Das Glück in den Wäldern - Patricia Koelle - E-Book
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Das Glück in den Wäldern E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

Manchmal führt der Weg zum Glück durch einen geheimnisvollen Wald – der zweite Band der Sehnsuchtswald-Reihe von Bestseller-Autorin Patricia Koelle  Franzi hat sich mit ihrem Partner Matteo den Traum vom eigenen Café an der Ostsee verwirklicht. Als sie schwanger wird, möchte sie sich endlich ihrer Vergangenheit stellen und mehr über ihren verstorbenen Vater erfahren. Gemeinsam mit ihrer Schwester Luna begibt sie sich auf eine Spurensuche, die sie schließlich in den Gespensterwald Nienhagen führt. Können die beiden Schwestern herausfinden, was der Vater ihnen wirklich hinterlassen hat, und so auch ihr Glück finden? Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großer Lesegenuss. Weitere Bücher der Autorin: Die Sehnsuchtswald-Reihe: ›Das Licht in den Bäumen‹, ›Das Glück in den Wäldern‹, ›Das Leuchten der Blätter‹, ›Der Klang des Windes‹ Die Inselgärten-Reihe: ›Die Zeit der Glühwürmchen‹, ›Das Lächeln der Libellen‹, ›Die Träume der Bienen‹, ›Das Geheimnis der Grashüpfer‹, ›Die Hoffnung der Marienkäfer‹ Die Nordsee-Trilogie: ›Wenn die Wellen leuchten‹, ›Wo die Dünen schimmern‹, ›Was die Gezeiten flüstern‹ Die Ostsee-Trilogie: ›Das Meer in deinem Namen‹, ›Das Licht in deiner Stimme‹, ›Der Horizont in deinen Augen‹

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Seitenzahl: 573

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Patricia Koelle

Das Glück in den Wäldern

Ein Sehnsuchtswald-Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Franzi hat sich mit ihrem Partner Matteo den Traum vom eigenen Café an der Ostsee verwirklicht. Als sie schwanger wird, möchte sie sich endlich ihrer Vergangenheit stellen und mehr über ihren verstorbenen Vater erfahren. Gemeinsam mit ihrer Schwester Luna begibt sie sich auf eine Spurensuche, die sie schließlich in den Gespensterwald Nienhagen führt. Können die beiden Schwestern herausfinden, was der Vater ihnen wirklich hinterlassen hat, und so auch ihr Glück finden?

 

Der zweite Band der Sehnsuchtswald-Reihe von Bestseller-Autorin Patricia Koelle

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie sowie die Inselgärten-Reihe. ›Das Licht in den Bäumen‹ und ›Das Glück in den Wäldern‹ gehören zu ihrer Sehnsuchtswald-Reihe.

Für alle, die beim Gang durch einen Wald schon einmal ein unvermutetes Glücksgefühl gespürt haben oder denen dieses noch begegnen wird.

 

Und für die eigenwilligen Bäume im Gespensterwald von Nienhagen, die auf der Steilküste schutzlos allen Schwierigkeiten trotzen, unbeirrt dem Himmel zustreben und in dem salzigen Wind tanzen.

Franzi

Darß/Ostsee

März 2019

1

Alles war so voller Licht! Der weiche Dunst über den Wiesen und dem Bodden, die ersten zarten Blätter in den Birken am Waldrand – die Welt war nach der letzten verregneten grauen Zeit von einem Tag auf den anderen wie verzaubert. Immer mehr Krokusse öffneten sich unter dem Sanddornbusch, an dem bunte Tassen leise im Wind schaukelten. Versonnen stupste Franzi einen hellgrünen Henkelbecher mit Vergissmeinnichtmuster an, um ihn noch mehr in Bewegung zu bringen.

Frühlingsfarben! Sie hatte sich so danach gesehnt, und nun wurden sie um sie herum wieder Wirklichkeit. Der Wind hatte endlich gedreht. Statt des kalten, scharfen Nordwinds der letzten Wochen kam er nun aus dem Süden. Sanft und lau strich er um die Hausecken und trug vom Meer her durch den Wald einen Duft nach Wärme, Neuanfang und Blüten bis in den Garten. Und jetzt hatte sie sogar ein kleines Wunder entdeckt! Franzi hatte schon eine ganze Weile vor dem Baum mit den baumelnden Tassen gestanden und sie zufrieden betrachtet, bevor ihr aufgefallen war, dass ganz oben in einer davon eine Blaumeise begonnen hatte, ein Nest zu bauen. An diese Möglichkeit hatte sie nie gedacht.

 

»Guten Morgen! Dieser erstaunliche Anblick sieht so einladend aus. Könnte ich eventuell …«

Franzi fuhr zusammen, dann unterbrach sie den Fremden hastig, indem sie eine Hand hob und den Zeigefinger der anderen auf ihren Mund legte. Eindringlich zeigte sie nach oben. Sie wollte auf keinen Fall, dass das winzige, scheue Wesen gestört wurde.

Sie hatte den Mann nicht kommen sehen, so versunken war sie in ihre plötzliche Frühlingshochstimmung gewesen. Er musste ein Feriengast sein, sie hatte ihn hier noch nie bemerkt. Nun blickte er leicht amüsiert und betreten erst auf sie, dann nach oben. Die Verlegenheit wich einem Lächeln, er legte ebenfalls einen Finger auf die Lippen und nickte. Franzi winkte ihn um die Hausecke herum.

»Guten Tag! Entschuldigung. Ich wollte nur nicht, dass wir die Meise verjagen. Was wollten Sie sagen? Möchten Sie frühstücken?«

»Ja, das war mein spontaner Einfall. Hella Fuchs hat mir neulich Ihr Café empfohlen, ich soll Sie von ihr grüßen. Haben Sie denn schon geöffnet?«

»Ja, selbstverständlich. Sie kennen Hella?«, fragte Franzi interessiert. Die alte Dame wohnte nicht weit weg und war ihr ans Herz gewachsen. Hella hatte ihr schon oft einen guten Rat geben können, denn sie war hier auf dem Darß aufgewachsen, anders als Franzi, die noch nicht lange auf der Halbinsel Fuß gefasst hatte.

»Ich habe bei ihr die frei gewordene Stelle als Pfleger angetreten«, erklärte er. »Sie wissen sicher, dass mein Vorgänger nach Kanada gegangen ist.«

»Ach, wie schön, dass Hella jemanden gefunden hat. Wo waren Sie denn vorher tätig? Haben Sie sich schon eingelebt?«

Hoffentlich war er nett zu Hella und ihrem Partner Quentin und behutsam im Umgang mit ihnen.

Sie schätzte ihn auf ein paar Jahre älter als sie selbst, etwas über vierzig vielleicht. Er hatte erstaunlich grüne Augen. Und die blickten wieder amüsiert.

»Entschuldigen Sie meine Neugier«, fügte sie hastig hinzu. »Aber ich mag Hella sehr, und sie ist doch recht gebrechlich geworden.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Franzi. Mein Lebensgefährte Matteo und ich führen gemeinsam das Café.«

Sein Händedruck war fest und warm. »Lian. Ja, danke. Ich habe früher schon einmal am Meer gelebt. Damals war es die Nordsee. Jetzt, dachte ich, ist mal die Ostsee dran.«

»Ich verstehe. Ich habe auch schon an vielen Orten gearbeitet, das bringt die Gastronomie ja so mit sich. Jetzt hoffe ich, endlich zu bleiben. Setzen Sie sich doch! Was ist Ihnen lieber, drinnen oder draußen? Es ist noch kühl, aber …«

»… draußen ist es am schönsten«, beendete er den Satz für sie und nahm an einem der rustikalen Holztische Platz. »Unbedingt! Die Atmosphäre Ihres Gartens ist unwiderstehlich. Warum haben Sie denn das Café gerade hier eröffnet?«

Franzi schob ihm die Speisekarte hin. »Der Wald hier gefällt uns«, sagte sie. »Ich bin in einem Wald aufgewachsen. Und von diesem hier hatte ich einmal Gutes gehört. Ist beides lange her.«

Sie zupfte ein paar welke Primeln ab, während er las.

»Ich hätte gern ein Käsebrötchen und ein Schinken-Rührei-Brötchen«, entschied er. »Und einen Kaffee, bitte.«

 

Franzi verschwand hinter dem Tresen und machte sich daran, die Brötchen zu belegen. Dabei fingen ihre Gedanken an zu wandern. Die Entdeckung, dass die Blaumeise ein Nest baute, und das ausgerechnet in einer Tasse, hatte ihr den Tag gerettet. Es war ihr heute Morgen ausgesprochen schwergefallen, aus den Federn zu kommen. Das war für sie so ungewöhnlich, dass sie darüber ein wenig erschrocken war. Als sie jedoch begriffen hatte, was der Vogel da oben anstellte, war sie auf einmal überschwänglich glücklich gewesen. Der Tassenbaum hatte sich auf jeden Fall als eine gute Idee erwiesen.

Als Matteo und sie das Haus gepachtet hatten, war auf dem völlig verwilderten Grundstück überwältigend viel zu tun gewesen. Sie waren auch jetzt längst noch nicht fertig, aber es sah schon deutlich gemütlicher aus.

