Das Judas-Prinzip - R.H.H. Schneider - E-Book

Das Judas-Prinzip E-Book

R.H.H. Schneider

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  • Herausgeber: Verlag Kern
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ich weiß, was du denkst. Aber die Antwort ist NEIN! Mit diesen Sätzen beginnt ein gnadenloser Kampf zwischen zwei Frauen, der ein seit Jahrzehnten schwelendes Familiendrama um Hass, Gier, Sex und Drogen ans Licht bringt. Gesa Ewert wird verdächtigt, ihren Ehemann Bruno mit einem vergifteten Schmerzmittel getötet zu haben. Nur wenige Tage später stirbt die Leiterin der örtlichen Bankfiliale ebenfalls durch ein mit Zyankali vergiftetes Medikament. Die Ermittler schließen deshalb eine allgemeine Produktvergiftung nicht aus, was zu großer Unruhe in der Bevölkerung führt. Gesa Ewert wird von ihrer Tochter der beiden Verbrechen beschuldigt und in einem Indizienprozess angeklagt. Vor Gericht kommt es zu einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen beiden Frauen – mit ungeahnten Folgen Ein Kriminal-Roman für alle, die statt Brutalität und Gewaltexzessen mit kriminalistischem Spürsinn einen komplizierten Fall lösen möchten – noch vor den Ermittlern.

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Seitenzahl: 303

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R.H.H. Schneider

Das Judas-Prinzip

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, September 2016

Autor: R. H. H. Schneider

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Bildnachweis Titelmotiv: Fotolia | © double_cat

Sprache: deutsch, broschiert

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN: 978-3-95716-216-8

ISBN E-Book: 978-3-95716-232-8

www.verlag-kern.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

TEIL 2

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

TEIL 3

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

TEIL 4

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Epilog

Weitere Werke

Dies ist ein Roman. Daher sind alle Namen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Der Notruf kam kurz nach fünf. Ein Notruf kann manches durcheinander bringen: Die Kaffeepause der Sanitäter. Den Straßenverkehr. Die Nerven der Angehörigen. Nicht aber die Frau, die unaufgeregt den Zusammenbruch ihres Ehemanns meldete. Als Adresse gab sie eine Straße am Rande der Kleinstadt an. Die Sanitäter, die Brüder Gerber, kannten die Gegend. Aber kein Schild zeigte den Straßennamen an. Also versuchten sie ihr Glück und bogen in einen schmalen Schotterweg ein, auf den die Beschreibung zu passen schien. Auch Hausnummern suchten sie hier vergeblich. Hinter einem Fenster spähte jemand durch die Gardine. Eine ältere Frau stand nur wenige Meter entfernt am Straßenrand. Bevor die Brüder sie fragen konnten, trat eine schwarzhaarige Frau aus dem Haus. Mit einer knappen Handbewegung forderte sie die Sanitäter auf, den Wagen auf die Auffahrt zu fahren. Sie stellte sich als Gesa Ewert vor. Im Wohnzimmer lag ihr Ehemann – in einen Bademantel gehüllt – regungslos auf dem Fußboden, seine Augen starr an die Decke gerichtet.

Er sei aus der Dusche gekommen. Gesa, mir ist schwindelig, habe er noch sagen können. Dann sei er im Wohnzimmer zusammengebrochen, erklärte seine Frau. Die Sanitäter fragten nach Vorerkrankungen und Medikamenten. Ihr Mann sei viele Jahre Alkoholiker gewesen, nach seinem zweiten Entzug aber trocken geblieben. Er nehme nur ein Mittel gegen seine chronischen Kopfschmerzen. Bis zu vier Kapseln Ebomin am Tag – je nach Bedarf. Während sie die Sanitäter informierte, schnappte ihr Mann wie ein Ertrinkender verzweifelt nach Luft. Jeder Atemzug schien ihn äußerste Anstrengung zu kosten. Die Sanitäter überprüften Blutdruck und Puls. Dann stülpten sie ihm eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase, um die Atmung zu erleichtern. Rolf Gerber nahm die Frau mit in die Küche, um ihr den Anblick ihres Mannes zu ersparen, der mit jeden Atemzug um sein Leben zu kämpfen schien.

Kaum hatte sie sich gesetzt, da begann sie, eine Zigarette, die auf dem Tisch lag, zu zerbröseln. Dabei redete sie unentwegt auf ihn ein. Seine Erfahrung war, dass die meisten Angehörigen so auf den Kranken und dessen Zustand fixiert waren, dass sie nur darüber reden wollten – und über nichts anderes. Aber diese Frau erzählte ihm Einzelheiten aus ihrem Leben und klagte über ihre Tochter: alles sehr persönliche Dinge. Gerber war das peinlich. Von ihrem Mann war kaum die Rede. Welche Ehe die beiden wohl führten?

Seinem Bruder war inzwischen klar geworden, dass er hier mit seinem Latein am Ende war. Er war heilfroh, als der Notarzt endlich eintraf. In wenigen Sätzen erklärte er ihm die Situation. Der Blutdruck des Mannes lag jetzt bei hundert zu sechzig. Der Puls war nur noch schwach spürbar.

Gesa Ewert kam ins Wohnzimmer zurück. Als der Arzt sie nach Medikamenten fragte, holte sie eine Flasche mit Ebomin-Kapseln aus der Küche.

Ebomin.

Ihm war sofort klar, dass das frei verkäufliche Kopfschmerzmittel als Ursache für den Zusammenbruch nicht infrage kam. Sein Versuch, den Kreislauf zu stabilisieren, scheiterte. Der Blutdruck fiel weiter. Ein eindeutiges Krankheitsbild war nicht zu erkennen, aber die Symptome schienen lebensbedrohlich. Alle Maßnahmen blieben wirkungslos. Der Notarzt forderte einen Rettungshubschrauber an. Der Mann rang noch immer in unregelmäßigen Abständen röchelnd nach Luft. Während die Sanitäter ihn an Bord des Helikopters brachten, beobachtete seine Frau vom Gartenzaun aus das Geschehen. Und noch bevor der Hubschrauber abgehoben hatte, kehrte sie mit der älteren Frau ins Haus zurück. Dabei hielt sie eine Decke fest umklammert.

