Gartcosh, ein altes Stahlwerk, das inzwischen den Scottish Crime Campus beherbergte. Im vergangenen Sommer war der Betrieb dort aufgenommen worden, aber Fox hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt vorbeizuschauen. Untergebracht waren in dem Gebäude neben der Polizei auch Staatsanwälte, Gerichtsmediziner und bestimmte Abteilungen der Zollbehörde. Unter anderem beschäftigte man sich dort mit organisiertem Verbrechen und Terrorismusbekämpfung. »Wie viele haben wir denn die Ehre willkommen heißen zu dürfen?«

Maxtone sah ihn stinksauer an. »Ehrlich gesagt, Malcolm, ich habe nicht vor, auch nur einen einzigen willkommen zu heißen. Aber wir brauchen Tische und Stühle für ein halbes Dutzend.«

»Außerdem Computer und Telefone?«

»Die bringen sie selbst mit. Allerdings wird …« Maxtone zog ein Blatt Papier aus der Tasche und las demonstrativ nach, »›zusätzliche Hilfestellung, je nach Bedarf‹ verlangt.«

»Kam das von oben?«

»Vom Chief Constable persönlich.« Maxtone zerknüllte den Zettel und warf ihn vage Richtung Papierkorb. »In einer Stunde sind sie da.«

»Soll ich ein bisschen staubwischen?«

»Warum nicht? Einen Sitzplatz haben Sie sowieso nicht mehr.«

»Ich verliere meinen Stuhl?«

»Und den Schreibtisch auch.« Maxtone atmete geräuschvoll ein und wieder aus. »Wenn Sie also noch was in den Schubladen haben, das Sie anderen lieber vorenthalten würden …« Er rang sich ein grimmiges Grinsen ab. »Wahrscheinlich wären Sie jetzt lieber einfach im Bett geblieben, hm?«

»Viel schlimmer, Sir – ich wünschte, ich wäre noch in Dundee.«

Siobhan Clarke hatte auf dem St Bernard’s Crescent im Halteverbot geparkt, einer äußerst eleganten Straße in der New Town Edinburghs; Säulen zierten die Hauseingänge, bodentiefe Fenster waren hier Standard. Zwei halbkreisförmige Reihen georgianischer Bauten standen einander gegenüber, dazwischen ein kleiner privater Garten mit Bäumen und Bänken. Raeburn Place lag mit seinen Geschäften und Restaurants nur zwei Gehminuten entfernt, ebenso der Water of Leith. Sie war ein paarmal mit Malcolm samstags zum Markt gegangen und hatte gescherzt, dass er doch seinen Bungalow gegen eine Wohnung in einem der Colony Houses hier eintauschen könnte.

Ihr Handy brummte: Wenn man vom Teufel spricht. Sie ging dran.

»Wieder unterwegs im hohen Norden?«

»Gerade nicht«, sagte er. »Aber hier ist großes Stühlerücken angesagt.«

»Ich hab auch Neuigkeiten – ich wurde den Ermittlungen im Fall Minton zugeteilt.«

»Wann?«

»Heute Morgen, ich hätte es dir beim Mittagessen erzählt. James wurde mit der Leitung beauftragt, und er wollte mich dabeihaben.«

»Verständlich.«

Sie schloss ihren Wagen ab und ging auf die glänzend schwarze Haustür mit dem ebenso glänzenden Messingklopfer und Briefschlitz zu. Eine uniformierte Beamtin stand davor Wache; sie erkannte Clarke und verneigte sich andeutungsweise, was diese mit einem Lächeln quittierte.

»Zeit für einen Kaffee?«, fragte Fox und versuchte, möglichst lässig zu klingen, wobei sie aber merkte, dass es ihm wichtig war.

»Ich muss Schluss machen, Malcolm. Wir sprechen uns später.« Clarke beendete die Verbindung und wartete, dass ihr die Beamtin die Tür aufschloss. Journalisten waren keine dort – die waren schon wieder abgezogen. Ein paar Blumensträuße lagen auf den Stufen vor dem Haus, vermutlich hatten Nachbarn sie dorthin gelegt. Rechts von der Tür befand sich ein altmodischer Klingelzug, darüber ein Namensschild in Großbuchstaben: MINTON.

Als die Tür aufging, bedankte Clarke sich bei der Kollegin und trat ein. Post lag auf dem Parkettboden. Sie hob sie auf und sah, dass sich auf einem Beistelltischchen noch mehr Briefe stapelten. Diese waren bereits geöffnet und geprüft worden, vermutlich von den Kollegen des Einsatzteams. Die üblichen Werbezettel und Flyer befanden sich darunter, sogar für ein indisches Restaurant mit Bestellservice im Süden der Stadt, das auch Clarke kannte. Dass Lord Minton sich Mahlzeiten zum Mitnehmen holte, konnte sie sich nicht so recht vorstellen, aber genau wusste man das nie. Die Spurensicherung hatte auch im Eingangsbereich alles auf Fingerabdrücke abgesucht. Lord Minton – David Menzies Minton, wie er korrekt und vollständig hieß – war vor zwei Tagen ermordet worden. In der Nachbarschaft hatte niemand etwas von dem Einbruch oder Überfall mitbekommen. Wer auch immer es getan hatte, war im Dunkeln über einige Mauern geklettert und neben der verschlossenen und verriegelten Hintertür durch ein kleines Fenster im ebenerdig gelegenen Hauswirtschaftsraum eingestiegen. Er hatte das Fenster eingeschlagen und war reingeklettert. Minton hatte im Erdgeschoss in seinem Arbeitszimmer gesessen. Laut Autopsie hatte er Schläge auf den Kopf bekommen und war anschließend erwürgt worden, anscheinend war auch nach Todeseintritt noch auf seinen leblosen Körper eingeprügelt worden.

Clarke stand in dem stillen Eingangsbereich und orientierte sich. Dann nahm sie eine Mappe aus ihrer Schultertasche und las noch einmal nach. Das Opfer war achtundsiebzig Jahre alt gewesen, unverheiratet, seit fünfunddreißig Jahren wohnhaft unter dieser Adresse. Er hatte die George Heriot’s School und die Universitäten in St Andrews und Edinburgh besucht. Danach hatte er als einer von vielen Anwälten in der Stadt eine beispiellose Karriere hingelegt und war schließlich zum Lord Advocate, zum Chefjustiziar der schottischen Exekutive, aufgestiegen. Als solcher war er Ankläger bei einigen der bekanntesten Strafprozesse gewesen. Feinde? Zu seinen besten Zeiten musste er unzählige gehabt haben, aber in den vergangenen zehn Jahren war er aus dem Scheinwerferlicht verschwunden. Gelegentlich hatte er das Londoner Oberhaus besucht, meist aber in seinem Club in der Princes Street Zeitung gelesen und so viele Kreuzworträtsel gelöst, wie er finden konnte.

