Das innere Auge - Oliver Sacks - E-Book + Hörbuch

Das innere Auge Hörbuch

Oliver Sacks

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Beschreibung

Neue Fallgeschichten vom großen Arzt und Geschichtenerzähler Oliver Sacks «Niemand schildert komplexe Krankheitsbilder und die individuellen Schicksale, die sich dahinter verbergen, anschaulicher als Oliver Sacks.» CICERO

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Oliver Sacks

Das innere Auge

Neue Fallgeschichten

 

 

Übersetzt von Hainer Kober

 

Über dieses Buch

Neue Fallgeschichten vom großen Arzt und Geschichtenerzähler Oliver Sacks

 

«Niemand schildert komplexe Krankheitsbilder und die individuellen Schicksale, die sich dahinter verbergen, anschaulicher als Oliver Sacks.» CICERO

Vita

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City.

Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «The Mind's Eye» by Alfred A. Knopf, New York/Toronto

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Mind's Eye» Copyright © 2010 by Oliver Sacks

Redaktion Heiner Höfener

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München nach einem Entwurf von any.way, Hamburg

Coverabbildung neuebildanstalt/Bilderbergwerk; Images.com/Corbis

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01044-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

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Für David H. Abramson

Vorwort

Ich wuchs in einem Haushalt voller Ärzte und medizinischer Gespräche auf – mein Vater und meine älteren Brüder waren Allgemeinärzte und meine Mutter Chirurgin. Viele Unterhaltungen bei Tisch drehten sich zwangsläufig um medizinische Themen, es ging aber nie nur um «Fälle». Ein Patient mochte als Beispiel für diese oder jene Erkrankung erwähnt werden, doch in den Gesprächen meiner Eltern wurden Fälle immer zu Biographien, Geschichten über das Leben von Menschen, die auf Krankheit oder Verletzung, Stress oder Unglück reagierten. So war es vielleicht unvermeidlich, dass auch ich Arzt und Geschichtenerzähler wurde.

Als 1985 Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte erschien, schrieb ein namhafter neurologischer Forscher eine sehr wohlwollende Rezension dazu. Die Fälle seien faszinierend, meinte er, er habe aber einen Vorbehalt: Ich sei unehrlich, wenn ich die Patienten so präsentierte, als begegnete ich ihnen ohne jegliches Vorverständnis, als hätte ich kaum Hintergrundwissen über ihr Leiden. Ob ich mir denn die wissenschaftliche Literatur wirklich erst angeeignet hätte, nachdem ich mich eines Patienten mit einer bestimmten Erkrankung hätte annehmen müssen. Gewiss hätte ich mir ein neurologisches Thema vorgenommen und dann einfach Patienten ausgesucht, die als Beispiele dafür dienen konnten.

Doch ich bin nicht in der Forschung tätig, und bei den meisten praktizierenden Ärzten ist es einfach so, dass sie, von ihrer allgemeinen medizinischen Ausbildung abgesehen, über viele Krankheiten kaum eingehendere Kenntnisse besitzen, vor allem nicht über solche, die als selten gelten und denen deshalb im Medizinstudium wenig Zeit gewidmet wird. Wenn ein Patient mit einer solchen Krankheit vorstellig wird, müssen wir Recherchen anstellen und vor allem zu den ursprünglichen Beschreibungen zurückgehen. Daher beginnen meine Fallgeschichten in der Regel mit einer Begegnung, einem Brief, einem Klopfen an der Tür – erst der Erfahrungsbericht des Patienten löst umfassendere Nachforschungen aus.

Als praktizierender Neurologe, der vorwiegend in Altersheimen arbeitet, habe ich in den letzten Jahrzehnten mit Tausenden von Patienten zu tun gehabt. Von allen habe ich etwas gelernt, und es macht mir Freude, mich um sie zu kümmern – in einigen Fällen habe ich sie zwanzig Jahre und länger behandelt. In meinen klinischen Notizen gebe ich mir alle Mühe, festzuhalten, was mit ihnen geschieht, und mir über ihre Erfahrungen klarzuwerden. Gelegentlich entwickeln sich meine Aufzeichnungen mit Erlaubnis des Patienten zu Essays.

Als ich mit der Veröffentlichung von Fallgeschichten begann, 1970 zunächst mit Migräne, erhielt ich Briefe von Menschen, die ihre persönlichen Erfahrungen mit neurologischen Erkrankungen verstehen oder kommentieren wollten. Diese Korrespondenz ist in gewisser Weise eine Erweiterung meiner Praxis geworden. Daher sind einige der Menschen, die ich in diesem Buch beschreibe, Patienten; andere haben mir geschrieben, nachdem sie eine meiner Fallgeschichten gelesen hatten. Ihnen allen bin ich dafür dankbar, dass sie bereit waren, ihre Erfahrungen mitzuteilen, denn sie erweitern die Grenzen unserer Vorstellung, und es wird sichtbar, was sich oft hinter Gesundheit verbirgt: die komplexen Funktionen und die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns, sich angesichts neurologischer Probleme, die wir anderen uns kaum vorstellen können, an Beeinträchtigungen anzupassen und sie zu überwinden – ganz zu schweigen von dem Mut und der Stärke, den inneren Kraftquellen, die die Betroffenen mobilisieren können.

Viele frühere und derzeitige Kollegen haben in großzügiger Weise ihre Zeit und ihren Sachverstand eingebracht, um die Ideen dieses Buchs zu erörtern oder verschiedene Entwürfe zu kommentieren. Ihnen allen (und den vielen, die unerwähnt bleiben) bin ich zu größtem Dank verpflichtet, insbesondere: Paul Bach-y-Rita, Jerome Bruner, Liam Burke, John Cisne, Jennifer und John Clay, Bevil Conway, Antonio und Hanna Damasio, Orrin Devinsky, Dominic Ffytche, Elkhonon Goldberg, Jane Goodall, Temple Grandin, Richard Gregory, Charles Gross, Bill Hayes, Simon Hayhoe, David Hubel, Ellen Isler vom Jewish Braille Institute, Narinder Kapur, Christof Koch, Margaret Livingstone, Ved Mehta, Ken Nakayama, Görel Kristina Näslund, Alvaro Pascual-Leone, Dale Purves, V.S. Ramachandran, Paul Romano, Israel Rosenfield, Theresa Ruggiero, Leonard Shengold, Shinsuke Shimojo, Ralph Siegel, Connie Tomaino, Bob Wasserman und Jeannette Wilkens.

Ich hätte dieses Buch nicht ohne die moralische und finanzielle Unterstützung zahlreicher Institutionen und Personen vollenden können. Ihnen allen bin ich zu außerordentlichem Dank verpflichtet, vor allem Susie und David Sainsbury, Columbia University, der New York Review of Books, dem New Yorker und der Wylie Agency, der Mac Dowell Colony, dem Blue Mountain Center und der Alfred P. Sloan Foundation. Mein Dank gilt ferner den vielen Mitarbeitern bei Alfred A. Knopf, Picador UK und Vintage Books und meinen anderen Verlagen in aller Welt.

