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Wer aus sich eine Hauptperson machen will, muss sein Leben als Geschichte erzählen. Da sitzt er nun in Taormina, auf der Terrasse einer Bar hoch über dem Mittelmeer und träumt davon, endlich die Hauptperson des eigenen Lebens zu sein. Reisen, Lieben und Erzählen führen ins Offene. Im Prinzip. Aber wenn einen die eigene Schwester auf eine Bildungsreise nach Sizilien geschickt hat … eher nicht. Goethe war auch schon da! – Na und? Da bittet ein wildfremder Mann vom Nachbartisch, eine gewisse Ilona zur Insel Samos zu begleiten. Ist das ein Witz? Ein Spiel der Götter? Jedenfalls eine Chance, den Plänen seiner Schwester zu entkommen. Er beginnt seine eigene Liebes-, Abenteuer- und Reisegeschichte: das Ilona-Projekt. Lutz Flörke legt in seinem vielschichtigen Debüt einen Roman über die zeitgenössische Sehnsucht nach einem Leben als Hauptperson und den Hunger nach Geschichten vor. Skurril und von grotesker Komik.
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Seitenzahl: 263
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Dies ist ein Roman. Die Handlung und die Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.
Erste Auflage 2019 Copyright © 2018 Verlag duotincta, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Satz und Typographie (Print) und E-Book: Verlag duotincta | Jürgen Volk, Berlin Einband: Verlag duotincta | Nadine Tsalawasilis, Stuttgart / Jürgen Volk, Berlin
unter Verwendung von Motiven von Wikipedia und Pixabay
Foto Skulptur: Lutz Flörke, Hamburg
ISBN 978-3-946086-32-1 (Print)
ISBN 978-3-946086-33-8
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Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise des Landes Niedersachsen und der Stadt Hamburg.Zuletzt erschien von ihm "Alles so schön grün hier – Versammelte Fälle und Geschichten" (gemeinsam mit Vera Rosenbusch).
Für Vera.
Solange HP sich damit begnügte, Taormina von seinem Bett in Hamburg aus ins Auge zu fassen, erhob sein Körper keinen Einwand gegen die Reise. Er fing erst damit an, als er begriff, dass er mit von der Partie sein sollte und dass man ihn am Abend der Ankunft in ein Zimmer führen würde, das ihm unbekannt war. Seine Auflehnung begann mit Herzrasen, ging über in Apathie und verlegte sich schließlich auf die Ausblendung der Wirklichkeit.
An der Rezeption des Hotel Méditerranée in Taormina kommt HP zu sich. Er stellt den Koffer ab, füllt den Meldeschein aus, lässt sein Gepäck aufs Zimmer bringen, steckt den ersten Band Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein und flieht hinaus in den Abendsonnenschein.
Reisen wäre in Ordnung, wenn der Ortswechsel nicht wäre, denkt er in Taormina auf dem berühmten Corso vor dem Hotel Méditerranée. Zwischen den Häusern der Altstadt führen Treppen den Berghang hinauf. Ein Weinhändler stellt drei Tische raus, tatsächlich nur so wenige, rammt eine blakende Fackel in den Boden und schaut die Treppe zu HP hinab. Wie gut!, denkt der. Am besten, ich versuche in jenen Zustand alkoholgestützter Euphorie zu gelangen, in dem das Nervensystem weniger verletzlich ist. Er bestellt eine Flasche roten Lacrimae Christi, gezogen auf schwarzer Lava, Empfehlung des Wirts.
Ich sitze hier, denkt HP, weil ich es nicht geschafft habe, nein zu sagen. Tief unter mir liegt ein dunkles, schwarzes Nichts, das Meer, weil ich nicht nein gesagt habe. Rechts erhebt sich der Umriss des Ätna, weil ich nicht nein gesagt habe. Von der kleinen beleuchteten Straße, zweihundert Meter tiefer, mit ihren Miniaturautos will ich nicht reden. Spielzeug-Eisenbahnen eilen dort unten durch die Nacht, weil ich es nicht geschafft habe.
Er sitzt exakt 204 Meter über dem Meeresspiegel. Das hat er aus dem Reiseführer. Selbst gekauft nach sorgfältiger Prüfung. Der beste all der schlechten. Aber ohne käme er sich irgendwie nackt vor.
Er könnte eine Ansichtskarte schreiben. Liebe Schwester, die Aussicht in Taormina ist genauso wie im Reiseführer beschrieben. Herzliche Grüße, HP.
– Taormina!, hat sie gerufen. Stell dir vor, Taormina, gellt es noch jetzt in seinen Ohren.
Der ganze Kreis springt auf, brüllt Taormina und hebt die gefüllten Champagnergläser.
– Taormina!, prosten sie ihm zu. Freust du dich denn nicht? Nun freu dich doch!
Es ist sein Geburtstag. Seine Schwester hat eingeladen. Er sei die wichtigste Person in ihrem Leben. Sie brauche ihn. Damit sie wisse, wo sie hingehöre im alltäglichen Wechsel von Selbstoptimierung und Einsamkeit.
Neue anschmiegsame Herrenschuhe verbreiten ihren Lederduft. Wir möchten, dass Ihr Leben gut läuft, steht auf dem Karton. Das Leben seiner Schwester läuft gut; die Schuhe hat sie ihm gekauft. Damit er in Taormina was Bequemes zum Laufen hat. Das Wohnzimmer seiner Schwester, 58 Quadratmeter direkt am Alsterlauf, erstreckt sich über zwei Ebenen. Eine ist mit Kamin ausgestattet, die andere mit Esstisch und Kristalllüster.
– Glaubst du, flüstert sie, ich lade zum Spaß ein? Geselligkeit ist kein Spaß, mein Lieber, sondern Arbeit an sozialer Vernetzung, die dem Fortkommen dient. Spaß kommt oben drauf, wenn man Glück hat und einem die Menschen sympathisch sind.
