Das geträumte Land - Imbolo Mbue - E-Book
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Das geträumte Land E-Book

Imbolo Mbue

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Beschreibung

Die große neue Stimme aus den USA Imbolo Mbues hochgelobtes Debüt erzählt die unvergessliche Geschichte zweier Familien unterschiedlicher Herkunft, die in New York kurz vor der Bankenkrise aufeinandertreffen. Die Lehman-Brothers-Pleite bringt nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Wertesystem gehörig durcheinander. Jende Jonga hat es endlich geschafft, seine Frau und seinen kleinen Sohn aus Kamerun nach Amerika zu holen. Das Glück scheint komplett, als Jende den Job als Chauffeur von Clark Edwards, einem Manager der Lehmann Brothers Bank, ergattert. Und Mrs Edwards engagiert Jendes Frau sogar als Haus- und Kindermädchen in ihrem Sommerhaus in den Hamptons. Die beiden Familien könnten unterschiedlicher nicht sein und wollen doch dasselbe: ihren Kindern eine gute Zukunft bieten. Allerdings ist das Leben der Bankerfamilie längst nicht so perfekt und glamourös, wie es zunächst scheint. Als Lehman Brothers pleitegeht, ist die Fassade nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Jongas versuchen verzweifelt, Jendes Job zu retten – auch um den Preis ihrer Ehe. Das Leben der beiden Paare wird dramatisch auf den Kopf gestellt und Jende sieht sich gezwungen, eine unmögliche Entscheidung zu treffen. Ein hochaktueller, brillant geschriebener Roman über Familie, Immigration, Heimat und Gesellschaft, der uns alle angeht.

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Seitenzahl: 578

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Imbolo Mbue

Das geträumte Land

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Imbolo Mbue

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

ÜbersetzungsförderungWidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. KapitelDanksagung
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Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

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Für meinen umwerfenden AMR

Dankbar, dass du dich mit mir in dieses Mysterium begibst

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Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darin Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen; ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel sind; ein Land, darin Ölbäume und Honig wachsen; ein Land, da du Brot genug zu essen hast, da dir nichts mangelt; ein Land, des Steine Eisen sind, da du Erz aus den Bergen hauest.

5. Buch Moses 8: 7–9

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1.

Er hatte noch nie im Anzug zu einem Vorstellungsgespräch erscheinen müssen. Noch nie mit Lebenslauf. Einen Lebenslauf hatte er überhaupt erst, seit ein ehrenamtlicher Berufsberater in der Bibliothek auf der 34. Straße Ecke Madison vergangene Woche einen für ihn geschrieben und seine beruflichen Tätigkeiten einzeln aufgeführt hatte, um ihn als Mann mit beachtlichen Fertigkeiten auszuweisen: Bauer, zuständig für das Bestellen von Feldern und das Einbringen einer ertragreichen Ernte; Straßenkehrer, damit beauftragt, für Glanz und Sauberkeit der Stadt Limbe zu sorgen; Tellerwäscher in einem Restaurant in Manhattan, verantwortlich für blitzblanke und hygienisch einwandfreie Teller zum Wohl der Gäste; Fahrer eines Livery Cabs in der Bronx, zuständig für die sichere Beförderung der Fahrgäste von A nach B.

Er hatte sich nie Gedanken darüber machen müssen, ob er über genügend Berufserfahrung verfügte, fehlerfreies Englisch sprach und intelligent genug rüberkam. Aber heute, in dem grünen Nadelstreifenzweireiher, den er am Tag seiner Einreise in die USA getragen hatte, gab es für ihn nur einen Gedanken: Würde er es schaffen, einen wildfremden Mann von sich zu überzeugen? Unaufhörlich dachte er nur an die Fragen, die ihm bevorstanden, an das, was man an Antworten von ihm erwarten würde, daran, wie er zu gehen und zu reden und dazusitzen hatte, wann er zu sprechen oder zuzuhören und zu nicken hatte, was er sagen oder nicht sagen sollte und ob er Auskunft über seinen Aufenthaltsstatus würde geben müssen, wenn man ihn danach fragte. Sein Hals war trocken, seine Hände feucht, und weil er in der brechend vollen U-Bahn nicht an sein Taschentuch kam, wischte er sie an der Hose ab.

»Guten Morgen, bitte«, sagte er zu dem Wachmann, als er die Eingangshalle von Lehman Brothers betrat. »Mein Name ist Jende Jonga. Ich habe einen Termin bei Mr Edwards. Mr Clark Edwards.« Der Mann vom Sicherheitsdienst (Ziegenbart und Sommersprossen) fragte ihn nach dem Ausweis, den Jende rasch aus seiner braunen Brieftasche zog. Er kontrollierte Vorder- und Rückseite, sah hoch in Jendes Gesicht, sah hinab auf Jendes Anzug, grinste und fragte, ob er Börsenmakler werden wolle oder so was.

Jende schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, ohne zurückzulächeln. »Chauffeur.«

»Na dann«, sagte der Wachmann und reichte ihm einen Besucherausweis. »Viel Glück!«

Jetzt lächelte Jende. »Danke, Mann!«, sagte er. »Heute kann ich das ganze Glück echt gebrauchen.«

Auf dem Weg hinauf in die 27. Etage stand er allein im Fahrstuhl und inspizierte seine Fingernägel (kein Dreck drunter, Gott sei Dank). Im Sicherheitsspiegel über ihm rückte er die Ansteckkrawatte zurecht, kontrollierte noch mal seine Zähne, aber da war nichts mehr zu sehen von den frittierten Kochbananen und Bohnen, die er zum Frühstück gegessen hatte. Er räusperte sich und wischte sich über die Mundwinkel, entfernte die winzigen Spuren getrockneten Speichels. Als sich die Tür öffnete, trat er mit gestrafften Schultern hinaus und meldete sich bei der Empfangsdame, die ihm zunickte und ihre strahlend weißen Zähne zeigte, dann telefonierte und ihn schließlich bat, ihr zu folgen. Sie durchquerten ein Großraumbüro, in dem junge Männer in blauen Hemden an ihren Schreibtischen mit Multi-Monitor-Ausstattung saßen, gingen einen Gang entlang, vorbei an einem weiteren Großraumbüro voller Kabinen, und betraten einen sonnendurchfluteten Raum mit einer riesigen viergeteilten Fensterwand, hinter der die herbstlich gefärbten Bäume und die stolzen Türme von Manhattan aufblitzten. Kurz blieb ihm der Mund offen stehen, beeindruckt vom Ausblick – so was hatte er noch nie gesehen – und dem Anblick der edlen Inneneinrichtung. Rechts von ihm befand sich eine Loungeecke (schwarzes Ledersofa, zwei schwarze Ledersessel, Beistelltisch aus Glas), in der Mitte ein mächtiger Schreibtisch (oval, Kirsche, ein bequemer Sessel aus schwarzem Leder für den Boss, zwei weitere Sitzgelegenheiten aus grünem Leder für Besucher) und links von ihm eine Büroschrankwand (Kirsche, Glastüren, akkurat platzierte weiße Aktenordner), vor der Clark Edwards stand, im schwarzen Anzug, und Unterlagen in einen Aktenvernichter stopfte.

»Bitte, Sir, guten Morgen«, sagte Jende und verbeugte sich leicht.

»Setzen Sie sich«, sagte Clark, ohne vom Aktenvernichter aufzuschauen.

Jende hastete zum linken Besuchersessel. Er zog den Lebenslauf aus der Mappe und legte ihn vor Clarks Stuhl auf den Tisch, sorgsam bedacht, den Wust aus Papierbergen und Ausgaben des Wall Street Journals ja nicht durcheinanderzubringen. Auf einer der Seiten des Journals, die unter losen Blättern mit Zahlen und Diagrammen hervorlugte, stand fett gedruckt: Der große Hoffnungsträger der Weißen? Barack Obama und der Traum vom farbenblinden Amerika. Fasziniert von dem aufstrebenden jungen Senator und interessiert an dem Artikel, beugte er sich vor, richtete sich aber rasch auf, als ihm wieder einfiel, wo er war, warum er hier saß und was ihm bevorstand.

»Haben Sie noch irgendwelche unerledigten Bußgeldbescheide?«, fragte Clark, als er sich auch setzte.

»Nein, Sir«, sagte Jende.

»Und Sie waren auch nicht in schwerere Unfälle verwickelt?«

»Nein, Mr Edwards.«

Clark nahm den Lebenslauf vom Schreibtisch, der zerknittert und feucht war wie der Mann, dessen Werdegang er enthielt. Ein paar Sekunden starrte er auf das Dokument, während Jendes Blick zwischen den Baumkronen des Central Parks in der Ferne und den Bildern an der Wand – abstrakte Gemälde und Porträts von weißen Männern mit Fliege – hin- und herhuschte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

»Also gut, Jende«, sagte Clark, legte den Lebenslauf beiseite und lehnte sich zurück, »erzählen Sie mir etwas über sich.«

Jende war schlagartig hellwach.