Franzi hatte es damals nicht übers Herz gebracht, den abgestorbenen Busch, der so knorrig gewachsen war, einfach abzusägen. Stattdessen hatte sie daran nach und nach verschiedene Tassen, die im Alltagsbetrieb angeschlagen worden waren oder einen Sprung hatten, an farbigen Bändern aufgehängt. Sie waren ihre ganz persönliche Flagge, die sie hisste. Auch Beschädigtes ist etwas wert, zeigte sie damit, und sie meinte nicht nur die Tassen. Die bunten Akzente vor dem blauen Himmel füllten die kleinen leeren Stellen ihrer Vergangenheit mit Fröhlichkeit aus. Außerdem wirkte es wie ein Werbeschild für das Café, das jetzt Franzis Hafen hieß.

Matteo hatte voller Überzeugung mitgemacht, aber es war zuerst ihr Traum gewesen.

Die Tassen am Baum fingen zuverlässig die Aufmerksamkeit der vorübergehenden Feriengäste ein und auch die mancher Einheimischer. Die Menschen blieben stehen, entdeckten dabei die bequemen, aus Europaletten und dicken Kissen gebauten Sitze neben blühenden Büschen. Sie kamen herein, um zu frühstücken oder einen Imbiss zu genießen, dazu gern ein freundliches Gespräch. Nach einer Weile hatten die Stammgäste begonnen, ihre eigenen angeschlagenen Tassen mitzubringen und aufzuhängen. Schließlich gesellten sich sogar Teekannen hinzu.

 

Seit Franzi neuerdings dabei war, im Café das alte Geschirr zu ersetzen, waren wieder mehr von ihren eigenen Sachen in den Baum gekommen. An jedem Stück hingen Erinnerungen, dar-um waren sie zu schade zum Wegwerfen. Aber auf das neue Geschirr war sie stolz. Es bedeutete, dass sie mit dem Betrieb vorankamen. Diese Teller und Tassen, für die sie von den Kunden Komplimente bekam, hatte ihre Freundin Nele eigenhändig getöpfert. Sie trugen ein Muster aus Baumsilhouetten, das ausdrucksvoll und lebendig wirkte und perfekt zur Einrichtung und zur Landschaft passte. Nele stand mit ihrer Töpferei noch am Anfang und probierte vieles aus, daher konnte sie Franzi die nicht perfekt gewordenen Stücke zu einem sehr günstigen Freundschaftspreis überlassen.

Franzi mochte gerade dies, dass auch hier jede Tasse, jeder Teller einen eigenen Charakter besaß, da ein wenig schief war, dort einen Fleck hatte. Unvollkommen wie die Menschen, denen sie Frühstück servierte. Vor allem wie sie selbst.

Die Tasse, in der jetzt die Meise brütete, hatte sie im ersten Betrieb während ihrer Ausbildung aus dem Papierkorb gerettet. Sie war damals schon angeschlagen gewesen, aber sie hatte Franzi, die zu jener Zeit die unerfahrene Küchenhilfe gewesen war, durch viele anstrengende Jahre begleitet. Jetzt führten Matteo und sie ein eigenes Lokal. Manchmal konnte sie es immer noch nicht fassen. Neuerdings boten sie sogar einige kleine Mahlzeiten an.

 

Als sie kurz darauf mit der Bestellung an Lians Tisch trat, sah sie, dass ihr Gast sehr gründlich zu sein schien, denn er studierte immer noch die Rückseite der Karte, auf der einige Worte über das Café und darunter das Impressum standen. Wenn er seine Pflegetätigkeit ebenso sorgfältig ausübte, war Hella in guten Händen.

»Franzi T. Michelly und Matteo Martens«, las er. »Wofür steht das ›T‹? Oh, das sieht aber lecker aus. Vielen Dank!«

»Für Terra«, beantwortete sie seine Frage verblüfft, weil sie ihr noch nie zuvor jemand gestellt hatte. Das »T« war ihr wichtig, ihr persönlicher Glücksbringer, aber sie hatte nicht gedacht, dass es jemandem auffallen würde.

»Terra? Erde? Wie ungewöhnlich. Wie kam es denn dazu?«

»Meine große Schwester heißt Luna, also Mond«, erklärte Franzi. »Mein Vater sagte, Mond und Erde halten sich gegenseitig im Gleichgewicht, das würde er sich für uns auch wünschen. Aber meine Mutter wollte, dass ich einen ganz normalen Namen bekomme, weil sie ihm schon bei Luna nachgegeben hatte. Daher Franzi. Franziska. Haben Sie auch Geschwister?«

»Nein.« Er legte die Karte beiseite und goss Milch in seinen Kaffee. »Und? Hat es funktioniert? Das mit dem Gleichgewicht, meine ich?«

Franzi sah zu Boden. »Nein. Nicht lange. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester«, sagte sie leise. »Schon eine Ewigkeit nicht.«

 

Es war ein so herrlicher Morgen gewesen. Und dann kam ein Fremder daher und traf mit ein paar lässigen Worten zielgenau ihren wunden Punkt. Die Sonne strahlte immer noch, aber auf einmal schien das warme Licht kühl, wie gelbe Tinte.

Franzi hatte immer gehofft, das »T« würde sie erden, dafür sorgen, dass sie nicht aus dem Gleichgewicht kam. Aber so für sich allein funktionierte das leider nur sehr unzuverlässig.

Er blickte betreten. »Tut mir leid! Meine verflixte Neugier. Ich finde Menschen einfach interessant. Berufskrankheit. Ich vergesse dabei manchmal, dass es aufdringlich wirken kann.«

»Alles in Ordnung. Guten Appetit.« Franzi klemmte hastig das Tablett unter den Arm und wollte hineingehen, doch die Erde, ihre Namenspatin, schien ihr auf einmal entgegenzukommen, und dann war da plötzlich gar kein Licht mehr.

 

Als es zurückkehrte, war es der sanfte Schein einer der gemütlichen Lampen im Gastraum. Mühsam stellte sie fest, dass sie auf einer der Bänke lag, ein Kissen unter dem Kopf und die Füße hochgelegt. Ihr Blick fiel auf das Schiff aus Holzbalken mit Segeln aus Pappe, das sie mit Hilfe von Freunden vor einiger Zeit als Dekoration an der Wand angebracht hatten. Es schien in wilder Fahrt zu sein, denn alles schwankte, bevor das Zimmer schließlich zur Ruhe kam. Eine ruhige, warme Hand fühlte Franzis Puls, und ein fragender Blick aus grünen Augen traf ihren. »Na, wieder da?«

Sie wollte sich aufsetzen, aber Lian schüttelte den Kopf.

»Bleib noch einen Moment liegen. Hör auf den Fachmann. Ich bin Pfleger, schon vergessen? Du hast mir Frühstück gemacht, dafür habe ich dich aufgesammelt. Kein Problem.« Er lächelte angenehm gelassen.

Franzi versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. »Bin ich etwa umgekippt? Einfach so?«

»Stimmt genau. Wo ist eigentlich dein … Matteo, richtig?«

»Im Althäger Hafen, Räucherfisch kaufen. Er kommt bestimmt gleich zurück.« Sie war dankbar, dass Lian sie nun duzte, das machte die Situation zumindest etwas weniger peinlich. Nun setzte sie sich doch auf. Vorsichtig. Zum Glück blieben Fußboden und Zimmerdecke, wo sie waren. Nur seltsam flau war ihr im Magen. Lian musterte sie mit Kennerblick und drückte ihr ein halbes trockenes Brötchen in die Hand. »Iss, das hilft.«

Sie kaute langsam und stellte fest, dass er recht hatte.

»Hör mal«, sagte er, »ich weiß, normalerweise ginge mich das nichts an, aber als medizinische Fachkraft eben doch. Bist du schwanger?«

Franzi lachte und schüttelte den Kopf. »Aber nein. Sicher habe ich zu wenig getrunken. So viel Sonne ist ja noch ungewohnt.« Doch dann wurde ihr etwas klar. Sie starrte Lian verblüfft an und begann, fieberhaft zu rechnen. Sie hatte die Pille genommen. Natürlich nahm sie die. Sie war mit Matteo erst drei Jahre zusammen, in der Zeit hatten sie dreimal den Ort gewechselt und im letzten Jahr das Café aufgebaut. Da war das Thema Kind nicht einmal ansatzweise aufgetaucht. Zwar war ihr irgendwo in ihren ferneren Gehirnwindungen bewusst, dass sie mit siebenunddreißig nicht mehr lange damit warten konnte. Doch sie hatte es sehr gern dabei belassen. Denn sie wusste nicht, was sie in dieser Hinsicht wollte. Und ob sie sich dafür eignete. Nach allem, was gewesen war.

Aber sie hatte dermaßen viel zu tun gehabt in letzter Zeit. Das Café frühlingstauglich machen, dann der Garten, der Papierkram, neue Rezepte ausprobieren. Hatte sie da womöglich mal geschludert? Und überhaupt, hundertprozentige Sicherheit gab es ja nie …

»Du bist dir nicht sicher«, stellte Lian fest.

»Bist du immer so direkt?«, erkundigte sie sich irritiert.

»Das bringt mein Beruf mit sich. Alles andere nützt da nichts.« Doch er klang verständnisvoll. »Klarheit ist immer am besten. Finde es heraus.«

»Was soll sie herausfinden?« Matteo stand in der Tür, eine große Kiste mit Räucherfisch in den Händen. Es zog, denn er hatte die Vordertür offengelassen, und der intensive Geruch stieg Franzi direkt in die Nase. Hastig schlug sie die Hand vor den Mund und flüchtete ins Bad.

»Was ist denn hier los?«, hörte sie Matteo fragen, bevor sie die Tür zuschlug.

 

Eine Weile später fühlte sie sich so blass, wie es der Spiegel behauptete. War sie das wirklich? Konnte sich innerhalb eines Augenblicks so viel verändern?