TEIL 1

Kapitel 1

Wenige Stunden später saß sie mit ihrer Mutter im Warteraum vor der Intensivstation. Nervös knetete sie ihre Hände. Sie wartete auf eine Nachricht der Ärzte.

„Ich brauche eine Zigarette“, sagte sie unvermittelt und sprang auf.

Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Steinboden. Als sie zurückkam, sprach ein Arzt mit ihrer Mutter.

„Bruno ist tot.“

Ihre Tochter reagierte nicht.

„Bruno ist gestorben. Hörst du?“, wiederholte ihre Mutter.

Gesa Ewert fand die Sprache wieder: „Woran ist er gestorben?“

„Die Organe haben versagt, aber wir kennen die eigentliche Ursache nicht. Es tut mir leid, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun“, antwortete der Arzt.

„Ich will aber wissen, woran er gestorben ist“, sagte sie jetzt entschlossen.

„Dazu müssen Sie einer Autopsie zustimmen“, antwortete er knapp.

Sie nickte nur.

Der Mediziner holte das entsprechende Formular. Wortlos unterschrieb sie, ohne den Text gelesen zu haben.

Um 20.45 Uhr wurde Bruno Ewert, erst 52 Jahre alt, für tot erklärt.

Als seine Leiche in die Pathologie gebracht wurde, hatte die Witwe mit ihrer Mutter das Hospital bereits verlassen. Sie hatte es abgelehnt, ihren toten Ehemann noch einmal zu sehen.

Kurz vor Mitternacht erhielt der Notarzt einen Anruf von Gesa Ewert: „Haben Sie die Decke?“

„Welche Decke?“ Der Arzt wusste nicht, was sie meinte.

Er war verärgert über den späten Anruf und fragte sich, wie die Frau überhaupt an seine Privatnummer gekommen war. Die Telefonnummern von Ärzten und Sanitätern wurden grundsätzlich nicht herausgegeben. Sie erklärte, dass sie ihre Decke zurück haben wolle. Die Sanitäter hätten ihren Mann darin eingewickelt, um ihn warmzuhalten.

„Dafür bin ich nicht zuständig“, sagte er ungehalten, bevor ihm bewusst wurde, unter welch dramatischen Umständen die Frau erst vor wenigen Stunden ihren Mann verloren hatte. Er gab ihr den Rat, sich direkt an die Rettungsstation zu wenden. Hatten die dramatischen Ereignisse des Tages die Frau verwirrt?

In aller Herrgottsfrühe klingelte sie am nächsten Morgen Dirk Ewert, den Cousin ihres Mannes, aus dem Bett. Sie machte auf ihn einen völlig übernächtigten Eindruck: dunkle Ränder unter den Augen, die pechschwarzen Haare strähnig herabhängend, nach Alkohol riechend. Sie war offensichtlich nicht mehr fahrtüchtig.

„Ich habe schlechte Nachrichten. Bruno ist gestorben. Aber die Ärzte wissen nicht, woran. Ich habe eine Autopsie verlangt.“

Gesa bat ihn, sie zu begleiten, um Brunos Eltern die Nachricht zu überbringen. Walter und Ruth Ewert waren schon über neunzig. Sie war unsicher, wie die beiden den Schock verkraften würden. Deshalb wollte sie es nicht telefonisch machen. Dirk Ewert erklärte sich bereit, sie zu fahren. Vor dem Haus ihrer Schwiegereltern überraschte sie ihn mit der Weigerung auszusteigen. Sie schien völlig verunsichert. So kannte er sie gar nicht.

Nachdem Walter Ewert die Nachricht vom Tod seines einzigen Sohnes gehört hatte, ging er wortlos in einen Nebenraum und kam mit alten Fotos zurück. Und mit den Bildern kamen die Erinnerungen: Vierzehn Jahre hatten er und seine Frau vergeblich auf ein Kind gehofft. Dann hatten sie einen nur wenige Wochen alten Jungen adoptiert und ihm den Namen Bruno gegeben. Obwohl sie alles Erdenkliche getan hatten, ihm eine schöne Kindheit zu geben, hatte er schon mit fünfzehn angefangen zu trinken. Walter Ewert hatte ihm deshalb nie Vorwürfe gemacht. Er sah sich selbst keineswegs als Abstinenzler, aber er trank nicht oft. Und wenn, dann nicht viel. Bei fast jedem Fehler, den Bruno in seinem späteren Leben gemacht hatte, war Alkohol im Spiel gewesen: Zwei Ehen waren gescheitert. Zu seinen beiden Söhnen hatte er keinen Kontakt. Aus der Marine war er wegen Unerlaubter Abwesenheit von der Truppe unehrenhaft entlassen worden – alles eine Folge seiner Sauferei.

Als Dirk Ewert zum Auto zurückkam, war Gesa eingeschlafen.

Kaum war sie wieder zu Haus, rief sie den Vorgesetzten ihres Mannes an: „Mein Mann wird heute nicht kommen. Er ist gestorben.“

Ewerts ehemaliger Chef war irritiert: Es hörte sich an wie eine lapidare Krankmeldung. Dabei war es die Mitteilung einer Witwe zum Tod ihres Ehemannes.

Mein Mann wird heute nicht kommen. Er ist gestorben.

Als Eva Maria Ritter vor der Arbeit ihren Anrufbeantworter abhörte, stellte sie fest, dass Gesa Ewert sie am Abend zuvor angerufen hatte: Sie könne am Morgen die Gates nicht öffnen. Einen Grund hatte sie nicht genannt. Die beiden Frauen waren Kolleginnen am Flughafen. Ihre Tochter Judith, die auch dort arbeitete, erschien ebenfalls nicht zum Dienst.