Ihre Freunde erheben das Champagner-Glas, seine Schwester zieht den Gutschein hervor. HP weiß, egal, was kommt, ich möchte lieber nicht. Studien-Reise: Tempel, Orgien, Liebesgötter – griechisches Sizilien. Goethe war auch schon da!
Eine Stille tritt ein. Sie starren ihn an. Er leert das Glas und schafft es nicht, glücklich zu sein. Warum kann er nicht wenigstens so aussehen? Seine Schwester könnte das. Die anderen warten. Sie haben gesammelt, sie machen ihn glücklich, das wollen sie jetzt sehen. Wirklich glücklich ist, wer einen anderen glücklich macht, der sonst kein Glück im Leben hätte. Jemanden ohne Selbstvertrauen. Einer muss ja der ohne Selbstvertrauen sein, das ewige Kind; die Wahl seiner Schwester ist auf HP gefallen. Sie hat Erfolg, er ist das Kontrastprogramm.
Ein bisschen mehr Freude könne er schon zeigen, findet sie. Er starrt zu Boden. Auch so schafft er es nicht, nein zu sagen. Steht stumm dumm rumm. Lehnt nicht ab, schweigt. Alle warten mit erhobenen Gläsern, schließlich ruft seine Schwester:
– Seht nur, wie gerührt er ist.
Gläser klingeln.
– Prost! Damit du mal siehst, dass die Welt nicht nur aus Büchern besteht!
Der Wirt auf der Terrasse in Taormina zieht den Korken aus der Flasche Lacrimae Christi. Schnuppert daran, nickt, reicht ihn dem Gast. HP winkt ab und bittet mit einem Handzeichen, vollzuschenken. Der erste Schluck, der zweite, er klappt die Augenlider zu.
Begrüßungscocktail – nein danke. Selbstverständlich hat er sich der Reisegruppe gar nicht erst angeschlossen. Was wollen Reiseleiter ihm erzählen, was er nicht sowieso besser weiß? Die paar Fakten kann man nachlesen und über Zusammenhänge weiß er besser Bescheid. Die Jahrhunderte der großen Metaerzählungen mögen vorbei sein, desto wichtiger ist es, die kleinen intelligent und phantasievoll auszumalen. Wenn ihm jemand zuhören würde …
HP wünscht sich oft, Hauptperson seiner Lebensgeschichte zu sein. Bis dahin trinkt er seinen Wein lieber allein. Der Reiseveranstalter wird sich selbstverständlich weigern, die nicht in Anspruch genommenen Leistungen zurückzuerstatten. So wird fast sein ganzes Reisebudget fürs Hotel in Taormina draufgehen; in zwei Wochen kann er wieder zurückfliegen.
HP nimmt einen Schluck, blättert in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und liest: Die Erschaffung der Welt begann an einem Sonntag. Der erschöpfte Schöpfer lehnte sich zurück und dachte: Morgen fang ich was Neues an. Und am Montag, nachdem er geruht hatte, schwebte der Geist über den Wassern und es war gut.
Ob das wirklich von Proust stammt? Er will den Satz noch einmal lesen, findet ihn aber nicht wieder. Vielleicht im vorigen Abschnitt?
Stimme vom Nachbartisch:
– Sie lesen Proust? Respekt!
– … die wahren Paradiese sind die, die man verloren hat, liest HP.
– Ich würd’ auch gern Proust lesen.
HP schweigt und starrt ins Buch. Das irritiert den anderen nicht. Er macht sich breit. Selbstvertrauen und Übergewicht, von beidem zu viel. Er schielt in HPs Buch und sagt:
– Nicht nur die wahren Paradiese sind verloren, auch mein Handgepäck.
Über einem hellen, edelknitternden Leinenhemd wölbt sich eine Weste mit geometrischen Mustern in skandinavisch blassen Wollfarben, wie aus dem Ikea-Katalog, nur teurer … Dazu Strohhut mit dunklem Band, Modell Tod in Venedig. Mit mindestens einer Flasche Rotwein intus stellt er die Gemeinsamkeit der Ästheten her:
– Ja, Proust …!
Das soll HP schmeicheln und tut es auch.
– Wie gern läse auch ich jetzt Proust. Leider unmöglich. Weil ich mein Handgepäck im Taxi vergessen habe. In Stuttgart! Mit dem zweiten Band drin. Verlorene Zeit, verlorenes Buch, verlorenes Paradies. Den ersten Band habe ich soeben wieder einmal gelesen. Der zweite ist im verlorenen Koffer. Und ich kann doch nicht mit dem dritten fortfahren, wie soll man den dritten vor dem zweiten lesen, Guermantes vor Im Schatten junger Mädchenblüte?
– Kennen Sie den?, fragt HP. Kommt ein Mann vorbei und sagt: Proust! – Sagt der andere: Gesundheit!
Der Dicke, er heißt Reinhardt, wie sich herausstellen wird, will sich ausschütten vor Lachen. Lacht lauthals proustend. Rumpf bebt, Arme schlackern, enorme Geste mit links. Schwupp, wischt er sein gefülltes Weinglas vom Tisch.
Instinktiv findet das Glas sein Ziel, denkt HP. Wäre ich doch im Hotel geblieben. Schon saugt seine Hose gierig den roten Wein in sich hinein.
– O! Da ist Ihnen aber ein Malheur passiert!, lächelt Reinhardt süffisant.
Zwei vorbeikommende Mädchen schauen auf HPs Schoß und kichern schamlos. Eine bläst die Kerze auf seinem Tisch aus.
Reinhardt schenkt sich sein Glas voll, aus HPs Flasche.
Setzt an, trinkt leer, schenkt nach:
– ’tschuldigung. Auf den Schreck …
– Die Hose ist klitschnass!