Das war die Frage, die seine Frau Neni und er am Vorabend besprochen hatten; die Frage, auf die sie beim Googeln von »Frage, die bei jedem Vorstellungsgespräch gestellt wird« gestoßen waren. Eine Stunde hatten sie vor dem launischen Bildschirm gehockt und nach der besten Antwort gesucht, die auf den ersten zehn Trefferseiten verdächtig ähnlich geklungen hatte, bevor sie zu dem Schluss gekommen waren, dass Jende am besten von seiner starken Persönlichkeit und seiner Zuverlässigkeit sprechen sollte, und dass er genau die Art von Chauffeur war, die ein viel beschäftigter Manager wie Mr Edwards brauchte. Neni hatte ihm auch dazu geraten, seinen wundervollen Sinn für Humor zu betonen, vielleicht mit einem kleinen Witz. Denn sicher wäre jeder Wall-Street-Manager froh, nach einem langen Tag, an dem er sich das Hirn darüber zermartert hatte, wie er noch mehr Geld scheffeln könnte, von seinem Chauffeur mit einem Witz begrüßt zu werden. Jende hatte ihr recht gegeben und eine Antwort vorbereitet, eine kurze Rede, die mit einem Witz über eine Kuh im Supermarkt abschloss. Das würde bestimmt gut ankommen, hatte Neni gesagt. Und das sagte er sich auch. Aber als er den Mund aufmachte, hatte er die vorbereitete Antwort schlichtweg vergessen.

»Gern, Sir«, sagte er stattdessen. »Ich wohne mit meiner Frau und meinem Sohn in Harlem. Mein Sohn ist sechs. Und ich komme aus Kamerun in Zentralafrika, oder Westafrika. Kommt darauf an, mit wem Sie sprechen, Sir. Ich komme aus Limbe, das ist eine kleine Stadt am Atlantik.«

»Verstehe.«

»Danke, Mr Edwards«, sagte er mit zittriger Stimme, nicht sicher, wofür er eigentlich dankbar war.

»Und was für Papiere haben Sie jetzt hier?«

»Ich habe Papiere, Sir«, stieß er hervor, wobei er sich abrupt nach vorn beugte, heftig nickte und Gänsehaut bekam.

»Ich habe gefragt, was für Papiere?«

»Ja natürlich, entschuldigen Sie, Sir. Ich habe EAD. EAD, Sir … das habe ich jetzt im Moment.«

»Was soll das –?«

Das Blackberry auf seinem Schreibtisch surrte. Clark nahm es blitzschnell in die Hand. »Was genau heißt das?«, fragte er, den Blick auf das Handy gerichtet.

»Das ist die Arbeitserlaubnis, Sir«, sagte Jende und rutschte unruhig hin und her. Clark gab durch nichts zu erkennen, dass er ihn gehört hatte. Sein Kopf blieb gesenkt, der Blick haftete auf dem Gerät, die weich aussehenden Finger huschten über das Tastenfeld, schnell und geschmeidig – hoch, links, rechts, runter.

»Es ist meine Arbeitsgenehmigung, Sir«, fügte Jende hinzu. Er schaute auf Clarks Finger, dann auf dessen Stirn, wieder auf die Finger, unsicher, wie er die Augenkontakt-Regel befolgen sollte, wenn keine Augen für die Kontaktaufnahme zur Verfügung standen. »Das heißt, dass ich arbeiten darf, bis ich meine Greencard bekomme, Sir.«

Clark deutete ein Nicken an und tippte weiter.

Jende sah aus dem Fenster und hoffte, nicht zu heftig zu schwitzen.

»Und wie lange dauert es, bis Sie die Greencard bekommen?«, fragte Clark und legte das Blackberry weg.

»Ich habe keine Ahnung, wirklich, Sir. Die Einwanderungsbehörde ist langsam, Sir, keiner versteht, was die da machen.«

»Aber Sie sind doch auf Dauer legal hier im Land, oder?«

»O ja, Sir«, sagte Jende. Wieder nickte er heftig, mit gequältem Lächeln und ohne zu blinzeln. »Ich bin sehr legal hier, Sir. Die Greencard kommt noch, ich muss noch warten.«

Clark starrte Jende recht lange an, aber an seinen ausdruckslosen grünen Augen war nicht abzulesen, was er dachte. Warmer Schweiß rann Jendes Rücken hinab und durchweichte das weiße Hemd, das Neni ihm bei einem Straßenhändler in der 125. Straße gekauft hatte. Das Telefon auf Clarks Schreibtisch klingelte.

»Dann ist ja alles gut«, sagte Clark und griff nach dem Hörer, »wenn Sie legal hier sind.«

Jende Jonga atmete auf.

Er spürte, wie der Schreck nachließ, der ihm mit Mr Edwards’ Frage nach den Papieren in die Glieder gefahren war. Kurz schloss er die Augen und dankte einem barmherzigen Gott, heilfroh, mit der halben Wahrheit durchgekommen zu sein. Was hätte er gesagt, wenn Mr Edwards nachgefragt hätte? Wie hätte er erklärt, dass seine Arbeitserlaubnis und sein Führerschein nur für die Dauer seines Asylverfahrens und den Fall der Bewilligung gültig waren? Dass alle diese Dokumente ihre Gültigkeit verlieren würden, sollte der Asylantrag abgelehnt werden? Dass er dann auch keine Greencard bekäme? Und wie hätte er überhaupt den Antrag an sich erklären sollen? Hätte er Mr Edwards davon überzeugen können, dass er ein ehrlicher Mann war, sehr ehrlich sogar, aber einer, der der Einwanderungsbehörde jetzt tausend Geschichten auftischte, nur um eines Tages amerikanischer Staatsbürger zu werden und für immer in diesem großartigen Land zu leben?

»Und seit wann sind Sie hier?«, fragte Clark, nachdem er aufgelegt hatte.

»Drei Jahre, Sir, ich bin 2004 gekommen, das war im –«, brach er mitten im Satz ab, erschrocken von Clarks donnerndem Niesen.

»Gesundheit«, sagte Jende, als sich der Manager den Unterarm vor die Nase hielt und ein zweites Mal nieste, lauter noch als zuvor. »Ashia, Sir«, sagte er. »Und noch viel mehr Gesundheit.«

Clark beugte sich vor und griff nach einer Flasche Wasser, die rechts auf dem Schreibtisch stand. Hinter ihm, jenseits der blitzblanken Fensterscheibe, flog am wolkenlosen Morgenhimmel ein roter Hubschrauber aus Westen über den Park in Richtung Osten. Jende richtete den Blick wieder auf Clark und schaute zu, wie er ein paar Schlucke trank. Wie gern hätte auch er etwas gegen die Trockenheit in seinem Hals getan, wollte aber nicht riskieren, dass das Vorstellungsgespräch zu seinen Ungunsten kippte, nur weil er nach Wasser fragte. Das konnte er sich einfach nicht leisten. Auf keinen Fall. Selbst wenn sein Hals dem trockensten Punkt der Kalahari gleichen würde, wäre das jetzt unwichtig – es lief gut. Na ja, nicht übermäßig gut. Aber auch nicht übermäßig schlecht.

»Also gut«, sagte Clark und setzte die Flasche ab. »Dann sage ich Ihnen mal, was ich von einem Chauffeur erwarte.«

Jende schluckte und nickte. »Ich erwarte Loyalität. Ich erwarte Zuverlässigkeit. Ich erwarte Pünktlichkeit, und ich erwarte, dass Sie tun, was ich Ihnen sage, und keine Fragen stellen. Passt das für Sie?«

»Ja, Sir, selbstverständlich, Mr Edwards.«

»Sie werden eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben, in der steht, dass Sie nichts von dem, was ich sage oder tue, weitergeben. Unter keinen Umständen. Keinem Menschen. Absolut niemandem. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Sehr klar, Sir.«

»Gut. Ich behandle Sie respektvoll, aber zunächst einmal haben Sie mich respektvoll zu behandeln. Ich komme für Sie an erster Stelle, und wenn ich Sie nicht brauche, kümmern Sie sich um meine Familie. Ich habe sehr viel zu tun, also erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen auf die Finger schaue. Sie sitzen hier, weil Sie mir ausdrücklich empfohlen wurden.«

»Sie haben mein Wort, Sir. Versprochen. Mein aufrichtiges Ehrenwort.«

»Bestens, Jende«, sagte Clark. Er grinste, nickte und sagte noch einmal: »Bestens.«

Jende zog das Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit die Stirn ab. Er holte tief Luft und wartete darauf, was als Nächstes geschehen würde, denn Clark überflog noch einmal seinen Lebenslauf.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen an mich?«, wandte sich Clark an Jende und legte den Lebenslauf auf einen Stapel Unterlagen links auf dem Schreibtisch.

»Nein, Mr Edwards. Sie haben mir alles, was ich wissen muss, sehr gut erklärt, Sir.«

»Morgen früh kommt noch ein Bewerber und dann entscheide ich mich. Sie hören dann voraussichtlich am Nachmittag von mir. Meine Sekretärin ruft Sie an.«

»Haben Sie vielen Dank, Sir. Sie sind sehr freundlich.«

Clark stand auf.

Rasch schob Jende den Bürosessel zurück und stand ebenfalls auf. Er strich die Krawatte glatt, die im Verlauf des Gesprächs verrutscht war und so schief hing wie ein Bäumchen im Sturm.