Der erschrockene Ernst in ihrem Ausdruck passte überhaupt nicht zu ihrem Wuschelkopf. Sie hatte sich immer blonde Locken gewünscht, wie Luna sie hatte. Stattdessen waren ihre Haare glatt, durchschnittsbraun und ewig widerspenstig. Franzi trug sie in einem schulterlangen fransigen Bob und hatte sich angewöhnt, sie wenigstens mit ein paar mit Holzperlen verzierten Schnüren aufzupeppen. Sie war eben nicht Luna.

Sie kämmte sich, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis sie sich wieder halbwegs menschlich fühlte, und holte tief Luft.

Was hatte Lian gesagt? Klarheit ist immer am besten. Alles andere nützt nichts.

Entschlossen ging sie zurück in den Gastraum. Draußen trank Lian seinen Kaffee. Drinnen wischte Matteo die Kiste aus. Der Fisch war wohl schon im Kühlschrank verstaut. Ihrem Unwohlsein von vorhin zum Trotz verspürte Franzi plötzlich Appetit darauf.

Matteo kam ihr entgegen und nahm sie in den Arm. »Was ist mit dir? Dieser Lian hat gesagt, dir ist schwindlig gewor-den.«

»Ja. Er ist jetzt der Pfleger bei Hella. Er hat mich gleich wieder fit bekommen, keine Sorge.«

»Gut, dass er da war, aber was war denn bloß los? Du hast bestimmt zu viel gearbeitet, ich wusste es doch! Hier, setz dich.« Er schob sie auf einen Stuhl. »Möchtest du Wasser? Oder besser einen Tee?«

Lian war also diskret. Nett. Aber schade eigentlich. Nun musste sie es Matteo selbst sagen, dabei hatte sie die Möglichkeit noch kaum begriffen.

Und doch war Franzi sich auf einmal sicher, dass Lian recht hatte. Daher die seltsame Euphorie heute Morgen. Von wegen Frühling!

Bald würden sie selbst so etwas wie ein Nest bauen müssen. Wie die Blaumeise in der Tasse. Hysterisches Gelächter stieg in ihr auf.

»Franzi?« Matteo betrachtete sie ratlos und besorgt.

Sie nahm sich zusammen, stand auf und streckte die Hand nach seiner aus. »Es geht mir gut. Ich mache mir gleich einen Kräutertee. Lass uns erst mal an die frische Luft gehen.« Sie zog ihn in den Vorgarten, wo sie allein waren mit den Narzissen und den fröhlichen rosa und blauen Hyazinthen. »Schön, oder?«, fragte sie. »Denk mal an letztes Jahr, da war das hier noch eine Baustelle.«

»Eine Sandgrube voller verwelkter Brennnesseln und Dornengestrüpp. Ja.« Zufrieden sah er sich um, dann küsste er sie. »Ich hoffe, dieses Jahr wird es schon leichter. Vor allem für dich. Wir müssen besser auf dich aufpassen!«

»Das ist es nicht.« Sie lehnte sich einen Moment an ihn, dann sah sie zu ihm auf. »Matteo, es … es kann sein, dass ich schwanger bin.«

2

»Und? Und? Sieht man schon was?«, fragte Matteo zum dritten Mal in einer Minute. Sie saßen am Tisch im Gastraum und starrten auf den Schwangerschaftstest. Franzi musste trotz ihrer eigenen Aufregung lachen.

»Da steht fünf Minuten warten, Matteo. Du hast es mir selbst vorgelesen!« Aber sie war glücklich über die freudige Ungeduld in seinen Augen. Er hatte nicht einen Moment Zweifel daran gelassen, wie er fühlte.

Sie selbst war sich nicht ganz so sicher. Das wurde ihr bewusst, als sie feststellte, dass sie mit der linken Hand einen der Balken des Bootes an der Wand umklammerte. Dieses Boot war für sie längst eine Art Symbol dafür geworden, dass in ihrem Leben alles gut lief. Solange es da so stolz sein Segel in den Wind hielt und aufrecht fuhr, würde sie alles im Griff haben. Und Holz zu berühren hatte sie schon immer beru-higt.

»Da!«

Franzi hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Augen geschlossen hatte, aber bei Matteos Ausruf schrak sie auf.

Zwei Striche.

 

Matteo tanzte förmlich durch den Rest des Tages. Am Baum kam eine weitere Tasse hinzu, weil sie ihm vor lauter Schwung vom Tablett geflogen war. Zum Glück eine von den alten.

»Scherben bringen Glück«, sagte er fröhlich. »Aber das haben wir ja schon!«

Franzi band die angeschlagene Tasse mit einem frühlingsgrünen Band an einen Zweig und versuchte, ihre Gefühle zu verstehen.

»Du freust dich doch auch, oder?«, hatte Matteo ängstlich gefragt und sie prüfend angesehen. »Wir schaffen das! Ich bin doch da.«

»Natürlich freue ich mich!« Franzi hatte ihn fest umarmt. Das war die Wahrheit. Vor ein paar Tagen hatte sie zwar noch nicht einmal an eine Schwangerschaft gedacht, aber es war gut, dass ihr die Entscheidung nun abgenommen worden war. Sie hätte die Kinderfrage sonst verdrängt, bis es zu spät gewesen wäre. Nun sprudelte die Freude in ihr, als hätte man einen Korken gezogen. Nur eben auch die Zweifel. »Und wie ich mich freue! Ich habe bloß Angst, dass es … dass unsere Familie später mal … dass alles so ein Chaos wird wie …«

»Wie bei deiner Familie?«, beendete er den Satz für sie. »Ach, Franzi. Wir haben eine eigene, neue. Das ist doch nicht unsere Geschichte!«

»Nicht unsere. Meine. Vielleicht färbt das irgendwie ab. Vielleicht weiß ich nicht, wie es richtig geht.«

»Wer weiß das schon? Das weiß man nie. Man kann es doch immer nur so gut wie möglich machen, nach bestem Wissen und Gewissen.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah sie eindringlich an. »Wir beide haben schon so viel erreicht. Wir sind das perfekte Team. Das wird wundervoll, du wirst sehen.«

»Okay.« Sie lächelte ihn an. Ja, mit ihm würde sie alles schaffen! Seit sie beide in Wismar in dem Lokal Kormorans Rast zusammengearbeitet und sich beim Servieren von Heringsbrötchen und Fischsoljanka verliebt hatten, hatte sie sich nie mehr mit irgendetwas allein gefühlt.

Außer mit der ständigen vagen, beunruhigenden Angst, dass sich jederzeit wieder von einem Augenblick auf den anderen alles ändern konnte und abgesehen von Matteos Liebe nichts sicher war.

 

Jetzt stupste sie die frisch angebundene Tasse an, um zu sehen, ob das Band hielt.

Dabei fiel ihr Lian ein, und dann Hella.

Hella! Sie würde Hellas mütterlichen Rat einholen. Ihre eigene Mutter würde in dieser Angelegenheit keine Hilfe sein. Was Franzi Hella genau fragen wollte, wusste sie noch nicht. Nur, dass ihr jemand helfen musste, das Durcheinander in ihr zu ordnen.

»Matteo hat recht. Wir bekommen das hin«, sagte sie leise und legte eine Hand auf ihren flachen Bach. Würde das Kind Matteos dunkle Locken haben, die er von seiner italienischen Mutter geerbt hatte? Oder Franzis Augen, deren Farbe ihr Vater als »Dämmerungsblau« bezeichnet hatte – das wusste sie noch genau – und die Matteo »Blaue-Stunde-Augen« nannte? Er behauptete, sie würde damit mehr sehen als andere. Franzi wünschte, das wäre so und sie könnte die Zukunft erkennen. Wahr war aber nur, dass sie die blaue Stunde liebte, zwischen Tag und Nacht, wenn die Luft zugleich glasklar und geheimnisvoll war, das Land erwartungsvoll still und der Himmel so weich.

Am liebsten wäre sie sofort zu Hella gefahren, doch die würde jetzt noch ihren Mittagsschlaf halten. Heute war es ruhig im Lokal, selbst die alten Herren, die täglich am Stammtisch in der Ecke Skat spielten, waren schon fort. Matteo werkelte in der Küche herum. Sogar das Klappern der Töpfe klang fröhlicher als sonst. Um ihre Nerven zu beruhigen, begann Franzi etwas, das sie schon lange im Sinn hatte. Sie setzte sich an einen der Tische und fing an, die schlichten, auf sandfarbene Pappe montierten Speisekarten am Rand zu verzieren. Die Deko sollte zu dem neuen Geschirr und zu der Wandgestaltung passen, daher klebte sie aus zarten Zweigen zusammengesetzte Bäume auf die unteren Ecken. Kleine Kieselsteine stellten Blätter dar, und einzelne winzige Vögel aus Erlenzapfen saßen in den Wipfeln. Bei der Arbeit wurde es ruhiger in ihr. Zwischendurch blickte ihr Matteo über die Schulter.

»Wunderschön. Das passt perfekt!«, sagte er und küsste sie auf den Scheitel.

Franzi war selbst überrascht, wie hübsch das aussah. Sie machte ein Bild und schickte es an Nele.

Super Idee, da ist mir gleich noch ein Einfall für Dessertschüsseln gekommen!, schrieb Nele zurück.