»Ein missglückter Einbruch«, hatte DCI James Page, Clarkes Chef, vermutet. »Der Täter rechnet nicht damit, jemanden anzutreffen. Gerät in Panik. Und schon ist es zu spät.«

»Aber warum sollte er ihn dann erwürgen und auch noch auf ihn einschlagen, wenn er schon tot ist?«

»Wie gesagt, eine Panikreaktion. Würde auch erklären, weshalb der Täter geflohen ist, ohne etwas mitzunehmen. Vermutlich ein Junkie auf Droge, der dringend Geld für Nachschub brauchte. Er hat das Übliche gesucht – Handys und iPads, die sich leicht weiterverkaufen lassen. Aber so etwas befindet sich nicht im Besitz des edlen Lords. Mag sein, dass dies unseren Mann verärgert und er seinem Frust Luft gemacht hat.«

»Klingt einleuchtend.«

»Aber du möchtest dir selbst ein Bild machen?« Page hatte langsam genickt. »Nur zu.«

Wohnzimmer, Speisesaal und Küche im Erdgeschoss, die leerstehenden Dienstbotenunterkünfte und der Hauswirtschaftsraum unten. Das kaputte Fenster war inzwischen vernagelt, die verbliebene Scheibe herausgenommen und entfernt worden, mitsamt den Scherben wartete sie in der Forensik darauf, untersucht zu werden. Clarke schloss die Hintertür auf und betrachtete den kleinen, gepflegten Garten. Lord Minton hatte einen Gärtner beschäftigt, aber im Winter kam er nur einmal im Monat jeweils für einen Tag. Bei seiner Befragung hatte er seiner Trauer Ausdruck verliehen, ebenso aber auch seiner Besorgnis, weil er seinen Lohn für den vergangenen Monat noch nicht erhalten hatte.

Als Clarke über die Steintreppe wieder hinauf ins Erdgeschoss stieg, wurde ihr bewusst, dass sich dort, abgesehen von einer Toilette, nur noch ein weiterer Raum befand. Im Arbeitszimmer war es dunkel, der dicke rote Samtvorhang war zugezogen. Anhand der Fotos in ihren Unterlagen konnte sie erkennen, dass Lord Minton vor seinem Schreibtisch gelegen hatte, auf einem Teppichläufer, der nun ebenfalls kriminaltechnisch untersucht wurde. Haare, Speichel, Fasern – jeder hinterlässt Spuren. Angenommen wurde Folgendes: Das Opfer sitzt am Schreibtisch, stellt Schecks aus, um die Gas- und Stromrechnungen zu begleichen. Dann hört Minton ein Geräusch und steht auf, um nachzusehen. Aber er kommt nicht weit, denn der Angreifer platzt herein und schlägt ihm irgendein Werkzeug über den Kopf – bislang konnte keine Tatwaffe sichergestellt werden; der Pathologe vermutet einen Hammer.

Das Scheckheft lag aufgeschlagen auf dem antiken Schreibtisch, daneben ein augenscheinlich teurer Füller. Außerdem Familienfotos – Schwarzweiß-Aufnahmen, möglicherweise auch der Eltern des Opfers –, alle in silbernen Rahmen und klein genug, um in der Tasche eines Diebes zu verschwinden, trotzdem waren sie unberührt geblieben. Sie wusste, dass Lord Mintons Brieftasche in einem Jackett auf der Stuhllehne gefunden worden war, inklusive Bargeld und aller Kreditkarten. Sogar die goldene Uhr am Handgelenk war noch da.

»So verzweifelt kannst du nicht gewesen sein«, nuschelte Clarke.

Zweimal die Woche kam eine Frau namens Jean Marischal zum Saubermachen vorbei. Sie besaß einen eigenen Schlüssel und hatte den Toten am Morgen danach gefunden. Ihrer Aussage nach brauchte das Haus gar nicht so viel Pflege; aber »seine Lordschaft« habe wohl gerne ein bisschen Gesellschaft gehabt.

Oben befanden sich zu viele Zimmer. Ein Wohnzimmer oder Salon, der aussah, als hätte sich nie ein Gast darin aufgehalten; vier Schlafzimmer, obwohl nur eins gebraucht wurde. Mrs Marischal konnte sich nicht an einen einzigen Gast erinnern, der über Nacht geblieben wäre, oder eine Abendgesellschaft oder eine sonstige Zusammenkunft dieser Art. Clarke hielt sich nicht mit dem Badezimmer auf, sondern ging erneut hinunter in den Eingangsbereich und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Fingerabdrücke waren keine gefunden worden, außer denen des Opfers und der Putzfrau. Niemand hatte jemanden vor dem Haus herumlungern oder ungewöhnliche Besucher hereinkommen sehen.

Nichts.

Mrs Marischal hatte überredet werden können, den Tatort später am heutigen Tag noch einmal aufzusuchen. Sollte doch etwas entwendet worden sein, so war sie diejenige, die es am ehesten wissen konnte. In der Zwischenzeit würde das Team so tun, als wäre es unheimlich beschäftigt – denn das wurde von ihm erwartet. Der derzeitige Lord Advocate wollte täglich zweimal über den aktuellen Stand der Ermittlungen unterrichtet werden, ebenso der First Minister. Jeweils um zwölf und um vier Uhr sollten kurze Pressekonferenzen stattfinden, bei denen DCI James Page die Öffentlichkeit informieren sollte.

Das Problem war nur: worüber?

Als sie ging, bat sie die Kollegin draußen, gut aufzupassen.

»Dass der Täter immer an den Tatort zurückkehrt, ist Blödsinn, aber vielleicht haben wir ja doch ausnahmsweise mal Glück …«

Auf dem Weg in die Fettes Avenue machte sie in einem Laden halt und kaufte zwei Zeitungen, vergewisserte sich gleich an der Kasse, dass beide Nachrufe auf den Verstorbenen in angemessener Ausführlichkeit enthielten. Sie glaubte eigentlich nicht, darin etwas zu erfahren, das sie bei ihrem halbstündigen Durchstöbern des Internets nicht schon gelesen hatte, aber wenigstens hatte sie dadurch etwas zum Abheften.

