Das ist doch kein Leben mehr! - Gerbert van Loenen - E-Book

Das ist doch kein Leben mehr! E-Book

Gerbert van Loenen

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Beschreibung

Aktive Sterbehilfe schadet der Selbstbestimmung von Kranken und Behinderten mehr als sie nutzt. In den Niederlanden hat sie zu einem gesellschaftlichen Klima geführt, in dem der Lebenswert von Kranken und Behinderten offen infrage gestellt werden kann. Gerbert van Loenen zeigt, warum: Er erläutert die historischen Debatten zur Legalisierung aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden und spricht über die Unmöglichkeit, sie auf einwilligungsfähige Patienten zu beschränken. Er analysiert die nachgewiesenen Fälle unverlangter Sterbehilfe, etwa bei Neugeborenen, und zeigt, dass niederländische Ärzte und Angehörige besonders rasch an der Sinnhaftigkeit lebensrettender Maßnahmen zweifeln. Differenziert und am konkreten Beispiel belegt sein Buch, dass die Sterbehilfepraxis der Niederlande auf Abwege geführt hat - und dass andere Länder diese Erfahrung beherzigen müssen.

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Das ist doch kein Leben mehr!

Gerbert van Loenen

Das ist doch kein Leben mehr!

Warum aktive Sterbehilfe zu Fremdbestimmung führt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

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Elektronische Ausgabe 2014

© 2014 Mabuse-Verlag GmbH

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Fax:   069 – 70 41 52

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www.mabuse-verlag.de

Titel der Originalausgabe: Hij had beter dood kunnen zijn.

Oordelen over andermans leven

Übersetzung: Marlene Müller-Haas und Bärbel Jänicke, Berlin

Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

Umschlagfoto: © Werner Krüper, Steinhagen

eISBN: 978-3-86321-216-2

ISBN: 978-3-86321-133-2

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Unterstützer

Zum Autor

I

Selbstbestimmung – das ultimative Argument für aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung?

II

Eine lange Geschichte – die niederländische Sterbehilfedebatte zwischen Selbstbestimmung und Mitleid

III

Das Unmögliche möglich machen – Experten unter sich

IV

Die Zustimmung des Patienten – eine klare Grenze?

V

Unverlangte Sterbehilfe in den Niederlanden – die beunruhigenden Fakten

VI

Aktive Sterbehilfe bei Neugeborenen – die Rolle der Ärzte

VII

Kritik an der Sterbehilfe bei Neugeborenen

VIII

Nach der gesetzlichen Regelung – immer neue Streitfragen

IX

Eins nach dem anderen – die Niederlande auf der „schiefen Ebene“?

X

Behandlungsverzicht – normales medizinisches Handeln und der Tod

XI

Niek und ich, oder: Warum dieses Buch geschrieben wurde

XII

Schlechte Ratgeber: Erschöpfung und Verzweiflung

XIII

Das Urteil Außenstehender: unbeteiligt, rational, objektiv?

XIV

Mein Plädoyer: Zurückhaltung und Gelassenheit

ANHANG

Die Argumente, die uns so weit gebracht haben

LITERATUR

Unterstützer

Die Arbeit am Manuskript wurde gefördert durch den Fonds

Bijzondere Journalistieke Projecten (www.fondsbjp.nl).

Der Verlag bedankt sich für die Unterstützung des

Niederländischen Literaturfonds, der die Übersetzung des

Manuskriptes finanziell gefördert hat (www.letterenfonds.nl).

Nederlandsletterenfondsdutch foundationfor literature

Das Erscheinen dieses Buches wurde außerdem ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft sowie Prof. Dr. Karl. H. Beine, Hamm und Dr. Michael Wunder, Hamburg.

Zum Autor

Gerbert van Loenen, geb. 1964, ist stellvertretender Chefredakteur der niederländischen Zeitung Trouw in Amsterdam.

2000 bis 2004 arbeitete er als Deutschland-Korrespondent in Berlin.

Zum Thema des Buches kam er auch durch eigene Betroffenheit: Sein Partner war in den letzten Jahren vor seinem Tod durch eine Hirnverletzung schwerstbehindert.

Für die deutschsprachige Ausgabe hat Gerbert van Loenen das Manuskript der 2009 erschienenen Originalausgabe aktualisiert und den Interessen der deutschen LeserInnen angepasst.

I

Selbstbestimmung – das ultimative Argument für aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung1?

Unter aktiver Sterbehilfe versteht man allgemein die Beendigung eines Menschenlebens auf den ausdrücklichen Wunsch des oder der Betroffenen. Beihilfe zur Selbsttötung durch einen Arzt wäre das vorsätzliche Verschreiben oder Verabreichen von Mitteln, mit denen der Patient selbst seinem Leben ein Ende setzen kann. Auf den ersten Blick entsprechen beide Vorgehensweisen der Auffassung, dass ein Mensch über sein eigenes Leben selbst entscheiden dürfe. Wen wir heiraten, wo wir wohnen, was wir mit unserem Leben anfangen, all das dürfen wir in der freiheitlichen westlichen Gesellschaft selbst entscheiden. Warum dürfen wir dann nicht selbst bestimmen, wann wir sterben?

Aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung sind bisher zwar nur in wenigen Ländern erlaubt, werden aber in allen westlichen Ländern diskutiert. Und das hat einen ganz bestimmten Grund. In allen Gesellschaften, die einem selbstbestimmten Leben einen hohen Wert beimessen, wird es Sympathie für eine Gesetzgebung geben, die ein Sterben auf eigenen Wunsch ermöglicht.