Und doch war Franzi beunruhigt. Die Bastelarbeit mit den Zweigen löste etwas in ihr aus, sie kam nur nicht gleich darauf, was es war. Diese Bäume sahen anders aus als die auf Neles Tassen. Sie wirkten seltsam vertraut. Sie erinnerten in ihrer Form an …

»Franzi? Kannst du mal bitte ans Telefon gehen?«, rief Matteo aus der Küche. »Hier brennt mir sonst was an.«

Sie hatte das Klingeln gar nicht gehört. Hastig sprang sie auf, nahm den Hörer ab und trug die Reservierung ein, die der Kunde am anderen Ende wünschte, dann half sie Matteo mit den Pfannen. Als sie danach an den Tisch zurückkehrte und auf ihr Werk heruntersah, erkannte sie, welche Bäume sie da unbewusst nachgestaltet hatte.

Es waren die Buchen im Gespensterwald.

 

Dreißig Jahre waren vergangen, seit sie zum letzten Mal dort gewesen war. Seit sie an jenem warmen Frühsommertag darunter gestanden und hilflos zu den hohen, mächtigen Wesen aufgesehen hatte. Sie hatte nicht begreifen können, was es bedeutete, dass ihre Schwester und ihr Vater nicht zurückkehren würden und ihre kleine Welt auseinanderbrach. Sonst rauschten die Bäume im Wind, aber an diesem Tag waren auch sie still, als fiele ihnen nichts dazu ein, als würde der Wald selbst den Atem anhalten. Weit unten hatten sogar die Wellen aufgehört, an der Steilküste zu lecken. Es war wie eine Lähmung, die alles erfasste.

Jetzt stand es ihr wieder so deutlich vor Augen, als wären die Jahrzehnte dazwischen nie gewesen. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde Franzi wieder leicht übel. Sie legte die Speisekarten zum Trocknen auf den Tresen und schob ihr Werkzeug hastig in eine Schachtel.

 

In der Küche packte sie einige Kuchenstücke in einen Karton.

»Wenn du mich gerade nicht brauchst, bringe ich Hella und Quentin was zum Kaffee. Sie freuen sich immer so, und ich brauche mal frische Luft«, sagte sie zu Matteo.

Er nahm sie kurz in den Arm. »Natürlich, mach das. Es tut dir bestimmt gut. Grüß sie beide von mir.«

Quentin war Hellas Lebensgefährte. Sie hatten sich erst kennengelernt, als sie über siebzig waren. Franzi war jedes Mal gerührt, wenn sie die beiden zusammen erlebte.

Während sie das Auto die einzige Straße entlang in Richtung des alten Forsthauses lenkte, dachte sie darüber nach. Sie wünschte sich inständig, dass es zwischen ihr und Matteo auch einmal so sein würde, wenn sie alt waren. Ein so wortloses Verständnis, solche unkomplizierte Rücksichtnahme und eine gemeinsame, große Freude an den alltäglichen Dingen.

Hella war vor langer Zeit Försterin an verschiedenen Orten gewesen, und selbst nach ihrer Berentung hatte sie sich noch naturpädagogisch im Nationalpark eingesetzt. Sie hatte Führungen veranstaltet und sich als Botschafterin der Bäume verstanden, aber niemals moralisierend oder aufdringlich. Sie liebte den Wald, und das zeigte sie den Menschen und teilte mit ihnen ihr unerschöpfliches Wissen darüber.

Wenn jemand einen Rat für Franzi hatte, dann war das Hella.

 

Sie hätte keine Bedenken haben müssen, zu früh zu kommen. Die alten Leute saßen Hand in Hand auf der Bank vor dem Haus in der Märzsonne, als Franzi ausstieg.

»Wie gemütlich. Und ich hatte befürchtet, ich störe beim Mittagsschlaf«, sagte sie.

»Mittagsschlaf? Schlafen können wir, wenn wir tot sind.« Hella lächelte zu ihr auf. »Vom Frühling darf man nichts versäumen, er sorgt dafür, dass der Saft steigt. Auch in den Menschen.«

»Hella!« Quentin fing an zu lachen.

»Was denn? Ist das da Kuchen in dem Karton, Franzi? Mein Appetit kommt im Frühling nämlich auch zurück.«

»Matteos bester.« Franzi lupfte den Deckel.

»Der duftet herrlich«, meinte Quentin, der nur noch wenig sehen konnte. Seine anderen Sinne waren dafür umso schärfer.

»Bring den doch in die Küche zu Lian«, bat Hella. »Er kann uns allen Kaffee auf die Terrasse bringen. Wir gehen inzwischen langsam ums Haus nach hinten.«

»Braucht ihr Hilfe?«

Hella winkte ab. »Heute nicht. Es ist ein guter Tag. Es dauert nur ein wenig.«

»Ach, da freuen sich die beiden aber wie ein Itsch. Hallo, Franzi.« Auch Lian schnupperte anerkennend. »Aprikosenkuchen! Lecker. Na, wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet.« Franzi stellte Geschirr auf ein Tablett, während Lian die Kaffeemaschine befüllte. »Was ist ein Itsch?«

Lian lachte. »Den kann sich jeder vorstellen, wie er mag. Den Ausdruck habe ich von Freunden gelernt. Der Itsch ist auf jeden Fall ein glückliches, lebensvolles Wesen.« Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Kein Schwindel mehr?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Haha. Keine Spur von Doktor, aber wenn du mal Hilfe oder einen Rat brauchst, sag trotzdem Bescheid.«

»Danke, Lian!« Seine Fürsorge berührte sie. Er war ein wirklich netter Kerl. Auch Matteo war von ihm angetan gewesen. Er hatte sich sogar mit Lian zum Paddeln verabredet. »Der kennt ja hier noch niemanden. Und man kann sich richtig gut mit ihm unterhalten«, hatte er gesagt.

»Weißt du, ob er Familie hat?« Irgendwie passte es nicht zu Lian, dass er ganz allein hier war.

Matteo hatte mit den Schultern gezuckt. »Hat er nicht erwähnt.«

Draußen fiel das schräge Nachmittagslicht durch die Baumkronen und ließ die jungen Blätter aufleuchten. »Ich kann mich nie daran sattsehen«, bemerkte Hella mit einem glücklichen Lächeln.

Quentin blinzelte. »Selbst ich kann das Hellgrün erkennen.«

»Welchem Umstand verdanken wir deinen netten Besuch, Franzi?«, erkundigte sich Hella, nachdem sie den Kuchen gekostet und anerkennend genickt hatte.

»Komme ich denn nur, wenn ich etwas von dir will?« Franzi war zerknirscht.

Hella lächelte. »Nein. Nur sieht man dir immer an, wie es dir geht. Auf deiner Stirn steht geschrieben, dass dich etwas bedrückt.«

»Soll ich hineingehen?«, fragte Lian.

Franzi überlegte kurz. »Nein, du weißt es ja sowieso schon. Hella, Quentin – ich bin schwanger.«

»Na, das ist aber schön. Herzlichen Glückwunsch! Ich sag’s ja, der Frühling.« Hella sah sie forschend an. »Oder ist es nicht schön?«

»Doch. Sehr. Wir freuen uns riesig.« Franzi fasste nach den Holzperlen in ihrem Haar, wie immer, wenn sie nervös war. Als sie es bemerkte, nahm sie rasch die Kuchengabel in die Hand. »Ich weiß nur nicht, ob … ob ich …«

»Hmm. Das ist mehr als nur die normale Nervosität vor dem ersten Kind«, stellte Hella fest. »Was bekümmert dich, Liebes?«

»Kann dir deine Schwester nicht vielleicht helfen?«, fragte Lian, als Franzi noch immer nach Worten suchte. »Ich könnte mir vorstellen, dass eine Schwester dafür genau die richtige Person ist …« Dann fasste er sich an die Stirn. »Entschuldige, ich vergaß. Du sagtest ja, ihr hattet schon lange keinen Kontakt mehr.«

»Du hast eine Schwester?« Hella war überrascht. Franzi nickte stumm. »Was fühlst du, wenn du die Perlen in deinem Haar berührst?«, forschte Hella weiter, als sonst nichts kam.

Fummelte sie tatsächlich schon wieder daran herum? Franzi ließ die Hand sinken.

»Du musst dich nicht dafür schämen. Es hat etwas zu bedeuten«, erklärte Hella. »Was bedeutet es dir?«

»Es beruhigt mich, wenn ich Holz berühre.«

»Kein Wunder«, sagte Hella. »Mir haben Bäume auch immer Kraft gegeben. Sie können jedem etwas geben. Das ist ihre Natur. Es macht ihr Wesen aus.«

»Bäume sind Wesen?«, fragte Lian.

»Natürlich sind sie das, warum denn nicht? Sie atmen. Sie halten Widrigkeiten stand. Sie brauchen Wasser und Licht und Nahrung. Sie wispern, stöhnen, rauschen, singen, sie senden sich mit Hilfe von Duftstoffen Botschaften. Sie unterstützen sich gegenseitig oder konkurrieren miteinander. Sie verkümmern oder gedeihen. Sie können krank werden. Sie pflanzen sich fort. Sie sind ungemein lebendig, sie rennen nur nicht hektisch herum wie die Menschen«, erklärte Hella belustigt.

»So habe ich das noch nie gesehen«, meinte Lian erstaunt und warf der Kiefer am Rande des Grundstücks einen Blick zu, als würde sich diese gleich zu ihnen an den Kaffeetisch setzen.

Franzi aber war plötzlich den Tränen nahe. Quentin, der neben ihr saß, hörte sie schniefen und reichte ihr still ein Taschentuch.