Etwas Ungewöhnliches musste passiert sein.

Der Chef des Sicherheitsdienstes fragte seine Mitarbeiterin nach dem Grund für das Fernbleiben von Mutter und Tochter. Doch die hatte keine Erklärung. Am Mittag meldete sich Gesa erneut telefonisch und bat Eva Maria, sie nachträglich bei der Arbeit zu entschuldigen: „Heute Abend erkläre ich dir alles.“ Wenig später fragte Gesas Tochter an, ob ihre Mutter sich gemeldet habe.

„Ja. Aber sie hat nur gesagt, dass sie sich am Abend nochmal melden will.“

„Und sonst nichts?“ Judith schien überrascht.

„Sonst nichts.“

Der dritte Anruf innerhalb kürzester Zeit kam von Eva Marias Sohn.

„Sitzt du fest, Mama? Bruno Ewert ist tot. Er ist gestern Abend ganz plötzlich gestorben.“

Was er sagte, brachte sie völlig aus der Fassung.

Erst nach einigen Schrecksekunden fragte sie: „Woher weißt du das?“

„Gesas Mutter hat es mir gesagt.“

Bruno tot? Warum hatte Gesa ihr nichts gesagt? Warum hatte sie ihre Tochter nicht informiert?

Am späten Nachmittag erschien Gesa Ewert bei Gerd und Kathrin Starke. Auch Lydia und Roland Wippler waren dort – Freunde aus dem Amateurfunker-Club. Als ihre Freunde sie sahen, ahnten sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

„Bruno ist tot. Ich wollte es euch selbst sagen, damit ihr es nicht von anderen hört.“

Sie schwiegen. Auf keinen von ihnen hatte ihr Freund Bruno beim letzten Treffen einen kranken Eindruck gemacht. Gesa sah die verständnislosen Blicke. Sie erklärte kurz, was geschehen war und ließ die Vier fassungslos zurück.

So plötzlich zu sterben. Ein Mann in ihrem Alter.

Nach der Arbeit wartete Eva Maria Gesas Rückruf gar nicht erst ab. Nun endlich erfuhr sie, was am Abend zuvor geschehen war.

„Ich verstehe das nicht. Bruno war nicht krank. Ich habe eine Autopsie verlangt.“

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Eva Maria.

Dabei fühlte sie sich selbst hilflos.

Kapitel 2

Am Abend erschien Beate Andresen bei Gesa Ewerts Tochter. Die beiden jungen Frauen arbeiteten wie Judiths Mutter am Flughafen. Judith hatte Beate versprochen, sie zu frisieren, bevor sie ausgingen. Beate war egal, wie lange es dauerte. Ihre Freundin plauderte aus ihrem abwechslungsreichen Sexleben.

Interessant und beneidenswert!

Als die Frisur endlich saß, zog Judith ihre hautengen schwarzen Jeans an. Dazu eine knallrote Lederjacke und natürlich Pumps. Ohne ihre High Heels ging sie niemals aus dem Haus. Heute stand ihr der Sinn nach ein paar Drinks – oder vielleicht nach mehr. Also schleppte sie ihre Freundin in die Bar, in der ihr derzeitiger Liebhaber Barkeeper war. Beide hatten das erste Glas noch nicht geleert, als Judith ans Telefon gerufen wurde. Als sie zurückkam, sagte sie nur, dass ihre Mutter sie sprechen wolle. Beate war enttäuscht über das frühe Ende des Abends. Es wäre bestimmt noch lustig geworden.

Gesa Ewert wartete bereits in der Wohnung ihrer Tochter. Judith stand noch in der Tür, als ihre Mutter sagte: „Bruno ist tot.“

Beate zog sich erschreckt zurück. Sie fühlte sich als Eindringling. Durch die halb geöffnete Wohnzimmertür konnte sie noch hören, wie Gesa zu ihrer Tochter sagte: „Ich weiß, was du denkst. Aber die Antwort ist Nein.“

Dann verabschiedete sie sich hastig. Ihre Freundin hatte bereits ein großes Glas Whiskey in der Hand.

Am nächsten Tag erschien Judith mit ihrem Barkeeper zur Trauung der Tochter von Laura und Stefan Kirchner – auch sie Freunde aus dem CB-Club. Gesas Tochter konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ihr Freund musste sie stützen, damit sie nicht in die Kirche hineinfiel. Sie sah aus, als habe man sie soeben aus der Gosse gezogen.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte die Brautmutter.

Judith lallte eine unverständliche Entschuldigung. Laura Kirchner war peinlich berührt.

Wie konnte Gesas Tochter in diesem Zustand in die Kirche kommen?

Und sie war enttäuscht: Gesa und Bruno Ewert gehörten fast zur Familie. Die beiden konnten an diesem Tag unmöglich etwas für wichtiger gehalten haben als die Hochzeit. Aber nur Gesas Tochter war gekommen – mit einem Kerl, den sie noch nicht einmal kannten. Und was noch schlimmer war: Sie war betrunken. Trotzdem bat Laura Judith, ihren Eltern zu sagen, sie möchten doch nach der Hochzeitsfeier noch zu ihnen kommen. Sie versprach es. Mehr sagte sie nicht.

Ob sie sich in ihrer Verfassung später daran erinnern würde?

Tatsächlich tauchte ihre Mutter noch spät in der Nacht auf – wieder angetrunken.

„Warum seid ihr nicht gekommen? Wo ist Bruno? Was ist passiert?, überfiel Laura sie mit Fragen.

„Bruno ist tot“, sagte Gesa mit schwerer Zunge. Sie habe es nicht vor der Hochzeit sagen wollen, um ihnen den großen Tag nicht zu verderben. Laura ging in die Küche, um einen Kaffee zu holen. Als sie zurückkam, hatte sich Gesa schon aus einer Flasche Whiskey bedient. In einem Zug kippte sie ein großes Glas hinunter. Den Kaffee ließ sie stehen.