Das kann man auch in Kinofilmen sehen. Ein Einzelkämpfer, der sich für sein Recht, in Würde zu sterben, stark macht und dafür den Kampf mit ihn bevormundenden Institutionen aufnehmen muss, die ihm dieses Recht verwehren – so etwas macht sich gut als Filmszenario. Dass solche Filme in den Niederlanden gedreht werden – dem Land mit der größten Freiheit, aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid zu leisten –, ist nicht verwunderlich. Doch auch in Ländern wie Spanien und den USA, in denen aktive Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid nicht erlaubt sind, erschienen erfolgreiche Filme, die in dieses Schema passen. Auf diese Weise verbreitet sich langsam, aber sicher weltweit die Vorstellung, dass aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung Formen der Selbstbestimmung sind.

Der tapfere Einzelkämpfer

Ein Beispiel: In dem 2004 erstmals ausgestrahlten, auf realen Begebenheiten beruhenden spanischen Film „Das Meer in mir“ (Originaltitel: Mar Adentro) verkörpert die Hauptperson Ramon Sampedro das Idealbild eines selbstbestimmten Behinderten: Er ist vom Hals abwärts gelähmt, aber noch bei völlig klarem Verstand. Seit einem Sprung in zu flaches Wasser ist Ramon bettlägerig, er kann nur noch den Kopf bewegen und sprechen. Unter den gegebenen Umständen wirkt er recht munter, geduldig versorgt von seiner Schwägerin Manuela. Dennoch möchte er lieber sterben – was er nach spanischem Recht nicht darf.

Obwohl Manuela ihn ohne die Unterstützung eines Pflegedienstes oder anderer Helfer versorgt, wird ihr die Arbeit mit ihm nicht zu viel. Sie übt keinen Druck auf Ramon aus, sondern verhält sich ihm gegenüber selbstlos, aufopfernd und warmherzig, ganz im Gegenteil zu einem katholischen Priester aus Ramons Umfeld. Auch dieser leidet an einer vollständigen Querschnittslähmung, will aber weiterleben und fordert Ramon auf, es ebenfalls zu tun. Der Priester wird im Film als sehr fromm und engstirnig dargestellt.

Besonders aufschlussreich ist der Strang der Geschichte, in dem es um Ramons Rechtsanwältin Julia geht. Julia leidet selbst an einer fortschreitenden Erkrankung. Noch ist sie selbstständiger als Ramon, aber ihr Zustand verschlimmert sich zusehends. Sie will Ramon helfen zu sterben und sich dann ebenfalls das Leben nehmen; am Ende schreckt sie jedoch vor diesem Schritt zurück und lässt ihn hängen. Als Ramon am Ende des Films in einer fast festlichen Szene stirbt, indem er geschickt das spanische Sterbehilfeverbot umgeht, tritt auch Julia noch einmal kurz in Erscheinung. Wir sehen sie im Rollstuhl sitzend aufs Meer hinaus starren. Als man ihr berichtet, dass Ramon tot ist, hat sie keinen blassen Schimmer mehr, wer das sein soll, weil ihr Gehirn inzwischen stark geschädigt ist.

Ramon ist also tapfer und entscheidet sich für den Tod, einen Tod, der im Film wie ein festliches Ereignis inszeniert wird. Julia dagegen ist feige, schreckt vor dem Tod zurück und lebt ein elendes Leben, in dem sie erinnerungslos aufs Meer hinaus starrt. „Das Meer in mir“ von Alejandro Amenábar gewann viele nationale und internationale Filmpreise.

Der amerikanische Film „Million Dollar Baby“ zeigt gewisse Übereinstimmungen mit diesem Film. Maggie, eine arme Kellnerin, schafft allein durch ihren starken Willen den Aufstieg zur Spitzenboxerin. Aber ihre Laufbahn nimmt ein grausames Ende, als sie sich auf dem Gipfel ihres Ruhms, im Wettkampf gegen die deutsche Weltmeisterin, das Genick bricht. Seitdem wird sie künstlich beatmet und kann nur noch den Kopf bewegen. Ihre asoziale Familie besucht sie nur, weil sie hofft, Maggies Vermögen zu ergattern; einzig ihr Manager hält ihr die Treue. Er ist es auch, der schließlich den Beatmungsschlauch löst und ihr zusätzlich eine tödliche Injektion verabreicht.

Dieser Film von 2004, bei dem Clint Eastwood Regie führte, wurde mit vier Oscars ausgezeichnet, darunter einem für den besten Film. In ihm sind die immer wiederkehrenden Elemente einer idealtypischen Sterbehilfe enthalten: Die vollkommen gelähmte Protagonistin ist bei völlig klarem Verstand und entscheidet sich für den Tod, wobei ihr ein mutiger Mensch behilflich ist.

In den Niederlanden, dem Musterland der aktiven Sterbehilfe, hatte 2012 ein Film Premiere, der auf dem höchst erfolgreichen Theaterstück „Der gute Tod“ (Originaltitel: De Goede Dood) von Wannie de Wijn basiert. Der Hauptdarsteller Ben ist unheilbar an Lungenkrebs erkrankt. Er hat zwei Brüder, einer ist geistig ein wenig gehandicapt und sympathisch, der andere ist ein erfolgreicher, aber unsympathischer Geschäftsmann. Nachdem man ihm Bens Situation erklärt hat, begreift der geistig leicht behinderte Bruder, dass aktive Sterbehilfe für seinen kranken Bruder das Beste wäre. Der andere Bruder stellt dagegen alle möglichen kritischen Fragen zu Bens Patientenverfügung. Steckt womöglich dessen zweite Frau dahinter? Welche Regelungen hat er in Bezug auf sein Erbe getroffen? Aktive Sterbehilfe, das sei doch „nichts für Ben“, sagt er. „Das sagst du nur, weil du selbst nicht krank bist“, antwortet Bens Ehefrau Hannah. Als bei ihr dann doch einen Moment lang Zweifel aufkommen, fragt sie den befreundeten Hausarzt: „Ben will es doch wirklich?“ Der Arzt antwortet Hannah, ohne auf ihre Frage einzugehen: „Weißt du, du bist ein tapferer Mensch.“ Kurz vor dem Filmende sagt der todkranke Ben: „Weil es keinen Gott mehr gibt, müssen wir alles selbst in die Hand nehmen.“ „Meinst du, das ist besser?“, fragt seine Tochter. „Auf jeden Fall weniger schmerzhaft“, antwortet Ben.