»Weine ruhig«, sagte Hella. »Das heißt, dass wir der Sache näher kommen. Was ist dir an Holz wichtig? Wann hat das begonnen, dass es dich beruhigt?«

Franzi putzte sich die Nase und versuchte, sich zu erinnern. »Das war … das war schon immer so. Nein, wartet!« Sie schloss die Augen. Da war etwas, ein Gegenstand, fast konnte sie ihn sehen. Als ob sich ein Nebel hob, wurde er deutlicher. Es war etwas Großes, Eckiges. Es hing über ihr, bedrohlich, nein, beschützend! Es hatte über ihrem Kinderbett gehangen. Es hatte sie angesehen.

»Kala!« Franzi setzte sich gerade. »Der Baumgeist!«, erklärte sie ihrem fragend dreinschauenden Publikum und trank einen Schluck Kaffee. »Mein Vater hatte ihn aus einem großen Stück Rinde gemacht. Der Geist hatte Augen aus Astlöchern, in die er Kieselsteine gesteckt hatte. In dem natürlichen Muster der Rinde war ein Gesicht zu erkennen, ganz deutlich. Mein Vater hatte das Stück im Wald gefunden, es noch ein wenig herausgearbeitet und in einem Rahmen befestigt. Er hängte das Bild über mein Bett und sagte, das wäre ein Baumgeist. Er würde mich beschützen, und ich könnte ihm immer alle meine Sorgen anvertrauen, falls ich sie sonst niemandem verraten wollte. Denn der Baumgeist würde sie niemals weitererzählen. Meine Schwester hatte auch einen. Meiner hieß Kala, ihrer Keni.« Franzi lächelte, als die Erinnerung deutlicher wurde. »Ich fragte meinen Vater, ob man dafür nicht eher einen Schutzengel bräuchte, so wie es in einem meiner Bilderbücher stand. Er antwortete, dass ein Baumgeist beständiger wäre, weil ein Baum tief in der Erde wurzelt, aber zum Licht hinwächst, so dass er immer eine Brücke zwischen Himmel und Erde ist. ›In ihm ist Weisheit, Schönheit und die Kraft von beiden‹, sagte er. ›Ein Engel ist auf der Erde nicht zu Hause. Wir und die Bäume aber schon.‹«

»Und hat das funktioniert?«, fragte Lian.

Franzi nickte. »Ich habe lange daran geglaubt. Es war ein so beruhigendes Gefühl, wenn Kala mich ansah. Ich konnte ihm tatsächlich alles erzählen. Und er wirkte ständig anders, je nachdem, wie das Licht auf ihn fiel. Mit den Schatten wechselte sein Ausdruck. Ich war überzeugt, dass er mich verstand. Und dass er lebendig war und mir immer wohlgesonnen. Er besaß für mich eine geheimnisvolle Macht, die viel zum Guten wenden konnte.«

»Wenn ich diese Idee gehabt hätte, hätte ich sie an die Eltern in meinen Kursen weitergegeben«, sagte Hella. »Jetzt wissen wir, warum dich Holz beruhigt. Das ist eine schöne Geschichte und ein wunderbares Werkzeug für Krisensituationen, das dir dein Vater da mitgegeben hat. Die wirkliche Frage ist jetzt: Was beunruhigt dich an deiner Schwangerschaft dermaßen, dass du den Trost von Holz brauchst? Denk dran, der Teil eines Baumes, den wir sehen, ist nur der über der Erde. Das unsichtbare Wurzelwerk darunter ist genauso breit wie seine Krone. Was ist es, das du bei dir selbst nicht siehst?«

Franzi dachte nach. Ihr fiel die Traurigkeit ein, die sie in der letzten Nacht gespürt hatte, als sie voller Unruhe aufgewacht und barfuß zum Fenster getappt war. Über dem Wald war gerade der Mond aufgegangen, groß und silberhell. Da hatte sie wieder an Luna denken müssen. Luna, von der sie nicht einmal wusste, wie sie jetzt aussah.

»Ich habe Angst!«, gestand sie. »Sogar doppelt. Angst, dass ich meinem Kind nicht eine genauso schöne Kindheit geben kann, wie ich sie anfangs hatte. Und Angst, dass alles schiefgeht, so wie später bei uns.«

»Ich weiß, wie das ist, wenn Dinge aus der Vergangenheit an einem kleben. Sie können einen ausbremsen wie eine Fessel«, sagte Lian. »Nur, man kann trotzdem alles machen. Es ist eben bloß ein bisschen schwerer. Aber mit der Zeit wird es leichter. Wenn man es aus Angst nicht macht, versäumt man alles. Eine Binsenweisheit, aber wahr.«

»Binsenweisheiten sind meistens gut brauchbar«, sagte Hella mit einem Lächeln. »Binsen sind nämlich sehr haltbare Pflanzen. Nicht umsonst flicht man Körbe daraus, in denen man schwere Dinge tragen kann. Franzi, wenn du dir jetzt in diesem Moment etwas wünschen könntest – nichts Großes, irgendetwas Kleines, aber Wichtiges und vor allem Machbares –, was wäre das?«

Franzi dachte nach. Etwas Machbares. Seltsamerweise half ihr gerade dieses schlichte Wort, sich schlagartig besser zu fühlen.

»Ich möchte das Rindenbild wiederhaben. Kala. Den Baumgeist«, sagte sie. »Ich will ihn über das Bett unseres Kindes hängen. Unbedingt!«

»Das ist doch ein Plan«, sagte Hella.

3

Nachdem sie das Kaffeegeschirr abgeräumt hatten, begann Lian auf Hellas Bitte hin, im Vorgarten die letzten trockenen Blätter aus dem vergangenen Herbst zusammenzuharken, die der Frühlingswind herbeigewirbelt hatte. Franzi erbot sich, ihm zu helfen. »Musst du nicht nach Hause?«, fragte er.

»Nein, Matteo sagt, heute ist kaum Betrieb. Ich brauche Bewegung! Das hilft mir gerade sehr gegen die innere Unruhe. In letzter Zeit habe ich viel zu viel drinnen gearbeitet. Eigentlich bin ich ein Draußenmensch.«

Er reichte ihr einen Sack. »Gut, dann füll da bitte die Blätter ein. Das Zeug leeren wir dann auf den Kompost. Oder möchtest du lieber das Harken übernehmen?«

»Nein, schon gut. Solange ich mich noch bücken kann, muss ich das ja ausnutzen.«

»Was ist denn eigentlich aus deinem Baumgeistbild geworden?«, erkundigte sich Lian nach einer Weile. »Du sagtest, du willst es wiederhaben. Wer hat es denn? Oder bin ich schon wieder zu neugierig?«

»Meine Schwester ist acht Jahre älter als ich. Als sie ging, hat sie es mitgenommen.«

»Ohne dich zu fragen? Oder war es ein Abschiedsgeschenk?«

»Sie hat nicht gefragt. Ich glaube, ich hätte ihr alles geschenkt, nur das Bild nicht.«

»Das muss dich ganz schön verletzt haben. Du hast sie bestimmt vermisst, und dann war auch noch dein beschützender Geist weg, dem du deine Sorgen anvertrauen konntest. Wem hast du sie denn dann erzählt?«

Franzi stampfte mit dem Fuß in den Sack, um die Blätter zusammenzupressen und Platz zu schaffen. »Bist du jetzt auch noch Psychologe?«

»Entschuldige. Ich dachte, es hilft dir vielleicht, darüber zu reden. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Ich muss erst mal eine Weile nachdenken. Dabei kann mir niemand helfen. Lass uns den schönen Frühlingsabend genießen. Die Luft tut mir gerade so gut. Riechst du das? Feuchte, warme Erde voller Leben, Rinde, Moos und Veilchen.«

»Ja, Aufbruchsstimmung.« Er lehnte sich auf die Harke und sah sich befriedigt um. »Das ist ansteckend. Macht lebendig.«

»Was ist eigentlich mit dir?« Schließlich war er nicht der Einzige, der neugierig sein konnte. Franzi beschloss, den Spieß umzudrehen. »Hast du Familie? Wirst du gar nicht vermisst, nachdem du an dieses kleine Ende der Welt gekommen bist?«

»Ich denke nicht.« Er hatte sich abgewandt und harkte wieder, sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Nein, ich habe keine Familie. Zurzeit auch keine Beziehung.«

Er klang so überraschend melancholisch, dass er ihr leidtat. Sie hätte ihm gegönnt, dass er so glücklich war wie sie mit Matteo. Für sie war es immer noch ein Wunder, dass sie sich gefunden hatten. Aber das hatte auch gedauert. »Und wem erzählst du deine Sorgen?«, fragte sie.

»Vielleicht suche ich mir einen Baum.« Er klang grummelig.

»Eine sehr gute Idee«, sagte Hella hinter ihm. »Auf Bäume kann man sich immer verlassen. Franzi, ich habe ein Geschenk für dich.« Sie reichte Franzi ein Armband. »Das sind Perlen aus Birkenholz. So was habe ich früher gemacht, als ich noch geschickter war. Die Birke steht für Liebe, Leben und Glück. Es soll dich und dein Kind beschützen. Zumindest hast du dann immer Holz in deiner Nähe, das dich beruhigt.«

Hellas Lächeln und ihr Geschenk erfüllten Franzi mit Wärme. Sie streifte das Armband über und umarmte Hella spontan. »Danke, wie lieb von dir!«

Die alte Frau blickte sich anerkennend um. »Ist ja erstaunlich, was ihr schon geschafft habt. Ich gehe wieder hinein. Vielen Dank, ihr zwei!« Bevor sie sich umwandte, legte sie einen Augenblick tröstend die Hand auf Lians Schulter.