Weil es sich nicht um irgendwen, sondern um Lord Minton handelte, wurde das Einsatzteam in der Fettes Avenue und nicht am Gayfield Square einquartiert. Fettes – auch »das Haupthaus« genannt – war bis zum ersten April 2013 die Zentrale der Lothian and Borders Police gewesen, dann hatte man die acht schottischen Polizeibezirke aufgelöst und durch eine einzige Organisation mit dem Titel Police Scotland ersetzt. Statt eines Chief Constable hatte Edinburgh nun einen Chief Superintendent, Jack Scoular, der nur wenige Jahre älter war als Clarke. Die Fettes Avenue war Scoulars Herrschaftsbereich, denn es ging dort vor allem um Verwaltungsangelegenheiten.

Beamte des CID waren normalerweise nicht hier stationiert, dafür gab es einen halben Gang mit leerstehenden Büroräumen, die man James Page angeboten hatte. Zwei Detective Constables, Christine Esson und Ronnie Ogilvie, waren gerade dabei, Fotos und Karten an eine der kahlen Wände zu hängen.

»Wir dachten, du hättest bestimmt gerne den Schreibtisch am Fenster«, sagte Esson. »Immerhin gibt’s da so was wie eine Aussicht.«

Die Aussicht auf zwei sehr unterschiedliche Schulen: das Fettes College und die Broughton High. Clarke betrachtete sie ganze drei Sekunden, dann warf sie ihre Jacke über die Stuhllehne und setzte sich. Nachdem sie ihre Zeitungen auf den Tisch gelegt und aufgeschlagen hatte, konzentrierte sie sich auf die Berichte zum Ableben von Lord Minton. Hintergrundinformationen, ein paar Archivfotos. Fälle, die er strafrechtlich verfolgt hatte; aristokratische Gartenpartys, sein erster Auftritt im Hermelin.

»Ein eingefleischter Junggeselle«, rief Esson und bohrte eine weitere Nadel in die Wand.

»Woraus wir keine voreiligen Rückschlüsse ziehen wollen«, warnte Clarke. »Das Bild hängt schief.«

»Wenn man so guckt, nicht.« Esson neigte den Kopf um zwanzig Grad, rückte das Foto aber trotzdem gerade. Es zeigte den Toten am Fundort, zusammengekrümmt auf dem Teppich, wie ein schlafender Betrunkener.

»Wo ist der Chef?«, fragte Clarke.

»Howden Hall«, erwiderte Ogilvie.

»Ach?« In Howden Hall befanden sich die gerichtsmedizinischen Labore.

»Falls er nicht rechtzeitig zurück ist, darfst du die Pressekonferenz übernehmen.«

Clarke sah auf die Uhr: eine Stunde noch. »Das ist ja mal wieder sehr großzügig von ihm«, nuschelte sie und widmete sich dem ersten Nachruf.

Sie hatte beide gerade durchgelesen und Esson übergeben, damit diese sie ebenfalls an die Wand pinnte, als Page eintraf. Er hatte Charlie Sykes dabei, einen Detective Sergeant, normalerweise beim Leith CID. Von seiner Pensionierung trennte ihn nur noch ein Jahr, und seinem Aussehen nach konnte es bis zu seinem ersten Herzinfarkt kaum länger dauern. Bei so ziemlich jeder Unterhaltung, die Clarke mit ihm geführt hatte, war ausschließlich Ersteres Thema gewesen.

»Kurzes Update«, begann Page etwas atemlos und trommelte sein Team zusammen.

»Die Befragungen in der Nachbarschaft sind noch im Gang, und zwei Kollegen beschäftigen sich mit den Aufnahmen der Sicherheitskameras der gesamten Umgebung. Ein weiterer sitzt am Computer und prüft, ob es in der Stadt oder außerhalb Fälle gibt, die diesem ähneln. Wir werden darüber hinaus Freunde und Bekannte des Ermordeten vernehmen, außerdem wird sich jemand in die Katakomben begeben müssen, um sich genauer mit dem beruflichen Wirken von Lord Minton zu befassen …«

Clarke warf einen Blick Richtung Sykes. Dieser zwinkerte ihr zu, was bedeutete, dass sich in Howden Hall etwas ergeben hatte. Natürlich.

»Außerdem müssen wir das Haus und alles, was sich darin befindet, unter die Lupe nehmen«, fuhr Page fort. Clarke räusperte sich hörbar und ließ ihn damit verstummen.

»Vielleicht wollen Sie uns mitteilen, was es Neues gibt, Sir«, drängte sie sanft. »Mein Eindruck ist, dass Sie nicht mehr von einem panischen Einbrecher ausgehen.«

Er drohte ihr mit dem Finger. »Wir können es uns nicht erlauben, diese Möglichkeit vollkommen auszuschließen. Andererseits haben wir nun auch Folgendes.« Er zog ein Blatt aus der Innentasche seines Anzugjacketts. Eine Kopie. Clarke, Esson und Ogilvie traten näher zusammen, um besser sehen zu können.

»Aus der Brieftasche des Opfers, versteckt hinter einer Kreditkarte. Schade, dass die Botschaft nicht früher gefunden wurde, nichtsdestotrotz …«

Die Kopie zeigte einen in Druckbuchstaben beschrifteten, unlinierten Zettel von circa fünfzehn mal acht Zentimetern.

ICH WERDE DICH TÖTEN FÜR DAS, WAS DU GETAN HAST.

Die Anwesenden sogen hörbar Luft ein, anschließend herrschte mehrere Sekunden lang vollkommene Stille, nur unterbrochen von Charlie Sykes’ Rülpsen.

»Das behalten wir vorerst für uns«, verfügte Page. »Wenn auch nur ein Journalist was davon erfährt, werdet ihr mich kennenlernen. Haben wir uns verstanden?«

»Damit sieht der Fall plötzlich ganz anders aus«, meinte Ronnie Ogilvie.

»Komplett anders«, bestätigte Page langsam und stetig nickend.