– Das trocknet unter Siziliens Himmel!
Er schnalzt mit der Zunge.
– Im Übrigen bezahle ich Ihnen die lockerlose Abendhose! Hab nur leider im Moment nicht genug Geld dabei …
HP drückt eine Serviette auf den Fleck; die weicht sofort durch. Sein neuer Bekannter ordert eine weitere Flasche, nimmt einen Schluck, setzt das Glas mit Schwung auf den Tisch, nickt, der Wirt füllt beide Gläser. Der ist in Stimmung, denkt HP, jetzt kommt bestimmt seine Lebens-Geschichte. Und sie kommt.
– Erbe! Ich bin hauptberuflich Erbe. Können Sie sich das vorstellen?
HP tupft auf seinem Schoß herum. Die Serviette färbt die Hose grün.
– Sie sollten dem Himmel danken, wenn Sie nicht erben müssen. Jeder grinst, wenn man das erzählt. Denkt, deine Probleme möchte ich haben. Erbe! – Seit über vierzig Jahren bin ich Ziel und heimlicher Zweck all dessen, was meine Eltern vor mir angefangen haben, über den Tod hinaus. Einmal Erbe, immer Erbe, egal, was ich dagegen tue. So etwas Unnützes wie Literatur habe ich studiert, um keine Drogeriekette verwalten zu müssen, in der man Hautcreme und Katzenstreu verkauft! Der Erbe eines Katzenstreu-, Hautcreme- und Staubsaugerbeutel-Imperiums! Stellen Sie sich das vor! Von Magen-Darm-Pastillen und Bio-Weinen nicht zu reden. Das können Sie sich nicht vorstellen!
Er hätte ebenso gut Ameisenköder erwähnen können, Düngerstäbchen oder Tortenspitzen aus Papier.
– Früher wurde man als unnützer Erbe Bischof oder Künstler, heute promoviert man über Thomas Bernhard, egal, wie lange das dauert und was das kostet. Warum auch nicht. Übrigens schreibt der: Ich hatte mit meiner Schwester Sizilien bereist und wochenlang in Taormina verbracht, – merkwürdiger Satz, steht aber wortwörtlich in seinem Roman Beton – in dem berühmten Hotel Timeo unter dem griechischen Theater. Leider war da kein Zimmer mehr frei.
Verstehen Sie, als Erbe kann man alles werden. Im Prinzip. Ich könnte Playboy werden, mich bei Greenpeace engagieren, blauäugige Höckerschwäne züchten, die grünkarierte Eier legen. Ich könnte zu Fuß nach Lourdes pilgern, in die Stromgewinnung mittels leuchtfähiger Mikroorganismen investieren oder eine Familie gründen. Aber man bleibt immer Erbe. Als Erbe muss man sich dauernd rechtfertigen als jemand, der nicht bloß Erbe ist. Ich bin gleichzeitig frei und ungerechtfertigt. Proust zum Beispiel hatte ein gesünderes Verhältnis zum Reichtum. So schrieb er über Swann: Er gehörte zu jener Kategorie von intelligenten Männern, die für ihr müßiges Dasein einen Trost und vielleicht auch eine Entschuldigung in der Idee suchen, dass Müßiggang ihrem Geist Objekte bietet, die des Interesses mindestens ebenso würdig sind wie die, die Kunst oder Wissenschaft ihnen an die Hand geben würden, und dass das „Leben“ interessantere und romantischere Situationen mit sich bringt als alle Romane. – Verstehen Sie das? Können Sie das begreifen? In seiner ganzen Tragweite, in seiner ganzen Tragik? Naja … Proust! Aber was ich eigentlich sagen will … Darum geht es überhaupt nicht! Es ist nicht nur das Erbe! Meine Mutter ist gestorben. Kommt vor, sicher. Mein Vater auch. Kommt vor, klar. Autounfall. Beide zugleich. Kommt selten vor. Logische Folge: Beerdigung. Bis hierhin ist das keine besondere Geschichte, aber warten Sie ab.
HP sagt nichts, der andere hört Beileid heraus.
– Herzlichen Dank, sagt er. Jahrelang interesselose Koexistenz meiner Eltern mit mir, plötzlich bin ich Erbe und repräsentiere bei der Beerdigung die Familie. Drei Tage Verwandtschaft, Tränen und Mahlzeiten. Man wird in den Arm genommen von schmuckbehangenen Mumien. Nachts um drei Uhr drängen sich minderjährige Nichten kichernd auf meinen Schoß, um zu testen, ob ich homosexuell bin. Und im Morgengrauen Gespräche über Moral und Waffenhandel mit Herren, denen Schmisse das Gesicht entstellen.
Mein Vater vererbt also mir und meiner Schwester die Firma.
– Schwester?, sagt HP. Kenn ich.
– Die will mich am liebsten sofort auszahlen, denn sie führt die Geschäfte seit Jahren, und ich hätte ja kein Interesse an Haarspray und Hundefutter. Da hat sie recht. Was soll ich damit auch anfangen? Man kann nicht von mir verlangen, dass ich mich um geistlose Geschäfte kümmere! Ich will lediglich am Gewinn beteiligt werden. Da wirft sie mir vor, ich wäre ein Schmarotzer. Ausgerechnet ich! Ich weise darauf hin, dass ich, nur ich, ihre Töchter Jahr für Jahr nach Bayreuth mitnehme. Oder nach Venedig. Meine Schwester kümmert sich ja nicht um deren ästhetische Bildung! Also, um es kurz zu machen, denn das wirklich Wichtige, eine Lebensentscheidung sozusagen, die kommt ja erst noch … Wir einigen uns. Sie bleibt gegen ein pompöses Gehalt Geschäftsführerin, überweist mir monatlich meinen Teil am Gewinn, und ich störe sie nicht beim Geldverdienen.