Franzi sah ihr nach. »Sie ist klasse, oder? So möchte ich auch mal werden, wenn ich alt bin.«

Lian nickte. »Hier bei diesen beiden zu sein, ist ein Glücksfall für mich. Ich habe schon so viele Menschen gepflegt, aber Hella und Quentin gehören eindeutig zu denen, die mich am meisten beeindruckt haben. Gelernt habe ich von allen etwas.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich liebe meinen Beruf, weißt du. Ich bin weder einsam noch unglücklich. Und meine Sorgen erzähle ich einer sehr alten Freundin.«

»Einer von jenen alten Menschen, die dich so beeindruckt haben?«

Er lachte auf. »Nein, sie ist sogar etwas jünger als ich. Ich meinte eine andere Sorte alt. Wir kennen uns schon sehr lange. Sie heißt Jessie. Ich bin ihr damals auf Amrum begegnet. Sie lebt aber meistens in Kalifornien.«

»Und ihr seid nie zusammengekommen?«

»Nein, sie war damals schon verlobt. Leider. So, sind wir jetzt quitt, was das Ausfragen angeht?«

»In Ordnung.« Sie erwiderte sein lausbübisches Grinsen.

»Ich weiß zwar nicht, ob ich einen verlorenen Baumgeist ersetzen kann, aber wir könnten immerhin auch Freunde werden«, bot er an. »Matteo, du und ich. Falls ihr mal einen gebrauchen könnt.«

»Kann man das nicht immer? Du ja vielleicht auch.«

»Gut möglich. Gib mir den Sack, ich bringe ihn weg.«

»Ja, danke, ich muss auch los.« Franzi klopfte sich die Hände ab. Das Armband wirkte hell in der einsetzenden Dämmerung. Sie fühlte sich besser als seit Tagen. »Bis dann, Lian.«

 

In jener Nacht schlief sie gut, nur der Mond geisterte wieder durch ihre Träume. Er wirkte ungewöhnlich unfreundlich, fand sie. Das war noch nie so gewesen. Doch als sie aufwachte, schien die Sonne, und sie entdeckte, dass sich vor dem Fenster die ersten Blüten der Zierkirsche öffneten. Beglückt lief sie hinunter und verlangsamte das Tempo, als ihr etwas schwummrig wurde. Matteo war schon in der Küche beschäftigt.

»Ich wollte dich ausschlafen lassen«, sagte er und reichte ihr eine Tasse Tee. »Da steht ein Käsebrötchen für dich, mit Obst dazu, wie du es magst.« Er sah sie besorgt an. »Geht es dir wieder schlechter?«

»N… nein.« Aber sie setzte sich vorsichtshalber hin. »Soll ich heute den Fisch holen?«

»Wenn du Lust hast, ja, das wäre prima. Falls du im Hafen Jakob siehst, sagst du ihm, dass die Paletten gekommen sind? Er hatte angeboten zu helfen.«

»Klar, mach ich.« Sie mochte Jakob, der immer hilfsbereit und ein begnadeter Handwerker war, egal, worum es ging. Er hatte beim Renovieren des Cafés mitgeholfen. Jakob besaß ein altes Zeesboot, mit dem er Touren auf dem Bodden veranstaltete. Er lebte schon ewig auf dem Darß. »Das ist der anständigste Mensch, den ich kenne«, hatte Hella von ihm gesagt, und auch Nele schwärmte von Jakob, der ihr manchen guten Rat gegeben hatte, als sie noch auf dem Darß gewesen war. Man musste ihn einfach gernhaben.

 

Franzi vereinbarte einen Termin bei ihrer Frauenärztin, dann fuhr sie in den Hafen. Nachdem sie den Fisch eingeladen hatte, suchte sie Jakobs Boot auf. Der warme Honigton des alten Holzes im Morgensonnenlicht begeisterte sie immer wieder. Jakob stand auf dem Deck und hantierte mit einem Tau.

»Hallo, Jakob! Alles gut bei dir?«

»Oh, Franzi! Lange nicht gesehen. Danke, und bei euch?«

»Auch. Matteo lässt ausrichten, die Paletten sind gekommen.«

»Aus denen wir mehr Möbel für euren Garten machen wollen? Das passt mir gerade gut. Wenn du zehn Minuten Zeit hast, könntest du mich gleich mitnehmen. Mein Auto ist noch in der Werkstatt. Ich muss das hier nur noch kurz fertig machen und mein Werkzeug zusammenpacken, dann kann es losgehen.«

»Na klar, gerne.«

Er wandte sich wieder dem Tau zu, doch dann hielt er inne. »Ist wirklich alles in Ordnung, Franzi? Du siehst so nachdenklich aus.«

Verflixt. Hella hatte wohl recht. Man sah ihr einfach alles an. »Ja, aber nachdenken schadet doch nichts, oder? Ich finde, hier ist ein guter Ort dafür.«

»Das stimmt.« Er lächelte sie an und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.

Der liebe Jakob. Er war nicht so neugierig wie Lian. Aber er war auch wesentlich älter und lebenserfahrener. Seine bloße Gegenwart war wohltuend, so viel gutmütige Ruhe und Zuversicht strahlte er aus.

Während er noch beschäftigt war, wanderte Franzi nach vorne bis ans Ende des Steges, setzte sich und ließ die Füße baumeln. In der Ferne bewegten sich Segel über den silberblauen Bodden wie Schmetterlinge. Die Blautöne von Wasser und Himmel waren so hell und kühl wie der Frühlingstag. Voller Versprechen, dass immer mehr Farben und Wärme im Kommen begriffen waren. Und was noch?, fragte sich Franzi.

Sie vergaß die Zeit, während sie den Kormoranen zusah, die auf den Pfählen ihr Gefieder trockneten, indem sie die Flügel ausbreiteten und sich der Sonne zuwandten. Irgendwann fiel ein Schatten auf sie.

»Ich wäre so weit.« Jakob setzte sich mit einem leisen Ächzen neben Franzi. »Aber wegen mir besteht keine Eile. Hier kann man sich nie sattsehen. Wie läuft es mit dem Nachdenken?«

»Ich weiß nicht. Woran erkennt man, ob man in die richtige Richtung denkt?«

Jakob sah einem Boot nach, das gemächlich aus dem Hafen tuckerte und um den Schilfgürtel herum verschwand.

»Genau hier hat früher oft ein alter Kapitän gesessen, der sich Flömer nannte. Er war fast immer da, als sei er Teil der Landschaft geworden. Hinter seinem Ohr steckte meist ein Stück Kreide. Damit schrieb er hin und wieder ein Wort auf den Steg, über das er nachdenken wollte. Er lebt nicht mehr, aber die Tradition ist geblieben. Es kommt immer wieder vor, dass heute noch jemand vorbeikommt und das tut.« Er hielt Franzi die Handfläche hin. Darin lag ein Stück Kreide. »Magst du? Vielleicht hilft es dir auch.«

Sie sah zweifelnd darauf, dann nahm sie es. Jakob stand etwas mühsam auf. »Ich bringe schon mal nach und nach mein Zeug zum Auto. Lass dir Zeit.«

Franzi fand, sie hatte für heute eigentlich schon genug nachgedacht. Aber sie stellte sich den alten Kapitän vor, wie er hier saß und über Worte nachdachte, nachdem er sein Leben lang zur See gefahren war und so viel gesehen, gehört und erlebt hatte. Dann die Menschen, die hier zu Besuch waren, von der Tradition hörten und das Wort auf den Steg schrieben, das sie in diesem Augenblick am meisten beschäftigte. Wie eine Stecknadel, die man in eine Landkarte sticht, an einem wichtigen Ort, an dem man gewesen ist. Wie ein Blick in einen Spiegel, der einem mehr zu zeigen hatte als nur ein Bild.

Sie nahm die Kreide, die warm war von der Sonne, und schrieb große Buchstaben auf das verwitterte Holz. Auf jede der Bohlen einen.

A U F R Ä U M E N

Ja. Nach diesem Wort hatte sie gesucht. Sie musste ihre Vergangenheit aufräumen, bevor es ihr möglich wurde, der Zukunft zu vertrauen. Man konnte zwar, was geschehen war, nicht bügeln, sorgfältig zusammenlegen und stapelweise in einen Schrank legen wie einen Haufen T-Shirts. Aber so weit Ordnung hineinbringen, dass es ihr gelingen konnte, das meiste zu verstehen – das war sicher machbar. MACHBAR, dieses Wort von Hella hatte ihr geholfen. Sie schrieb es noch dahinter.

Franzi wollte nicht mehr traurig sein, wenn sie den Mond sah. Schon gar nicht wollte sie traurig sein, wenn sie ihren Gästen die Speisekarten brachte, die jetzt mit Abbildern der Buchen im Gespensterwald verziert waren.

»Danke, Jakob!«, sagte sie, als sie ihn am Auto traf und ihm die Kreide zurückgab. »Das war eine gute Idee.«

»Freut mich.« Er klopfte ihr kurz auf die Schulter, dann stieg er ein.

Franzi öffnete die Fahrertür. Es war Zeit, Ordnung in ihr Leben zu bringen. Die so lange gewohnte Situation war ihr unerträglich geworden. Die Meise hatte auch nicht das letztjährige Nest in der Hecke benutzt. Manchmal bauten Meisen ein neues Nest auf das alte oder aber an eine ganz neue Stelle, so wie jetzt. Wenn sie selbst ein Kind bekam, dann brauchte sie dafür auch eine neue, frische Grundlage. Sie musste mit Matteo reden. Und vorher mit Lian. Er hatte ihr seine Freundschaft angeboten. Sicher würde er sich wundern, wie schnell sie die in Anspruch nehmen würde.