Das mit Unterstützung der beiden niederländischen Sterbehilfeaktivisten Rob Jonquière und Eugène Sutorius entstandene Theaterstück präsentiert aktive Sterbehilfe als würdevolle, selbst gewählte Form des Sterbens. Der einzige, der Fragen aufwirft, ist der Bruder, der Geschäftsmann, von dem der Eindruck erweckt wird, er sei feige und wolle dem Tode nicht ins Auge sehen. Die Unterstützer der aktiven Sterbehilfe dagegen bezeichnen sich gegenseitig als tapfer. Bens Sterben wird als harmonisch und liebevoll inszeniert.

Eddy Terstalls Film „Simon“ stammt ebenfalls aus den Niederlanden. Er ist eine Lobeshymne auf die liberalen, toleranten Niederlande oder doch zumindest auf das tolerante Amsterdam. Wie man sehen kann, leben hier Schwule und Haschischhändler in schönster Harmonie zusammen. Als der Hauptakteur dieses Spielfilms die Diagnose „Hirntumor“ zu hören bekommt, entscheidet er sich für ein sanftes, würdevolles Sterben unter Mithilfe eines Arztes. Simons Sterben wird als liebevolles, harmonisches Ende vorgeführt, das an die Sterbeszene in „Das Meer in mir“ erinnert.

Auch „Simon“ zeigt die idealtypischen Elemente einer aktiven Sterbehilfe: Ein Mann, noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erkrankt an einem schweren Leiden und entscheidet sich daraufhin für den Tod durch aktive Sterbehilfe. Deshalb stirbt er nicht im Krankenhaus, umgeben von Apparaten, sondern zu Hause im Kreise seiner Lieben.

Dieser Spielfilm von 2004 wurde in vier Kategorien mit dem Goldenen Kalb ausgezeichnet, dem wichtigsten Filmpreis, der in den Niederlanden vergeben wird.

Es geht nicht nur um Selbstbestimmung

Diese idealtypische Darstellung entspricht jedoch nicht der Realität in den Niederlanden, dem ersten Land in Europa, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg aktive Sterbehilfe legalisiert wurde. Hier spielt Selbstbestimmung eine viel geringere Rolle, als die Filmemacher und ihr Publikum glauben. Wer die niederländische Entwicklung im Detail untersucht, kann sich durchaus mit gutem Grund fragen, ob in anderen Ländern, in denen man derzeit aktive Sterbehilfe diskutiert, die Entwicklung nach einer Legalisierung anders verlaufen würde.

Ein wichtiger Grund, weshalb es in dieser Frage keine wirkliche Selbstbestimmung, das heißt, kein persönliches „Recht auf aktive Sterbehilfe“ gibt, lautet: Jeder, der auf diese Weise sterben will, braucht dazu einen Arzt. Für die aktive Lebensbeendigung ist ein Arzt erforderlich, der ein Medikament in tödlicher Dosis verabreicht. Bei einem assistierten Suizid nimmt der Patient das Medikament zwar selbst ein, aber auch hier wird der Arzt benötigt, um es in der richtigen Dosierung bereitzustellen.

Die Entwicklung der Rechtsprechung, die aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung in den Niederlanden ermöglicht hat, stellte passenderweise den Arzt und die Frage, wozu dieser berechtigt ist, in den Mittelpunkt – und nicht den Patienten. Der große Durchbruch auf dem Weg zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gelang, als das Oberste niederländische Gericht, der Hohe Rat, 1984 erklärte, ein Arzt, der von einem Patienten um aktive Sterbehilfe gebeten werde, könne in einen Notstand geraten. Denn er sei einerseits dazu verpflichtet, das Leben des Patienten zu erhalten, andererseits aber auch dazu, seinem Patienten zu helfen, indem er dessen Leiden beendet. Wegen dieses Interessenkonflikts wurde entschieden, dass sich der Arzt in einem solchen Falle nicht strafbar macht, wenn er aktive Sterbehilfe leistet (s. Kap. II, S. 30f.).

In der niederländischen Öffentlichkeit fanden die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung in diesen Jahren bereits breite Anerkennung. Daher wurde das Urteil viel beachtet und begeistert aufgenommen.

Unbeachtet blieb dabei der Umstand, dass der Hohe Rat die Selbstbestimmung als Begründung für die Straffreiheit aktiver Sterbehilfe explizit abgelehnt hatte. Was für die höchsten Richter zählte, war das „objektive“ Leid des Patienten, durch das der Arzt in ein Dilemma geraten kann. Viele, denen aktive Sterbehilfe als eine Form der Selbstbestimmung gilt, waren über das Urteil des Hohen Rats so erfreut, dass sie dessen Argumentationslinie keine Beachtung schenkten.

Auch das niederländische Gesetz von 2001, das aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung ausdrücklich legalisierte, stellt den Arzt in den Mittelpunkt. Die Patienten kommen im Gesetz nur als Menschen vor, die um aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung bitten können; dass sie diese auch fordern könnten, davon ist nicht die Rede. Wie in der früheren Rechtsprechung wird auch im Gesetz zur Regelung der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung von 2001 festgelegt, dass es allein Fälle betrifft, in denen „aussichtsloses und unerträgliches Leiden“ vorliegt. Es ist nicht Sache des Patienten, sondern Aufgabe des Arztes, festzustellen, ob ein solches Leiden tatsächlich gegeben ist.