Mehrere Korrespondenten haben mit Gedanken und Schilderungen zu diesem Buch beigetragen, unter anderen Joseph Bennish, Joan C., Larry Eickstaedt, Anne F., Stephen Fox, J.T. Fraser und Alexandra Lynch.

Ich danke den hervorragenden Lektoren John Bennet vom New Yorker und Dan Frank von Knopf, die dieses Buch in vielerlei Hinsicht verbessert haben, und Allen Furbeck für seine Hilfe bei den Illustrationen. Hailey Wojcik tippte viele Fassungen des Manuskripts, beteiligte sich an den Recherchen und fast jeder anderen Arbeit, ganz zu schweigen davon, dass sie die fast 90000 Wörter meiner «Melanom-Tagebücher» entzifferte. Kate Edgar hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine einzigartige Rolle als Mitarbeiterin, Freundin, Lektorin, Organisatorin und vieles mehr gespielt. Wie immer hat sie mich angespornt, nachzudenken und zu schreiben, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, aber immer wieder auf den Kern zurückzukommen.

Vor allem aber bin ich meinen Probanden oder Patienten sowie ihren Familien verpflichtet: Lari Abraham, Sue Barry, Lester C., Howard Engel, Claude und Pamela Frank, Arlene Gordon, Patricia und Dana Hodkin, John Hull, Lilian Kallir, Charles Scribner Jr., Dennis Shulman, Sabriye Tenberken und Zoltan Torey. Sie haben mir nicht nur gestattet, von ihren Erfahrungen zu berichten und ihre Beschreibungen zu zitieren, sondern haben Entwürfe kommentiert, mich mit anderen Menschen und Informationsquellen bekannt gemacht und sind in vielen Fällen gute Freunde geworden.

Mein tiefster Dank aber gilt meinem Arzt David Abramson; ihm widme ich dieses Buch.

Kapitel einsVom Blatt spielen

Im Januar 1999 bekam ich folgenden Brief:

Lieber Dr. Sacks,

mein (sehr ungewöhnliches) Problem ist in einem Satz und unmedizinisch ausgedrückt: Ich kann nicht lesen. Weder Musik noch etwas anderes. In der Praxis des Augenarztes kann ich die einzelnen Buchstaben auf der Sehtafel bis zur untersten Zeile lesen. Ich vermag aber keine Wörter zu lesen, und bei der Musik habe ich das gleiche Problem. Seit Jahren schlage ich mich damit herum, war bei den besten Ärzten, und niemand konnte mir helfen. Ich wäre außerordentlich glücklich und dankbar, wenn Sie Zeit für mich fänden.

 

Mit freundlichen Grüßen

Lilian Kallir

Ich rief Mrs. Kallir an – was mir unter diesen Umständen angebracht erschien, obwohl ich normalerweise zurückgeschrieben hätte –, denn obwohl sie offenbar keine Schwierigkeiten hatte, einen Brief zu verfassen, schrieb sie, dass sie überhaupt nicht lesen könnte. Ich sprach mit ihr, und wir vereinbarten einen Termin in meiner neurologischen Klinik.

Kurz darauf erschien Mrs. Kallir in meiner Sprechstunde – eine gebildete, lebhafte Dame von siebenundsechzig Jahren mit einem starken Prager Akzent – und erzählte mir ihre Geschichte sehr viel eingehender. Sie sei Pianistin, sagte sie; tatsächlich kannte ich sie dem Namen nach, eine hervorragende Chopin- und Mozartinterpretin (mit vier Jahren hatte sie ihr erstes öffentliches Konzert gegeben, und der berühmte Pianist Gary Graffman bezeichnete sie als «eines der größten musikalischen Naturtalente, die ich je kennengelernt habe»).

Sie sagte, erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmen könne, habe sie bei einem Konzert im Jahr 1991 bemerkt. Vor der Aufführung eines Klavierkonzerts von Mozart gab es in letzter Minute eine Programmänderung – statt des 19. sollte sie das 21. Klavierkonzert spielen. Doch als sie die Partitur des 21. Klavierkonzerts aufschlug, erwies sie sich zu ihrer Bestürzung als vollkommen unverständlich. Obwohl sie Blatt, Linien und Noten scharf und deutlich erkannte, schienen sie keinen Zusammenhang, keinen Sinn zu haben. Sie dachte, das Problem müsse an ihren Augen liegen. Doch dann spielte sie das Konzert fehlerlos aus dem Gedächtnis und tat den seltsamen Zwischenfall als «eine von diesen Sachen» ab.

Einige Monate später trat das Problem erneut auf, woraufhin ihre Fähigkeit, Noten zu lesen, Schwankungen unterworfen war. Wenn sie müde oder krank war, konnte sie kaum lesen, doch wenn sie ausgeruht war, spielte sie so rasch und mühelos wie je vom Blatt. Im Allgemeinen verschlimmerte sich das Problem jedoch, und obwohl sie weiterhin unterrichtete, Einspielungen machte und Konzerte in aller Welt gab, war sie zunehmend auf ihr musikalisches Gedächtnis und ihr umfangreiches Repertoire angewiesen, weil sie sich durch Notenlesen keine neuen Stücke mehr aneignen konnte. «Ich konnte früher phantastisch vom Blatt spielen», sagte sie, «mühelos ganze Mozartkonzerte, aber jetzt geht das nicht mehr.»

Gelegentlich traten bei Konzerten Gedächtnislücken auf, wenn Lilian (wie ich sie auf ihren Wunsch nannte) das als geschickte Improvisatorin auch meist zu kaschieren wusste. Wenn sie entspannt war, im Kreis von Freunden oder Schülern, schien sie so gut wie immer zu spielen. Aus Trägheit, Furcht oder einer Art Anpassung konnte sie ihre eigenartigen Probleme beim Notenlesen ausblenden, da sie sonst keine Schwierigkeiten mit den Augen hatte und ihr musikalisches Leben dank ihres Gedächtnisses und ihres Talents nicht im mindesten beeinträchtigt war.

1994, etwa drei Jahre nachdem Lilian Probleme beim Notenlesen bemerkt hatte, begann sie auch erste Schwierigkeiten mit dem Lesen von Wörtern zu haben. Auch hier gab es gute und schlechte Tage und sogar Phasen, wo sich ihre Lesefähigkeit von Augenblick zu Augenblick zu verändern schien: Ein Satz sah zunächst seltsam, unverständlich aus; dann war plötzlich alles in Ordnung, und sie hatte keine Probleme, ihn zu lesen. Das wirkte sich jedoch auf ihre Fähigkeit zu schreiben überhaupt nicht aus, und sie unterhielt auch weiterhin eine umfangreiche Korrespondenz mit ehemaligen Schülern und Kollegen, die weit verstreut in aller Welt lebten, obwohl Lilian in zunehmendem Maße auf ihren Mann angewiesen war, um die Briefe zu lesen, die sie bekam, und sogar, um ihre eigenen noch einmal zu lesen.