Nach der Beerdigung wollte ich so schnell wie möglich fort. Wenn man im Handumdrehen das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünscht, wohin geht man?
– Nach Venedig?
– Potsdam! Denken Sie nicht an Preußen, denken Sie an die einzigartige Parklandschaft. Poesie in Grün! Ich fasse also den Entschluss, erhobenen Hauptes über meine entwürdigenden Geldangelegenheiten hinwegzusehen, die ja doch nur die Lust am Schönen vergiften, und widme mich Rokoko und Römischen Bädern. Beim Anblick von Charlottenhof habe ich Drogeriemärkte und Verwandtschaft vergessen. Als ich die Orangerie im italienischen Stil erreiche, sogar meine Schwester. Und dort, Sie glauben es nicht, also in dieser italienischen Orangerie, da kommen Sie nie drauf, beginnt eine wunderbare Geschichte. Also … ich entdecke eine Ausstellung über visionäre Villenarchitektur auf Stichen aus dem 18. Jahrhundert!
Er kann die visionäre Villenarchitektur längst nicht mehr sauber aussprechen.
– Ich sehe das Plakat und betrete das Orangerieschloss im Stil der italienischen Renaissance, begierig auf wunderbare Villen in paradiesischen Gärten … Ich erblühe, nein, wie soll ich sagen, ich erglühe vor Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühn.
Man redet viel, denkt HP, wenn man unter eine gewisse Einsamkeitsgrenze gerutscht ist.
– Jedenfalls in der Ausstellung ist außer mir niemand. Total leer. Nur Personal. Kein einziger Besucher. Und wie ich so herumschlendere, über visionäre Villenarchitektur sinne – also mich mit der Frage beschäftige, würde ich so leben wollen, in welcher Villa am liebsten, würde ich in ihr sterben wollen, zum Sterben schön …, das ist ja noch wichtiger, als nur seine Tage dort zu verbringen … In dem Augenblick, und jetzt kommt’s. Jetzt kommt sie. Passen Sie auf! Da spricht mich plötzlich diese Frau an. Vollkommen unerwartet. Vom Aufsichtspersonal. Die stehen ja mehr oder weniger überflüssig schweigend herum. Sie aber spricht mich an. Dunkelblond, schlank, gerade noch jung, knapp jünger als ich jedenfalls. Beinahe verblüht, wie man so sagt. Trifft genau meine melancholische Stimmung. Ich sage … Nein, sie sagt … Was hat sie eigentlich gesagt …? Sie sagt … Also … etwas wie:
– Ach, da würde ich auch gern mal hin! Aber glauben Sie, ich kann meinen Mann so weit bringen? Kein Geld, sagt er, keine Lust, meint er. Er will einfach nicht. Alle Freunde und Verwandten sind längst in Italien gewesen, nachdem man früher so lange nicht gekonnt hat …
– Tja, was sagt man dazu, wenn eine verblühende weibliche Aufsicht auf diese Weise von ihren Sehnsüchten anhebt? Ich sage artig:
– Versuchen Sie es ruhig noch mal mit ihrem Mann!
Da habe sie ausgesehen, als ob sie …
– Frauen, die sich verflüssigen …, sagt er. Dafür habe ich ein Faible.
Unten auf dem Corso küsst sich ein junges Paar.
– Das war auch mein Impuls in Potsdam; hätte ich es doch getan. Stattdessen überfiel mich diese unverantwortliche Laune, etwas in Gang zu bringen, aus diesem einen Menschen etwas zu machen … eine Geschichte. Was ist Literatur lesen gegen die Erfindung einer Lebensgeschichte, einer biographischen Illusion? Also sage ich: Ich lade Sie ein! Treffen Sie mich in Taormina!
HP bewundert Reinhardts Tatkraft. Ob der lügt?
– Sie starrt mich an wie nach einem obszönen Antrag. Dabei wollte ich ihr eine Geschichte schenken, in der sie die Hauptrolle spielt. Ich fand mich großartig.
– Und?
– Zwei Drittel des Reisegeldes drücke ich ihr sofort in die Hand, ein bisschen Risiko muss sie selber tragen … Natürlich kriegt sie den Rest hier, das Hotel sowieso. Nun jedoch …
HP kann sich vorstellen, wie groß und unternehmend der sich vorgekommen ist in Potsdam. Verführer, Kenner, Menschenbeglücker, Spekulant, der ein irrsinniges Ding laufen hat … Ein einzigartiger, kreativer Akt.
Ein paar Tage später setzte sich die Frage fest, ob die wirkliche Begegnung nicht lediglich der Tod seines Traumes sein würde.
– Jetzt haben Sie Angst, dass sie ihren Mann mitbringt?
– Seien Sie nicht albern! Aber was soll daraus werden außer einer weiteren sexuellen Beziehung, bestenfalls? Peinlich. Immer diese Peinlichkeiten, die mich mein ganzes Leben verfolgen. Der Entwurf besitzt den Schwung des Gedankens, die Verwirklichung versackt im Klischee! Sie trinken ja nicht!
Er leert sein Glas.
– Hören Sie, Sie müssen an meiner Stelle hingehen!
Es ist Mitternacht. Unter HPs Hirnschale summt eine Summe von Fragen. Sein neuer Bekannter hat im Fahrstuhl Those were the days, my friend gesungen,We thought they’d never end. Und sämtliche Knöpfe gedrückt. In jeder Etage hielten sie an:
– Dritter Stock, Waschmittel und Hygieneartikel!
In jeder Etage!
Keine Ahnung, wie spät es ist. Dieses Summen und Brummen lässt nicht nach. Als dröhnten mehrere Kirchenorgeln. Mikroorganisten, die auf winzig kleinen Tasten tief grollende Töne hervorbringen ebenso wie spitze Klänge – apokalyptisch und apoplektisch.