Der Patient, der autonom sterben will, braucht dazu einen Arzt. Dieser Umstand setzt seiner Autonomie Grenzen. Denn anders als der sterbende Patient muss sich der Arzt für sein Handeln verantworten. Es ist nur logisch, dass sich Rechtsprechung und Gesetz auf den Arzt und dessen Befugnisse konzentrieren. Die eigentliche Grundlage für aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung in den Niederlanden bildet daher nicht Selbstbestimmung, sondern Barmherzigkeit oder Mitleid bzw. – wenn dies für den einen oder anderen zu altmodisch klingt – das Mitgefühl des Arztes mit seinem leidenden Patienten.

Mitleid ist etwas ganz anderes als Selbstbestimmung. Man könnte sogar sagen: Mitleid ist das Gegenteil von Selbstbestimmung und im Kern paternalistisch.

Seit den Achtzigerjahren hat sich in diesem Punkt nichts zum Besseren gewendet: Das liberale Selbstverständnis und die Realität in den Niederlanden sind immer weiter auseinandergedriftet. In Filmen, im Fernsehen und im Theater wird nach wie vor der selbstbestimmte Tod diskutiert. Daher reagiert die Öffentlichkeit auf noch bestehende gesetzliche Hürden mit Unverständnis.

Es geht nicht nur um die Tötung auf Verlangen

Menschen, die ihren Willen nicht selbst äußern können, wie geistig stark Behinderte oder Babys, finden in der breiten Öffentlichkeit wenig Beachtung: Alle Debatten beziehen sich auf den autonomen, vernünftigen Bürger, der sich für aktive Sterbehilfe entscheidet. Doch die weitreichendsten und am meisten umstrittenen Entwicklungen vollziehen sich in den Niederlanden gerade im Umgang mit diesen nicht einwilligungsfähigen Menschen. Das ist der vernachlässigte Aspekt, die Schattenseite der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden.

Die niederländischen Bürger hören und sehen nicht viel von der Debatte über die sogenannte „Lebensbeendigung ohne Verlangen“, die in den Neunzigerjahren unter Ärzten, Juristen und schließlich auch Politikern einsetzte. Während sich in den Achtzigerjahren sowohl die breite Öffentlichkeit als auch die Elite der Experten auf die Lebensbeendigung auf Verlangen konzentrierte – das Verlangen eines Patienten, der selbst über sein Leben entscheiden will –, driften seit etwa 1990 die öffentliche und die Expertendebatte auseinander.

Die öffentliche Debatte dreht sich weiterhin vor allem um die oben beschriebene, idealtypische Form von Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen. Die Experten dagegen thematisieren eine viel heiklere Frage: Darf man für einen anderen Menschen, der sich dazu selbst nicht äußern kann, entscheiden, dass es besser wäre zu sterben? In dieser Debatte geht es um schwierigere Fälle, zum Beispiel um Neugeborene, um komatöse Patienten oder um Menschen mit schweren geistigen oder mehrfachen Behinderungen. Für dieses Problemfeld sind die liberalen, auf der Selbstbestimmung einwilligungsfähiger Menschen basierenden Argumente nicht besonders hilfreich.

Die öffentliche Debatte hat in den letzten zwanzig Jahren den Anschluss an den Diskussionsstand der niederländischen Experten verloren und erschöpft sich weitgehend in der Wiederholung altbekannter Argumente.

Dieses Buch beschränkt sich nicht auf Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte wegen eines schweren Leidens einen Arzt um aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung bitten. In diesem Buch geht es ausdrücklich auch um Menschen, über die andere das Urteil fällen, es sei besser für sie, zu sterben. Das hat nichts mit Selbstbestimmung, wohl aber mit Mitleid zu tun. Das Thema dieses Buches sind die Argumente, die dazu führen, dass jemand sagt: „Das ist doch kein Leben mehr – er (oder sie) wäre besser tot.“

Das „Sterben in Würde“, wie die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung von ihren Verfechtern gern bezeichnet werden, findet in zahlreichen Ländern Befürworter. Aber niemand kann das niederländische Beispiel ignorieren. Gerade für Befürworter von Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung stellt die niederländische Erfahrung eine Herausforderung dar. Denn wenn sie glauben, sie könnten das „Sterben in Würde“ regeln, ohne die niederländische Praxis zu übernehmen, müssen sie deutlich machen, mit welchen Barrieren sie die aktive Sterbehilfe auf Fälle eingrenzen wollen, in denen ein ausdrückliches Verlangen vorliegt. Das ist nur möglich, wenn die Befürworter aktiver Sterbehilfe in anderen Ländern die niederländischen Erfahrungen sorgfältig auswerten und Vorschläge formulieren, die einer Entwicklung wie in den Niederlanden einen Riegel vorschieben.

Es gibt keinerlei Anzeichen, dass das auch geschieht. Überall auf der Welt spielt sich das gleiche Szenario ab wie in den Niederlanden: Die Befürworter der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung berufen sich auf die klassischen Beispiele von Selbstbestimmung: Ein schwer kranker, leidender Patient bittet bei vollem Bewusstsein um die Beendigung seines Lebens. So begann auch die Debatte in den Niederlanden. Doch eine Debatte, in der sich die Verfechter aktiver Sterbehilfe auf die Autonomie des Menschen berufen, dem es möglich sein muss, über sein eigenes Leben und Sterben zu entscheiden, ist nur dann überzeugend, wenn die lebensbeendenden Maßnahmen auch wirklich auf jene Menschen beschränkt bleiben, die selbst darum ersuchen. Und das ist, wie das niederländische Beispiel zeigt, keineswegs selbstverständlich.

Vielleicht möchten die Befürworter aktiver Sterbehilfe in anderen Ländern den Niederlanden jedoch auch in den kontroversen Fällen folgen, in denen Menschen, deren Leben beendet wird, nicht selbst darüber entscheiden. Dann sollten sie dies aber auch ausdrücklich formulieren. Denn es bedeutet zwangsläufig, dass sie sich, anders als heute vorgetragen, nicht auf das Argument der Selbstbestimmung stützen können.