»Ach, und nebenbei«, sagte Clark und musterte die Krawatte, »wenn Sie etwas für Ihre Karriere tun wollen, dann kaufen Sie sich einen besseren Anzug. Schwarz, dunkelblau oder grau. Und eine echte Krawatte.«

»Absolut kein Problem, Sir«, erwiderte Jende, »ich kann einen neuen Anzug besorgen. Natürlich.«

Er nickte und lächelte etwas unbeholfen, entblößte die schief stehenden Zähne und schloss den Mund sofort wieder. Ohne das Lächeln zu erwidern, streckte Clark ihm die Rechte entgegen, die Jende mit beiden Händen umfasste und vorsichtig schüttelte, den Kopf gesenkt. Ich danke Ihnen schon jetzt von ganzem Herzen, Sir, wollte er erneut sagen. Und am liebsten hätte er gesagt, wenn Sie mir diesen Job geben, werde ich der beste Chauffeur sein, den Sie je hatten.

Er sagte nichts; er durfte nicht zulassen, dass seine Verzweiflung durch die eierschalendünne Schicht Würde brach, die ihn während des Vorstellungsgesprächs geschützt hatte. Clark lächelte und legte ihm kurz die Hand auf den Arm.

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2.

»Genau ein Jahr und ein halbes«, sagte Neni zu Fatou, als die beiden auf der Suche nach Imitaten von Gucci- und Versace-Handtaschen durch Chinatown bummelten. »So lange bin ich jetzt in Amerika.«

»Ein Jahr und ein halbes?«, wiederholte Fatou, schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Zählst halbe Jahre mit? Und sagst das ohne Schämen.« Sie lachte. »Ich sag dir was. Wenn du vingt-quatre ans in Amerika und immer mit kein Geld, hörst du auf mit zählen. Sagst du gar nichts mehr dabei. Schämst dich, wenn du was sagst, ist so.«

Neni kicherte, als sie eine Gucci-Tasche in die Hand nahm, die so unbedingt als echt durchgehen sollte, dass sie sogar schimmerte.

»Du schämst dich, anderen zu sagen, dass du seit vierundzwanzig Jahren hier bist?«

»Nein, ohne Schämen. Warum mit Schämen? Ich sage für Leute, ich bin vor wenig Zeit gekommen. Sie hören zu und sagen, ah, sie weiß kein Englisch. Sie muss gerade erst von Afrika hier gekommen.«

Der chinesische Ladenbesitzer stürmte auf sie zu. »Sechzig Dollar und die Tasche gehört dir«, sagte er zu Neni. »Was?«, fragte Neni und verzog das Gesicht. »Ich geb dir zwanzig.« Der Mann schüttelte den Kopf. Neni und Fatou gingen weiter. »Vierzig, vierzig«, rief der Mann ihnen nach, als sie sich durch eine Gruppe europäischer Touristen drängten. »Okay, komm, dreißig«, rief er. Sie gingen zurück und kauften sie für fünfundzwanzig.

»Jetzt siehst du wie Angeli Joeli«, sagte Fatou, als Neni mit der Tasche am Arm weiterging und die Locken ihres Haarteils im Wind wehten.

»Echt?«, fragte Neni und warf die Haare gekonnt zurück.

»Was heißt ›echt‹? Du willst hübsch sehen wie Angeli Joeli, oder?«

Neni legte den Kopf in den Nacken und lachte.

New York war einfach großartig. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie hier war. Konnte nicht fassen, dass sie herumbummelte und Gucci kaufte und endlich nicht mehr die arbeitslose, unverheiratete Mutter war, die, ganz gleich ob Regen- oder Trockenzeit, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Haus ihres Vaters in Limbe hockte und darauf wartete, dass Jende sie rettete.

Die Ankunft mit Liomi am JFK war ihr noch derart präsent, dass es sich gar nicht so anfühlte, als wären schon achtzehn Monate vergangen. Sie erinnerte sich ganz genau, wie Jende in der Ankunftshalle gestanden und auf sie gewartet hatte, mit rotem Hemd, blauer Ansteckkrawatte und einem Strauß gelber Hortensien. Sie erinnerte sich, wie sie sich eine kleine Ewigkeit umarmt und mit geschlossenen Augen schweigend festgehalten hatten, um die Gedanken an die Qualen der letzten zwei Jahre zu verscheuchen, in denen Jende mit drei Jobs das Geld für ihr Studentenvisum, Liomis Besuchervisum und die Flugtickets hatte zusammenbekommen müssen. Und sie erinnerte sich noch genau, wie Liomi in ihre Umarmung eingestimmt und sie beide an den Beinen umfasst hatte, bis Jende sie kurz losgelassen und ihn hochgehoben hatte. Sie erinnerte sich, dass die Wohnung in Harlem (die Jende nach zwei Jahren mit sechs Puerto Ricanern in einer Dreizimmerkellerwohnung in der Bronx erst kürzlich gefunden hatte) an diesem Abend von ihrer Stimme und Jendes Lachen erfüllt gewesen war, als sie ihm Geschichten von zu Hause erzählt hatte, und von Liomis Quieken, als Jende sich auf dem Teppich mit ihm gebalgt und ihn gekitzelt hatte. Erinnerte sich, wie sie Liomi mitten in der Nacht ins Kinderbett getragen hatten, damit sie nebeneinanderliegen und all das tun konnten, was sie einander in E-Mails, Telefonaten und SMS versprochen hatten. Und sie erinnerte sich ganz genau, wie sie danach neben Jende im Bett gelegen und den Geräuschen Amerikas gelauscht hatte, dem Geplapper und Gelächter von Männern und Frauen, von Afroamerikanern auf den Straßen von Harlem, und sich immer wieder hatte sagen müssen: Ich bin in Amerika, ich bin wirklich in Amerika.

Diesen Tag würde sie nie vergessen.

Genauso wenig wie den Tag zwei Wochen nach ihrer Ankunft, als sie mit Liomi als Ringträger und Jendes Cousin Winston als Trauzeugen im Rathaus geheiratet hatten. An diesem Tag im Jahr 2006 war sie endlich zu einer ehrbaren Frau erklärt worden, einer Frau, der Liebe und Schutz zustanden.

Limbe war jetzt nur noch irgendeine Kleinstadt weit, weit weg, ein Ort, den sie mit jedem Tag ohne Jende an ihrer Seite weniger geliebt hatte. Ohne ihn, mit dem sie Strandspaziergänge gemacht, getanzt oder an einem heißen Sonntagnachmittag an einem Drinking Spot gesessen und ein kaltes Malta-Guinness genossen hatte, war die Stadt nicht mehr ihre geliebte Heimatstadt gewesen, sondern ein trostloser Ort, den sie so schnell wie möglich verlassen wollte. Und in der Zeit ihres Getrenntseins hatte sie ihn in jedem Telefongespräch daran erinnert, dass sie immerzu von dem Tag träumte, an dem sie Limbe verlassen und zu ihm nach Amerika kommen würde.

»Ich träume auch, bébé«, hatte er immer zu ihr gesagt. »Tag und Nacht träume ich alle möglichen Träume.«

An dem Tag, als sie endlich die Visa für Liomi und sich in den Händen gehalten hatte, war sie abends mit den Pässen unterm Kissen eingeschlafen. In der Nacht, als sie Kamerun verließen, fühlte sie gar nichts. Als der Bus abfuhr, den ihr Vater für sie – und für die zwei Dutzend Verwandten und Freunde, die sie begleiteten – gemietet hatte, und sie die zweistündige Fahrt zum internationalen Flughafen in Douala antraten, hatte sie den Nachbarn und entfernten Verwandten vorm Haus, die gekommen waren, um sich mit neidischen Blicken von ihnen zu verabschieden, lächelnd zugewinkt. Sie hatte ein kurzes Gebet aufgesagt, als sie sie da so stehen sah, und ihnen das gleiche Glück gewünscht, das sie in Amerika finden würde.

Jetzt, anderthalb Jahre später, war New York ihr Zuhause, ein Ort mit allem, was sie sich wünschte. Sie erwachte neben dem Mann, den sie liebte, und wenn sie den Kopf leicht drehte, lag da ihr Kind. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen Job, arbeitete über eine Agentur als Pflegerin für Privatpersonen und wurde wegen der fehlenden Arbeitserlaubnis in bar ausgezahlt. Zum ersten Mal seit sechzehn Jahren war sie als Studentin eingeschrieben, am Borough of Manhattan Community College im Fach Chemie, und musste sich wegen der Studiengebühren keine Sorgen machen, weil sie wusste, dass Jende den Semesterbeitrag von dreitausend Dollar immer, ohne zu murren, zahlen würde, anders als ihr Vater, der sich wegen seiner finanziellen Sorgen ständig beschwert hatte und ihr und ihren Geschwistern jedes Mal, wenn sie nach Geld für die Schulgebühren und Schuluniformen gefragt hatten, mit einem Vortrag darüber gekommen war, dass CFA-Francs nicht an Mangobäumen wuchsen. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit wachte sie morgens auf und hatte am Tag noch ganz andere Pläne, als nur für ihre Eltern und Geschwister zu kochen, Liomi zu versorgen, das Haus zu putzen, auf dem Markt einzukaufen, Freundinnen zu treffen und ihnen zuzuhören, wie sie über ihre Schwiegermütter lästerten, und abends ins Bett zu gehen und zu wissen, dass der darauffolgende Tag ganz genauso aussehen würde, weil ihr Leben auf der Stelle trat. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie neben Ehe und Mutterschaft einen Traum: Sie wollte Apothekerin werden, so wie die Apotheker in Limbe, die von jedem respektiert wurden, weil man von ihnen Glück und Gesundheit in Pillenform bekam. Um sich diesen Traum zu erfüllen, brauchte sie sehr gute Noten, und genau die hatte sie mit einem Durchschnitt von B+ auch. An drei Tagen pro Woche besuchte sie Kurse, und wenn sie nach dem Unterricht mit ihren Mathematik-, Chemie-, Biologie- und Philosophiewälzern die Gänge entlangging, strahlte sie, weil aus ihr nach und nach eine gebildete Frau wurde. So oft wie möglich saß sie in der Bibliothek über ihren Hausaufgaben oder zog ihren Professoren in den Sprechzeiten Tipps aus der Nase, wie sie bessere Noten erzielen konnte, um einen Studienplatz für Pharmazie an einer guten Uni zu ergattern. Sie würde stolz auf sich sein, Jende würde stolz auf seine Frau sein, Liomi würde stolz auf seine Mutter sein. Viel zu lange hatte sie gewartet, etwas aus sich zu machen, und jetzt, mit dreiunddreißig, hatte sie alles, oder war kurz davor, alles zu haben, was sie sich je für ihr Leben gewünscht hatte.