Das ist der Ausnahmezustand, denkt HP. Habe ich den gewollt? Oder weshalb habe ich nicht nein gesagt?
Heiß, denkt er, verdammt heiß, Schweiß strömt seinen nackten Oberkörper hinab, tropft auf den Rasen und versickert in der Drainage des antiken Stadions von Taormina. Wieso Stadion? Haben die hier nicht ein antikes Theater? Sein neuer Bekannter fläzt sich im Regiestuhl, HP sitzt auf der Auswechselbank. Ist schon wieder Europameisterschaft? Nein, es handelt sich um x-beliebige Besoffenheit.
– Action!, ruft der Dicke.
Mikroorganisten spielen einen Tusch. Herren und Damen in Uniformen und mit Namensschildern, die Creme de la Creme Potsdamer Aufsichtskräfte, schreiten rhythmisch über die Bühne. Frauen schlagen hölzerne Rasseln aneinander, stampfen mit dem rechten Fuß auf und singen: Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht rum! Halten sich tragische Masken vors Gesicht und treten an die Rampe: Wer sich umdreht oder lacht, dem wird der Buckel blaugemacht! – Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!
Natürlich, denkt HP, jetzt werde ich eingewechselt. Er streift sich ein Trikot mit der Nummer 2 über.
– Los!, ruft sein Trainer. Jetzt kommt’s drauf an!
HP steht auf und wird von einem Ganzkörperscanner durchleuchtet. Natürlich, dies ist seine große Chance! Folglich ist dies kein Stadion, sondern ein Großflughafen! Und sein Trainer ist nicht Fußballtrainer, sondern Großschriftsteller. Er wechselt ihn nicht ein, sondern nimmt ihn auf die große Reise mit. Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um Großschriftsteller kennenzulernen, die wissen, wo’s langgeht. Ein Großschriftsteller ist kein Schriftsteller, der einfach viel Geld verdient, sondern gehört zur Großindustrie des Geistes.
Der Großbürger als Großschriftsteller auf dem Großflughafen – was hat der kleine HP hier verloren? Man träumt ja nicht, um aufzuwachen!
Mit einem Whisky in der Hand tritt der Großschriftsteller an den Schalter der BBC.
– Zwei Tickets bitte, kommandiert er mit erfolgsgewohnter Stimme.
– Tut mir leid, Sie sind hier bei der BBC!, entgegnet die junge Frau in blaugrüner Uniform.
– Na und?
– BBC – hier gibt es keine Flugkarten. Versuchen Sie’s dort drüben, gleich neben dem ZDF!
Das kann nicht wahr sein! Es ist wahr! Auf dem gesamten Gelände existiert nicht eine einzige Flugkarte, und zwei Angestellte hinter ihnen tuscheln, die Rollfelder seien an den örtlichen Kegelclub vermietet.
Erschöpft und enttäuscht begeben sie sich in einen Blumenladen, der in eine Video-Sauna verwandelt ist: Zutritt ausschließlich für minderjährige Transvestiten!
Selbstverständlich Unsinn – weder sind er und der Großschriftsteller minderjährig noch Transvestiten, und die Sauna wird sicher bald in einen Hundesalon umgebaut werden. Ein Flughafen ist ja ein extrem transitorischer Apparat.
17.30 MEZ. Am Schalter von Radio Berlin-Brandenburg versucht der bekannte Moderator M., ein Interview mit dem Großschriftsteller zu führen. Bereits viermal hat er die Frage wiederholt, warum zum Teufel schreiben Sie Bücher, aber der Gefragte antwortet jedes Mal:
– Ich verstehe Ihre Frage nicht!
Schließlich ruft der Moderator, ernsthaft ums Verstehen des Künstlers bemüht:
– Wenn das Leben die besten Geschichten schreibt, wer schreibt dann Ihre Bücher?
Auf dies Stichwort springen plötzlich und nahezu gleichzeitig sämtliche Türen des Flughafengebäudes auf, zwölf vermummte Gestalten stürmen herein, stoßen unartikulierte Schreie aus, ballern wild mit Maschinenpistolen herum und besetzen sämtliche Schaltstellen des Komplexes.
Der Großschriftsteller beobachtet ungerührt, wie eine Frau (etwa aus Potsdam?) mit Strumpfmaske und Revolver den Moderator unterbricht und alle Anwesenden auffordert, Ruhe zu bewahren.
– Dies ist eine Aktion des Kommandos Anna Blume! Wir haben den Flughafen besetzt und fordern seine sofortige Verlegung nach Helgoland!
– Interessant, flüstert der Großschriftsteller. Ich werde mir eine Notiz machen …
Er greift in die Innentasche seines Jacketts.
– Wenn du Affe nicht deinen Wedelmeier stecken lässt, hast du ’ne Gurke im Leib!
Die Terroristin schlägt ihm mit dem Pistolenknauf über den Schädel.
– Wedelmeier … Gurke …, murmelt er, während er zu Boden gleitet.
– Werden wir jetzt alle umgebracht?, fragt zitternd der Moderator.
Die Mitinsassen des Flughafens beginnen sämtlich zu vibrieren. Das muss der Start sein. Richtig, sie heben ab; die Landschaft bleibt zurück. Wolkenfetzen, plötzlich rüttelt das ganze Gebäude. Sind das Turbulenzen? HP wird übel. Er würgt, stöhnt, erblasst. Er reißt sich zusammen.
Die Terroristin sticht dem Großschriftsteller, der wieder zu sich kommt, ihre Pistole in die Nase.