2

»Wieso in die Fettes Avenue?«, fragte Fox am Abend, als er Clarke in einem Restaurant in der Broughton Street gegenübersaß. »Nein, lass mich raten – um Mintons Status zu entsprechen?«

Clarke kaute und nickte. »Wenn hohe Tiere vorbeischauen wollen, ist die Fettes Avenue dem Gayfield Square überlegen. Da gibt’s keine schmutzigen, kleinen Halunken, die den Anzugträgern auf die Füße treten.«

»Aber die bessere Kulisse für Pressekonferenzen. Ich hab Page in den Nachrichten gesehen, dich konnte ich allerdings nicht entdecken.«

»Ich fand, er hat’s ganz gut gemacht.«

»Nur dass in einem Fall wie diesem keine Neuigkeiten nicht unbedingt gute Neuigkeiten sind. Die ersten achtundvierzig Stunden sind entscheidend.« Fox hob sein Wasserglas an die Lippen. »Wer auch immer das getan hat, ist vermutlich schon mal aktenkundig geworden, hab ich recht? Oder handelt es sich um einen Ersttäter – könnte zumindest erklären, weshalb er’s vermasselt hat.«

Clarke nickte langsam, mied den direkten Blickkontakt und schwieg.

Fox stellte sein Glas ab.

»Da ist doch was, was du mir nicht sagst, Siobhan.«

»Ist noch geheim.«

»Was ist geheim?«

»Das, was ich dir nicht sage.« Fox wartete, fixierte sie mit starrem Blick. Clarke legte die Gabel weg und schaute sich nach rechts und links um. Das Restaurant war zu zwei Dritteln leer, niemand saß nahe genug, um mitzuhören. Trotzdem senkte sie die Stimme und beugte sich über ihren Teller, bis nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten.

»Es gibt eine Botschaft.«

»Vom Täter?«

»Versteckt in Lord Mintons Brieftasche. Er kann sie Tage oder Wochen mit sich herumgeschleppt haben.«

»Das heißt, ihr könnt nicht mit Sicherheit sagen, dass die Botschaft vom Täter stammt?« Fox dachte darüber nach. »Trotzdem …«

Clarke nickte erneut. »Wenn Page rausbekommt, dass ich dir das gesagt habe …«

»Schon kapiert.« Fox lehnte sich wieder zurück und stocherte mit der Gabel nach einem Stück Karotte. »Das macht es aber kompliziert.«

»Was du nicht sagst. Erzähl mir lieber, wie dein Tag war.«

»Aus dem Nichts heraus kam plötzlich ein Team aus Gartcosh angerauscht und hat am Nachmittag Stellung bezogen. Doug Maxtone schäumt vor Wut.«

»Kennen wir jemanden davon?«

»Ich wurde noch nicht vorgestellt. Keiner hat dem Chef gesagt, was die hier wollen, aber anscheinend soll er morgen früh über die näheren Umstände in Kenntnis gesetzt werden.«

»Kann es um Terrorismus gehen?« Fox zuckte mit den Achseln. »Wie groß ist das Team?«

»Sechs, als ich das letzte Mal nachgezählt habe. Sie haben sich in den Räumen des CID eingenistet, weshalb wir uns in eine Schuhschachtel am Ende des Gangs verziehen mussten. Wie ist dein Seehecht?«

»Sehr gut.« Aber sie hatte ihn kaum angerührt, sich stattdessen auf die Karaffe Weißwein konzentriert. Fox schenkte sich Wasser nach. Ihm fiel auf, dass Clarkes Glas noch voll war.

»Was genau stand auf dem Zettel?«, fragte er.

»Der Verfasser kündigt an, Lord Minton für etwas zu töten, das dieser getan haben soll.«

»Und es ist nicht Mintons Handschrift?«

»Druckbuchstaben, aber sie sehen nicht nach ihm aus. Billiger Kugelschreiber, kein Füller.«

»Sehr mysteriös. Meinst du, es gibt nur diese eine Botschaft?«

»Die Spurensicherung wird das Haus gleich morgen früh nochmal auf den Kopf stellen. Hätte Page es organisatorisch hinbekommen, wären sie längst da gewesen – wir haben ein Budget für sieben Tage die Woche und so viele Überstunden, wie wir brauchen.«

»Ihr Glücklichen.« Fox prostete ihr mit seinem Wasser zu. Clarkes Handy vibrierte. Sie hatte es neben ihr Weinglas gelegt. Nach einem Blick aufs Display entschied sie sich dranzugehen.

»Christine Esson«, erklärte sie Fox und nahm das Telefon ans Ohr. »Solltest du nicht zu Hause sein und die Füße hochlegen, Christine?« Doch beim Zuhören verengten sich ihre Augen ein bisschen. Mit der freien Hand griff sie fast instinktiv nach ihrem Weinglas, aber es war leer, ebenso wie die Karaffe. »Okay«, verkündete sie schließlich. »Danke fürs Bescheidsagen.« Sie beendete das Gespräch und tippte sich nachdenklich das Telefon an die Lippen.

»Und?«, drängte Fox.

»In Merchiston wurde ein Schuss abgegeben. Christine hat es gerade von einem Freund aus der Leitstelle erfahren. Jemand aus der Straße hat den Vorfall gemeldet. Ein Streifenwagen ist unterwegs.«

»Vielleicht ist ein alter Knallkörper hochgegangen?«

»Der Anrufer hat Glas klirren hören – anscheinend ein Wohnzimmerfenster.« Sie hielt inne. »Das Fenster eines Hauses, in dem ein gewisser Mr Cafferty wohnt.«

»Big Ger Cafferty?«

»Genau der.«

»Also das ist doch interessant, oder?«

»Gott sei Dank sind wir nicht im Dienst.«

»Absolut. Wir wollen uns das auf keinen Fall ansehen.«

»Auf gar keinen.« Clarke nahm ein Stück Seehecht auf ihre Gabel, Fox betrachtete sie über den Rand seines Glases hinweg.

»Wer ist mit Bezahlen dran?«, fragte er.

»Ich«, erwiderte Clarke, ließ die Gabel auf den Teller fallen und gab dem Kellner ein Zeichen.

Der Streifenwagen stand mit blinkendem Blaulicht schräg auf dem Bordstein. Die Straße war breit, auf beiden Seiten alleinstehende, spätviktorianische Häuser. Das Tor zu Caffertys Auffahrt stand offen, ein weißer Transporter parkte davor. Zwei Nachbarn waren zum Gucken nach draußen gekommen. Sie schienen zu frieren und würden sich vermutlich schnell wieder ins Warme verziehen. Zwei uniformierte Beamte, ein Mann und eine Frau, waren bereits da – Clarke kannte sie und stellte ihnen Fox vor, dann erkundigte sie sich, was passiert war.