Luna

Vehlefanz/Brandenburg

4

»Ich bin aber nicht an diesen ersten grauen Haaren schuld, oder?« Dennis zog verspielt an einer ihrer langen Locken.

Luna hatte ihn nicht kommen hören, so vertieft war sie in das Sortieren der Marmeladengläser gewesen. Beim Darüberbeugen war ihr das Gummi aus dem Zopf gerutscht. Als sie ihn wieder hatte flechten wollen, war ihr aufgefallen, dass in dem Blond einige silberne Strähnen hinzugekommen waren. In dem schrägen Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, leuchteten sie ebenso auf wie die umherfliegenden Staubkörnchen, die man hier auf dem Hof nirgends ganz wegbekam. Das Silber verlieh ihrem dunklen Naturblond einen interessanten Akzent, fand sie. Und mit fünfundvierzig hatte sie sich das verdient. Oder?

»Bestimmt nicht«, erklärte sie gelassen. »Das ist Biologie. Man produziert nach und nach weniger Melanin. Völlig normal.« Albernes Geplänkel lag ihr nicht. Noch nie. Anfangs hatte sie es versucht. Doch nach drei Jahren ihrer lockeren Affäre hätte Dennis es eigentlich wissen müssen. Sie verstellte sich schon lange nicht mehr ihm zuliebe. Es funktionierte einfach nicht.

»Mela… was?«

»Farbpigmente. Egal. Hast du die Kartons schon entsorgt?«

»Aber sicher, Gnädigste. Hast du noch eine andere Verwendung für mich?« Unbeirrt legte er von hinten die Arme um sie und pustete ihr in den Nacken.

»Gerade nicht, aber danke.« Sie würde ihm bald erklären müssen, dass sie das alles nicht mehr wollte. Nicht so. Nicht mit ihm. Eigentlich überhaupt nicht. Es würde Dennis wenig ausmachen. Er nahm nichts schwer und nichts ernst, und er hatte jede Menge Alternativen.

Ihr ging es einfach besser allein. Das war oft gut, manchmal auch nicht.

»Na schön.« Fröhlich pfeifend verschwand er nach draußen. Wider Willen musste sie lächeln. Er war so angenehm unkompliziert. Leider auch unzuverlässig, aber immer gut gelaunt. Es war nicht seine Schuld, dass sie nie wirklich zusammengepasst hatten. Luna kam nach ihrem Vater. Dafür konnte Dennis nichts, aber sie mochte sich auch nicht mehr ständig dafür entschuldigen. Je älter sie wurde, desto besser verstand sie ihren Erzeuger, der nie Vater hatte genannt werden wollen.

Aber er war ein guter Vater gewesen, jedenfalls für sie. Zum Glück hatte sie ihm das vor seinem Tod noch gesagt – auch wenn die Kommunikation zwischen ihnen oft fast unmöglich schien. Eben weil sie ihm so ähnlich war.

 

Sie schob die Marmeladengläser zurecht und freute sich darüber, wie das tief stehende Sonnenlicht die Farben zur Geltung brachte und mit einem geheimnisvollen Zauber erfüllte. Pfirsich, Brombeere, Holunder, Birne, Erdbeere. Es war eine befriedigende Ernte gewesen im letzten Jahr. Luna konnte den Duft durch die geschlossenen Gläser förmlich riechen, hatte den Geschmack auf der Zunge. Sie sortierte nicht nach Früchten, stattdessen ordnete sie die Farben in Mustern an. Das wirkte viel reizvoller, fand sie, und schließlich trugen sie ja Etiketten. Seit man ihr die Verantwortung für den Hofladen übertragen hatte, ging so etwas endlich. Nach über zwanzig Jahren war damit kaum noch zu rechnen gewesen. Als ungelernte Hilfskraft hatte sie einmal hier angefangen. Damals hatte man über ihre Einfälle nur gönnerhaft gelächelt, und ihr fehlte lange Zeit das Selbstbewusstsein, sich durchzusetzen. Lange Diskussionen lagen ihr ohnehin nicht. Ihre Zeit verwendete sie lieber auf andere Dinge.

Nun aber hatte sie doch noch ihre Chance bekommen und setzte viele ihrer Einfälle um. Manche Ideen alterten nicht. Kürzlich hatte sie verzierte Äste vorn an die nüchtern glatten Kanten der Regale montiert. Das gab dem Laden gleich eine ganz andere Atmosphäre. Den Kunden gefiel es, sie hatten Luna sogar darauf angesprochen, ob sie so etwas auch verkaufte. Dafür hatte sie kaum Zeit, aber sie notierte es in ihrem Gedächtnis. Man konnte nie wissen, wann das einmal nützlich sein konnte. Es waren alles leicht krumm gewachsene Äste. Die dunkle Rinde hatte sie nicht entfernt, sondern mit dem Taschenmesser helle Muster hineingeschnitzt. Es war eine entspannende Arbeit, die sie in ihrer Freizeit verrichtete, wenn sie draußen irgendwo in dieser vielfältigen Landschaft war. Auf einem Baumstamm oder einer Brücke sitzen, den Vögeln zusehen und dabei schnitzen, das war ihr eine liebe Beschäftigung geworden. Dann wurde in ihr alles ruhig, und sie war für kurze Zeit vollkommen im Reinen mit sich.

Bis auf die eine, große Sache, von der sie nicht wusste, wie sie sie in Ordnung bringen sollte. Immer wieder schob sie es hinaus. Immer wieder hatte sie einen Brief begonnen und dann im Feuer verbrannt. Das war nichts, was man mal eben so mit einer E-Mail erledigen konnte.

Momentan säumte morgens noch Eis die Seen und Tümpel, trug das erwachende Gras noch glitzernde Säume aus Raureif. Kein passendes Vorzeichen. Vielleicht, wenn es richtig warm wurde und alles wieder grün war, sanft und versöhnlich. Im Sommer. Ja, diesen Sommer würde sie es endlich tun, nahm sich Luna vor.

 

Bis dahin würde es jedoch noch einige Zeit dauern. Der März ging gerade erst seinem Ende zu. Bei Tag lag die Sonne bereits warm auf Lunas Rücken, wenn sie die Tiere fütterte und den Weg zum Hof fegte, und wie eine zärtliche Berührung auf ihrem Gesicht, wenn sie innehielt. Schneeglöckchen und Krokusse welkten bereits, dafür öffneten sich Narzissen und Primeln. Ebenso die leuchtend dunkelblauen Zwergiris, deren Farbe so bezaubernd war und die sie dennoch Jahr für Jahr traurig machte.

Dämmerungsblau hatte ihr Vater diese Farbe genannt. Er meinte jene Tageszeit, wenn die Sonne längst hinter dem Horizont verschwunden war, aber das Blau ihr nicht folgte und immer tiefer und klarer wurde, auch dunkler, doch der Schwärze der Nacht über dem Meer noch lange nicht weichen wollte. Vor seinem Tod hatte er davon gesprochen, und sie hatten beide gewusst, dass er eigentlich Franzi meinte. Wie sie wohl heute aussah? Das kleine Porträtfoto, das Luna im letzten Jahr im Internet gefunden hatte, war schwarz-weiß, die Frau darauf eine Fremde für sie. Luna konnte das achtjährige Mädchen aus ihrer verschwommenen Erinnerung kaum darin wiederfinden. Dennoch hatte dieses Bild sie erschüttert, das ihr so vage von der Website entgegensah, als wollte die Frau ihrem Blick ausweichen.

Das war gewesen, als Luna es endlich gewagt hatte, Franzis Namen in die Suchmaschine zu geben. Sie war bald fündig geworden. Ihre verlorene Schwester führte mit einem Mann zusammen ein Café auf dem Darß. Ein Café namens Franzis Hafen. Luna hoffte, dass dieser Name bedeutete, dass Franzi in ihrem Leben angekommen und glücklich war. Sie redete sich ein, dass es für ihre Schwester gar nicht gut wäre, wenn Luna jetzt alte Wunden wieder aufreißen und alles durcheinanderbringen würde, indem sie Kontakt zu ihr suchte. Das Café gab es noch nicht lange. Sollte Franzi doch erst einmal zur Ruhe kommen und den Betrieb etablieren! Irgendwann würde der richtige Zeitpunkt da sein, sich bei ihr zu melden. Luna würde diesen Moment finden, eines Tages. Es lag ganz bei ihr, denn Franzi würde es nicht tun. Nicht, nachdem Luna sie dermaßen im Stich gelassen hatte.

Aber dass sie das Bild betrachtet hatte, war jetzt auch schon wieder über ein halbes Jahr her.

 

Das Marmeladenregal war fertig befüllt. Luna stapelte gerade die leeren Kartons hinter den Tresen, als Henriette hereineilte.

»Ach, Luna! Hör mal, könntest du eine Bestellung zum Hotel Kranichland bringen? Ich frage dich nur, weil ich weiß, wie gern du durch die Gegend radelst.« Henriette strahlte Luna etwas atemlos an und krempelte dabei die Ärmel ihres Sweatshirts auf, das deutliche Spuren der Arbeit im Stall trug. »Daniela kommt dich gleich ablösen. Ist ja eh nicht mehr lange bis zu deinem Feierabend, du kannst dann gleich nach Hause fahren. Du machst schon wieder viel zu viele Überstunden in letzter Zeit!«

»Ach, Henriette. Du weißt doch, ich bin hier so gut wie zu Hause. Setz dich doch!« Henriettes Kurzatmigkeit machte Luna Sorgen. Die Hofbäuerin war nun schon über siebzig, und sie hatte ein Leben lang etwas zu viel von der frischen Hausmannskost gegessen. Henriette und Hubert waren früher Lunas Fels in der Brandung gewesen, auch wenn sie immer eine gewisse Distanz wahrten. Die beiden hatten eigene Kinder. Daniela würde den Hof einmal übernehmen, zumindest sah es zurzeit so aus. »Was für eine Lieferung?«

Henriette ließ sich auf einem Hocker nieder und reichte Luna einen Zettel.