– Kennen Sie meine Akustischen Oblaten?, fragt er. Es geht um das H-Eilige in der Sprache, das Flüchtige. Eine Reminiszenz ans Abendmahl, Nachvollzug und Parodie in einem. Oblate 1: Die Welt als die sich öffnende Offenheit einfacher und wesentlicher Entscheidungen eines geschichtlichen Volkes. Heidegger, Sie verstehen. Die Erde als das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden. Der Großschriftsteller als Epiphanie … Und jetzt hinaus ins Leben!
Mit diesen Worten stößt der Großschriftsteller HP aus der Tür des fliegenden Flughafens und springt hinterher. Sie stürzen durch Wolken und Blau und Bläue, den strahlend weiten Himmel um sich herum. Wunderbar, denkt HP und wird erst unruhig, als der Großschriftsteller die Reißleine zieht und nach oben gerissen wird. Auch HP will den Fallschirm öffnen, tastet links, rechts, nirgends ein Abzug. Oh nein …! Da prallt er schon auf ein blaues Sofa vor der Deutschen Bank von Helgoland. Gerettet? Keineswegs. Reinhardt überreicht ihm eine unbegrenzte goldene Kreditkarte mit Diamanten am Band:
– Damit Du mal siehst, wie’s andern geht!HPs Speiseröhre erhält vom Magen einen Säurestoß und läuft über. Er würgt, alles bleibt drin, aber die Luftröhre erhält ihren Teil, die Stimmbänder reagieren wie ein Polyp in Essig und stellen die Arbeit ein. HP möchte etwas sagen, aber nur ein Krächzen verlässt den Rachen.
Sodbrennen – das saure Grauen nach Wein plus Acetylsalycit. Er taumelt ins Bad, kaut 6 – 7 – 8 – egal, das ganze Blister Talcid, noch eins. Der Magen beruhigt sich, doch der stimmlose Hals bleibt belagert von aggressivem Räuspern.
Draußen ist es ruhig und dunkel wie in der Nacht vor der Auferstehung. Nur ein Großschriftsteller weht vorbei und ruft berühmte letzte Worte:
– Man schreibt ja nicht, um anzukommen!
Der Drucklufthammer (umgangssprachlich Presslufthammer genannt) ist eine im Raum beweglicheMaschine.Ein Kolben, angetrieben durch Luft, überträgt einen Impuls auf ein Werkzeug, den Meißel. HP erwacht. Wo hat er denn diese Informationen aufgeschnappt?
Die Druckluft wird durch einen motorgetriebenen Kompressor erzeugt und dem Hammer über einen Verbindungsschlauch zugeführt.
HP benutzt Ohrstöpsel mit Schalldämmung bis zu 30 db. Leider beeinflussen Ohrstöpsel den Gleichgewichtssinn. Er pult sie aus dem Gehörgang. Drucklufthämmer werden angeboten von einhändig geführtem Gerät über schwere, beidhändig geführte Baugeräte bis zu Geräten, die an Baggernangebracht werden.
Dieser hämmert direkt am Schläfenlappen. Neben pneumatischenHämmern gibt es auch elektrische und benzingetriebene Abbruchhämmer. Die Schädelknochen vibrieren tief hinab ins Rückenmark.
Reißen die das Hotel ab, die Straße auf, seine Zähne raus? Aber nein, viel schlimmer, was hier dröhnt, ist kein Presslufthammer, sondern sein Pulsschlag. Herzschlag, Hirnschlag, Schlaganfall, denkt HP.
Er hebt den Kopf ganz gering an, kaum einen Zentimeter. Ein Schlag spaltet sein Hirn. Der Schmerz huscht hinter den Augen entlang, lagert sich in der Nähe des rechten Ohres und flüstert: Du bist älter als du denkst!
Es poltert an der Tür. Dann Stille. Oder Hörsturz? Er schiebt die Schlafmaske beiseite und setzt sich auf. Wände, Möbel, Bettzeug erstrahlen knallweiß. Das Licht wirft ihn aufs Laken zurück, reißt ihn dann empor. Das Zimmer gerät ins Schlingern, Schleudern, Drehen, Wanken, Schwanken; eine entsetzlich hohe Frauenstimme ruft:
– E pericoloso sporgersi!
Und wieder hämmern die Fäuste.
– Jetzt aber schnell!, fordert eine Stimme im Kopf, eine zweite fragt: Was soll schon sein?
HP springt auf – die Hämmer hämmern wieder; ein kleiner Würgereflex sagt Hallo. Im Vorüberstürzen reißt HP die Zimmertür auf, stolpert ins Bad. Dabei ist er sich gestern im Vergleich zu diesem, wie heißt er, Reinhardt, diesem Reinhardt so nüchtern vorgekommen! Der Magen möchte sich ausstülpen, der Körper sucht sein Heil auf den Kacheln.
Poseidon schickt einen aalartig-langen Wurm aus der Tiefe herauf, so, dass der Kopf im Magen festsitzt, der Schwanz hingegen grün und schleimig und endlos lang in die See hinunterhängt …
HP gelingt’s. Er übergibt sich.
Das Zimmermädchen steht in der Tür und schaut ihm zu. Wo kommt die her? Was will sie? Ihm helfen? Sich an seinem Elend weiden, damit sie etwas zu erzählen hat? Ich bin doch keine Vorlage für Alltagsgeschwätz, denkt HP. Ich bin Hauptperson. Offenbar nicht für sie.
Er spült Toilettenbecken und Mund, lässt sich aufs Bett fallen. Das Zimmermädchen nagt an ihrer Unterlippe, kichert asexuell und übergibt ihm einen prallgefüllten Umschlag. Der Umschlag ruht jetzt auf seinem Bauch. Wenn er doch dort verweilen möchte. HPs Hand streicht übers Papier …
Reinhardt übergibt mir Ilona, denkt er, ich übergebe mich, das Zimmermädchen übergibt den dicken Umschlag, ich übergebe mich dieser Geschichte.