Reine Alexie ohne begleitende Schwierigkeiten beim Schreiben (Alexia sine Agraphia) ist gar nicht so selten, obwohl sie gewöhnlich plötzlich, nach einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung, auftritt. Weniger häufig entwickelt sich Alexie allmählich, als Folge einer degenerativen Erkrankung wie Alzheimer. Doch vor Lilian hatte ich noch nie jemanden mit musikalischer Alexie getroffen, also jemanden, der zuerst beim Notenlesen Schwierigkeiten hatte.

1995 zeigten sich bei Lilian zusätzliche visuelle Probleme. Sie bemerkte die Tendenz, Objekte im rechten Gesichtsfeld zu «übersehen», und beschloss nach einigen kleineren Missgeschicken, dass es besser sei, nicht mehr Auto zu fahren.

Sie hatte sich schon gelegentlich gefragt, ob ihr seltsames Problem mit dem Lesen vielleicht nicht visueller, sondern neurologischer Natur sein könnte: «Wie kann ich einzelne Buchstaben selbst auf der untersten Reihe der Sehtafel beim Augenarzterkennen und trotzdem unfähig zum Lesen sein?» 1996 begannen ihr dann gelegentlich peinliche Fehler zu unterlaufen – beispielsweise erkannte sie alte Freunde nicht mehr –, woraufhin sie an eine meiner Fallgeschichten denken musste, die sie Jahre zuvor gelesen hatte: «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», über einen Patienten, der alles deutlich sehen, aber nichts erkennen konnte. Beim ersten Lesen hatte sie darüber gelacht, doch jetzt fragte sie sich, ob ihre eigenen Schwierigkeiten nicht geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit diesem Fall hatten.

Gut fünf Jahre nach ihren ersten Symptomen wurde sie schließlich zu einer gründlichen Untersuchung an die neurologische Abteilung eines Universitätsklinikums überwiesen. Als man Lilian einer Serie von neuropsychologischen Tests unterzog – zu visueller Wahrnehmung, Gedächtnis, Wortgewandtheit etc. –, schnitt sie besonders schlecht beim Erkennen von Zeichnungen ab: Sie bezeichnete eine Geige als Banjo, einen Handschuh als Statue, einen Rasierapparat als Stift und eine Kneifzange als Banane. (Aufgefordert, einen Satz zu schreiben, notierte sie: «Das ist lächerlich.») Sie hatte rechtsseitig ein schwankendes Wahrnehmungsdefizit (eine «Unaufmerksamkeit») und eine sehr beeinträchtigte Gesichtererkennung (gemessen anhand der Fähigkeit, bekannte Persönlichkeiten auf Fotos zu identifizieren). Sie konnte zwar lesen, aber nur langsam, Buchstabe für Buchstabe. Sie las ein «C», ein «A», ein «T» und dann mühsam cat – «Katze» –, ohne das Wort als Ganzes zu erkennen. Doch wenn ihr Wörter so rasch dargeboten wurden, dass sie sie nicht auf diese Weise entziffern konnte, war sie manchmal in der Lage, sie in allgemeine Kategorien einzuordnen, etwa «lebendig» und «nicht lebendig», obwohl sie auf bewusster Ebene keine Ahnung von ihrer Bedeutung hatte.

Im Gegensatz zu diesen schwerwiegenden visuellen Problemen waren die Ergebnisse für Sprachverständnis, Wiederholung und Wortgewandtheit alle normal. Auch eine Magnetresonanztomographie (MRT) ihres Gehirns ergab keine Besonderheiten, doch als man einen PET-Scan (Positronenemissionstomographie) vornahm – mit dem sich leichte Veränderungen im Stoffwechsel verschiedener Hirnregionen nachweisen lassen, selbst wenn diese anatomisch normal zu sein scheinen –, stellte man fest, dass bei Lilian offenbar die Stoffwechselaktivität im hinteren Teil ihres Gehirns, im visuellen Kortex, vermindert war, ein Prozess, der linksseitig ausgeprägter war. Angesichts des allmählichen Ausgreifens auf ihre visuelle Erkennung – zunächst von Musik, dann von Wörtern, dann von Gesichtern und Gegenständen – gelangten ihre Neurologen zu dem Schluss, dass sie an einer degenerativen Erkrankung leiden müsse, die zunächst noch auf die hinteren Hirnregionen beschränkt sei. Das werde wahrscheinlich fortschreiten, wenn auch sehr langsam.

Die Grunderkrankung war nicht wirklich zu behandeln, doch ihre Neurologen meinten, sie könne von bestimmten Strategien profitieren: dem «Erraten» von Wörtern beispielsweise, selbst wenn sie sie nicht auf herkömmliche Weise lesen könne (denn ganz offensichtlich verfügte sie noch über bestimmte Mechanismen, die ihr die unbewusste oder vorbewusste Erkennung von Wörtern ermöglichten). Und sie schlugen ihr vor, Gegenstände und Gesichter absichtsvoll und überbewusst in Augenschein zu nehmen, um sich besonders auffällige Merkmale einzuprägen, damit sie sie bei künftigen Begegnungen identifizieren könne, auch wenn ihr «automatisches» Erkennungsvermögen beeinträchtigt sei.

Lilian erzählte mir, sie sei in den etwa drei Jahren, die zwischen dieser neurologischen Untersuchung und ihrem ersten Besuch bei mir lagen, weiterhin aufgetreten, wenn auch nicht so gut und so häufig wie früher. Sie musste ihr Repertoire verringern, weil sie selbst vertraute Stücke nicht mehr durch Nachlesen in den Noten überprüfen konnte. Sie sagte: «Mein Erinnerungsvermögen erhielt keine Nahrung mehr.» Visuelle Nahrung, meinte sie – denn sie merkte, dass sich ihr akustisches Gedächtnis, ihre akustische Orientierung, verstärkt hatte, sodass sie jetzt in weit höherem Maße als zuvor ein Stück nach Gehör lernen und reproduzieren konnte. Auf diese Weise konnte sie ein Stück nicht nur spielen (oft schon nach einmaligem Hören), sondern auch in ihrer Vorstellung neu arrangieren. Trotzdem schrumpfte ihr Repertoire unter dem Strich, und sie begann, öffentliche Konzerte zu meiden. Sie spielte aber weiterhin bei informelleren Anlässen und unterrichtete Meisterklassen an der Musikhochschule.

Sie gab mir den neurologischen Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1996 und meinte: «Die Ärzte sagen alle: ‹Sehr atypische posteriore kortikale Atrophie der linken Hemisphäre›, und dann lächeln sie entschuldigend – aber es gibt nichts, was sie tun können.»