Was Sie in diesem Buch erwartet

Im folgenden Kapitel werde ich ausführlich die öffentlichen Debatten schildern, die zu einer Akzeptanz der aktiven Sterbehilfe und zu ihrer faktischen Legalisierung durch den Hohen Rat im Jahr 1984 geführt haben. Wir werden sehen, dass sowohl Selbstbestimmung als auch Mitleid immer schon große Bedeutung für diese Debatten besaßen. In Kapitel III werde ich zeigen, dass darüber hinaus die Praxis der unverlangten Sterbehilfe unter Experten – von der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen – ständig als Option diskutiert wurde.

Offenbar ist es schwer, aktive Sterbehilfe als Tötung auf Verlangen zu fordern, ohne zugleich die Möglichkeit von unverlangter Sterbehilfe einzuräumen. Das lässt sich an prominenten Wortführern sehen, die an unterschiedlichen Stellen Widersprüchliches gesagt oder geschrieben haben. Ich werde ihre Positionen in Kapitel IV untersuchen. Am Ende von Kapitel IV werde ich die These aufstellen, dass die zuvor beschrieben Widersprüchlichkeiten in einigen Fällen auf strategische Überlegungen zurückgehen, dass es aber auch logische Gründe gibt, die es fast unmöglich machen, eine Tötung auf Verlangen zu fordern, ohne auch unverlangte Lebensbeendigungen zuzulassen.

In Kapitel V wird es ganz konkret: Unverlangte Lebensbeendigungen haben in den Niederlanden ganz real statt gefunden. Ich stelle die Zahlen vor und zeige, dass weder die Politik noch die Staatsanwaltschaft, weder die Rechtsprechung noch der Gesetzgeber etwas dagegen unternehmen wollte oder konnte. Am Beispiel der Sterbehilfe bei Neugeborenen (einer Gruppe, die eindeutig nicht als einwilligungsfähig zu bezeichnen ist) schildere ich im Kapitel VI detailliert die Zusammenhänge, die eine solche Situation möglich machen, und wage eine weitere These: Zwar wurde die Lebensbeendigung auf Verlangen von ihren Befürwortern auch als Mittel verstanden, den Einfluss der Ärzte zurückzudrängen, indem man sie darauf verpflichtete, nicht das Machbare, sondern das vom Patienten Gewünschte zu tun oder zu lassen. Doch in der Folge haben niederländische Politik und Rechtsprechung beim Thema aktive Sterbehilfe das Heft des Handelns den Ärzten überlassen. Im Kapitel VII schildere ich die Kritik, die einige Ärzte und Juristen bezüglich der Sterbehilfe bei Neugeborenen üben.

Kapitel VIII verschafft einen Überblick über die Versuche, auch nach der gesetzlichen Regelung von aktiver Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung die Grenzen des Erlaubten immer weiter auszudehnen. Die Debatte wird an allen Fronten fortgesetzt.

In Kapitel IX begründe ich die vielleicht wichtigste These meines Buches: Die Sorge, dass die Niederlande mit der Akzeptanz von aktiver Sterbehilfe auf Verlangen eine schiefe Ebene betreten haben, die vom ethisch Vertretbaren zum ethisch Fragwürdigen führt, wurde durch die historische Entwicklung eindrucksvoll bestätigt.

In Kapitel X möchte ich den Blickwinkel erweitern: Die Akzeptanz aktiver Sterbehilfe auf Verlangen hat nicht nur zu deren Ausweitung auf alle möglichen anderen Fälle geführt. Auch bei Reanimationen und der passiven Sterbehilfe hat sich die Sichtweise der Niederländer verändert: Es ist salonfähig geworden, Lebensqualität und Lebenswert eines anderen Menschen offen zu taxieren und zum Kriterium für medizinische Entscheidungen zu machen. Das ist insbesondere für Menschen mit Behinderungen eine bedrohliche Entwicklung.

Nicht nur mit der Wahrnehmung eines schwer behinderten Menschen in unserer Gesellschaft, sondern auch mit der Herausforderung, die das Leben mit ihm darstellt, habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht, die ich in Kapitel XIbeschreibe. Auf diese Erfahrungen baue ich auf, wenn ich in Kapitel XII begründe, warum auch nahestehende Menschen nicht darüber entscheiden sollten, ob ein nicht einwilligungsfähiger Mensch weiterleben oder sterben sollte.

In Kapitel XIII stelle ich auch das Urteilsvermögen anderer möglicher Instanzen in Abrede: Auch Ärzte, Ethiker, die öffentliche Meinung und die Gesellschaft als politisches Subjekt sollten bei der Frage, ob ein nicht einwilligungsfähiger Mensch leben oder sterben soll, unbedingt außen vor bleiben. Das führt mich zu einem abschließenden Plädoyer, das ich in Kapitel XIV halte: Für einen Umgang mit leidenden Menschen brauchen wir Gelassenheit und Demut.

Dieses Buch hat auch noch einen kurzen Anhang: Hier finden Sie eine Zusammenstellung der bekannten Argumente für aktive Sterbehilfe – und was sich dagegen sagen ließe. Manche dieser Argumente spielen außerhalb der Niederlande vielleicht keine große Rolle. Aber vielleicht teilen Sie mein Vergnügen, auf diese Weise Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen der Debatte konzentriert in den Blick zu nehmen. In jedem Fall wird Ihnen diese Aufstellung helfen, sich über eines klar zu werden: Wie denken Sie selbst – nach der Lektüre meines Buches – über aktive Sterbehilfe?

II

Eine lange Geschichte – die niederländische Sterbehilfedebatte zwischen Selbstbestimmung und Mitleid

Wer unerträglich und aussichtslos leidet, darf in den Niederlanden den Tod wählen. Daher betrachten viele das Recht auf Selbstbestimmung als den wichtigsten Grund für aktive Sterbehilfe.