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3.

Der Anruf kam, als er auf der White Plains Road unterwegs war. Vier Minuten später klappte er das Handy zu und lachte. Er trommelte aufs Lenkrad und lachte noch lauter: glücklich, berauscht, fassungslos. Wäre er jetzt in New Town, Limbe, gewesen, hätte er mitten auf der Straße angehalten, jemanden umarmt und geschrien, Bo, wenn du wüsstest, was ich eben für ’ne Nachricht bekommen hab. In New Town hätte er mindestens ein bekanntes Gesicht am Straßenrand entdeckt, mit dem er die guten Neuigkeiten hätte teilen können, aber hier in den Straßen der Bronx mit den alten Backsteinhäusern und dem halb verdorrten Rasen kannte er keinen, auf den er hätte zustürmen und dem er hätte erzählen können, was Clarks Sekretärin gerade zu ihm gesagt hatte. Da lief ein junger Schwarzer mit Kopfhörern, der zu irgendeinem coolen Groove wippte; drei junge Asiatinnen, Teenager, doch keine davon mit Schulrucksack, kicherten hinter vorgehaltener Hand; eine Frau mit einem dicken Kind in einem rosafarbenen Buggy hetzte irgendwohin. Da lief auch ein Afrikaner, aber seinem dunklen kantigen Gesicht und dem locker fallenden großen Boubou nach war er wahrscheinlich Senegalese oder Burkiner oder aus einem der anderen französischsprachigen Länder. Jende konnte ihm nicht einfach in die Arme fallen, nur weil sie beide aus Westafrika kamen. Er musste seine Freude mit jemandem teilen, der seinen Namen und seine Geschichte kannte.

»O Gott, Jends!«, rief Neni, als er ihr am Telefon die Neuigkeit erzählte. »Ich kann’s gar nicht glauben! Du vielleicht?«

Grinsend schüttelte er den Kopf. Ihm war klar, dass er darauf nichts zu sagen brauchte, sie war einfach genauso glücklich wie er. Die Hintergrundgeräusche verrieten ihm, dass sie überdreht wie ein kleines Kind, dem man gerade lauter Süßigkeiten in die Hand gedrückt hatte, in der Wohnung umherhüpfte und -tanzte.

»Hat sie dir gesagt, wie viel genau sie dir zahlen?«

»Fünfunddreißigtausend.«

»Mamami eh! Wahnsinn! Jende, ich tanze. Ich mache Gymnastik!«

Sie hätte gern wenigstens noch zehn Minuten länger mit Jende telefoniert und die Freude mit ihm geteilt, aber sie musste schnell zu ihrem Chemiekurs. Auch nachdem sie aufgelegt hatte, grinste er weiter, amüsiert über ihre Freude, die gewaltiger schäumte als die Victoriafälle.

Dann rief er seinen Cousin Winston an.

»Hey Mann, Glückwunsch«, sagte Winston. »Wunder ergeben sich immer wieder.«

»Du sagst es«, entgegnete Jende.

»Du, der Busch-Junge aus New Town, Limbe, chauffierst also demnächst einen Wall-Street-Hai durch die Gegend, was? Und tauschst diesen chakara Hyundai gegen einen glänzenden Lexus?«

Jende lachte.

»Wie soll ich dir danken, Mann?«, sagte er. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen –«

Plötzlich redete auch die Frau auf der Rückbank.

»Warte mal, Bo«, sagte Jende zu Winston. Er drehte sich um und merkte, dass auch sie telefonierte und sich, während er Pidginenglisch durchsetzt mit Französisch und Kpe sprach, in einer Sprache unterhielt, die er noch nie gehört hatte. Keiner verstand den anderen; durch Zufall sorgten beide in einem Livery Cab in New York für ein fast schon babylonisches Sprachgewirr.

»Was hast du denen erzählt?«, fragte er Winston. »Der Mann hat was von ›ausdrücklich empfohlen‹ gesagt.«

»Nichts«, sagte Winston. »Ich hab Frank gegenüber nur erwähnt, dass du manchmal eine Limo fährst und Chauffeur für eine Familie in New Jersey warst.«

»Was?«

»Wer nicht lügt, stirbt auch«, sagte Winston und lachte sich kaputt. »Glaubst du, man bekommt als Schwarzer in diesem Land einen guten Job, indem man sich vor einen Weißen setzt und die Wahrheit sagt? Mach dich nicht lächerlich. Ich wollte nur nicht, dass du noch aufgeregter bist, darum hab ich nichts gesagt.«

»Bo, echt jetzt? Aber nichts von dem stand im Lebenslauf! Wieso hat er nichts –?«

»Du und deine Ängste. Mr Edwards ist ein viel beschäftigter Mann. Mir war klar, dass er nicht da rumsitzt und dir lauter Fragen stellt. Frank ist sein bester Freund. – Was? Freust du dich nicht, dass ich ihm das gesagt hab?«

»Freuen?«, schrie Jende fast in den Hörer, schüttelte sich und warf den Kopf in den Nacken. »Ich möchte sofort aus dem Wagen springen und dir die Füße küssen!«

»Lass mal, Mann«, sagte Winston. »Ich frag die heißen ngahs, an denen ich grad dran bin, ob sie das übernehmen.«

»Mach das!«, sagte Jende, wobei sich seine Stimme fast überschlug. »Ich werd jetzt nicht neidisch, Neni bringt mich um.«

Winston lachte so sehr, dass er grunzte. »Die eine Nacht neulich, Bo, ich sage dir –«

»Aber was machen wir wegen der Überprüfungssache?«, fragte Jende. »Die Sekretärin hat gesagt, dass ich was abgeben muss, die Ref…, ähm … Refer…, Referenzien?«

»Kein Problem. Wenn ich das nächste Mal vorbeikomme, füllen wir die Formulare zusammen aus. Für die Referenzen hab ich schon ein paar Leute.«

»Ich schulde dir was, Bo. Oh, Mann … Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll.«

»Hör einfach auf mit diesem Danke-Kram, okay?«, sagte Winston fast beleidigt. »Du bist mein Bruder. Für wen, wenn nicht für dich? Sag Neni, ich wünsch mir ihre Spezial-Pfeffersuppe mit Rinderhufen und Hühnermagen. Damit bin ich voll zufrieden. Ich komme morgen Abend vorbei.«

»Das brauchst du nicht extra sagen. Wenn du morgen kommst, ist der Tisch gedeckt, und dazu gibt’s eiskalten Palmwein und soya.«

Winston gratulierte ihm noch mal, musste sich dann aber wieder dem Fall zuwenden, an dem er gerade arbeitete. Mit einem Lächeln im Gesicht fuhr Jende weiter in der Bronx umher, sammelte Fahrgäste ein und setzte sie wieder ab, dazu lief Lite FM. Sein Handy piepte, er sah nach, eine SMS: Jetzt nur die Papiere, schrieb Neni, und wir haben alles!

Recht hat sie, dachte er. Jetzt ein guter Job. Dann die Papiere. Wie sich das erst anfühlen musste!

Er seufzte.

Drei Jahre: So lange kämpfte er in Amerika schon um Papiere. Nach knapp vier Wochen im Land hatte Winston ihn zu einem auf Einwanderungsrecht spezialisierten Anwalt geschleppt, schließlich mussten sie eine Möglichkeit finden, wie er nach Ablauf seines Besuchervisums dauerhaft im Land bleiben konnte. Denn genau das war von Anfang an ihr Plan gewesen, auch wenn Jende es bei der Beantragung seines Besuchervisums auf der US-amerikanischen Botschaft in Yaoundé anders dargestellt hatte.

»Wie lange haben Sie vor, in New York zu bleiben?«, hatte man ihn auf dem Konsulat gefragt.