 

Als ich Lilian untersuchte, stellte ich fest, dass sie keine Probleme hatte, Farben oder Formen zuzuordnen beziehungsweise Bewegungen oder Tiefe zu erkennen. Sie hatte jedoch große Probleme in anderen Bereichen. Sie war nicht mehr in der Lage, einzelne Buchstaben oder Ziffern zu erkennen (obwohl es ihr noch immer nicht schwerfiel, ganze Sätze zu schreiben). Sie hatte auch eine allgemeinere visuelle Agnosie («Seelenblindheit»): Wenn ich ihr Bilder vorlegte, die sie erkennen sollte, hatte sie Mühe, sie überhaupt als Bilder wahrzunehmen – manchmal betrachtete sie einen Spaltentext oder einen weißen Rand, weil sie dachte, das seien die Bilder, nach denen ich sie fragte. Zu einem dieser Bilder sagte sie: «Ich sehe ein V, sehr elegant – zwei kleine Punkte hier, dann ein Oval mit kleinen weißen Punkten darin. Ich weiß nicht, was es darstellen soll.» Als ich ihr sagte, es sei ein Hubschrauber, lachte sie verlegen. (Das V war das Lastengeschirr; der Hubschrauber entlud Hilfsgüter für Flüchtlinge. Die beiden kleinen Punkte waren Räder, das Oval der Rumpf des Hubschraubers.) Sie sah jetzt also nur einzelne Merkmale eines Objekts oder Bildes, ohne dass sie in der Lage war, sie zusammenzusetzen, als Ganzes zu sehen oder gar richtig zu deuten. Zeigte man ihr die Fotografie eines Gesichts, konnte sie lediglich erkennen, dass die Person eine Brille trug, sonst nichts. Als ich sie fragte, ob sie deutlich sehen könnte, sagte sie: «Es ist nicht verschwommen, sondern ein Brei» – ein Brei aus deutlichen, klaren, aber unverständlichen Formen und Einzelheiten.

Wenn sie sich die Zeichnungen in einem Heft mit neurologischen Standardtests ansah, sagte sie von einem Bleistift: «Das könnte so vieles sein. Eine Geige … ein Füller.» Doch ein Haus erkannte sie sofort. Beim Anblick einer Trillerpfeife sagte sie: «Keine Ahnung.» Als ich ihr die Zeichnung einer Schere vorlegte, blickte sie unverwandt auf die falsche Stelle: das weiße Papier unterhalb der Zeichnung. Lag Lilians Schwierigkeit, Zeichnungen zu erkennen, einfach an deren «Skizzenhaftigkeit», ihrer Zweidimensionalität, ihrem geringen Informationsgehalt? Oder kam darin eine Schwierigkeit höherer Ordnung – ein Problem mit der Wahrnehmung von Darstellungen – überhaupt zum Ausdruck? Würde sie bei realen Gegenständen besser abschneiden?

Als ich Lilian fragte, was sie angesichts ihres Zustands und ihrer Situation empfinde, sagte sie: «Ich denke, ich komme damit sehr gut zurecht, meistens jedenfalls … Schließlich weiß ich, dass sie zwar nicht besser wird, aber auch nur langsam schlechter. Ich gehe nicht mehr zu Neurologen. Da höre ich immer nur das Gleiche … Doch ich bin sehr zäh. Meinen Freunden erzähle ich nichts. Ich will sie nicht belasten, und meine kleine Geschichte ist nicht sehr vielversprechend. Ausweglos … Ich habe viel Sinn für Humor. Und das ist es im Wesentlichen. Es ist deprimierend, wenn ich darüber nachdenke, diese täglichen Frustrationen. Aber ich habe noch viele gute Tage und Jahre vor mir.»

Nachdem Lilian gegangen war, konnte ich meine Arzttasche nicht finden – eine schwarze Tasche, die (wie ich mich jetzt erinnerte) gewisse Ähnlichkeiten mit einer der zahlreichen Taschen hatte, die sie mitgebracht hatte. Auf der Heimfahrt im Taxi merkte sie, als sie einen roten Gegenstand (den roten Kopf meines langen Reflexhammers) herausragen sah, dass sie die falsche Tasche mitgenommen hatte. Er war ihr durch seine Farbe und Form aufgefallen, als sie ihn auf meinem Schreibtisch erblickt hatte, und nun erkannte sie ihr Versehen. Als sie atemlos und schuldbewusst in die Klinik zurückkehrte, sagte sie: «Ich bin die Frau, die die Arzttasche mit ihrer Handtasche verwechselte.»

Lilian hatte bei formalen Tests zur visuellen Erkennung so schlecht abgeschnitten, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie sie im Alltag zurechtkam. Wie erkannte sie beispielsweise ein Taxi? Wie das Haus, in dem sie wohnte? Wie konnte sie einkaufen, was sie nach eigenem Bekunden selbst tat, oder Lebensmittel erkennen und sie auf einem Teller anrichten? All das und vieles mehr – ein aktives soziales Leben, Reisen, Konzertbesuche und Unterricht – erledigte sie allein, wenn ihr Mann, der ebenfalls Musiker war, wochenlang in Europa weilte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das schaffte, wenn ich sah, wie trostlos ihre Leistungen in der künstlichen, sterilen Atmosphäre einer neurologischen Klinik waren. Ich musste sie in ihrem vertrauten Umfeld sehen.

Im folgenden Monat besuchte ich Lilian in ihrer häuslichen Umgebung, die sich als ein hübsches Apartment in Upper Manhattan herausstellte, wo sie und ihr Mann seit mehr als vierzig Jahren lebten. Claude war ein liebenswürdiger, freundlicher Mann, ungefähr im selben Alter wie seine Frau. Sie hatten sich vor rund fünfzig Jahren als Musikstudenten in Tanglewood kennengelernt und von da an ihre musikalischen Laufbahnen gemeinsam gestaltet, wobei sie oft gemeinsam auftraten. Die Wohnung machte einen ansprechenden, kultivierten Eindruck, mit einem Flügel, vielen Büchern, Fotos der Tochter, Freunden und Angehörigen, abstrakten modernen Bildern an den Wänden und auf jeder freien Fläche Erinnerungen an ihre Reisen. Sie war überladen – reich an persönlicher Geschichte und Bedeutung, wie ich annahm, aber ein Albtraum, ein komplettes Chaos für jemanden mit visueller Agnosie. Das zumindest war mein erster Gedanke, als ich eintrat und mir einen Weg zwischen Tischen voller Nippes suchte. Doch Lilian hatte keine Probleme mit dem Durcheinander und schlängelte sich sicher hindurch.

Da sie im Zeichnungs-Erkennungstest so schlecht abgeschnitten hatte, brachte ich eine Anzahl realer Gegenstände mit, um herauszufinden, ob sie damit besser zurechtkam. Ich begann mit etwas Obst und Gemüse, das ich gerade gekauft hatte, und hier schlug sich Lilian erstaunlich gut. Augenblicklich entdeckte sie «eine schöne rote Paprika», die sie von der anderen Seite des Zimmers erkannte; auch eine Banane. Vorübergehend war sie unsicher, ob es sich beim dritten Objekt um einen Apfel oder eine Tomate handelte, entschied sich aber bald darauf zu Recht für Ersteren. Als ich ihr einen kleinen Kunststoffwolf zeigte (für Wahrnehmungstests habe ich verschiedene solche Gegenstände in meiner Arzttasche), rief sie aus: «Ein herrliches Tier! Vielleicht ein Elefantenbaby?» Als ich sie bat, genauer hinzusehen, gelangte sie zu dem Schluss, es sei eine «Art Hund».