Doch in der dreißigjährigen Vorgeschichte des Gesetzes zur Regelung der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung von 2001 schlingerte die Argumentation ständig zwischen Mitleid und Selbstbestimmung hin und her. Für leidende Menschen sei es manchmal besser, tot zu sein; dazu müssten Ärzte handeln – mit diesem Argument setzte im Jahre 1969 die Debatte über die aktive Sterbehilfe ein.

Ein kleines Buch mit großem Einfluss

In jenem Jahr brachte der Arzt und Wissenschaftler Jan Hendrik van den Berg die Niederländer dazu, über den Sinn und Unsinn medizinischen Handelns nachzudenken. Sein Buch „Medizinische Macht und medizinische Ethik“ (Originaltitel: Medische macht en medische ethiek) hatte großen Einfluss auf die niederländische Debatte. Innerhalb von sieben Jahren erlebte das Buch 20 Auflagen. Nachdem in den Niederlanden, anders als in anderen westlichen Ländern, bis dahin jede Debatte über aktive Sterbehilfe vermieden worden war, übernahm das Land nach Erscheinen des Buches in der Diskussion eine Vorreiterrolle. Ärzte müssten aufhören, ihre Patienten um jeden Preis weiter zu behandeln, denn in manchen Fällen sei der Tod einem Leben an Schläuchen vorzuziehen, lautete van den Bergs Kritik. Die Technologie müsse in ihre Schranken gewiesen werden.

Seither gilt es in den Niederlanden als progressiv und liberal, van den Berg zu zitieren und daran anknüpfend aktive Sterbehilfe zum Thema zu machen. Noch lange nach dem Erscheinen sprachen Experten dem Mann, der die Debatte über aktive Sterbehilfe in den Niederlanden angestoßen hatte, ihre Dankbarkeit aus: „Van den Bergs Plädoyer für eine neue Medizinethik in den Sechzigerjahren ist als ein Beginn anzusehen. (…) Der Autor drängt den Leser dazu, die Grenze zum Bereich des Unangenehmen zu überschreiten, um zu veranschaulichen, dass medizinisches Handeln einen positiven Zweck verfolgt, zugleich aber auch schwerwiegende negative Folgen haben kann“, schrieb die sogenannte „Kommission zur Zulässigkeit lebensbeendender Maßnahmen“ (Commissie Aanvaardbaarheid Levensbeëndigend handelen) des Ärzteverbands KNMG noch in den Neunzigerjahren (Dillmann et al., 1997, S. 9).

„Medizinische Macht und medizinische Ethik“ ist im Stil eines Pamphlets geschrieben und greift exemplarisch die Situationen einiger schwer behinderter Menschen auf. Van den Berg führt diese Fälle als Beweise für falsches medizinisches Handeln vor. Seiner Ansicht nach sollten diese Menschen eigentlich gar nicht mehr leben, und den Ärzten sei der Vorwurf zu machen, dafür gesorgt zu haben, dass es sie immer noch gibt. Einige der erwähnten Behinderten sind gar nicht mehr einwilligungsfähig, andere sind noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und daher einwilligungsfähig. Doch bei van den Berg kommt keine dieser Gruppen zu Wort.

In den Sechzigerjahren waren die „Contergan-Babys“ oft in den Schlagzeilen: Kinder, die mit deformierten Gliedmaßen und anderen Krankheiten geboren wurden, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft das schädigende Medikament Contergan eingenommen hatten. Van den Berg äußerte sich 1969 unmissverständlich zu diesen Kindern: „Es gab Eltern, die ihr Contergan-Kind nicht sehen wollten und es verstoßen haben. Das halte ich für natürlich. Es gab auch Eltern, die ihr Contergan-Kind nach reiflicher Überlegung getötet haben. Das halte ich für eine mutige und würdevolle Tat. Es gab Ärzte, die dem Contergan-Kind auf die flehentliche Bitte der Eltern hin kurz nach der Geburt eine tödliche Injektion verabreicht haben. Das halte ich für ein Handeln gemäß schlichter medizinischer Pflichtauffassung.“

„Ich muss davon ausgehen, dass auch Eltern, die ein schwer behindertes Kind am Leben gelassen haben und es vielleicht gerade mit Prothesen durchs Haus geistern sehen, diese Zeilen lesen werden. (…) Ich bitte diese Eltern, ihr Urteil einen Augenblick lang zurückzustellen. Haben sie sich etwa nicht selbst schon gefragt, ob ihr Handeln richtig war? Hatten sie nicht schon mehr als einmal beim Anblick ihres Kindes einen Kloß im Hals? (…) Sie haben gelernt, sich so sehr gegen diese Worte zu panzern, dass sie ihnen überhaupt nicht mehr bewusst sind. Im Zuge dieses Prozesses haben sie gelernt, ihrem Kind mit besonderer Liebe zu begegnen und es vielleicht auch zum Mittelpunkt ihrer Familie zu machen. Alles kann dem missgebildeten Kind geopfert werden, die eigenen Wünsche, auch die Wünsche und sogar Bedürfnisse der anderen Geschwister. Ich habe dafür kein gutes Wort übrig. Ich habe keine Achtung vor Eltern, die durch ihr schwer missgebildetes Kind nicht mehr in Panik versetzt werden. Wenn meine Worte ihren Panzer sprengen, haben sie ihr Ziel erreicht“ (Berg, 1969, S. 27-28).

Van den Berg nennt noch andere Menschen, die seiner Ansicht nach besser nicht länger leben sollten. So zeigt er zum Beispiel das Foto eines Mannes aus den USA, dem die Beine und ein Teil des Rumpfes amputiert worden waren. Auch er kenne einen derart schwer missgebildeten Patienten, erklärte er: „Als Antwort auf einen Brief, den ich einem Kollegen über einen fast vollständig missgebildeten Patienten geschrieben hatte, antwortete mir dieser, der Patient sei ‚leider verstorben‘. (…) Leider verstorben! Hätte da nicht wenigstens stehen können, dass über diesen Tod niemand mehr viele Tränen vergießen konnte? Oder hätte er nicht einfach schreiben können: Der Patient lebt nicht mehr?“ (ebd., S. 30).