»Nur drei Monate, Sir«, hatte er geantwortet. »Nur drei Monate, danach komme ich auf jeden Fall zurück.«

Um dieser Behauptung mehr Gewicht zu verleihen, hatte er Beweismittel mitgebracht: ein Schreiben seines Vorgesetzten, das ihn als zuverlässigen Angestellten auswies, der seiner Arbeit so wahnsinnig gern nachging, dass er sie niemals aufgeben würde, um planlos in Amerika herumzusitzen; die Geburtsurkunde seines Sohnes, die belegen sollte, dass er niemals in Amerika bleiben und sein Kind zurücklassen würde; den Grundbucheintrag für ein von seinem Vater auf ihn überschriebenes Stück Land, um zu belegen, dass er vorhatte, nach seiner Rückkehr dort ein Haus zu bauen; ein Schreiben vom Bauamt der Stadt, das seinen Baugenehmigungsantrag bestätigte, für das er einen dort angestellten Onkel (dritten Grades) bezahlt hatte; und den Brief eines Freundes, der darin unter Eid schwor, Jende würde niemals in Amerika bleiben, da sie vorhätten, nach seiner Rückkehr gemeinsam einen Drinking Spot zu eröffnen.

Das hatte den Beamten überzeugt.

Am Tag darauf war Jende mit seinem Visum aus dem Konsulat spaziert. Er ging nach Amerika! Er, Jende Dikaki Jonga, Sohn von Ikola Jonga, Enkel von Dikaki Manyaka ma Jonga, ging nach Amerika! Leichten Schrittes stürmte er aus der Botschaft hinaus auf die staubigen Straßen von Yaoundé, ballte die Faust zu einer Siegesgeste und hatte ein so breites Grinsen auf dem Gesicht, dass eine Ewondo-Frau mit einem Korb voller Kochbananen auf dem Kopf mitten auf der Straße stehen blieb und ihn anstarrte. Quel est son problème?, hörte er sie zu einer Freundin sagen. Er lachte. Er hatte kein Problem. In einem Monat würde er Kamerun verlassen! Und zwar ganz sicher nicht, um drei Monate später zurückzukehren. Wer ging schon nach Amerika, um nach lächerlichen drei Monaten nach Kamerun zurückzukehren, wo einen dann eine Zukunft aus Nichts erwartete? Junge Männer wie er ganz sicher nicht und auch sonst keiner, dem in seinem eigenen Land nur ein Leben in Armut und Verzweiflung bevorstand. Nein, Leute wie er gingen nicht als Touristen in die USA. Sie reisten ein und blieben, bis sie als Eroberer nach Hause zurückkehren konnten – als Besitzer einer Greencard oder eines amerikanischen Passes, mit Taschen voller Dollars und Fotos von einem glücklichen Leben. Und darum war Jende an dem Tag, an dem er für einen Air-France-Flug von Douala nach Newark mit Zwischenhalt in Paris eincheckte, sicher, dass er erst nach Kamerun zurückkehren würde, wenn er seinen Teil von der Milch und dem Honig und der Freiheit abbekommen hatte, die in Amerika, dem Paradies für Selfmademen, flossen.

»Asyl ist die beste Möglichkeit, papier zu bekommen und im Land zu bleiben«, hatte Winston zu Jende gesagt, als dieser seinen Jetlag überwunden hatte und den halben Tag lang Bauklötze staunend über den Times Square gelaufen war. »Entweder das, oder du heiratest eine zahnlose weiße Alte in Mississippi.«

»Bitte, Gott, beschütze mich vor bösen Dingen«, hatte Jende erwidert. »Lieber trinke ich eine Flasche Kerosin und falle gleich tot um.« Ein Asylantrag war der einzige Weg für ihn. Winston bestärkte ihn darin. Es könnte Jahre dauern, aber das war es wert.

Winston besorgte ihm einen Anwalt, einen schnell sprechenden Nigerianer aus Flatbush, Brooklyn, der Bubakar hieß und mit seinem Redetempo wettmachte, was ihm an Körpergröße fehlte. Bubakar, hatte man Winston gesagt, sei nicht nur ein hervorragender, auf Einwanderungsrecht spezialisierter Anwalt mit zahlreichen afrikanischen Mandanten in allen Teilen des Landes, sondern auch ein Experte darin, jeden Mandanten mit der passenden und ihm Asyl garantierenden Verfolgungsgeschichte auszustatten.

»Was glaubt ihr, was die ganzen anderen Leute machen, deren Asylanträge durchkommen?«, fragte er die Cousins, als sie sich zu einem ersten kostenlosen Beratungsgespräch mit ihm trafen. »Glaubt ihr, die sind wirklich alle auf der Flucht? Ach kommt schon! Ich sag euch was: Ich hab erst letzten Monat Asyl für die Tochter des Premierministers von irgendeinem Land in Ostafrika durchgeboxt.«

»Ach ja?«, fragte Winston.

»Ja!«, sagte Bubakar knurrend. »Was soll das heißen, ›ach ja‹?«

»Bin nur überrascht. Von welchem Land?«

»Das sag ich besser nicht, okay? Es ist auch nicht weiter wichtig. Ich wollte damit nur sagen, dass der Vater des Mädchens Premierminister ist, ja? Sie hat drei Leute, die ihr den Arsch abwischen, und noch drei weitere, die ihr die Popel aus der Nase pulen. Und sie stellt sich hierhin und behauptet, sie hat bei sich zu Hause Angst um ihr Leben«, sagte er spöttisch. »Jeder von uns tut, was er tun muss, um Amerikaner zu werden, abi?«

Jende nickte.

Winston zuckte mit den Achseln. Ein Freund aus Atlanta hatte Bubakar empfohlen und in höchsten Tönen gelobt. Dieser Freund war überzeugt, es allein Bubakar zu verdanken, dass er noch in Amerika lebte, jetzt eine Greencard besaß und in zwei Jahren dazu berechtigt war, die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Trotzdem erkannte Jende an der Art, wie Winston sich das Kinn rieb, dass sein Cousin so seine Zweifel hatte, ob dieser kleine Mann mit den extralangen Nasenhaaren hier vor ihnen überhaupt Experte für irgendetwas sein konnte, geschweige denn auf dem so komplexen Rechtsgebiet der Asyl- und Einwanderungspolitik. Auf der Urkunde an der Wand stand zwar, er habe seinen Abschluss an irgendeiner juristischen Fakultät in Alabama gemacht, Bubakars manierierte Art jedoch war für Winston eher ein Zeichen dafür, dass dessen eigentliche Ausbildung aus Onlineforen stammte, von Seiten also, auf denen sich viele mit der Sehnsucht nach einem amerikanischen Pass tummelten und nach Möglichkeiten suchten, dem amerikanischen Einwanderungssystem ein Schnippchen zu schlagen.

»Brother«, sagte Bubakar zu Jende und schaute ihn in seinem supersauberen und makellos aufgeräumten Büro über den leeren Schreibtisch hinweg an, »warum erzählst du mir nicht einfach ein bisschen von dir, damit ich herausfinde, wie ich dir helfen kann?«

Jende setzte sich aufrecht hin, legte die Hände im Schoß zusammen und erzählte. Von seinem Vater, dem Bauern, seiner Mutter, der Marktfrau und Schweinezüchterin, seinen vier Brüdern und der ärmlich zusammengezimmerten Hütte mit den drei Zimmern, in der sie in New Town, Limbe, gewohnt hatten. Von seiner Schulzeit an der CBC Main School und der National Comprehensive Secondary School und wie er da dann hatte abbrechen müssen, nachdem er Neni geschwängert hatte.

»Was? Du hast mit der Schule aufgehört, weil du ein Mädchen geschwängert hast?«, fragte Bubakar und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier.

»Ja«, sagte Jende. »Ihr Vater hat mich ins Gefängnis stecken lassen.«

»Treffer! Das ist es!«, sagte Bubakar, schaute von seinem Notizblock auf und strahlte Jende aufgeregt an.

»Das ist was?«, fragte Winston.

»Seine Chance auf Asyl. Die Geschichte, die wir der Einwanderungsbehörde erzählen.«

Winston und Jende tauschten Blicke. Jende dachte, Bubakar werde schon wissen, wovon er rede; Winston sah man an, dass er dachte, Bubakar habe keine Ahnung, wovon er rede.

»Das ist doch nicht dein Ernst!«, sagte Winston. »Die Verhaftung war 1990, das ist vierzehn Jahre her. Wie willst du einem Richter weismachen, dass mein Cousin befürchten muss, in Kamerun verfolgt zu werden, weil er ein Mädchen geschwängert hat und dafür ins Gefängnis gewandert ist, obwohl das Jahre zurückliegt? Ganz davon abgesehen, dass es bei uns und vielleicht auch in deinem Land absolut kein Rechtsbruch ist, wenn ein Vater den jungen Mann verhaften lässt, der seiner Tochter die Zukunft verbaut hat.«

Bubakar sah Winston verächtlich an und verzog leicht den Mund.

»Mr Winston«, sagte er nach einer langen Pause, in der er sich etwas notiert und dann gewichtig den Stift auf seinen Block gelegt hatte.

»Ja?«

»Wir sind beide Anwälte, schon klar. Nur dass du denkst, mit deinem Wall-Street-Getue was Besseres zu sein.«

Winston sagte kein Wort.