»Die Dame gegenüber hat einen Knall gehört. Anscheinend auch etwas aufblitzen sehen, dann Scheibenklirren. Sie ist an ihr Fenster gegangen, hat aber nicht erkennen können, ob sich irgendwo was tut. Das Licht im Wohnzimmer war aus, aber sie hat gesehen, dass die Scheibe eingeschlagen war. Die Vorhänge waren zurückgezogen, sagte sie.«

»Da hat er aber schnell einen Glaser bekommen.« Fox nickte in Richtung Caffertys Haus, wo ein Mann bereits dabei war, das offene Fenster mit Sperrholz abzudichten.

»Was sagt der Bewohner?«, fragte Clarke die Uniformierten.

»Er macht nicht auf, behauptet, es sei ein Unfall gewesen, und streitet ab, dass es einen Schuss gegeben hat.«

»Und wie hat er euch das mitgeteilt …?«

»Er hat durch den Briefschlitz gebrüllt.«

»Ihr wisst, wer das ist, oder?«

»Big Ger Cafferty. Irgend so eine Gangstergestalt, zumindest mal gewesen.«

Clarke nickte langsam und merkte, dass ein Hund – eine Art Terrier – neben ihr stand und eines ihrer Beine neugierig beschnüffelte. Sie wollte ihn verscheuchen, aber er setzte sich auf die Hinterpfoten und starrte sie fragend an.

»Muss einem Nachbarn gehören«, vermutete der Streifenbeamte. »Als wir angekommen sind, ist er auf dem Gehweg hin und her gesprungen.« Er beugte sich hinunter und kraulte den Hund hinter den Ohren.

»Überprüft die restliche Straße«, sagte Clarke. »Ob es noch weitere Zeugen gibt.«

Sie ging über den Weg zur Haustür, machte einen Umweg am Glaser vorbei, der gerade die Holzplatte an den Fensterrahmen nagelte.

»Alles klar hier?«, fragte sie ihn. Soweit sie erkennen konnte, waren die Wohnzimmervorhänge jetzt zugezogen, der Raum dahinter lag im Dunkeln.

»Fast fertig.«

»Wir sind von der Polizei. Können Sie uns sagen, was passiert ist?«

»Die Scheibe ist zu Bruch gegangen. Hab das Fenster ausgemessen, morgen ist alles wieder so gut wie neu.«

»Wissen Sie, dass die Nachbarn behaupten, es sei geschossen worden?«

»In Edinburgh?« Der Mann schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie meinen Kollegen Ihre Kontaktdaten da, bevor Sie gehen.«

»Von mir aus.«

»Haben Sie früher schon für Mr Cafferty gearbeitet?«

Der Mann schüttelte erneut den Kopf.

»Aber Sie wissen, wer er ist? Dass es einen Schuss gegeben haben könnte, ist nicht so weit hergeholt, wie man meinen würde.«

»Mir hat er erzählt, er sei gestolpert und gegen die Scheibe gefallen. Hab ich schon oft erlebt.«

»Lassen Sie mich raten«, unterbrach Fox, »er hat dafür gesorgt, dass es sich für Sie lohnt, unverzüglich herzukommen.«

»Auf meinem Transporter steht ›Notdienst‹, und genau das biete ich auch an – eilige Reparaturen. Wenn irgend möglich, reagieren wir sofort.« Der Mann schlug den letzten Nagel ein und prüfte sein Werk. Auf dem Boden neben ihm stand ein Werkzeugkasten, außerdem eine tragbare Arbeitsbank, auf der er das Sperrholz zurechtgesägt hatte. Die Scherben hatte er auf eine Schippe gefegt. Die größeren Stücke lagen aufgestapelt aufeinander. Fox hatte sich hingekauert, um sie in Augenschein zu nehmen, aber als er sich wieder erhob, erkannte Clarke an seinem Blick, dass er keine neuen Erkenntnisse dadurch gewonnen hatte. Sie wandte sich der Tür zu und drückte ein halbes Dutzend Mal auf den Klingelknopf. Als niemand reagierte, beugte sie sich herunter und hielt den Briefschlitz auf.

»Hier ist DI Clarke«, rief sie. »Siobhan Clarke. Ob ich wohl mal kurz mit Ihnen sprechen könnte, Mr Cafferty?«

»Kommen Sie mit einem Durchsuchungsbefehl wieder!«, schrie eine Stimme von drinnen. Sie spähte durch den Schlitz und erkannte seine mächtige Gestalt im dunklen Flur.

»Gut, dass Sie das Licht ausgemacht haben«, sagte sie. »Dadurch werden Sie weniger zur Zielscheibe. Meinen Sie denn, die kommen wieder?«

»Was soll das heißen? Haben Sie schon wieder getrunken? Wie ich höre, genehmigen Sie sich in letzter Zeit öfter mal einen über den Durst.«

Clarke spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie konnte sich gerade so verkneifen, sich zu Fox umzudrehen, um zu kontrollieren, wie er reagierte. »Möglicherweise gefährden Sie das Leben Ihrer Nachbarn ebenso wie Ihr eigenes – bitte denken Sie darüber nach.«

»Sie träumen wohl, gute Frau. Ich bin gegen die Scheibe gestolpert, und sie ist zu Bruch gegangen. Das war’s.«

»Wenn Sie unbedingt einen Durchsuchungsbefehl sehen wollen, kann ich einen besorgen.«

»Ziehen Sie Leine, tun Sie, was Sie tun müssen, aber lassen Sie mich in Ruhe!«

Sie ließ die Klappe des Briefschlitzes geräuschvoll fallen und richtete sich wieder auf, fixierte Fox.

»Du glaubst, du hast was Besseres als einen Durchsuchungsbefehl, oder?«, fragte er. »Na dann los.« Er zeigte auf das Handy in ihrer rechten Hand. »Ruf ihn an …«

3

Die Oxford Bar war so gut wie leer, und John Rebus hatte das Hinterzimmer ganz für sich. Er saß in der Ecke mit Blick zum Eingang. Als Polizist lernte man so was – jeder Hereinkommende konnte Ärger machen, und man wollte so früh wie möglich gewarnt sein. Wobei Rebus nicht mit Ärger rechnete, nicht hier.

Und außerdem war er ja auch gar kein Polizist mehr.