Auch Verkehrsopfer, von denen es in den Sechzigerjahren noch mehr gab als heute, wären nach van den Bergs Meinung oft besser tot. Er nennt dazu das Beispiel einer 17-Jährigen: „Wenn das Mädchen wieder aufwacht, leidet es möglicherweise unter einer sehr schweren Geistesschwäche. Vielleicht hat sie dann für immer jegliches Interesse am Leben verloren. Ihr kann jegliche Erinnerung von ihrer Kindheit bis zum Zeitpunkt des Unglücks verloren gegangen sein. Womöglich wird das Mädchen Jahre später auch Symptome eines psychopathischen Verhaltens zeigen. Sie kann zur Diebin werden oder sexuelle Anomalien entwickeln. Der Arzt hält keine Information zurück. Darf man noch hoffen, dass das Mädchen wieder aufwacht? Die Eltern entscheiden sich mit Unterstützung des Arztes dagegen. Das Mädchen erhält eine tödliche Injektion. Nicht, dass Letzteres tatsächlich bereits Realität wäre: Dazu ist die neue Ethik noch zu jung. Aber es wird geschehen. Es muss auch geschehen.“

In Hinblick auf den künftigen Umgang mit Verkehrsopfern wünscht sich van den Berg aber sogar noch weitergehende Maßnahmen: „Es ist zu erwarten, dass dann neben der Verkehrswacht so etwas wie eine Organwacht, vielleicht in rot lackierten Autos, durch die Gegend fährt, nicht um zu helfen, sondern um allzeit bereit zu sein, nach einem Unfall noch vor Ort die lebenden Organe aus den dahinsiechenden Körpern zu schneiden.“ Diese Zeilen van den Bergs werden von denen, die ihn als großen Inspirator rühmen, eher selten zitiert.

Van den Bergs neue Ethik war knapp, aber prägnant gefasst. Nicht alles, was möglich sei, sei auch wünschenswert, fand er. Dem Arzt, der heute dank neuer Technologien übermächtig geworden sei, müsse in seinem Handeln eine Grenze gesetzt werden. Wenn eine Behandlung sinnlos sei, solle der Arzt entweder die Behandlung einstellen oder den Patienten töten. In Bezug auf die Frage, wen der Arzt bei dieser Entscheidung einbeziehen soll, blieb van den Berg vage; ob der Patient, der getötet werden soll, selbst etwas dazu sagen darf, ließ er ebenfalls offen.

Eines ist in van den Bergs einflussreichem Büchlein auffallend: Behinderte und Kranke kommen nur als Exempel und Objekte vor. Auch wenn sie einwilligungsfähig sind und sich äußern könnten.

Van den Berg ging es 1969 darum, dass künftig zwischen „sinnvollem“ und „sinnlosem“ Leben unterschieden wird. Und er fragte sich, wie sich beides voneinander unterscheiden lässt. „Wo liegt die Grenze? Ich glaube nicht, dass eine solche Grenze existiert. Ich glaube auch nicht, dass es möglich sein wird, auf Papier festzuhalten, was im Rahmen menschlichen Lebens sinnvoll oder sinnlos ist – das wäre viel zu allgemein gefasst. Ich halte es für reine Zeitverschwendung, dem zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist auch im Hinblick auf die Kranken und Sterbenden nicht fair, darüber aufgeregte theoretische Debatten zu führen. Es muss gehandelt werden“ (ebd., S. 47).

Vierzig Jahre später springt sofort das Paradox ins Auge, die Macht der Ärzte dadurch einzuschränken, dass man ihnen das Recht einräumt, Patienten ohne allzu viele „aufgeregte Debatten“ zu töten.

Doch van den Bergs Zeitgenossen sahen das anders. Van den Berg wurde zum Vorbild für jene, die die medizinische Technologie zügeln wollten, um so mündiger zu werden. Dieser Mann, dem es letztlich darum ging, dass die Ärzte bestimmen können, was „sinnvolles“ oder „sinnloses“ Leben ist, wurde von der damaligen Protestgeneration mit offenen Armen empfangen.

Die Ethikerin Heleen Dupuis rühmte van den Berg noch 1992 fälschlicherweise als einen Mann, der die Autonomie der Patienten gestärkt und die Macht der Ärzte gebändigt habe. „Erst in den Sechzigerjahren kommt in den Niederlanden der Gedanke auf, dass Patienten nicht nur passive Objekte sind (…), sondern, auch wenn sie krank sind, eine eigene Meinung und eine eigene Sichtweise ihrer Situation haben und daher selbstverständlich über die medizinische Behandlung mitentscheiden. (…) In der niederländischen medizinethischen Literatur ist J. H. van den Berg (1969) der erste, der diese Problematik öffentlich zur Sprache bringt“, schreibt Dupuis in einem Handbuch zur Medizinethik (Dupuis et al., 1992, S. 24).

Van den Berg folgen schon bald noch einflussreichere Denker, die aktive Sterbehilfe bzw. „Euthanasie“, wie sie in den Niederlanden genannt wird, befürworten. In diesen Jahren wird der Begriff noch sehr weit gefasst. Es geht dabei nicht ausschließlich um Lebensbeendigung auf Verlangen des Betroffenen, es reicht aus, wenn der Tod im Interesse desjenigen liegt, der sterben wird.

Der Begriff „Selbstbestimmung“ spielt in diesen Jahren noch keine Rolle. Das Plädoyer für eine Ermöglichung aktiver Sterbehilfe beruft sich nicht auf Freiwilligkeit, Mündigkeit oder Selbstbestimmung, sondern auf Barmherzigkeit und Mitleid: Ein Mensch, der so entstellt, krank oder behindert ist, sollte besser sterben. Notfalls sollte es einem Arzt erlaubt sein, dabei zu helfen.