„Ich muss gehen. Wir sprechen morgen.“ Ohne weitere Erklärung ließ sie ihre Freundin zurück. Eigentlich hatte Laura ihr noch sagen wollen, in welch erbärmlichem Zustand ihre Tochter zur Hochzeit erschienen war.

Lauras Ehemann Stefan traf der Tod seines besten Freundes besonders hart. Er hatte Bruno Ewert über ihr gemeinsames Hobby, den Amateurfunk, kennen gelernt. Schon bald danach waren sie Freunde geworden.

Nur eine Woche zuvor war Bruno noch Gast auf seiner Geburtstagsfeier gewesen. Er hatte den ganzen Abend nur Wasser getrunken. Kirchner wusste um die früheren Alkoholprobleme seines Freundes. Seiner Frau hatte er einmal erzählt, dass Bruno ein ganzes Regal mit Alkoholflaschen in allen Größen stehen hatte.

„Aber die hat er nie geöffnet.“

„Und warum hat er sie dann behalten“, hatte sie wissen wollen.

„Weil er sich immer wieder daran erinnern wollte, wie es einmal war.“

Nach Ende der Feier war Bruno auf sein Motorrad gestiegen, hatte gewinkt und war nach Haus gefahren.

Kirchner konnte seinen jähen Tod nicht begreifen. Tagelang sprach er kein Wort.

Am Sonntag rief Gesa Ewert ihre Nachbarin Sandra Schultz an. Sie schien wieder getrunken zu haben. Ihre Nachbarin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als sie die Nachricht von Brunos Tod erfuhr. Erst Tage zuvor war sie ihm in seinem Haus begegnet.

„Ich war doch am Abend vorher noch bei euch.“

„Da ging es ihm ja auch noch gut.“

Jetzt erinnerte sich Sandra, dass Bruno auf sie einen abwesenden Eindruck gemacht hatte. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hatte er nicht einmal aufgesehen, als sie das Wohnzimmer betreten hatte.

Auch mit einem anderen Nachbarn, Josef Forster, telefonierte Gesa Ewert. Seine Frau erkannte schon nach den ersten Sätzen, dass etwas nicht stimmte.

„Bruno Ewert ist ganz plötzlich gestorben. Seine Frau hat mir sein Werkzeug angeboten“, erklärte er ihr.

Sabine Forster schaute ihren Mann fragend an. Dann fiel ihr ein, dass er sich hin und wieder Werkzeug bei ihm geliehen hatte. Bruno Ewert war immer gut sortiert gewesen. Die Eile, mit der die Witwe die Geräte loswerden wollte, fand sie allerdings merkwürdig.

Der Mann lag doch noch nicht einmal unter der Erde!

„Sie braucht das Geld. Deshalb will sie nicht lange warten“, erklärte ihr Mann.

Gesa Ewerts Nichte, Petra Stevens, wurde in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf gerissen. Ihre Tante war am Apparat. Sie klang deprimiert: „Bruno ist tot. Ich brauche dich. Die Beerdigung ist am Donnerstag um elf.“

„Ich werde kommen“, versprach Petra.

Kapitel 3

Bruno Ewerts Cousin Dirk hatte zusammen mit dem Bestatter die Beerdigung organisiert. Dabei hatte er ihn mit dem Verdacht verunsichert, dass es vielleicht gar kein natürlicher Tod gewesen sei. Der Mann kannte nur das offizielle Ergebnis der Autopsie.

Brunos Vater hatte den Sarg bezahlt und wünschte sich, dass sein Sohn im Anzug begraben würde. Seine Schwiegertochter wollte aber, dass er in Jeans und Sporthemd beerdigt wurde. Walter Ewert fügte sich. Er wollte nicht streiten. Nicht jetzt. Jetzt war Zeit zu trauern. Am Sarg übermannten ihn dann die Gefühle. Er hätte nie für möglich gehalten, dass er seinen Sohn einmal überleben würde. Seine Frau konnte nicht weinen. Zu groß war ihre Enttäuschung über das Leben, dass ihr Sohn geführt hatte.

Gesa und ihre Tochter traten gemeinsam an den Sarg.

„Er sieht nicht mehr aus wie Bruno“, sagte Gesa.

„Niemand sieht mehr so aus wie vorher, wenn er dort liegt“, sagte Judith.

Jörg Carstens sagte jedem, der es hören wollte, dass der Tod seines Freundes Bruno der Schock seines Lebens gewesen sei. Seine Ehefrau begleitete ihn auf der Fahrt zum Friedhof, weigerte sich aber, an der Beisetzung teilzunehmen. Stattdessen fuhr sie in die Stadt um einzukaufen. Sie konnte Gesa Ewert nicht ausstehen.

Gesas Nichte Petra kam zu spät zur Beerdigung. Ihr Zug hatte mehr als eine Stunde Verspätung gehabt. So sah sie nur noch, wie ihre Tante und ihre Kusine vom Grab kamen – die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Gesa blickte starr geradeaus. Judith schluchzte in ihr Taschentuch.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass Judith die Witwe ist und nicht Tante Gesa“, sagte Petra. Dirk Ewert hielt Judiths Verhalten ebenfalls für reines Theater: „Sieh dir das an! Alles nur Schau – aber eine verdammt gute. Fehlen nur noch Regisseur und Kameramann und die Szene wäre perfekt. Sie tut so, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen“, flüsterte er.

Nach der Trauerfeier hatte Brunos Cousin ein Kaffeetrinken für die Familie organisiert. Petra freute sich, einmal länger mit ihrer Tante reden zu können. Sie bewunderte ihre Haltung. Aber das Verhalten ihrer Kusine empfand sie als unmöglich. Judith prahlte damit, wie sie einmal ein Mädchen in einer Bar bis auf den Parkplatz geprügelt hatte. Sie sei wütend geworden: „Die Schlampe hat meinen Freund angemacht.“

Da war keine Spur mehr von Trauer. Sie redete über Gewalt, als sei es das Natürlichste auf der Welt. Offenbar wollte sie sich in Szene setzen. Auch Brunos Eltern waren von diesem Auftritt schockiert.