Seit einem Monat im Ruhestand. Zum Schluss war er dann ganz still gegangen, hatte kein Trara verlangt und sogar das Angebot von Clarke und Fox, gemeinsam noch was trinken zu gehen, ausgeschlagen. Seither hatte Siobhan ein paarmal angerufen, jedes Mal unter einem anderen Vorwand. Er hatte es immer geschafft, eine Ausrede zu finden, um sich nicht mit ihr treffen zu müssen. Sogar Fox hatte sich gemeldet – früher war er bei Professional Standards gewesen und hatte mehrfach versucht, Rebus abzusägen – und verlegen geplaudert, bis er endlich auf den Punkt gekommen war.

Wie es Rebus denn ging?

Kam er zurecht?

Ob man sich vielleicht mal treffen könnte?

»Scheiß drauf«, brummte Rebus vor sich hin, trank den letzten Schluck seines vierten IPA. Zeit, Feierabend zu machen. Vier sind mehr als genug. Sein Arzt hatte ihm gesagt: Am besten lassen Sie’s ganz bleiben. Anschließend hatte Rebus ihn um eine zweite Meinung gebeten.

»Die können Sie haben«, hatte der Arzt erwidert: »Mit dem Rauchen sollten Sie auch aufhören.«

Rebus musste bei der Erinnerung daran grinsen, dann erhob er sich von der Bank, nahm das leere Glas mit an die Bar.

»Noch ein Absacker?«, wurde er gefragt.

»Danke, mir reicht’s.« Aber als er nach draußen trat, blieb er kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Vielleicht doch noch eins, hm? Draußen war es eiskalt, und der Wind wehte so scharf, dass man Speck damit in Scheiben hätte schneiden können. Eine schnelle Zigarette und dann wieder rein. Drinnen brannte ein Kaminfeuer, durch das Fenster konnte er es sehen. Jetzt, wo er hier draußen stand, wärmte sich dort niemand mehr. Er sah auf die Uhr. Was sollte er sonst machen? Durch die Straßen spazieren? Mit dem Taxi nach Hause fahren, im Wohnzimmer sitzen und keins der Bücher anrühren, die zu lesen er sich fest vorgenommen hatte? Ein bisschen Musik, erst in die Badewanne und dann ins Bett. Sein Leben verwandelte sich in ein Stück auf einer CD, nur dass die Repeat-Taste am Player klemmte und jeder neue Tag genau dasselbe brachte wie der vorangegangene.

Am Küchentisch hatte er eine kurze Liste geschrieben: Mitglied der Bibliothek werden, die Stadt erkunden, in den Urlaub fahren, ins Kino gehen, Konzerte besuchen. Auf der Liste war jetzt schon ein Kaffeering, und bald würde er sie zerknüllen und wegwerfen. Als er seine Plattensammlung durchgegangen war, hatte er ein paar Dutzend Alben gefunden, die er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Aber mit einem der beiden Lautsprecher stimmte was nicht – mal waren die Höhen da, dann wieder nicht. Das würde er also auch noch auf die Liste setzen oder gleich eine neue anfangen.

Renovieren.

Die morschen Fenster erneuern.

Das Badezimmer fliesen.

Ein neues Bett.

Teppichboden im Flur.

»Umziehen wäre einfacher«, sagte er zur leeren Straße. Die Asche musste er gar nicht wegschnippen – das erledigte der Wind. Wieder rein oder im Taxi nach Hause? Soll ich eine Münze werfen?

Telefon.

Er kramte es heraus und schaute aufs Display. Anrufer: Shiv. Abkürzung für Siobhan. Nicht dass sie sich freiwillig als Shiv ansprechen ließ. Er überlegte, ob er drangehen sollte, tippte dann aber doch auf Grün und hielt sich das Gerät ans Ohr.

»Du störst mich beim Training«, maulte er.

»Bei welchem Training?«

»Ich will den Edinburgh-Marathon laufen.«

»Durch sechsundzwanzig Pubs, oder wie? Tut mir leid, dass ich dein Programm durcheinanderbringe.«

»An dieser Stelle muss ich Sie leider unterbrechen, Verehrteste. Auf der anderen Leitung hab ich jemanden, der weniger unverschämt ist.«

»Na schön – ich dachte, vielleicht interessiert es dich.«

»Was? Dass es ohne mich bei Police Scotland drunter und drüber geht?«

»Dein alter Freund Cafferty.«

Rebus hielt inne, sein Gehirn schaltete sofort in einen anderen Gang.

»Möglicherweise wurde gerade auf ihn geschossen.«

»Ist ihm was passiert?«

»Schwer zu sagen – er lässt uns nicht rein.«

»Wo bist du?«

»Vor seinem Haus.«

»Gib mir fünfzehn Minuten.«

»Wir können dich abholen …«

Ein Taxi war in die Young Street eingebogen, das orangefarbene Licht auf dem Dach war eingeschaltet. Rebus trat auf die Straße und winkte es heran.

»Höchstens fünfzehn Minuten«, sagte er noch schnell zu Clarke, dann beendete er die Verbindung.

»Soll ich nochmal klingeln?«, fragte Fox. Er stand auf den Stufen vor Caffertys Haustür, flankiert von Rebus und Clarke. Der Glaser war gegangen, und die Kollegen mit dem Streifenwagen holten immer noch Informationen von den Nachbarn ein. Das Blaulicht war ausgeschaltet, wurde jetzt abgelöst vom orangefarbenen Schein der Straßenlaternen.

»Anscheinend möchte er ausschließlich durch den Briefschlitz kommunizieren«, setzte Clarke hinzu.

»Das kriegen wir besser hin«, sagte Rebus. Er fand Caffertys Nummer in seinem Telefon und wartete.

»Ich bin’s«, sagte er, als der Anruf entgegengenommen wurde. »Ich stehe draußen und komme gleich rein. Du kannst also entweder die Tür aufmachen oder warten, bis ich eine weitere Scheibe eingeschlagen habe und über die Scherben geklettert bin.« Er lauschte kurz, den Blick auf Clarke gerichtet. »Nur ich – abgemacht.« Clarke wollte den Mund aufmachen und protestieren, aber Rebus schüttelte den Kopf. »Hier draußen herrschen sibirische Temperaturen, also beeil dich, damit wir alle nach Hause können.«

Er steckte sein Handy wieder ein und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich reingehe, ist das okay, weil ich ja inzwischen kein Polizist mehr bin.«

»Hat er das gesagt?«

»Muss er nicht.«

»Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«, fragte Fox.