Er reißt den Umschlag auf; eine rote Plastiktulpe, merkwürdig, ein Brief von Reinhardt, aha, und tatsächlich Scheine. Das Zimmermädchen schlägt theatralisch die Hand vor den Mund und sagt etwas wie storia oder historia. Ob sie meint, auf den Geldscheinen stünde eine fortlaufende Geschichte? Wo denn? Von wem denn? Verschlüsselt in den Nummern? Quatsch, Geld erzählt keine Geschichten … Oder?
Er versteht nicht. Das Zimmermädchen wendet ihre Aufmerksamkeit ganz ihm zu, du, nur du allein, mit kugelrunden Augen. Lächelt ermutigend. Wartet sie aufs Trinkgeld? Ich habe nichts aus meinem Leben gemacht, denkt er, bloß die Jahre abgelebt. Niemand setzte einen Cent auf mich.
Seine Schwester würde jetzt sagen: Vielleicht solltest du dich mal durchchecken lassen …
Das Zimmermädchen sagt:
– Scusi?
HP öffnet die Augen, entfaltet den Brief:
Sehr geehrter Herr!
Sie wundern sich vielleicht; wundern Sie sich ruhig; ich wundere mich selbst. Zerrüttete Nerven, händezitternder Morgen und dieses ekelhaft weiße Licht, das einem zuruft: Jetzt oder nie! Sie ahnen, wie es mir geht. Bitte nicht vergessen: 14 Uhr! Antikes Theater! Und noch einmal vielen Dank.
Da ich mir nicht sicher war, Ilona wiederzuerkennen nach der einen Begegnung, haben wir ein Erkennungszeichen verabredet. Sie trägt eine rote Plastiktulpe! Grüßen Sie sie und genießen Sie die Aussicht!! Herzlichst.
Wahrscheinlich hat Reinhardt sich Abend für Abend an derselben Stelle betrunken in der Hoffnung, einer wie ich käme vorbei …, denkt HP.
Aber der Brief ist noch nicht zu Ende:
Sollte Ilona mir verzeihen …
Das Zimmermädchen entnimmt der Mini-Bar eine Flasche Mineralwasser mit Sprudel sowie ein Fläschchen Wodka:
– Prego, Signore …
Sollte Ilona mir verzeihen, so bitte ich sie inständig, mir noch einmal zu vertrauen. Wie sich heute Morgen überraschend herausgestellt hat, muss ich sofort nach Samos reisen. Ja, Sie lesen richtig, die griechische Insel. Eine Patenttante (seltsamer Schreibfehler!) von mir lebt dort in Vathy und es geht ihr gerade jetzt – gerade rechtzeitig! – sehr schlecht.
Es würde mich freuen, wenn Ilona mir nachreisen würde. Treffpunkt: Aphrodite-Studios.Falls Sie Bedürfnis und Zeit haben, die Sache weiterzuverfolgen, was ich innigst hoffe, von Proust-Leser zu Proust-Leser, tun Sie mir den beinahe unverschämt großen Gefallen und bringen Sie sie mir. Selbstverständlich wird das ihr Schade nicht sein!
Er stellt für diesen Lieferantenjob eine so hohe Summe in Aussicht, dass HP seine Schwester verlassen und sich eine eigene Wohnung nehmen könnte.
Das Zimmermädchen reicht ihm die Wasserflasche. Er nimmt einen Zug. Sie reicht ihm das Wodkafläschchen. Er nimmt einen Schluck.
Geben Sie sich einen Ruck und Sie haben den Job! Flug und zwei Zimmer sind gebucht. Ein Taxi holt Sie vom Flughafen ab. Ciao!
Clever, denkt HP. Wie der sich wichtigmacht.
Hoffentlich wird das kein trauriges Kapitel, denkt HP. Da erhebt sich schon Taorminas ursprünglich griechisches, später mit römischem Bühnenhaus versehenes Theater vor der Kulisse aus Meer und Ätna. Teatro Greco e Panorama. Théâtre Grec et Panorama. Greek Theatre and General View, steht auf den Ansichtskarten am Eingang. Ta-or-mina – seine außerordentliche geographische Lage, die leuchtende Farbe des Himmels, steil abfallende Hänge, liest er im Reiseführer. Worauf lasse ich mich da ein? Natürlich wird diese Ilona sauer sein und eine Szene machen.
Wie so oft fragt sich HP, in welcher Geschichte er sich befindet, ob es die eigene ist oder eine, die ihm andere aufzwingen, seine Schwester, Reinhardt, das Leben im Allgemeinen. Vielleicht sind sogar seine Handlungsimpulse lediglich Ausdruck von Erzählkonventionen, also gar nicht seine …
Er steht an der Kasse an. Die pralle Sonne weckt die Mikroorganisten in seinem Schädel. Soll er noch eine Schmerztablette nehmen? Lieber nicht.
Das antike Theater von Taormina, erinnert er sich an das Deckengemälde im Treppenhaus des Burgtheaters. Schwülstige Bacchantinnen bieten ihrem Gott Räucherwerk und dem Betrachter halbnackte Leiber dar. Seiner Schwester, die ihn zur Feier seines Abiturs mit nach Wien genommen hatte, waren sie peinlich gewesen.
– Dionysos, sagt jemand. Orgiastische Kulte, so recht vorstellen kann ich sie mir nicht. Ist Fellatio schon Orgie? Oder braucht man Flagellanten?
Der Kassierer hinterm Schalter sieht aus wie das blühende Leben, Anfang 30, frisch geduscht. Er guckt so unschlüssig. Weshalb guckt er so? Noch nie einen verkaterten Mitteleuropäer gesehen? Der Frischgeduschte zögert. Vielleicht lassen die hier nur junge, frische Menschen rein, keine mit aufgedunsenem Gesicht und schweißnasser Haut … Da drückt der doch eine Taste; das Ticket springt von unten aus dem Tresen.