Auf der Fahrt zum Bahnhof waren sich Dirk und Petra einig: Judith würde gut in eine Bar oder ein anderes Etablissement passen.

Bei ihrer Mutter blieb sie auch nur kurze Zeit. Schon am nächsten Tag verließ sie das Haus und verschwand für lange Zeit.

Sandra Schultz arbeitete gerade in ihrem Garten, als Gesa Ewert ihr das schriftliche Ergebnis der Autopsie zeigte. Es besagte, dass Bruno Ewert eines natürlichen Todes gestorben war.

„Ich kann und will das nicht glauben“, sagte Gesa. „Bei der letzten Untersuchung war doch noch alles in Ordnung.“

Ihre Nachbarin nickte nur mit dem Kopf. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Kapitel 4

Sarah und Susan Kaiser waren eineiige Zwillinge. Als sie geboren wurden, erschien Sarah fünf Minuten vor Susan – eines der wenigen Male, dass sie ihrer Schwester voraus war. So sehr sie sich ähnlich sahen, so verschieden waren sie in ihrem Charakter. Dennoch waren sie unzertrennlich.

Susan – von allen nur Sue genannt – war die Mutige, die immer alles ausprobieren wollte. Sarah war die Ängstliche. Wenn sie sich etwas nicht zutraute, war es Sue, die sie überredete, es doch zu tun. Fast immer gab sie den Ton an. Sarah bewunderte sie dafür. Sie verurteilte ihre Schwester auch nicht, als die schon mit sechzehn schwanger wurde. Sie wusste: Sue mochte die Jungs – und die Jungs mochten sie. Ihren wütenden Eltern trotzte sie die Erlaubnis ab, den Vater des Kindes zu heiraten.

Doch schon zwei Jahren nach der Geburt ihrer Tochter Eva hatte sie von der Ehe die Nase voll: kochen, putzen und für den Mann sorgen, war nichts für das junge, hübsche und lebenslustige Mädchen. Sie wollte mehr vom Leben. Zusammen mit ihrer Tochter verließ sie ihren einstigen Traummann und kehrte zu ihren Eltern zurück. Dort musste sich vor allem Sarah ihre Klagen über die Ehe anhören. Dabei bekam sie – ebenso wie die Eltern – nicht mit, dass sich bei ihrer Schwester schon eine neue Liaison anbahnte. Ausgerechnet der Mann ihrer Ex-Schwägerin, Konrad Connie Winter, hatte es ihr jetzt angetan. Zu allem Überfluss war er auch noch elf Jahre älter. Die Situation schien total verfahren. Susans Eltern tobten und forderten von ihrer Tochter, mindestens ein Jahr zu warten, ehe sie sich in eine neue Beziehung stürzte. Auch sollte sie ihren Schulabschluss nachholen, den sie durch die Schwangerschaft verpasst hatte.

„Wenn du großjährig bist, kannst du tun und lassen, was du willst“, sagte ihre Mutter.

Susan fügte sich – ausnahmsweise.

Konrad Winter wurde nach Norddeutschland versetzt. Susans Eltern hofften, dass sich die Affäre dadurch von selbst erledigen würde. Doch sie täuschten sich. Nach der Wartezeit, zu der man sie verdonnert hatte, nahm Susan ihre Tochter und zog mit Sack und Pack in den Norden. Jetzt war sie volljährig. Susan und Konrad schlugen ihre Zelte in einer Kleinstadt auf, die günstig in der Nähe seines Arbeitsplatzes lag. Nach einem Jahr heirateten sie. Susan – jetzt Frau Winter – hatte sich sehr schnell an die neue Umgebung gewöhnt. Dass es dort oben häufiger regnete, nahm sie in Kauf. Für ihren Mann schien die Ehe der Himmel auf Erden zu sein – zumindest am Anfang. Seine Frau fand eine Stelle bei einer Bank. Doch um voran zu kommen, fehlte ihr ein höherer Schulabschluss. Intelligent und ehrgeizig wie sie war, holte sie in Abendkursen das Abitur nach und stieg innerhalb der nächsten Jahre zur Leiterin der Kreditabteilung auf. Bankkunden wie Arbeitskollegen mochten sie. Manche Männer fanden sie unwiderstehlich. Darunter litt ihre Ehe ebenso wie unter ihrem beruflichen Ehrgeiz. Irgendwann lief es nicht mehr gut.

Obwohl durch Hunderte von Kilometer getrennt, blieben die Zwillingsschwestern in engem Kontakt. So war Sarah immer genau über Susans Privatleben informiert.

Sie hielt ihren Schwager für einen guten Ehemann. Aber sie hatte auch Verständnis für ihre Schwester.

„Als Sue mir anvertraute, dass sie Konrad nicht immer treu gewesen war, habe ich nichts dazu gesagt. Sie war hübsch. Sie war erfolgreich. Sie hatte Nachholbedarf. Schließlich hatte sie durch die frühe Schwangerschaft viel verpasst. Konrad war ein eher häuslicher Mensch. Wenn er von der Arbeit nach Haus kam, schlief er oft schon auf der Couch ein. Irgendwann war Sue über ihn hinausgewachsen.“

Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten in ihrer Ehe bekamen sie ein zweites Kind – ein Mädchen. Anfangs war Susan darüber unglücklich, aber ihre Tochter erwies sich – anders als ihre oft ungestüme Halbschwester Eva – als unkompliziertes Kind. Den Namen – Lena – hatte Susan allein ausgesucht. Ungeachtet aller Probleme adoptierte Konrad Winter seine Stieftochter. Er liebte Eva genauso wie sein eigenes Kind. Während er die beiden Mädchen verwöhnte, war Susan eher streng, besonders mit ihrer Ältesten. Die sollte später nicht den gleichen Fehler begehen wie sie selbst in ihrer Zeit als Teenager. Allein der Gedanken daran hatte sie noch nach Jahren geärgert.