Anfang der Siebzigerjahre argumentiert der protestantische Theologe P. J. Roscam Abbing: „Wenn es denn richtig ist (…), dass jemand für sich selbst um aktive Sterbehilfe bitten darf, dann darf man dies offensichtlich aus Liebe zu einem anderen auch stellvertretend für diesen anderen tun“ (Roscam Abbing, 1972, S. 49, vgl. hierzu Kap. IV, S. 63f.).

Der niederländische Alleingang

Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch andernorts befürwortete man in diesen Jahren einen offeneren und ehrlicheren Umgang mit dem Tod. In Großbritannien zum Beispiel entstand die Hospizbewegung, die Sterbehäuser einrichtete, um Menschen ein friedvolles Lebensende zu ermöglichen. Überall in der westlichen Welt gewann eine neue, geburtenstarke, politisch zu großen Teilen links orientierte Generation an Bedeutung, die die Gesellschaft im Sinne neuer Ideale verändern wollte. Doch nur in den Niederlanden begrüßte diese Generation aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttötung als Teil ihres Programms für eine bessere Welt.

Der niederländisch-amerikanische Historiker James Kennedy erklärt sich diesen Alleingang und diese Sonderentwicklung mit dem niederländischen Glauben an die Enttabuisierung. Wenn man Fragen, die zuvor totgeschwiegen wurden, diskutabel macht, kommt man – aus niederländischer Sicht – auch gemeinsam zu einer Lösung. Durch das Sprechen über Tabuthemen soll kontrollier- und beherrschbar werden, was andernfalls heimlich und unkontrolliert geschieht. „Das Durchbrechen der Tabus, mit denen Sex und Tod belegt waren, war gut. Deshalb war auch die Abschaffung des Tabus, mit dem die aktive Sterbehilfe belegt ist, gut, weil das weniger Heuchelei und mehr Offenheit versprach“ (Kennedy, 2002, S. 56).

In den Niederlanden gelang der Sterbehilfebewegung der Durchbruch durch die moralische Gleichstellung von passiver und aktiver Sterbehilfe. Dass der Verzicht auf eine Behandlung zulässig ist, stand in den Niederlanden der Siebziger- und Achtzigerjahre bald außer Frage. In diesen Jahrzehnten betrachteten viele Menschen Technologie mit Argwohn, in zahlreichen Lebensbereichen begann man, Qualität über Quantität zu stellen. Daher war es nur logisch, wenn auf technische Höchstleistungen verzichtet wurde, die zwar das Leben von Menschen verlängern, nicht aber ihr Wohlergehen zu steigern vermochten.

Auch außerhalb der Niederlande betrachtete man das endlose Weiterbehandeln mit einer gewissen Skepsis. Doch allein in den Niederlanden brachte das auch die Akzeptanz von aktiver Sterbehilfe mit sich.

Zu verdanken ist dies unter anderem dem Theologen Harry Kuitert. Er stellte in einem 1981 erschienenen Buch beide Formen lebensverkürzenden Handelns moralisch gleich (Kuitert, 1981, S. 29). Wer die Apparate ausschalte und damit das Sterben eines Menschen bewirke, erziele damit die gleiche Wirkung wie derjenige, der einen Menschen aktiv tötet. Es mache in diesem Sinne keinen Unterschied. Und da das Ausschalten von Apparaten zulässig sei, dürfe man, so lautete die Schlussfolgerung, auch aktiv töten.

Diese Argumentation wurde so oft wiederholt und wirkt auf den ersten Blick so plausibel, dass sich vermutlich immer noch viele davon überzeugen lassen. Dabei handelt es sich, genau genommen, um nichts anderes als eine Ethik, bei der der Zweck die Mittel heiligt. Seit jeher steht dieser Ethik, die sich nur an den Folgen orientiert, eine Ethik gegenüber, die das Handeln als solches betrachtet. Nach dieser Ethik kann etwas Unmoralisches nie durch das gerechtfertigt werden, was es als Ergebnis bezweckt. Dieser Ansatz bildet die Grundlage der Menschenrechte.

Kuitert gewann schon bald eine große Anhängerschaft. Theo Boer, Ethiker an der Protestantischen Theologischen Universität, beschreibt in einem Artikel aus dem Jahr 2007 (Boer 2007), welch überwältigende Wirkung Kuiterts Behauptung hatte. „Es fällt nicht schwer, sich die Konsequenzen dieser Neudefinition vorzustellen. Weil die meisten Menschen wahrscheinlich schon einmal die Entscheidung unterstützt haben, in einer terminalen Phase von der weiteren Behandlung eines schwer kranken Patienten abzusehen (…), wird der Eindruck erweckt, als würden wir alle gelegentlich auch ‚Euthanasie’ beschönigen“ (Kursivschreibung von Theo Boer).

Der Gesundheitsrat, ein wichtiges Beratungsorgan der niederländischen Regierung, schloss sich Kuiterts Position an. Und auch die beiden größten protestantischen Kirchen übernahmen die Sichtweise des Kirchenmitglieds Kuitert (Protestantse Kerk in Nederland 1988). Daher nahmen diese Kirchen in der niederländischen Sterbehilfedebatte eine Vorreiterrolle ein.

Auch das ist bemerkenswert: Aktive Sterbehilfe wurde in den Niederlanden von Christen nicht bekämpft, sondern erkämpft. Widerstand gegen die aktive Sterbehilfe kam vor allem aus der katholischen Kirche und von orthodoxen Protestanten. Desgleichen warnte die Jüdin C. I. Dessaur in auffallend klaren Worten vor der Akzeptanz von aktiver Sterbehilfe (Dessaur & Rutenfrans, 1986).

Die Pendelbewegung zwischen Selbstbestimmung und Mitleid