Angesichts des Umstands, dass Lilian reale Gegenstände relativ gut benennen konnte, fragte ich mich erneut, ob sie nicht unter einer speziellen Agnosie für bildliche Darstellungen litt. Möglicherweise ist zur Erkennung solcher Darstellungen eine Art Lernen erforderlich – das Vermögen, einen Code oder eine Konvention zu erfassen, die über die Fähigkeit zur Erkennung von Gegenständen hinausgeht. Es heißt beispielsweise, dass Menschen aus primitiven Kulturen, die nie zuvor Fotografien gesehen haben, nicht erkennen können, dass es sich dabei um Darstellungen von etwas anderem handelt. Wenn im Gehirn speziell zur Erkennung von visuellen Darstellungen ein komplexes System angelegt werden muss, könnte diese Fähigkeit infolge einer Schädigung des Systems durch Schlaganfall oder Krankheit verlorengehen, so wie das erlernte Verständnis von Schrift oder irgendeine andere erlernte Fähigkeit abhandenkommen kann.

Ich folgte Lilian in die Küche, wo sie sich anschickte, den Wasserkessel vom Herd zu nehmen und kochendes Wasser in die Teekanne zu gießen. Sie schien sich gut in ihrer überfüllten Küche zurechtzufinden; so wusste sie beispielsweise, dass alle Pfannen und Töpfe an einer Wand an Haken hingen, während die verschiedenen Vorräte ihren festen Aufbewahrungsort hatten. Als sie den Kühlschrank öffnete und ich sie nach dem Inhalt fragte, sagte sie: «O-Saft, Milch, Butter im obersten Fach – und eine leckere Wurst, wenn es Sie interessiert, eine dieser österreichischen Sachen … ***Käsesorten.» Sie erkannte die Eier in der Kühlschranktür und zählte sie richtig, als ich sie darum bat, wobei sie den Finger von Ei zu Ei bewegte. Ich sah mit einem Blick, dass es acht waren – zwei Reihen à vier –, doch Lilian konnte vermutlich die Achtheit, die Gestalt, nicht so leicht wahrnehmen und musste die Eier einzeln abzählen. Und die Gewürze bezeichnete sie als «Katastrophe». Sie befanden sich alle in identischen Fläschchen mit roten Kappen, deren Etiketten sie natürlich nicht lesen konnte. Ihr Ausweg: «Ich rieche an ihnen! … Und manchmal bitte ich um Hilfe.» Zur Mikrowelle, die sie häufig benutzte, sagte sie: «Ich kann die Zahlen nicht sehen. Ich mach es nach Gefühl – ich koche, probiere und merke, ob es noch ein bisschen braucht.»

Obwohl Lilian in der Küche visuell kaum etwas erkennen konnte, hatte sie sie so organisiert, dass ihr Fehler selten, wenn überhaupt, unterliefen, wobei sie sich nicht auf die direkte Wahrnehmung, sondern auf eine Art informelles Klassifikationssystem verließ. Die Dinge waren nicht nach Bedeutung kategorisiert, sondern nach Farbe, Größe und Form, nach Aufenthaltsort, Kontext, Assoziation, etwa so, wie ein Analphabet die Bücher in einer Bibliothek ordnen würde. Alles hatte seinen Platz, und sie hatte es sich eingeprägt.

Als ich sah, wie Lilian die Beschaffenheit der Objekte in ihrer Umgebung auf diese Weise ableitete, wobei sie sich vor allem an der Farbe orientierte, fragte ich mich, wie sie mit ähnlich aussehenden Gegenständen zurechtkam, beispielsweise den Fisch- und Steakmessern, die fast gleich aussahen. Das sei ein Problem, räumte sie ein, da komme es tatsächlich zu häufigen Verwechslungen. Sie könne doch vielleicht künstliche Markierungen verwenden, schlug ich vor, einen kleinen grünen Punkt für die Fischmesser und einen roten für Steakmesser, damit sie den Unterschied auf einen Blick erkennen könne. Daran habe sie auch schon gedacht, erwiderte Lilian, sei aber nicht sicher, dass sie ihr Problem vor anderen «zur Schau stellen» wolle. Was würden ihre Gäste von farbcodiertem Besteck und Geschirr halten oder von einer farbcodierten Wohnung? («Wie ein psychologisches Experiment», sagte sie, «oder ein Büro.») Die «Unnatürlichkeit» dieser Vorstellung störe sie, doch wenn sich die Agnosie verschlimmere, werde es wohl nötig sein.

In einigen Fällen, in denen Lilians Kategorisierungssystem nicht klappte, wie bei der Verwendung der Mikrowelle, konnte sie sich an Versuch und Irrtum halten. Doch wenn Objekte nicht an ihrem Platz waren, konnten größere Schwierigkeiten auftreten. Das zeigte sich auf verblüffende Weise am Ende meines Besuchs. Wir hatten uns zu dritt – Lilian, Claude und ich – an den Esstisch gesetzt. Lilian hatte den Tisch gedeckt, Cantuccini und Kuchen aufgetragen und eine dampfende Teekanne gebracht. Sie plauderte, während wir aßen, bewahrte aber eine gewisse Wachsamkeit, das heißt, sie beobachtete (wie mir später klarwurde) die Bewegung jeder Schüssel, verfolgte alle Gegenstände, damit sie ihr nicht «abhandenkamen». Sie stand auf, brachte die leeren Schüsseln in die Küche und ließ nur die Cantuccini stehen, die ich besonders mochte, was ihr nicht entgangen war. Claude und ich plauderten einige Minuten lang – das erste Gespräch, das wir allein führten – und rückten dabei die Keksschale zwischen uns.

Als Lilian zurückkam und ich meine Tasche packte, um zu gehen, sagte sie: «Sie müssen die restlichen Cantuccini mitnehmen» – doch jetzt konnte sie sie seltsamerweise nicht finden, was sie in Aufregung, fast Panik, versetzte. Sie lagen in ihrer Schale mitten auf dem Tisch, aber da die Schale bewegt worden war, wusste Lilian nicht mehr, wo die Kekse waren, und noch nicht einmal, wo sie danach Ausschau halten sollte. Sie schien keine Strategie für die Suche zu haben. Allerdings war sie sehr verwirrt, als sie meinen Schirm auf dem Tisch sah. Sie erkannte ihn nicht als Schirm, sondern bemerkte nur, dass etwas Gekrümmtes und Verdrehtes aufgetaucht war – und fragte sich kurzzeitig halb im Ernst, ob es eine Schlange sei.