Zwischen den Eheleuten begann es mehr und mehr zu kriseln. Um sich über die Zukunft klar zu werden, trennte sich Susan von ihrem Mann und kehrte mit ihren Töchtern in den Süden zurück. Konrad Winter schrieb ihr lange Briefe und hoffte, sie würde zu ihm zurückkommen. Nach einem Jahr kam sie tatsächlich, aber nicht zu ihm. Stattdessen begann sie eine Affäre mit einem verheirateten Kollegen aus ihrer Bank. Als Konrad davon erfuhr, war er am Boden zerstört. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, seiner Frau nachzuspionieren. Er liebte sie noch immer, doch schon bald wurde ihm klar, dass ihre Ehe am Ende war. Trotzdem blieb er auch nach der Trennung mit seiner Frau in Kontakt – der Mädchen wegen. Später erfuhr er von Sarah, dass Susan die Beziehung zu ihrem Liebhaber inzwischen abgebrochen hatte.

„Der Mann hatte Sue immer wieder versprochen, seine Frau zu verlassen, um sie zu heiraten. Aber er hielt sie nur hin und täuschte sie, während sie glaubte, dass er sie liebte“, sagte Sarah später zu ihrem Noch-Schwager. Aber für ihn gab es kein Zurück.

Doch erst acht Jahre nach ihrer Trennung ließen sich Susan und Konrad Winter scheiden.

Kapitel 5

Susan Winter lernte Paul Wehling durch ihre Tochter kennen. Eva hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Bei einem Gespräch mit seinem Sohn, einem Mitschüler, hatte sie festgestellt, dass sie beide Scheidungskinder waren. Spontan kam ihr die Idee, dass ihre Mutter seinen Vater kennen lernen sollte. Eine Idee, von der sie später behauptete, sie sei der größte Fehler ihres bisherigen Lebens gewesen. Ihre Mutter war nicht abgeneigt. Sie stimmte einem Treffen zu.

Wehling hatte etwas von einem Vagabunden. Weil seine Eltern oft umgezogen waren, hatte er zahlreiche Schulen hinter sich bringen müssen. Nach dieser Odyssee hatte er alles Mögliche begonnen: Rechnungen für einen Gaskonzern bearbeiten, für eine Versicherung Klinken putzen, sogar in einer Bar arbeiten. Letzteres hatte ihm die Bekanntschaft vieler Frauen, zwei Ehen und zwei Scheidungen eingebracht. Er fragte sich manchmal, ob das unstete Leben seiner Eltern auf ihn abgefärbt hatte. Nach seinem letzten Umzug, traf er Susan Winter. Ihre Tochter hatte Schicksal gespielt.

Bei Ärger konnte sich Wehling wie ein Kugelfisch aufblasen – und genauso giftig reagieren. Susan war es peinlich, als er sich schon beim ersten gemeinsamen Abendessen lautstark bei der Bedienung beschwerte, weil er mit dem Service nicht zufrieden war.

„Ich will den Geschäftsführer sprechen!“, fuhr er die Kellnerin an. Ihm schien es nichts auszumachen, bei anderen häufig anzuecken. Ihm war es egal, was Andere von ihm hielten. Er war der Typ, der gelegentlich laut dachte – nicht immer zur Freude seiner Mitmenschen. Dabei konnte er durchaus charmant sein – wenn er wollte. Susan Winter fand seine Art faszinierend und abstoßend zugleich. Sie ließ sich seine Macho-Allüren gefallen – und begann eine Affäre. Sarah bemerkte schon bald, wie sich ihre Zwillingsschwester unter seinem Einfluss zu verändern begann. Früher hatte Sue ihr einen Rat gegeben, wenn sie nicht genau wusste, was sie denken oder sagen sollte. Sie hatte sie dazu gebracht, eine eigene Meinung zu entwickeln. Jetzt stammten viele ihrer Ansichten von Paul Wehling.

„Susan versucht immer, Everybody`s Darling zu sein. Das ist auf Dauer sehr anstrengend. Bei mir kann sie sich einfach mal gehen lassen“, versuchte er Sarah zu erklären.

Schon ein halbes Jahr, nachdem sie sich zu ersten Mal begegnet waren, zog Paul Wehling bei Susan Winter und ihren Töchtern ein. Nicht nur Sarah, auch Eva spürte sehr schnell seinen starken Einfluss auf ihre Mutter. Sie bereute, sich in das Leben ihrer Mutter eingemischt zu haben. Und sie beklagte sich bei ihrer Tante: „Sie hat mir nichts davon gesagt, dass Paul hier einzieht. So etwas wäre früher nie passiert.“

Ihre kleine Schwester verstand sich gut mit Paul.

Als Susan eines Tages erfuhr, dass Paul fremdgegangen war, war ihr Vertrauen erschüttert. Er leugnete nicht, spielte das Ganze aber als One-Night-Stand herunter. In ihrer Wut und Enttäuschung ließ sie sich dazu hinreißen, vor den Augen ihrer Schwester die Oberfläche des Fotos – es zeigte eine hübsche Blondine – mit ihren Fingernägeln zu zerkratzen.

„Sieh dir diese verdammte Hure an!“

Wie hatte Paul ihrer Schwester das antun können?

„Für mich hätte es keinen Unterschied gemacht – einmal oder tausendmal“, sagte Sarah zu Susan. Ihre Abneigung Paul gegenüber wuchs.

Auch Eva erfuhr davon. Sie hielt das Ganze für eine Art Flucht – zurück in seine frühere Unabhängigkeit. „Das passiert, wenn man zu sehr klammert“, suchte sie die Ursache bei ihrer Mutter.