»Aber eins versichre ich dir, mein Freund«, fuhr Bubakar fort, »wenn man dich vor einen Asylrichter stellt und du für Leute wie deinen Cousin kämpfen musst, hast du keinen blassen Schimmer, klar? Also warum lässt du mich hier nicht meine Arbeit machen, und sollte ich je einen Anwalt brauchen, der mir Tipps gibt, wie ich den Staat austricksen und Steuern hinterziehen kann, lass ich dich deine Arbeit machen.«

»Meine Arbeit besteht nicht darin, Leute mit Tipps zu versorgen, wie sie den Staat austricksen und Steuern hinterziehen können«, erwiderte Winston in ruhigem Ton, obwohl Jende an seinem starren Blick ablas, dass er Bubakar nur zu gern über den Tisch gezogen und ihm alle Zähne ausgeschlagen hätte.

»Ach, nicht?«, sagte Bubakar spöttisch. »Was machst du dann an der Wall Street?«

Winston höhnte. Jende sagte nichts, er war genauso verärgert wie sein Cousin.

Vielleicht aus Angst, zu weit gegangen zu sein, versuchte Bubakar, sich mit weiteren Kommentaren zurückzuhalten und die Cousins zu besänftigen.

»Brothers, kein Stress«, sagte er und sprach auf einmal in einem Mix aus kamerunischem und nigerianischem Pidginenglisch. »Schlecht jetzt für Stress. Gibt viel Arbeit, abi? Jetzt keine Zeit wegzuschenken. Korrekt so?«

»Korrekt«, sagte Winston. »Kümmern wir uns lieber ums Wesentliche.«

Jende seufzte und wartete, dass das Gespräch wieder auf seinen Asylantrag zurückkam.

»Nur das noch, damit du Bescheid weißt«, fügte Winston an, »zu meiner Arbeit als Wirtschaftsanwalt gehören weder Lügen noch Manipulation.«

»Na klar doch!«, sagte Bubakar. »Tut mir leid, Brother. Muss ich mit einer anderen Art von Anwalt verwechselt haben.«

Die beiden Männer lachten.

»Was ist aus dem Mädchen geworden, das du geschwängert hast?«, fragte Bubakar und wandte sich jetzt an Jende.

»Sie ist in Limbe.«

»Und das Kind, das sie von dir bekommen hat?«

»Die Kleine ist gestorben.«

»Das tut mir leid, Brother, sehr leid.«

Jende mied seinen Blick. Er brauchte kein Mitgefühl. Und er brauchte ganz sicher keine vierzehn Jahre zu spät kommenden Beileidsbekundungen.

»Bist du vor oder nach ihrem Tod ins Gefängnis gewandert?«

»Noch vor der Geburt, als ihre Eltern herausgefunden haben, dass ich sie geschwängert habe.«

»So läuft das meistens«, sagte Winston. »Die Eltern rufen die Polizei, der Freund wird verhaftet.«

Bubakar nickte und unterstrich eins der Wörter auf seinem Notizblock gleich doppelt.

»Ich war vier Monate im Gefängnis. Als ich rauskam, war das Baby einen Monat alt. Drei Monate später ist es an Gelbfieber gestorben.«

»Tut mir echt leid, Brother«, sagte Bubakar erneut. »Aufrichtig leid.«

Jende nahm ein Glas Wasser vom Tisch, trank einen Schluck und räusperte sich.

»Aber ich hab noch ein anderes Kind in Kamerun«, sagte er. »Einen Sohn, er ist drei.«

»Mit der Frau, mit der du auch das Mädchen hattest?«, fragte Bubakar.

»Ja«, antwortete Jende. »Sie ist die Mutter. Wir sind noch zusammen. Wir wären auch verheiratet und eine kleine Familie, wenn ihr Vater der Heirat zustimmen würde.«

»Und warum ist er gegen die Heirat?«

»Er sagt, er braucht Zeit, um drüber nachzudenken, will es aber deshalb nicht, weil ich arm bin, das weiß ich.«

»Typischer Fall von falscher Klassenzugehörigkeit«, warf Winston ein. »Jende kommt aus einer armen Familie. Die Familie der jungen Dame hat etwas mehr Geld.«

»Aber vielleicht hat der Vater der jungen Lady nicht verkraftet, was passiert ist?«, sagte Bubakar. »Ich meine, wenn man als Vater sieht, wie die eigene Tochter schwanger wird, von der Schule runtermuss und das Kind dann verliert, ist das schon echt hart, abi? Ich würde den Typen auch nicht mögen, der meiner Tochter so was angetan hat, egal, ob er aus einer reichen oder einer armen Familie kommt.«

Beide Cousins schwiegen.

»Aber der genaue Grund ist nicht wirklich wichtig«, sagte Bubakar dann. »Ich glaube, die Geschichte ist die beste Chance, dein Asyl durchzubekommen. Als Verfolgungsgrund machen wir die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geltend. Drum herum spinnen wir, dass du Angst hast, nach Hause zurückzugehen, weil du Angst haben musst, dass dich die Familie deiner Freundin umbringt, damit ihr zwei nicht heiratet.«

»So was passiert vielleicht in Indien«, sagte Winston, »aber nicht in Kamerun.«

»Willst du vielleicht sagen, Kamerun ist besser als Indien?«, entgegnete Bubakar.

»Nein, ich will sagen, Kamerun ist nicht Indien.«

»Das überlass mal mir, Brother.«

Winston seufzte.

»Wann können wir den Antrag abschicken?«, fragte Jende.

»Sobald du mich mit den ganzen Beweisen versorgt hast.«

»Beweise? Was zum Beispiel?«

»Was? Na zum Beispiel dein Haftstrafenregister. Die Geburtsurkunden von den Kindern. Und zwar von beiden. Die Sterbeurkunde der Kleinen. Briefe. Viele Briefe. Von Leuten, die bezeugen können, dass der Alte gesagt hat, wenn er dich wiedersieht, bringt er dich um. Leute, die gehört haben, dass seine Brüder, Cousins und irgendwelche anderen Verwandten gesagt haben, dass sie dich fertigmachen wollen. Außerdem Fotos. Im Grunde alles, was wir von dir, dem Mädchen und ihrem Vater kriegen können. Kannst du mir das besorgen?«

»Ich versuch’s«, sagte Jende zögernd. »Aber was, wenn ich nicht genug Beweise auftreiben kann?«

Bubakar schaute ihn leicht belustigt an und schüttelte den Kopf.

»Ach komm schon, Brother«, sagte er, legte den Block und den Stift weg und beugte sich vor. »Muss ich dir das wirklich ausbuchstabieren? Benutz deinen Kopf und stell mir was zusammen, das ich den Leuten da vorlegen kann. Okay? Das ist wie bei dem Typen Jerry Maguire, der sagt ›Her mit der Kohle‹. Die Leute bei USCIS werden auch sagen, her mit den Beweisen. Weil die so ticken bei der Einwanderungsbehörde, die sagen: Her mit den Beweisen! Verstanden?«

Er lachte über seinen eigenen Witz. Winston schnaufte. Jende reagierte überhaupt nicht, er kannte keinen Jerry Maguire.

»Wir müssen denen auf jeden Fall ordentlich was vorlegen, verstehst du? Jede Menge Beweise, egal wie.«

»Wir tun unser Bestes«, sagte Winston.

Jende nickte, auch wenn ihm klar war, dass es schwer werden würde, die Art von Briefen zu beschaffen, die Bubakar wollte. Nenis Vater konnte ihn nicht leiden – das wusste er seit Jahren –, aber der Alte hatte nie gedroht, ihn umzubringen. Also gab es in Limbe auch keine Zeugen dafür. Einen Asylantrag zu stellen, war die beste Chance, im Land bleiben zu können. Er musste sich mit Winston besprechen und herausfinden, was sie tun konnten; Winston würde sicher etwas einfallen.

»Und du bist überzeugt, dass das klappt?«, fragte Winston.

»Ich liefere ihnen überzeugende Argumente«, sagte Bubakar. »Und dann bekommt dein Cousin hoffentlich seine Papiere.«

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4.

Sie wollte alles über seinen ersten Arbeitstag wissen, vorher war an Schlaf nicht zu denken. Als sie ihn um die Mittagszeit angerufen hatte, um zu hören, wie sein Tag bislang gelaufen war, hatte er nur kurz gesagt, es würde gut laufen, er könnte jetzt nicht reden, aber es wäre alles in Ordnung. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als zu warten, und jetzt, kurz vor Mitternacht, hörte sie ihn endlich an der Tür, ganz aus der Puste von den fünf Stockwerken hinauf zu ihrer Wohnung.

»Und?«, fragte sie und grinste, als er sich auf das abgewetzte Wohnzimmersofa setzte.

»Keine Probleme«, sagte er lächelnd. »Es lief gut.«

Sie holte ihm ein Glas kaltes Wasser aus der Küche und half ihm aus der Jacke, und nachdem er sich für einen kurzen Moment auf dem Sofa ausgeruht hatte, den Kopf zurückgelegt, stellte sie ihm das Abendessen hin und rückte ihm den Stuhl zurecht, damit er es sich am Esstisch bequem machen konnte.

Dann stellte sie eine Frage nach der anderen. Was genau hatte er für die Familie gemacht? Wo hatte er sie hingefahren? Wie sah die Wohnung von den Edwards aus? War Mrs Edwards nett? War ihr Sohn gut erzogen? Kam er jetzt jeden Abend so spät nach Hause?