– Prego signore!
HP sieht noch, wie er zum Handy greift, dann drängt ihn der nächste Zahlungswillige von der Kasse fort. Er stolpert weiter bis in die Cavea, dem Zuschauerraum mit seinen halbkreisförmig ansteigenden Sitzreihen, die ihm egal sind. Reiseleiter steigen mit Wimpeln in den Händen die Zuschauerreihen hinauf und hinab, Reisegruppen hinterher. Immer hinauf-hinab und dem Wimpel nach, seltsame Performance. Ältere Ehepaare in kurzen Hosen ziehen sich gegenseitig hoch. Junge Menschen springen leichtfüßig Hand in Hand ganz nach oben, suchen den berühmten Ausblick über das Bühnengebäude hinweg aufs Meer, die Küste, den Kegel des Ätna und rufen:
– Wie ist doch die Natur im Allgemeinen so schön!
Schön mit Ausrufezeichen! Schönheit identifiziert, Wertekonsens hergestellt, keine besonderen Vorkommnisse!
Wenn ihm nur nicht so schwindlig wäre. HP benötigt dringend ein schattiges Plätzen, von dem aus er die herein- und herausströmenden Touristen durchmustern kann. Bei sehr heißem Wetter konnte man ein Sonnensegel über die Sitzreihen spannen, schön wär’s. Wohin soll er sich wenden? Er spürt sich wanken. Die Reste des römischen Bühnenhauses werfen einen Restschatten. Der ist meiner, denkt HP.
– Dies ist ein Notfall, ruft er und schubst einen Greis in Shorts beiseite.
HP, die Hauptperson, betritt die Bühne. Im Schatten setzt er sich sofort auf einen Säulenstumpf, hebt eine Flasche mit isotonischem Durstlöscher an die Lippen, kippt den blauen Drink, lässt laufen, schluckt, entdeckt durch die sich leerende Flüssigkeit hindurch: Ilona!
Wunderschön verloren steht sie da, passend zu Theaterruine und Himmel. Ein so trauriges Idyll inmitten des Touristen-Gequirls. Wie angenehm, jemanden zu beobachten und die Phantasie spielen zu lassen …
Sie dagegen spielt mit der peinlichen Plastiktulpe und wartet nur auf ihn. Weiß natürlich nicht, dass sie auf ihn wartet. Ist aus ihrer Lebens-Geschichte ausgestiegen und frei für neue Geschichten. Allein bin ich ein epischer Voyeur, denkt er. Mit ihr könnte ich mein Leben als Liebesgeschichte erzählen mit mir selbst als Hauptperson. Reisen, Lieben und Erzählen gehören ja zusammen, alle drei Bewegungen gehen ins Offene.
Leider reist er nicht gern und auch Lieben und Erzählen bringen, genau genommen, alles durcheinander, während man sich doch um Ordnung bemüht.
Er betrachtet Ilona unterm südlichen Sonnenschein, eine sanfte Brise weht, der isotonische Durstlöscher geht zur Neige. Wenn ich mit ihr etwas anfange, denkt er, ist das meine Chance, mich zur Hauptperson einer eigenen Geschichte zu machen, einer Liebesgeschichte, denkt HP. Das Ilona-Projekt! Nun ist eine Liebesgeschichte an sich ja trivial. Nicht nur die Frau muss stimmen und das Gefühl, man braucht vor allem eine stimmige Story. Kurz: Eine Liebesgeschichte muss erzählt werden, und zwar richtig.
Ilona, auf halber Höhe der Zuschauerränge, schlägt den Reiseführer auf, liest: Medea und Kassandra, die waren ohne Mann da. Kassandra sagt zu Medea: Du – ich steh auf Nivea!
Nein, er weiß nicht, was sie liest; wie soll er das wissen. Besonders klug wird das kaum sein. Sie klappt das Buch zu, trinkt Wasser, er seinen Durstlöscher, im Schlucken sind sie vereint. Sie sieht sich um und kann nicht glauben, dass niemand ihre geöffneten Arme sucht. Sie senkt die Augenbrauen, lässt die Mundwinkel nach unten sinken, stemmt sie wieder hoch. Das Gesicht bewegt sich, ja, sie lächelt. Die Mundwinkel erschlaffen; wieder guckt sie depressiv. Versucht es erneut, diesmal mit geöffneten Lippen.
Wenn sie aufgibt und geht, beschließt HP, ist der Auftrag für mich erledigt. Mehr kann Reinhardt nicht erwarten. Bleibt sie hartnäckig hier, muss ich die Botschaft überbringen.
Einen kurzen Moment überlegt er, mit ihr eine Beziehung zu versuchen, ohne sich zu erkennen zu geben.
Ilona wartet, dass Reinhardt sie abholt. HP wartet, dass sie geht. Wartend bilden sie ein Paar.
Was ist jetzt los? Splash! Vom Schönen überrascht! Sofort und süß! Sie verdreht die Augen, schließt sie irritiert – und reißt sie wieder auf. Die mittellangen dunklen Haare sind in die Stirn gewischt, die Augen blitzen draufgängerisch, wie bei den Musketieren in den Farbfilmen seiner Kindheit. Darunter entdeckt er tiefe, schöne Schatten. Er liebt solche Schatten unter den Augen und stellt sich vor, sie hätten zusammen die Nacht durchwacht und nachgedacht und gelacht und … Nicht Schlaflos aus Sorge, sondern vor Glück. Oh ja, mit ihr sich zu zweit verkriechen vor dem Gewöhnlichen. Nächtliche Schattenwirklichkeit … Naja, was man sich so ausdenkt. Aber besteht nicht jede Liebe darin, dass man sich etwas ausdenkt? Das ist friedlich und aufregend.