Im Herbst kamen Susan und Paul zur Überraschung für die Familie als verheiratetes Paar aus dem Urlaub. Niemand hatte etwas geahnt. Aber schon nach wenigen Monaten war die Stimmung des Paares häufiger gereizt.

Lenas Tagebuch zeigte das Auf und Ab in der jungen Ehe:

6. Januar 1986:

Mama und Paul kommen gut miteinander aus. Was für ein Unterschied, wenn es anders ist!

5. Februar:

Mama und Paul hatten heute Nacht einen heftigen Streit. Er schrie laut in der Küche herum.

17. März:

In letzter Zeit lief es ganz gut. Ich bin froh, wenn ich in Ruhe mit Mama und Paul reden kann.

28. April:

Ich finde, dass Mama zu sehr auf Paul hört. Das nervt. Aber damit muss ich wohl leben.

„Muss ich mir Sorgen um Eva machen?“, fragte Susan eines Abends ihre Tochter Lena. Sie war verunsichert. Seit kurzem war ihre Älteste mit einem Mann befreundet, den das Gericht zum Drogenentzug verurteilt hatte. Ihre Tochter hatte schon von klein auf ihre Grenzen gelegentlich bis zum Äußersten ausgereizt. Aber ihr Urteilsvermögen war nicht immer das Beste gewesen. Doch wenn es hart auf hart ging, hatte ihre Mutter noch immer das Sagen gehabt.

Lena versuchte sie zu beruhigen Sie vertraute ihrer großen Schwester: „Nein, Mama, mach dir um Eva keine Sorgen.“

Obschon ein Teenager, nannte Lena ihre Mutter immer noch Mama. Susan war stolz, dass ihre Tochter dazu den Mut hatte. Redeten doch die meisten ihrer Freundinnen ihre Mütter längst mit Vornamen an. Sie hielten das für erwachsener.

Während Lena duschte, drehte ihre Mutter wie jeden Morgen in der Küche den Hahn für das Kaffeewasser auf. Als sie aus der Dusche kam, hörte sie das Pfeifen des Kessels.

Hatte Mama vergessen, den Herd auszustellen?

Sie ging in die Küche. Doch da war niemand.

Sie klopfte an die Tür des Badezimmers.

„Mama, bist du da drin?“

Keine Antwort.

Lena öffnete die Tür einen Spalt breit, sah aber nur Füße mit rot lackierten Nägeln.

War Mama ohnmächtig geworden und gestürzt?

Sie riss die Tür auf. Was sie sah, versetzte sie in Panik. Ihre Mama lag auf dem Rücken – zusammengekrümmt, die Augen starr auf eine Ecke des Raumes gerichtet. Eine Hand lag über der Brust. Die andere Hand war fest in den Oberschenkel gekrallt.

Lena kniete sich neben sie, schüttelte sie und rief sie mehrmals laut an. Aber ihre Mama reagierte nicht. Lena überlegte krampfhaft, was passiert sein konnte. Dann sah sie den Lockenstab auf dem Rand der Badewanne liegen.

War er vielleicht mit Wasser in Berührung gekommen und hatte ihr einen Stromschlag versetzt?

Sie versuchte, sich an den Erste-Hilfe-Kurs in der Schule zu erinnern. Vorsichtig tastete sie den Kopf ab, entdeckte aber keine Wunde. Ihre Mutter schien sich bei dem Sturz nicht verletzt zu haben – jedenfalls nicht äußerlich. Nur mit Mühe gelang es dem Mädchen, die verkrampfte Hand vom Bein zu lösen. Sie tastete nach dem Puls. Er war kaum spürbar. Ihre Mama schien auch nicht zu atmen. Doch dann hob sich ihr Brustkorb. Mit einem gurgelnden Geräusch schnappte sie nach Luft.

Mama braucht dringend Hilfe.

Aber Lenas Kopf war leer vor Aufregung. Ihr fiel die Nummer des Rettungsdienstes nicht ein. Nur an die Nummer ihrer Freundin Carolin konnte sie sich erinnern.

„Ruf sofort die 112! Ich komme gleich.“ Caro behielt die Nerven.

Es war 6:43 Uhr als Lenas Notruf in der Leitstelle der Feuerwehr eintraf.

„Was ist passiert?“, fragte eine Frau am anderen Ende der Leitung.

„Meine Mutter ist gestürzt. Sie bewegt sich nicht und kriegt keine Luft. Es ist, als ob sie mit offenen Augen schläft.“

Lenas Stimme zitterte, als sie Namen und Adresse nannte.

„Kannst du Wiederbelebung?“

„Wir haben in der Schule einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht.“

„Gut. Achte auf Atmung und Puls. Wenn du beides nicht mehr spürst, fang sofort damit an.“ Die Frau gab ihr weitere Anweisungen, worauf sie besonders achten sollte.

Sie hörte die ängstlichen Rufe des Mädchens: „Mama, Mama. Bitte sprich mit mir.“

Lenas Stimme wurde lauter. „Mama, warum sprichst du nicht mit mir?“

Sie schrie fast ins Telefon: „Meine Mutter reagiert nicht.“

„Atmet sie noch?“

„Ja, aber ganz komisch.“

„Was heißt komisch?“

„Sie atmet nicht. Sie röchelt nur.“

Die Frau in der Leitstelle versuchte, das Mädchen zu beruhigen: „Ich habe den Rettungswagen schon losgeschickt. Okay?“

Als es schellte, rief Lena ins Telefon: „Ich glaube, der Rettungswagen ist da.“

Aber es war Carolin. Die Sanitäter kamen nur Minuten später. Es war 6:47 Uhr.

Zitternd zeigte das Mädchen den Männern den Weg zum Badezimmer. Die Sanitäter versuchten, die Atmung mit reinem Sauerstoff zu unterstützen, aber der Zustand der Frau verschlechterte sich von Minute zu Minute.