Bevor ich ging, bat ich Lilian, sich an den Flügel zu setzen und etwas für mich zu spielen. Sie zögerte. Es war klar, dass sie einen Großteil ihres Selbstvertrauens eingebüßt hatte. Sie begann sehr schön mit der Interpretation einer Bachfuge, brach sie aber nach ein paar Takten entschuldigend ab. Da ich einen Band Chopinmazurken auf dem Instrument liegen sah, fragte ich nach denen, und nach ein wenig Zureden schloss sie die Augen und spielte zwei der Mazurken op. 50 – ohne jedes Stocken, mit Schwung und Gefühl.

Hinterher erzählte sie mir, dass die gedruckte Musik nur «herumliege», und fügte hinzu: «Der Anblick von Noten, von Leuten, die die Seiten umwenden, von meinen Händen oder den Tasten bringt mich aus dem Konzept.» Dann könne es passieren, dass sie Fehler mache, besonders mit der rechten Hand. Sie müsse die Augen schließen und nonvisuell spielen, nur auf ihren «Gedächtnismuskel» und ihr gutes Gehör vertrauend.

Was ließ sich über Charakter und Fortschritt von Lilians merkwürdiger Krankheit sagen? Seit der neurologischen Untersuchung drei Jahre zuvor hatte sie sich zweifellos etwas verschlimmert, und es gab Anzeichen – wenn auch nicht mehr als Anzeichen –, dass die Probleme möglicherweise nicht mehr rein visuell waren. Insbesondere hatte Lilian gelegentlich Schwierigkeiten, Gegenstände zu benennen, selbst wenn sie sie erkannte, und bezeichnete sie in Ermangelung des richtigen Wortes als «Dingsda».

Ich hatte eine neue Magnetresonanztomographie veranlasst, um sie mit früheren Scans zu vergleichen. Wie sich zeigte, waren jetzt die visuellen Areale beider Hirnhälften etwas geschrumpft. Gab es irgendwo ein Anzeichen für eine echte Schädigung? Das war schwer zu entscheiden, obwohl ich annahm, dass auch die Hippocampi – Gehirnregionen, die entscheidend für die Einlagerung neuer Erinnerungen sind – einem gewissen Schrumpfungsprozess unterworfen waren. Doch die Schädigung war noch immer weitgehend auf den okzipitalen und okzipitotemporalen Kortex beschränkt, und es war offensichtlich, dass die Erkrankung sehr langsam fortschritt.

Als ich diese MRT-Ergebnisse mit Claude erörterte, bat er mich, im Gespräch mit Lilian bestimmte Begriffe zu vermeiden, vor allem die erschreckende Bezeichnung «Alzheimer». «Es ist doch kein Alzheimer, oder?», fragte er. Natürlich hatte diese Frage beide sehr beschäftigt.

«Ich bin mir nicht sicher», sagte ich. «Nicht im üblichen Sinne. Es ist wohl etwas Selteneres – und Gutartigeres.»

 

Posteriore kortikale Atrophie (PCA) wurde von Frank Benson und seinen Kollegen erstmals 1988 beschrieben, obwohl es sie unerkannt wahrscheinlich schon länger gibt. Doch die Schilderung von But Benson et al. ermöglichte viele neue Diagnosen, und inzwischen sind Dutzende von Fällen beschrieben worden.

Menschen mit PCA bewahren elementare Aspekte der visuellen Wahrnehmung wie Sehschärfe oder die Fähigkeit, Bewegungen und Farben zu erkennen. Doch in der Regel entwickeln sie komplexe visuelle Störungen – Schwierigkeiten beim Lesen oder Erkennen von Gesichtern und Gegenständen, gelegentlich sogar Halluzinationen. Ihre visuelle Desorientierung kann schwerwiegend werden: Einige Patienten verirren sich in der unmittelbaren Nachbarschaft oder sogar im eigenen Haus; Benson spricht hier von «Umweltagnosie». Gewöhnlich folgen andere Schwierigkeiten: Links-rechts-Verwechslung, Probleme beim Schreiben und Rechnen, sogar eine Agnosie, die eigenen Finger betreffend – vier Symptome, die gelegentlich unter der Bezeichnung Gerstmann-Syndrom zusammengefasst werden. Manchmal sind PCA-Patienten in der Lage, Farben zu erkennen und zuzuordnen, aber nicht, sie zu benennen, dann handelt es sich um die sogenannte Farbanomie. Seltener kommt es zu Schwierigkeiten bei Bewegungen zur visuellen Erfassung und Verfolgung von Zielen.

Im Gegensatz zu diesen Schwierigkeiten bleiben Gedächtnis, Intelligenz, Einsicht und Persönlichkeit meist bis in späte Phasen der Erkrankung erhalten. Jeder beschriebene Patient konnte, so Benson, «seine eigene Geschichte schildern, war sich aktueller Ereignisse bewusst und zeigte erhebliche Einsicht in seine Erkrankung».

Obwohl PCA eindeutig eine degenerative Gehirnerkrankung ist, scheint sie ihrer Natur nach ganz anders als die häufigeren Alzheimerformen zu sein; dort kommt es meist zu erheblichen Veränderungen bei Gedächtnis und Denken, Sprachverständnis und -gebrauch, oft auch bei Verhalten und Persönlichkeit, wobei im Allgemeinen die Einsicht ins Krankheitsgeschehen (vielleicht glücklicherweise) schon früh verlorengeht.

In Lilians Fall schien der Verlauf der Krankheit relativ gutartig zu sein, denn selbst neun Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome verirrte sie sich weder in der eigenen Wohnung noch in der Nachbarschaft.

Ich konnte nicht umhin – wie Lilian selbst –, einen Vergleich mit meinem Patienten Dr. P. anzustellen, «dem Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte». Beide waren hochbegabte Berufsmusiker, beide litten unter schwerer visueller Agnosie, während sie in vielerlei anderer Hinsicht bemerkenswert unbeeinträchtigt blieben, und beide entdeckten oder entwickelten einfallsreiche Methoden zur Kompensation ihrer Probleme, sodass sie, trotz ihrer scheinbar katastrophalen Behinderungen, auch weiterhin auf höchstem Niveau an Musikhochschulen unterrichten konnten.

Konkret allerdings bewältigten Lilian und Dr. P. ihre Krankheit ganz unterschiedlich, was zum Teil an der Schwere ihrer Symptome und zum Teil an Unterschieden des Temperaments und der Übung lag. Dr. P. hatte bereits große Schwierigkeiten, als er zu mir kam – kaum drei Jahre nach seinen ersten Symptomen. Er hatte nicht nur visuelle Probleme, sondern auch taktile – er griff nach dem Kopf seiner Frau und verwechselte ihn mit einem Hut. Er zeigte eine gewisse Leichtfertigkeit oder Gleichgültigkeit und wenig Einsicht in seine Krankheit. Oft konfabulierte er, um die Tatsache zu überspielen, dass er nicht erkennen konnte, was er sah. Ganz gegensätzlich war es bei Lilian, die neun Jahre nach ihren ersten Symptomen, abgesehen von ihren visuellen Problemen, keine nennenswerten Schwierigkeiten hatte und eine klare Vorstellung von ihrer Situation.