»Entgegen der allgemeinen Auffassung fraternisiere ich in meiner Freizeit nicht mit Leuten wie Big Ger.«

»War auch schon mal anders.«

»Vielleicht ist er ja interessanter als andere, die mir spontan einfallen würden«, entgegnete Rebus gereizt.

Fox schien etwas erwidern zu wollen, aber die Tür wurde bereits geöffnet. Cafferty stand dahinter, vom Halbdunkel beinahe vollständig verschluckt. Ohne ein weiteres Wort trat Rebus ein, und die Tür schloss sich hinter ihm. Er folgte Cafferty vom großen Eingangsbereich in den kleineren Flur dahinter. Cafferty ging an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbei in die Küche. Aber Rebus war nicht bereit mitzuspielen und trat ins Wohnzimmer, machte dort Licht. Er war schon einmal hier gewesen, aber es hatte sich einiges verändert. Eine neue Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Ein riesiger Flachbildfernseher über dem Kamin. Die Vorhänge im Erkerfenster waren geschlossen; als Cafferty hereinkam, zog Rebus sie gerade zurück.

»Die meisten Scherben hast du schon weggeräumt«, meinte Rebus. »Trotzdem würde ich’s nicht riskieren, hier barfuß zu laufen. Wenigstens sind Dielen besser als Teppichboden – man sieht die Splitter besser.«

Mit den Händen in den Taschen wandte er sich Cafferty zu. Sie waren jetzt alte Männer von ähnlicher Statur und Herkunft. Würden sie zusammen im Pub sitzen, könnte ein zufälliger Beobachter sie für alte Schulfreunde halten. Aber ihre Geschichte war eine andere: Auseinandersetzungen, Streit, Verfolgungsjagden und Gerichtsverfahren, sie hatten sich gegenseitig bis aufs Messer bekämpft. Caffertys letzter Gefängnisaufenthalt war nach einer Krebsdiagnose verkürzt worden, wobei es zu einer wundersamen Genesung gekommen war, kaum dass sich der Patient wieder auf freiem Fuß befand.

»Herzlichen Glückwunsch zum Ruhestand«, meinte Cafferty gedehnt. »Hast gar nicht dran gedacht, mich zur Party einzuladen. Aber warte mal – hab gehört, es gab gar keine. Hast wohl nicht mehr genug Freunde, um das Hinterzimmer der Oxford Bar zu füllen?« Übertrieben mitleidig schüttelte er den Kopf.

»Dann hat dich die Kugel also verfehlt?«, gab Rebus zurück. »Schade eigentlich.«

»Was habt ihr nur alle mit dieser mysteriösen Kugel.«

»Zu dumm, dass wir dein Telefon nicht mehr abhören. Ich wette, nach dem Schuss hast du erst mal jeden kleinen Ganoven der Stadt zur Schnecke gemacht.«

»Schau dich um, Rebus. Siehst du Bodyguards? Siehst du Schutzmaßnahmen? Ich bin viel zu lange nicht mehr im Geschäft, um noch Feinde zu haben.«

»Das ist natürlich wahr, viele der dir Verhassten mussten vor dir abtreten – auf die eine oder andere Weise. Aber ich denke trotzdem, dass noch genügend übrig sind.«

Cafferty grinste schließlich und machte Zeichen Richtung Tür.

»Komm in die Küche. Ich schenk uns einen ein.«

»Danke, ich trink ihn hier.«

Cafferty seufzte, zuckte mit den Schultern und ging hinaus. Rebus machte einen kurzen Rundgang durch den Raum und stand gerade am Kamin, als Cafferty zurückkehrte. Die Portion war nicht übermäßig großzügig bemessen, aber Rebus’ Nase verriet ihm, dass es ein Malt war. Er nahm einen Schluck und schob ihn durch den Mund, bevor er ihn schluckte. Cafferty entschied sich dafür, seinen in einem einzigen Zug herunterzukippen.

»Dir flattern wohl die Nerven?«, vermutete Rebus. »Kann’s dir nicht verdenken. Dann hattest du die Vorhänge also nicht zugezogen. Wahrscheinlich musst du das auch gar nicht – hast eine schöne, große Hecke zwischen Grundstück und Gehweg. Das bedeutet, dass der Schütze auf dem Rasen stand, direkt vor dem Fenster. Was hast du gemacht? Bist du durchs Zimmer gegangen, hast die Fernbedienung gesucht? Als er geschossen hat, kann er nicht weiter als drei bis vier Meter von dir entfernt gestanden haben. Aber du hast ihn nicht gesehen – hier drin brannte Licht, draußen war’s dunkel. Trotzdem hat er danebengeschossen. Das heißt, entweder war’s eine Warnung oder ein Anfänger.« Rebus hielt inne. »Worauf tippst du? Vielleicht musst du gar nicht raten – du weißt es längst.« Er nahm noch einen Schluck Whisky und sah, wie sich Cafferty auf dem Ledersofa niederließ.

»Angenommen, mich wollte tatsächlich jemand töten, wäre ich dann so blöd hierzubleiben? Würde ich mich nicht schleunigst aus dem Staub machen?«

»Möglicherweise. Aber wenn du keine Ahnung hast, wer dahintersteckt, wirst du dadurch auch nicht schlauer. Vielleicht rüstest du auf, forderst ein paar Gefälligkeiten ein und wartest ab, bis er’s wieder versucht. Ein vorbereiteter Morris Gerald Cafferty lässt sich nicht so leicht überrumpeln.«

»Wenn ich dir aber sage, dass ich einen im Kahn hatte und über meine eigenen Füße gestolpert bin …«

»Du hast das Recht, bei deiner Geschichte zu bleiben. Ich bin kein Detective mehr; ich kann so oder so nichts machen. Aber wenn du das Gefühl hast, dass du Hilfe brauchst, dann ist Siobhan draußen. Ihr würde ich dein Leben anvertrauen. Wahrscheinlich sogar mein eigenes.«

»Ich werde es mir merken. Einstweilen hoffe ich, dass ich dich von nichts abgehalten habe. Was auch immer Polizisten auf dem Abstellgleis wie du so treiben …«