Nur wenig später traf auch die Notärztin ein. Kurz vor Ende ihrer Schicht war sie noch zu dem Einsatz gerufen worden. Sie ließ Susan Winter ins Schlafzimmer bringen, um sie besser untersuchen zu können.

„Ist das schon mal passiert?“, fragte die Ärztin.

„Nein.“

„Hat deine Mutter Depressionen? Gab es Selbstmordversuche?“

„Nein.“

„Nimmt sie Drogen?“

„Nein. Nein.“ Lena schien empört.

„Ich muss dich das fragen. Reine Routine“, entgegnete die Notärztin ruhig. Sie hatte Verständnis für die Aufregung des jungen Mädchens.

„Was ist mit Medikamenten?“

„Meine Mutter nimmt jeden Morgen zwei Tabletten gegen ihre Migräne.“

„Was nimmt sie?“

Ebomin.

Lena ging in die Küche, um die Tabletten zu holen, fand aber nur eine Flasche mit Kapseln. Die Notärztin konnte keinen Hinweis darauf finden, was den Zusammenbruch der Frau verursacht haben könnte. Sie ließ sie ins Krankhaus bringen. Susan Winters Tochter musste mit ansehen, wie die Sanitäter ihre Mama auf der Trage zum Rettungswagen rollten. Als er sich in Bewegung setzte, stand sie hilflos neben ihrer Freundin: „Was soll ich jetzt tun?“

„Deinen Vater anrufen. Und die Bank“, sagte Caro.

„Bitte mach du das.“

Paul Wehling meldete sich nicht. Carolin informierte die Mitarbeiter in der Bank. Wo ihre Schwester war, wusste Lena nicht. Auch nicht, wie sie sie erreichen sollte.

Ihr Dienst war eigentlich schon beendet, als die Notärztin den Kollegen im Hospital noch die vergeblichen Versuche schilderte, die Patientin zu stabilisieren. Sofort wurden Intensivmaßnahmen eingeleitet, um das Leben der Susan Winter vielleicht noch zu retten.

Eine Stunde nach dem Rettungswagen erreichte Lena mit Caro das Hospital. Sie hielt ihre Schultasche fest umklammert. Sie wusste nicht, warum sie die mit sich herumschleppte. Ihre Freundin versuchte noch einmal, Lenas Stiefvater zu erreichen: „Herr Wehling, hier ist Carolin. Ich soll Ihnen von Lena sagen, dass Ihre Frau im Krankenhaus liegt. Sie ist heute Morgen zu Haus zusammengebrochen. Lena ist zu aufgeregt, um zu telefonieren“

„Sag ihr, ich komme so schnell wie möglich.“

Paul Wehling versuchte sich vorzustellen, was den plötzlichen Kollaps seiner Frau verursacht haben könnte. Das Einzige, was ihm einfiel, waren die chronischen Kopfschmerzen seiner Frau und ihr Tablettenkonsum. Sie nahm regelmäßig Ebomin. Im Vorraum der Intensivstation wartete Lena ängstlich darauf, dass der Arzt ihr sagen würde, wie es um ihre Mutter stand. Als er endlich erschien, versuchte er, dem Mädchen so schonend wie möglich mitzuteilen, wie ernst der Zustand ihrer Mutter war.

„Wir versuchen alles, was in unserer Macht steht.“

Lenas Angst stieg.

Und wieder musste sie lange warten, bis der Arzt ein zweites Mal kam. Diesmal musste er ihr sagen, dass ihre Mutter ins Koma gefallen war.

Koma – ein Horrorwort.

„Kommt dein Vater?“, fragte er noch, bevor er zur Station zurückging.

„Ich glaube.“

Und wieder verging eine endlose Zeit, bis zwei Ärzte mit der grausamen Nachricht kamen: „Es tut uns sehr leid, aber deine Mutter ist hirntot.“

Hirntot.

Caro legte tröstend den Arm um sie.

Paul Wehling hatte sich nach dem Anruf keine allzu großen Sorgen gemacht. Was immer das Problem war, es würde sich sicher medizinisch lösen lassen. Als er den Warteraum betrat, sah er zwei Ärzte neben den beiden Mädchen stehen. Er ging auf sie zu.

Betont ruhig fragte er: „Was ist passiert?“

„Mama ist hirntot.“ Lena begann zu weinen.

Hilfesuchend schaute er die Ärzte an.

„Sind Sie der Ehemann?“, fragten beide gleichzeitig.

Paul Wehling nickte nur.

„Ihre Frau ist an Geräte angeschlossen, die ihren Kreislauf aufrechterhalten, aber nach menschlichem Ermessen gibt es keine Hoffnung mehr für sie“, sagte einer der Ärzte.

Wehling starrte ihn ungläubig an.

Am Abend vor ihrem Zusammenbruch hatte Susan ihre Tochter Eva gefragt, ob sie die Nacht bei ihrem neuen Freund verbringen wolle. Sie war zwanzig, aber ihre Mutter wollte nicht, dass sie in der Gegend herumvögelte, wie sie das nannte.

„Vielleicht. Ich weiß es noch nicht.“

Doch sie war nicht nach Haus gekommen. Gegen elf am nächsten Morgen versuchte sie, ihre Mutter in der Bank an erreichen. Von dort bekam sie die Auskunft, dass ihre Mutter gestürzt sei und deshalb nicht zur Arbeit kommen könne. Also versuchte sie es zu Haus. Doch dort meldete sich niemand.

Vielleicht ist sie beim Arzt.

Auch ihr Anruf beim Hausarzt war vergeblich. Sie war ratlos. Doch dann fiel ihr das Krankenhaus ein.

„Eine Frau Susan Winter ist heute Morgen bei uns eingeliefert worden“, bestätigte eine Klinik-Mitarbeiterin.

Eva bat die Frau, sie mit der Station zu verbinden, auf der sich ihre Mutter befand.