Dank ihrer unbeeinträchtigten Wahrnehmung von Farben, Formen, Texturen und Bewegungen sowie ihres Gedächtnisses und ihrer Intelligenz war Lilian immer noch fähig, Gegenstände durch schlussfolgerndes Denken zu erkennen. Anders Dr. P. Er konnte beispielsweise keinen Handschuh mittels Gesichts- oder Tastsinn erkennen (obwohl er in der Lage war, ihn in fast absurd abstrakten Formulierungen zu beschreiben, etwa «eine zusammenhängende, in sich gefaltete Oberfläche [mit] fünf Ausstülpungen, wenn es das richtige Wort ist … eine Art Behälter?») – bis er ihn, zufällig, über seine Hand gestreift hatte. Er war generell fast vollständig darauf angewiesen, etwas zu tun, aktiv, in Bewegung zu bleiben. Und Singen, das für ihn die natürlichste, unbezähmbarste Tätigkeit der Welt war, ermöglichte ihm, seine Agnosie bis zu einem gewissen Grade zu überwinden. Er hatte alle möglichen Lieder, die er summte oder sang: Ankleidelieder, Rasierlieder, Tätigkeitslieder aller Art. Wie er herausgefunden hatte, ließen sich mit Musik alle seine alltäglichen Verrichtungen organisieren.[1] Bei Lilian verhält es sich anders. Auch Lilian bewahrte sich ihre große Musikalität, doch sie spielte keine vergleichbare Rolle in ihrem Alltag; für sie war es keine Strategie zur Bewältigung ihrer Agnosie.

 

Einige Monate später, im Juni 1999, suchte ich Lilian und Claude abermals in ihrer Wohnung auf – Claude war gerade von seinem mehrwöchigen Europa-Aufenthalt zurückgekommen, und Lilian hatte sich, wie ich erfuhr, innerhalb eines Radius von vier Blöcken um ihr Apartment frei bewegt, ihre Lieblingsrestaurants aufgesucht, Einkäufe und Besorgungen erledigt. Als ich eintraf, sah ich, dass Lilian gerade Grüße an ihre Freunde in aller Welt schickte – auf dem ganzen Tisch lagen Umschläge mit Adressen in Korea, Deutschland, Australien, Brasilien verstreut. Ihre Alexie hatte offensichtlich keine einschränkenden Auswirkungen auf ihre Korrespondenz, obwohl sich Name und Adresse manchmal über den ganzen Umschlag ausbreiteten. In der eigenen Wohnung schien sie gut zurechtzukommen; aber wie bewältigte sie die Herausforderungen eines belebten New Yorker Viertels, selbst wenn es ihr eigenes war?

«Gehen wir hinaus, wandern wir ein bisschen umher», sagte ich. Sogleich begann Lilian den «Wanderer» zu singen – sie liebt Schubert – und dann die Variation in der «Wandererfantasie».

Im Fahrstuhl wurde sie von einigen Nachbarn begrüßt, wobei ich nicht feststellen konnte, ob sie die Leute visuell oder an ihren Stimmen erkannte. Stimmen und andere Geräusche identifizierte sie augenblicklich; tatsächlich schien sie ihnen, genau wie den Farben und Formen, mit Hyperaufmerksamkeit zu begegnen. Sie hatten für sie eine besondere Bedeutung als Schlüsselreize.

Die Straße konnte sie mühelos überqueren. Zwar war sie nicht in der Lage, die Walk- und Don’t- Walk-Hinweise zu lesen, aber sie kannte ihre relative Position und Farbe; außerdem wusste sie, dass sie gehen durfte, wenn das Hinweiszeichen blinkte. Sie zeigte auf eine Synagoge an der Ecke gegenüber; andere Geschäfte erkannte sie an der Form oder Farbe, genauso ihr Lieblingslokal, das ein Muster aus schwarzen und weißen Kacheln aufwies.

Wir gingen in einen Supermarkt und nahmen einen Einkaufswagen – sie ging sofort auf die Nische zu, wo sie standen. Ohne zu zögern, fand sie die Obst- und Gemüseabteilung, wo sie Äpfel, Birnen, Karotten, gelbe Paprika und Spargel mühelos erkannte. Zunächst konnte sie den Lauch nicht benennen, sagte aber: «Ist der mit der Zwiebel verwandt?», und dann kam sie auf das Wort: «Lauch». Eine Kiwifrucht verwirrte sie, bis ich sie ihr in die Hand gab. («Entzückend pelzig, wie eine kleine Maus», sagte sie.) Ich griff nach einem Gegenstand, der über dem Obst hing. «Was ist das?», fragte ich. Lilian kniff die Augen zusammen, zögerte. «Ist es essbar? Papier?» Als ich sie anfassen ließ, brach sie in ein etwas verlegenes Gelächter aus. «Ein Ofenhandschuh, ein Topflappen», sagte sie. «Wie dumm von mir!»

Als wir zur nächsten Abteilung weitergingen, rief Lilian wie ein Kaufhausliftboy aus: «Salatdressing links, Öl rechts!» Offenbar hatte sie eine Karte des ganzen Supermarkts im Kopf. Auf der Suche nach einer bestimmten Tomatensoße wählte sie die richtige unter einem Dutzend verschiedener Marken aus, weil sich auf dem Etikett ein dunkelblaues Rechteck und darunter ein gelber Kreis befanden. «Farbe ist von größter Wichtigkeit», betonte sie noch einmal. Das ist für sie der auffälligste Schlüsselreiz, den sie dann noch erkennt, wenn sonst nichts mehr hilft. (Aus diesem Grund hatte ich mich für unseren Einkauf ganz in Rot gekleidet, denn ich wusste, dass sie mich, falls wir getrennt würden, dann sofort erkennen würde.)

Allerdings reichte die Farbe nicht immer aus. Angesichts eines Kunststoffbehälters wusste sie unter Umständen nicht, ob er Erdnussbutter oder eine Kantalupmelone enthielt. Oft war es hier am einfachsten, dass sie alte Packungen oder Dosen mitbrachte und jemanden bat, ihr bei der Suche nach den entsprechenden Artikeln zu helfen.

Als wir den Supermarkt verließen, fuhr sie versehentlich mit dem Wagen in einen Stapel Einkaufskörbe, die auf der rechten Seite aufgestapelt waren. Solche Missgeschicke finden immer rechts statt, weil ihre visuelle Wahrnehmung auf dieser Seite beeinträchtigt ist.