»Wir schwelgen in Erinnerungen an den Abschaum, den wir eingeknastet haben.«

»Und bestimmt auch den, der euch entwischt ist.« Cafferty zog sich wieder auf die Füße. Er bewegte sich wie ein alter Mann, aber Rebus war sicher, dass er, in die Enge getrieben, immer noch brandgefährlich werden konnte. Seine Augen waren hart und kalt wie eh und je, spiegelten seine berechnende Intelligenz. »Sag Siobhan, sie soll nach Hause gehen«, meinte Cafferty. »Die Nachfragen in der Nachbarschaft sind reine Zeit- und Personalverschwendung. Hier ist bloß eine Scheibe zu Bruch gegangen.«

»Aber so war’s nicht, oder?« Rebus war Cafferty ein paar Schritte gefolgt, aber vor der Wand gegenüber dem Erkerfenster stehen geblieben. Dort hing ein gerahmtes Gemälde, und als Cafferty sich zu ihm umdrehte, tippte er mit der Fingerspitze darauf. »Das Bild hing früher da drüben.« Er nickte in Richtung einer anderen Wand. »Und das kleine da war früher hier. Leicht zu erkennen an der helleren Wandfarbe – das heißt, beide wurden vor kurzem ausgetauscht.«

»Gefällt mir besser so.« Caffertys Kiefer verkrampfte. Rebus schenkte ihm ein schmales Lächeln, während er mit beiden Händen das größere der beiden fraglichen Gemälde abhängte. Es verdeckte eine kleine, fast kreisrunde Vertiefung im Putz. Er kniff ein Auge zu und betrachtete das Loch genauer.

»Die Kugel hast du rausgezogen«, meinte er. »Neun Millimeter, hab ich recht?«

Er kramte in seiner Tasche nach seinem Handy. »Was dagegen, wenn ich ein Foto für mein Sammelalbum mache?«

Aber Cafferty hatte ihn schon am Unterarm gepackt.

»John«, sagte er. »Lass es einfach, okay? Ich weiß schon, was ich tue.«

»Dann sag’s mir. Sag mir, was hier los ist.«

Aber Cafferty schüttelte den Kopf und löste seinen Klammergriff.

»Geh einfach«, sagte er, jetzt mit sanfterer Stimme. »Genieß die Tage und die Stunden. Das geht dich alles nichts mehr an.«

»Warum hast du mich dann überhaupt reingelassen?«

»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.« Cafferty zeigte auf das Loch. »Ich dachte, ich wäre schlau gewesen.«

»Wir sind beide schlau, deshalb haben wir auch so lange durchgehalten.«

»Wirst du Clarke davon erzählen?«, fragte er und meinte das Einschussloch.

»Kann sein. Und vielleicht besorgt sie sich den Durchsuchungsbefehl.«

»Was sie auch nicht weiterbringen wird.«

»Zumindest kann sie dank des Lochs eine Theorie ausschließen.«

»Ach ja?«

»Dass du selbst von hier drinnen geschossen hast.« Rebus nickte Richtung Fenster. »Auf jemanden da draußen.«

»Du hast vielleicht eine Fantasie.«

Die beiden Männer starrten einander an, bis Rebus geräuschvoll ausatmete.

»Dann kann ich ja gehen. Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst.« Er hängte das Bild wieder auf und schlug in die von Cafferty angebotene Hand ein.

Draußen warteten Clarke und Fox in Fox’ Wagen. Rebus stieg hinten ein.

»Und?«, fragte Clarke.

»Ein Einschussloch in der Wand. Er hat die Kugel rausgeholt und wird sie euch so schnell nicht aushändigen.«

»Meinst du, er weiß, wer’s war?«

»Er sagt, er hat keine Ahnung – und das macht ihm Angst.«

»Also, was jetzt?«

»Jetzt«, sagte Rebus und klopfte Fox auf die Schulter, »lass ich mich von euch nach Hause fahren.«

»Sind wir auf einen Kaffee eingeladen?«

»Ist nur meine Wohnung, nicht Starbucks, verflucht. Wenn ihr mich abgesetzt habt, könnt ihr jungen Dinger den Abend ja beschließen, wie’s euch gefällt.« Rebus sah zu dem Terrier, der auf dem Gehweg hockte und die Insassen des Wagens mit schräg zur Seite geneigtem Kopf betrachtete. »Was ist das für ein Köter?«

»Weiß nicht. Die Kollegen haben rumgefragt, aber niemand vermisst ihn. Könnte Cafferty gehören.«

»Unwahrscheinlich. Um Haustiere muss man sich kümmern, das liegt ihm nicht.«

Rebus hatte die Zigaretten aus seiner Tasche gefischt. »Was dagegen, wenn ich rauche?«

»Ja«, kam die einstimmige Antwort von vorne.

Der Hund beobachtete sie immer noch, als der Wagen schon anfuhr. Rebus hatte Angst, er würde ihnen folgen. Clarke drehte sich zu ihm um.

»Mir geht’s gut«, erklärte Rebus. »Danke der Nachfrage.«

»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen.«

»Nein, aber du wolltest gerade.«

»Schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls«, lenkte Rebus ein. »Meinst du, du könntest Jackie Stewart hier dazu bewegen, ein bisschen aufs Gas zu treten? Am Ziel wartet eine Kippe mit meinem Namen drauf …«

Cafferty schenkte sich in der Küche einen weiteren Whisky ein, gab einen Tropfen kaltes Wasser aus der Leitung dazu und trank das Glas in zwei Zügen. Er sog Luft durch die Zähne und knallte das leere Glas auf den Tisch, dann fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. Das Haus war verriegelt, er hatte alle Türen und Fenster überprüft. Er zog die Kugel aus der Tasche, die von der Wucht des Einschlags ganz ramponiert war. Neun Millimeter, wie Rebus vermutet hatte. Früher hatte Cafferty mal eine Neun-Millimeter-Pistole im Safe seines Arbeitszimmers aufbewahrt, aber nachdem er sie hatte verwenden müssen, schnell verschwinden lassen. Er legte die deformierte Kugel neben das leere Whiskyglas, zog eine Schublade auf und fand, wonach er gesucht hatte, zugedeckt ganz hinten. Der Zettel, der ihm vor wenigen Tagen durch den Briefschlitz gesteckt worden war. Er faltete ihn auseinander und las noch einmal, was darauf stand:

ICH WERDE DICH TÖTEN FÜR DAS WAS DU GETAN HAST.

Aber was hatte Cafferty getan? Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und dachte nach.

Tag zwei

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