Er war müde, aber sie ließ nicht locker und überschüttete ihn mit Fragen wie mit Konfetti. Sie wollte unbedingt wissen, wie reiche Leute lebten. Wie sie sich gaben. Wie sie redeten. Wenn sie jemanden anstellen konnten, der sie umherfuhr, dann musste ihr Leben doch echt was hermachen, oder?

»Bitte«, sagte sie. »Erzähl.«

Also erzählte er ihr in den Pausen zwischen den gierigen Bissen, so viel er konnte. Die Wohnung der Edwards war groß und schön; Millionen Dollar schöner als ihre dunkle Zweizimmerwohnung. Vom Wohnzimmerfenster hatte man einen Blick auf die ganze Stadt – ihm war die Kinnlade runtergeklappt, als er das gesehen hatte.

»Chai!«, sagte sie. »Wie muss das sein, wenn man so eine Wohnung hat? Ich würde jeden Tag in die Luft springen und den Himmel berühren.«

Die Wohnung sah aus wie eine dieser Wohnungen von Reichen, die man aus dem Fernsehen kannte. Ganz in Weiß und Silber gehalten, und alles blitzte und blinkte. Er hatte nur wenige Minuten dort verbracht und auf Mighty gewartet, den er zur Schule fahren sollte, nachdem er Mr Edwards zur Arbeit gebracht hatte. Mrs Edwards hatte ihn hinaufgebeten, weil der neunjährige Mighty ihm richtig vorgestellt werden wollte, bevor er von ihm chauffiert wurde.

»Ein lieber Junge, dieser Mighty, und gut erzogen«, sagte er.

»Schön zu hören«, sagte sie. »Ein reiches Kind und gut erzogen.«

Sie wollte fragen, ob Mighty so gut erzogen war wie ihr Liomi, fragte aber nicht; sie hielt es für besser, den Rat, den ihre Mutter ihr vor Jahren gegeben hatte, zu befolgen und ihr Kind nicht mit anderen Kindern zu vergleichen.

»Haben sie nur das eine Kind?«, fragte sie stattdessen.

Er schüttelte den Kopf. »Mighty hat mir von einem großen Bruder erzählt. Er wohnt in Uptown, da haben sie noch eine Wohnung. Er studiert Jura an der Columbia University.«

»Fährst du ihn auch überallhin?«

»Keine Ahnung, vielleicht. Es ist kein Problem, wenn ich ihn auch fahren soll, aber Mighty klang so, als ob der Bruder nicht oft vorbeikommt und Mrs Edwards darum unglücklich ist. Ich hab nicht nachgefragt.«

Sie goss ihm Wasser nach und ließ ihn ein paar Minuten in Ruhe essen, bevor sie mit ihrem Fragenkatalog fortfuhr.

»Und wie sieht Mrs Edwards aus?«, fragte sie als Nächstes.

»Gut«, antwortete er, »so, wie die Frau von einem reichen Mann aussehen sollte. Winston hat gesagt, sie ist eine von diesen Essensleuten –«

»Was für Essensleute –?«

»Leute, die anderen Leuten beibringen, was man isst … damit sie so aussehen wie sie.« Er nahm sich die Dose Mountain Dew, die sie auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie und nahm einen großen Schluck. »In diesem Land überlegen die Leute die ganze Zeit, was sie essen sollen, und sie bezahlen anderen Leuten viel Geld, damit sie ihnen sagen: Das kannst du essen, das kannst du nicht essen. Wenn man nicht weiß, was man essen soll, was weiß man dann im Leben?«

»Das heißt, sie ist dünn und sieht sehr gut aus.«

Er nickte abwesend; von dem Extra-Pfeffer, den sie an das Hühnchen und die Tomatensoße gegeben hatte, lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Er ignorierte sein Schwitzen und nahm sich ein Hühnerbein, riss das Fleisch mit den Schneidezähnen ab und zutschte den Saft aus dem Knochen.

»Aber wie sieht sie aus?«, hakte sie nach. »Komm, bébé, Details, bitte.«

Er seufzte und sagte, so genau wüsste er das gar nicht mehr. Nur dass sie ihn im ersten Moment irgendwie an die Ehefrau in American Beauty erinnert hätte, einem Film, den sie beide klasse fanden und sich immer anschauten, wenn sie sich in Erinnerung rufen wollten, dass das Leben in amerikanischen Vorstädten ganz schön eigenartig sein konnte und es vielleicht das Beste war, wenn man in friedlichen amerikanischen Großstädten wie New York lebte.

»Wie heißt die Frau in echt?«, fragte er mit vollem Mund, während an seinen glitschigen Fingern die Tomatensoße hinablief. »Du merkst dir so was immer.«

»Annette Bening?«

»Ja, genau. So sieht sie aus.«

»Dieselbe Augenfarbe und alles? Sie muss toll aussehen, was?«

Er hatte nicht drauf geachtet, ob Cindy Edwards dieselbe Augenfarbe hatte wie Annette Bening.

»Man kann gar nicht wissen, was ihre echte Augenfarbe ist«, sagte sie. »Manche haben bunte Kontaktlinsen, sie können die Augenfarbe ändern, wie es ihnen gefällt. Eine Frau wie Mrs Edwards kommt aus einer reichen Familie, ganz sicher, die hatte solche Kontaktlinsen schon als Kind.«

»Weiß nicht …«

»Reicher Vater, reiche Mutter, reicher Ehemann. Die hat sich noch nie Sorgen wegen Geld gemacht.«

Er leckte sich über die Lippen, brach ein Stück Kochbanane auseinander, tunkte es in die Schüssel mit Tomatensoße und schob es sich gierig in den Mund.

Sie beobachtete ihn, belustigt über das Tempo, in dem er das Essen hinunterschlang.

»Und dann, nachdem du Mighty zur Schule gebracht hast?«, fragte sie.

Danach war er zurück zur Wohnung gefahren und hatte Mrs Edwards abgeholt, sie zu ihrem Büro gebracht und dann zu einem Termin in Battery Park City und einem anderen in Soho, hatte sie dann wieder zu Hause abgesetzt und Mighty von der Schule abgeholt und ihn und seine Babysitterin zu einem Gebäude auf der Upper West Side gefahren, wo er Klavierunterricht bekam. Danach hatte er Mr Edwards von seinem Büro zu einem Steakhouse in Long Island gefahren und gegen zehn zurück in die Stadt. Er hatte den Wagen zum Schluss wieder vollgetankt, in der Garage geparkt und den Crosstownbus von der East Side zur West Side genommen. Dann war er im Norden von Manhattan in die U-Bahn-Linie 3 Richtung Harlem gesprungen.

»Weh!«, platzte es aus ihr heraus. »Ist das nicht sehr viel Arbeit für einen Tag?«

Vielleicht, aber war das bei dem Geld, das sie ihm zahlten, nicht auch zu erwarten? Noch vor zwei Wochen hatte er nur die Hälfte von dem verdient, was Mr Edwards ihm zahlte, und da war er auch zwölf Stunden am Tag in einem Livery Cab umhergefahren.

Sie nickte und sagte: »Wir haben großes Glück.«

Er nahm das Glas Wasser und trank einen Schluck.

»Ich habe mal deine fünfunddreißigtausend und meine zehntausend zusammengenommen und alles durchgerechnet«, sagte sie und schenkte ihm nach. »Wenn wir die Steuern und meine Studiengebühren, die Miete und alles andere bezahlt und auch noch Geld nach Hause geschickt haben, können wir jeden Monat immer noch dreihundert oder vierhundert sparen.«

»Vierhundert Dollar im Monat!«

»So können wir fünftausend im Jahr sparen, bébé, wenn wir unser Bestes geben. Zehn Jahre und wir haben genug Geld für eine Dreizimmerwohnung in Mount Vernon oder Yonkers.« Sie beugte sich noch weiter zu ihm vor. »Oder sogar in New Rochelle.«

Er schüttelte den Kopf.

»Irgendwann müssen wir mehr Miete zahlen«, sagte er. »Was glaubst du, wie lange es dauert, bis die Behörden herausfinden, dass Mr Charles einen Hummer fährt, aber eine Sozialwohnung beantragt hat? Wenn die merken, dass wir ihn bezahlen, um hier zu wohnen, schmeißen die uns raus –«

»Ja und?«

»Ja und? Irgendwann müssen wir mehr als fünfhundert für Miete ausgeben. Und dann sind fünfundvierzigtausend für ein Leben in Harlem gar nichts.«

Sie zuckte mit den Achseln: Es war typisch für ihn, immer vom Schlimmsten auszugehen.

»Irgendwann ist nicht heute«, erwiderte sie. »Bis sie es rausfinden, haben wir ein hübsches Geld gespart. Und ich bin Apothekerin.« Sie lächelte, und ihre Augen verengten sich, als würde sie von diesem Tag träumen. »Irgendwann haben wir eine eigene Wohnung mit drei Zimmern. Du verdienst als Chauffeur mehr Geld. Und ich bekomme als Apothekerin ein gutes Gehalt. Dann wohnen wir nicht mehr in der Höhle hier mit lauter Kakerlaken.«

Er schaute sie an und lächelte, und sie stellte sich vor, dass auch er fest daran glaubte, dass sie eines Tages Apothekerin werden würde. Wahrscheinlich erst in fünf Jahren; oder in sieben, aber irgendwann eben doch.