»Eier, Holundergelee, Nusskekse. Sieh selbst.«

Luna goss Henriette ein Wasser ein und reichte es ihr auffordernd.

»Danke. Ich weiß, der Arzt hat gesagt, ich soll mehr trinken. Aber seit deine Oma nicht mehr ist, lässt du deine ganze Fürsorgepflicht an mir aus«, beschwerte sich Henriette mit einem Lächeln.

Luna, die gerade begann, einen Karton mit der Bestellung zu füllen, ließ fast das Holundergelee fallen. »Wirklich? Das ist mir gar nicht aufgefallen. Tut mir leid!«

Henriette winkte ab. »Das muss es nicht. Ist ja lieb von dir. Aber Daniela passt auch schon auf mich auf, und Hubert sowieso. Das wird mir zu anstrengend! Ich denke, du solltest dich mal um dich selbst kümmern. Tanzen gehen mit Dennis oder so. In Schwante ist ein Frühlingsfest.«

Luna war froh, dass Daniela in diesem Augenblick hereinkam. Henriette hatte den Spieß sauber herumgedreht. Luna musste so oft jemandem erklären, dass solche Veranstaltungen ihr zuwider waren. Wenn Henriette jetzt auch noch damit anfing, ihr so etwas aufzudrängen … Sie ging die Liste noch einmal durch und verschloss hastig den Karton. »Ich fahr jetzt mal los!«

»Na klar, ich hab hier alles im Griff«, sagte Daniela vergnügt und warf die Kaffeemaschine an.

 

Luna beeilte sich, den Karton auf das Fahrrad zu laden und loszufahren. Sie fühlte sich wie befreit und trat in die Pedale. So ein Frühlingstag erfüllte sie unweigerlich mit einem seltsamen Rausch und einer unbestimmten Sehnsucht. Bevor sie den Hof verließ, hielt sie noch bei den Wasserbüffeln an. Arvalus, benannt nach einem keltischen Landwirtschaftsgott, war schon lange ihr Liebling. Die Wasserbüffel gehörten seit Jahren zum Hof. Sie strahlten eine tiefe, wohltuende Ruhe aus, zu der sich Luna sofort hingezogen gefühlt hatte. Zutraulich waren sie auch. Arvalus konnte man jederzeit streicheln oder sich an ihn lehnen, sogar wenn er im Gras lag und ruhte. Luna vertraute ihm alle ihre Sorgen an, früher und selbst jetzt noch. Er widersprach ja nie. Zuhören konnte er aber gut. Sein dunkles Fell glänzte in der Sonne. Das mächtige Tier sah sie sanft und geduldig an, während sie leise auf ihn einredete. »Dir gefällt der Frühling auch, was, alter Freund?«, sagte sie und rieb ihm den Hals. »Wenn es warm wird, ist alles leichter. Weißt du was? Im Sommer werde ich ihr schreiben.« Wenn sie es laut aussprach, wurde es sicher leichter. Arvalus schnaubte. Es klang amüsiert. »Wirst schon sehen«, meinte Luna. Er stupste sie leicht an, dann begann er wieder zu fressen. »Mach’s gut«, sagte sie und schwang sich auf ihr Rad.

Bis Groß-Ziethen waren es nur zwanzig Minuten. Im Hotel Kranichland schenkte man ihr ein Stück frischen Apfelkuchen. Auf dem Rückweg war es noch immer so schön, dass sie beschloss, eine Pause am Mühlensee einzulegen und es dort zu essen. Um die alte Bockwindmühle herum färbten sich der Himmel und damit auch der See bereits leicht rosa. Kühe standen im flachen Wasser und genossen den Frühling ebenfalls sichtlich. Oben zogen geschwätzige Pfeilformationen aus Graugänsen Richtung Norden. Luna setzte sich auf den langen Steg, baumelte mit den Beinen und genoss den Kuchen, der unter dem fruchtigen Aroma auch nach Zimt und echter Vanille schmeckte. Herrlich! In einem solchen Moment war sie glücklich. Am anderen Ufer strich ein Silberreiher entlang. Sie bewunderte seine Anmut. Der Beginn einer neuen Saison, die Vorfreude auf drängendes Leben überall sprachen aus jeder Knospe, aus dem Glänzen der Weidenkätzchen, dem süßen Geruch in der Luft und den Rufen der Spechte. Luna vergaß alles außer der Gegenwart. So soll Leben sein!, dachte sie. Genau dafür sind wir hier. Damit jemand all die Schönheit sieht.

Sie liebte dieses Land. Damals war sie im Ländchen Glien in Oberhavel nur deshalb gelandet, weil ihre Großmutter hier lebte und Luna nicht gewusst hatte, wohin sie sonst sollte. Glien, so lernte sie, kam vom slawischen Wort für Lehm. Das nahm sie als hoffnungsvolles Zeichen. Aus Lehm konnte man alles mögliche Haltbare, Feuerfeste formen. Sicher auch ein neues Leben.

Und nun war sie immer noch hier.

 

»Grüß Sie, Frau Michelly!«, sagte da eine Stimme hinter ihr. Luna fuhr zusammen. Sie hatte die Frau mit dem Schäferhund nicht kommen hören. Hastig stand sie auf und dachte fieberhaft nach. Frau Binger …? Nein, Frau … »Frau Ellinghaus! Guten Tag!« Sie hatte die Bekannte ihrer Großmutter seit der Beerdigung nicht gesehen.

»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Frau Ellinghaus und musterte sie streng. Sie war mit Oma Hedwig im Kirchenchor gewesen, fiel Luna ein. »Wohnen Sie denn jetzt ganz allein?«

»Ja, immer noch in Großmutters Haus. Danke, es geht mir gut, und selbst?« Smalltalk war nicht Lunas Stärke. Sie hasste solche Gespräche.

»Wie es eben so ist in meinem Alter. Ich habe Sie nicht angesprochen, um Ihnen von meinen Zipperlein vorzujammern, Fräulein. Wissen Sie, Hedwig war sehr froh, dass Sie sich so gut um sie gekümmert haben! Ich habe großen Respekt davor, wie Sie das gemacht haben. Respekt!«, wiederholte Frau Ellinghaus mit Nachdruck. »Hedwig war keine einfache Person. Absolut nicht. Genau wie ich.« Sie ließ ein Gelächter los, das einen Schwan auf dem Wasser aufscheuchte. Mit lautem Schwingenschlagen startete er in den Abendhimmel. »Das wollte ich Ihnen auf der Beerdigung noch mitteilen, aber da waren Sie beschäftigt. Hedwig war Ihnen nämlich ehrlich dankbar. Ich wusste nicht, ob sie’s Ihnen je gesagt hat. Machte sie selten, so was. Wenn nicht, wissen Sie’s jetzt. Ja, ja, Samson, ich komm ja schon, du Ungeheuer!« Der Schäferhund hatte kräftig an der Leine gezogen. Es war eindeutig, wer hier den Ton angab. Frau Ellinghaus war viel zu zierlich und gebeugt, um das kräftige Tier halten zu können. Aber es schien ihr nichts auszumachen. »Schönen Abend noch, Frau Michelly. Alles Gute!«

»Ihnen auch, Frau Ellinghaus. Und – danke schön!«, rief Luna ihr verdattert nach. Die alte Dame winkte lässig ab, ohne sich noch einmal umzusehen. »Nun zieh doch nicht so, Samson, du stures Tier!«, verklang ihre Stimme hinter dem goldenen Schilf vom Vorjahr, durch das neue grüne Halme zu sprießen begannen. Jetzt wurde es rasch kühl, ein Mückenschwarm fing an, sich für Luna zu interessieren, und die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden.

 

Luna radelte nach Hause, beschämt, dass sie ungehalten über die Störung durch die alte Dame gewesen war. Frau Ellinghaus hatte ihr ein großes Geschenk gemacht. Denn Oma Hedwig hatte Luna tatsächlich nie gesagt, ob sie froh über ihre Gegenwart und Hilfe war.

Über persönliche Dinge zu sprechen war nie die Stärke der Familie Michelly gewesen.

Auch ihr Vater hatte lieber Geschichten erzählt. Sie hörte noch seine Stimme draußen im Wald, in solch sanften, klaren Abendstunden wie jetzt. Vor allem, wenn der Südwind wehte, wie heute.

Als sie die Tür zu der winzigen Doppelhaushälfte aufschloss, erschien es ihr zum ersten Mal nicht mehr so kühl und unnahbar darin wie seit Hedwigs Tod. Vielleicht war es Zeit, hier demnächst doch zu renovieren? Bis jetzt war es Hedwigs Zuhause geblieben. Luna hatte zu ihren Lebzeiten nie etwas ändern dürfen, und inzwischen war sie den Zustand gewohnt. Zu Hause war sie selbst ohnehin stets mehr auf dem Kiebitzhof, obwohl sie hier wohnte. Aber nun war es Frühling und Hedwig schon über ein Jahr nicht mehr da.

Zeit, etwas zu erneuern. Vielleicht führte das ja auch zu anderen Veränderungen.

Franzi

Darß/Ostsee

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