 

Einige Monate später bestellte ich Lilian in meine Praxis statt in die Klinik, die sie bis dahin immer aufgesucht hatte. Sie kam pünktlich, obwohl sie von der Penn Station nach Greenwich Village hatte gehen müssen. Am Abend zuvor war sie in New Haven gewesen, wo ihr Mann ein Konzert gegeben hatte. Am Morgen hatte er sie zum Zug gebracht. «Die Penn Station kenne ich wie meine Westentasche», sagte sie, daher hätte sie dort keine Probleme gehabt. Doch draußen, in dem Gewimmel von Menschen und Fahrzeugen, «gab es Momente, wo ich mich erkundigen musste». Auf die Frage, wie es ihr jetzt gehe, gab sie an, ihre Agnosie werde schlimmer. «Als wir beide im Supermarkt waren, konnte ich viele Dinge leicht erkennen. Wenn ich jetzt die gleichen Sachen kaufen will, muss ich jemanden fragen.» Im Allgemeinen ist sie auf die Hilfe anderer angewiesen, wenn es Gegenstände zu identifizieren gilt oder wenn sie schwierige Stufen, plötzliche Höhenunterschiede oder Bodenunebenheiten bewältigen muss. Sie verließ sich jetzt stärker auf den Tastsinn und das Gehör (um sich beispielsweise zu vergewissern, dass sie auf dem richtigen Weg war). Und sie hielt sich in zunehmendem Maße an ihr Gedächtnis, ihr Denken, ihre Logik und ihren gesunden Menschenverstand, um sich in einer Welt zu orientieren, die sonst – visuell – unverständlich gewesen wäre.

Doch in meiner Praxis erkannte sie auf einer CD-Hülle sofort ihr eigenes Bild, auf dem sie Chopin spielt. «Kommt mir irgendwie bekannt vor», sagte sie lächelnd.

Ich fragte sie, was sie an einer bestimmten Wand meiner Praxis sehe. Zunächst wandte sie ihren Stuhl nicht der Wand, sondern dem Fenster zu und sagte: «Ich sehe Gebäude.» Daraufhin drehte ich ihren Stuhl, bis sie auf die Wand schaute. Ich musste die Dinge Stück für Stück mit ihr durchgehen. «Sehen Sie Lampen?» Ja, dort und dort. Ich brauchte eine Weile, um festzustellen, dass sie das Sofa unterhalb der Lampen anschaute, obwohl sie sich sogleich zu seiner Farbe äußerte. Sie meinte, etwas Grünes liege auf dem Sofa, und erstaunte mich mit der – richtigen – Feststellung, dass es sich um ein Stretchband handle. So ein Band hätte sie von ihrem Physiotherapeuten bekommen. Auf die Frage, was sie über dem Sofa sehe (ein Gemälde mit abstrakten geometrischen Formen), meinte sie: «Ich sehe gelb … und schwarz.» Was es sei, fragte ich. Vielleicht etwas, was mit der Zimmerdecke zu tun habe, mutmaßte Lilian. Oder ein Ventilator. Eine Uhr. Dann fügte sie hinzu: «Eigentlich weiß ich nicht genau, ob es sich um ein Teil oder um viele handelt.» Tatsächlich war es ein Gemälde, das von einem anderen Patienten, einem farbenblinden Maler, stammte. Doch ganz offensichtlich hatte Lilian keine Ahnung, dass es ein Bild war. Sie war sich noch nicht einmal sicher, dass es ein einzelnes Objekt war, und dachte, es könnte auch ein bauliches Element des Zimmers sein.

Ich fand das alles verwirrend. Wie war es möglich, dass sie ein auffälliges Gemälde nicht von der Wand selbst unterscheiden konnte, wohl aber fähig war, ein kleines Foto von sich selbst augenblicklich auf einer CD zu erkennen? Wie konnte sie ein schmales grünes Stretchband identifizieren, während sie das Sofa, auf dem es lag, nicht sah oder erkannte? Und es hatte schon zuvor zahllose solcher Unstimmigkeiten gegeben.

Ich sah, dass sie eine Armbanduhr trug, und fragte mich, wie sie die Zeit ablesen mochte. Die Ziffern könne sie nicht erkennen, sagte sie, aber die Stellung der Zeiger beurteilen. Daraufhin zeigte ich ihr eher im Spaß meine seltsame Uhr, auf der die Zahlen durch die Symbole von Elementen (H, He, Li, Be etc.) ersetzt sind. Auch damit konnte sie nichts anfangen, da die chemischen Abkürzungen für sie so unverständlich waren, wie es Zahlzeichen gewesen wären.

Wir gingen hinaus, um einen Spaziergang zu machen – ich mit einem sehr hellen Hut, um besser kenntlich zu sein. Lilian war von den Gegenständen in einem Schaufenster völlig verwirrt – ich allerdings auch, denn es handelte sich um ein Geschäft mit tibetanischem Kunsthandwerk. Es hätten aber auch kunsthandwerkliche Produkte vom Mars sein können, so exotisch und fremd war alles. Den Laden daneben erkannte sie merkwürdigerweise sofort und sagte, sie sei schon auf dem Weg zu meiner Praxis daran vorbeigekommen. Es war ein Uhrengeschäft mit Dutzenden von Uhren verschiedener Größen und Formen. Später erzählte sie mir, dass ihr Vater ein leidenschaftlicher Uhrenliebhaber gewesen sei.

Ein Vorhängeschloss an der Tür eines anderen Geschäfts erwies sich als vollkommenes Rätsel, obwohl Lilian meinte, es sei möglicherweise etwas, was man «öffnen kann … wie einen Hydranten». Doch kaum hatte sie es angefasst, wusste sie, was es war.

Wir machten kurz Rast für einen Kaffee; dann nahm ich sie mit zu meiner Wohnung im nächsten Block. Sie sollte meinen Flügel ausprobieren, einen Bechstein aus dem Jahr 1894. Beim Eintritt in meine Wohnung erkannte sie sofort die Standuhr im Flur. (Dr. P. dagegen hatte versucht, einer Standuhr die Hand zu geben.)

 

Sie setzte sich an das Instrument und spielte ein Stück, das ich verwirrend fand, denn es erschien mir vertraut und unvertraut zugleich. Lilian erklärte, es sei ein Haydn-Quartett, das sie vor einigen Jahren im Radio gehört habe und von dem sie so entzückt gewesen sei, dass sie es selbst habe spielen wollen. Daher hatte sie es über Nacht im Kopf fürs Klavier arrangiert. Vor ihrer Alexie hatte sie mit Hilfe von Notenpapier und der Originalpartitur gelegentlich Stücke fürs Klavier arrangiert, doch als das nicht mehr ging, hatte sie festgestellt, dass ihr das auch nach Gehör gelang. Sie hatte den Eindruck, ihr musikalisches Gedächtnis, ihre musikalische Vorstellungskraft, sei intensiver und verlässlicher, aber auch flexibler geworden, sodass sie sich jetzt höchst komplexe Musikwerke einprägen und sie auf eine bis dahin undenkbare Weise im Geist arrangieren und spielen könne. Die ständig wachsenden Kräfte ihres musikalischen Gedächtnisses und Vorstellungsvermögens hatten für sie entscheidende Bedeutung gewonnen, verdankte sie doch ihnen, dass sie nach Einsetzen ihrer visuellen Probleme neun Jahre zuvor ihren Beruf auch weiterhin ausüben konnte.[2]