Sie schaute zu, wie er alles aufaß, sich das letzte Stück Kochbanane nahm, damit die Schüssel mit Tomatensoße auswischte und es sich zusammen mit dem letzten Happen Hühnchen in den Mund stopfte. Und während sie ihn liebevoll beobachtete, musste sie kichern, als er die Dose Mountain Dew austrank und laut rülpste. »Du bist wie ein Supertanker«, sagte sie zu ihm und knuffte ihn in die Seite.

Auch er gluckste erschöpft. Ihm war anzusehen, wie zufrieden er trotz seiner Müdigkeit war. Nichts stimmte ihn so zufrieden wie ein leckeres Abendessen nach einem langen Arbeitstag. Und nichts stimmte sie zufriedener als das Wissen, ihn zufrieden gemacht zu haben.

Nach einer langen Pause, in der er sich zurückgelehnt und sanft lächelnd die Wand angestarrt hatte, wusch er sich in der von Neni auf den Tisch gestellten Wasserschüssel die Hände und stand auf. »Liegt Liomi in seinem Bett oder bei uns?«, fragte er leise vom Flur aus.

»In seinem«, sagte sie grinsend und wusste, wie sehr er sich freute, dass sie das Bett zur Feier des Tages für sich hatten. Sie schnappte sich das dreckige Geschirr und trug es zur Spüle. E weni Lowa la manyaka, sang sie leise beim Abwasch, wiegte die Hüften dazu und lächelte. E weni Lowa la manyaka, Lowa la nginya, Na weta miseli, E weni Lowa la manyaka.

In letzter Zeit sang sie so viel wie noch nie in ihrem Leben. Sie sang, wenn sie Jendes Hemden bügelte, aber auch, wenn sie Liomi zur Schule gebracht hatte und auf dem Weg zurück nach Hause war. Sie sang, wenn sie sich die Augen schminkte, weil sie mit Jende und Liomi zu einem afrikanischen Fest ging: mal zu einer Taufe in Brooklyn, mal zu einer traditionellen Hochzeit in der Bronx, mal zu einem Fest in Yonkers, um einen in Afrika Verstorbenen zu verabschieden, den so gut wie keiner der anwesenden Gäste gekannt hatte; zu allen möglichen Festen, zu denen sie von Freundinnen aus ihren Kursen oder von der Arbeit eingeladen wurde, von irgendjemandem, der den Gastgeber kannte und Neni versicherte, dass es okay war, wenn sie kam, weil Afrikaner nicht viel von feinen weißen Sitten hielten, beispielsweise davon, nur mit einer Einladung auftauchen zu dürfen. Sie sang auf dem Weg zur U-Bahn, sang sogar, wenn sie bei Pathmark einkaufte, völlig unbeeindruckt von den Blicken anderer, die nicht verstanden, wie man beim Einkaufen von Lebensmitteln so glücklich sein konnte. God na helele, God na waya oh, God na helele, God na waya oh, nobody dey like am oh, nobody dey like am, heyo, wayo God na helele.

Als der Abwasch gemacht war, schnappte sie sich das Jackett von Jendes neuem schwarzen Anzug, den sie für einhundertfünfundzwanzig Dollar, rund ein Drittel ihres Ersparten, bei TJ Maxx gekauft hatte. Sie bürstete das Jackett ab, parfümierte es und legte es für den nächsten Tag aufs Sofa. Sie betrachtete das Jackett und strahlte, froh, es gekauft zu haben. Ursprünglich hatte sie in einem Discount-Warenhaus auf der 125. Straße einen billigeren Anzug kaufen wollen, aber Fatou hatte ihr davon abgeraten. Warum gibst du wenig Geld für Anzug, wenn er Mann mit viel Geld fährt, hatte sie gefragt. Kaufst du gut wie bei TJ Maxx, hast du besser davon. Kauf Anzug mit Schick, wenn er Mann mit Schick fährt. Und wenn Jende bald auch reich gehört, machst du Einkauf in Laden mit Schick. Dann machst du Einkauf für ihn und dich immer in Laden mit mehr Schick-Schick. Dann gehst du in Laden für weiße Leute mit Schick dabei wie Target.

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5.

Cindy Edwards hatte ihn ausnahmslos freundlich behandelt (hatte jedes Mal umgehend auf seine Begrüßung geantwortet, wenn er ihr die Wagentür aufhielt, hatte ihn, wenn auch desinteressiert, gefragt, wie sein Tag war, hatte immer Bitte und Danke gesagt, wenn es sich gehörte), und trotzdem verkrampfte er jedes Mal, wenn sie im Wagen saß. Ging sein Atem zu laut? Fuhr er zu schnell oder zu langsam? Hatte er die Rückbank auch wirklich von jeglichem Staub befreit, der sonst ihren Hosenanzug beschmutzen würde? Er wusste, dass sie eine übertrieben pingelige Frau mit dem Instinkt eines Spürhundes hätte sein müssen, um solche winzigen Fehlleistungen überhaupt zu bemerken, aber darauf konnte er sich nicht ausruhen – er hatte den Job noch nicht lange, also musste alles perfekt sein. An den meisten Tagen telefonierte sie zum Glück, so wie an jenem Dienstag, zwei Wochen nachdem er seinen Job als Chauffeur für sie und ihre Familie angetreten hatte. An diesem Nachmittag hatte er sie von einem Restaurant in der Nähe des Union Square abgeholt, und kaum war sie eingestiegen, hatte sie ihr Handy gezückt. »Vince kommt nicht nach Aspen«, sagte sie langsam und traurig, fast wie unter Schock, als würde sie eine unfassbar tragische Schlagzeile aus der Zeitung vorlesen.

Nur zwei Stunden zuvor war eine sehr viel glücklichere Cindy aus dem Wagen gestiegen, und Jende war klar gewesen, dass der junge Mann, den sie vor dem Restaurant getroffen hatte, ihr Sohn Vince sein musste – er war das Ebenbild seines Vaters, war wie er schlank, 1,80 Meter groß und hatte leicht gewelltes Haar. Cindy war aus dem Wagen gesprungen und auf ihn zugestürmt, um ihn zu umarmen, ihm über die Wange zu streicheln und ihm drei Küsschen zu geben. Es wirkte, als hätte sie ihn monatelang nicht gesehen, was gut möglich war nach allem, was Mighty ihm erzählt hatte. Minutenlang hatten sie einfach auf dem Bürgersteig gestanden und geredet, Vince hatte die Hände aneinandergerieben und sie immer wieder in die Bauchtasche seines blauen Kapuzenpullis mit dem Columbia-Logo gesteckt und dann wieder herausgeholt, Cindy hatte in Richtung Union Square Park gezeigt und heftig gestrahlt, so als würde sie Vince an einen besonderen gemeinsamen Augenblick dort erinnern.

»Ich habe gerade mit ihm zu Mittag gegessen«, sagte sie jetzt. »Er hat nicht gesagt, warum … Nein, er hat gesagt, er kommt auf keinen Fall … Ich habe gesagt, dass er gesagt hat, dass er nicht kommt! … Er fliegt zu irgendeinem Schweigeseminar nach Costa Rica, angeblich muss sein Geist ganz dringend weg von dem vielen Lärm … Was heißt hier, das ist okay? Clark, bitte sag nicht, es ist okay. Dein Sohn beschließt, die Weihnachtsfeiertage nicht mit seiner Familie verbringen zu wollen, und du sagst, das ist in Ordnung? … Nein, ich erwarte überhaupt nichts Bestimmtes von dir. Ich weiß, dass du nichts tun kannst … Ich weiß, dass ich nichts tun kann, aber macht es dir denn gar nichts aus? Ist dir sein fehlender Familiensinn völlig egal? Er kommt nicht zu Mightys Geburtstag, und wenn er beschließt, über Weihnachten wegzufliegen, fragt er mich vorher nicht einmal … Ich plane nicht noch mal alles um … Klar, vielleicht ist es das Beste so. Jetzt kannst du am Abend vor Weihnachten arbeiten und am Weihnachtstag auch, ach weißt du, warum arbeitest du nicht einfach gleich durch bis ins neue Jahr? … Nein, das ist überhaupt nicht lächerlich, und das weißt du genau! … Wenn es dich interessieren würde, Clark, dich nur etwas mehr interessieren würde, wie es den Jungs geht und ob sie wirklich glücklich sind … Du sollst überhaupt nichts anders machen, du bist doch sowieso nicht in der Lage, mal den Blick von deinem Nabel zu lösen und die Bedürfnisse von anderen über deine eigenen zu stellen … Ja, natürlich, aber irgendwann musst du doch einsehen, dass du nicht einfach so weitermachen kannst wie bisher und immer nur hoffen, dass es den Kindern schon irgendwie gut geht. So funktioniert das nicht … So wird das nie was.«

Jende hörte, wie sie das Handy neben sich auf die Rückbank warf, und dann war ihr Atem eine Weile das einzige Geräusch im Wagen.

»Kommst du zu Mightys Aufführung?«, fragte sie, nachdem sie das Handy wieder in die Hand genommen und ihren Mann offenbar erneut angerufen hatte. »Ja, bitte ruf mich gleich zurück … Ich muss es so bald wie möglich wissen.«