Das Kind, das nachts die Sonne fand - Luca Di Fulvio - E-Book
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Das Kind, das nachts die Sonne fand E-Book

Luca Di Fulvio

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Beschreibung

DER NEUE ROMAN VON BESTSELLERAUTOR Luca Di Fulvio. Raühnval, ein opulentes Herrschaftsgebiet in den Ostalpen. Der junge Marcus lebt ein privilegiertes Leben als Sohn des Landesfürsten. Elisa ist die Tochter der Dorfhebamme und weiß, was Entbehrung heißt. Bei einem Massaker werden Marcus' Familie und alle übrigen Burgbewohner ermordet. Dank Elisas Hilfe bleibt Marcus unentdeckt und findet mit einer neuen Identität Aufnahme bei den Dorfbewohnern. Doch er spürt schon bald, dass ihm ein anderes Schicksal vorherbestimmt ist: Sein Herz brennt für Freiheit und Gerechtigkeit ...

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

ERSTER TEIL

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ZWEITER TEIL

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DRITTER TEIL

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VIERTER TEIL

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Leseprobe »Als das Leben unsere Träume fand«

Luca Di Fulvio

DAS KIND,DAS NACHTSDIE SONNEFAND

Roman

Aus dem Italienischen vonKatharina Schmidt und Barbara Neeb

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © getty-images/SuperStock;

© Mary Schannen/Trevillion Images;

© shutterstock/ievgen sosnytskyi;

© shutterstock/filonmar

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-5936-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Dieses eBook enthält eine Leseprobedes in der Bastei Lübbe AG erscheinenen Werkes »Als das Leben unsere Träume fand« von Luca Di Fulvio.

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © Sandra Cunningham/Trevillion Images; © Svetoslava Madarova/Trevillion Images; © picture alliance/Frank May; © FinePic/shutterstock

Diese Geschichte ist G. gewidmet

Die Menschen werden nicht an dem Tag geboren,an dem ihre Mutter sie zur Welt bringt,sondern wenn das Leben sie zwingt,sich selbst zur Welt zu bringen.

Gabriel García Márquez

ERSTER TEIL

1

In dem abgelegenen Landstrich, den man unter dem althergebrachten Namen Raühnval kannte, wurde wohl niemals mehr so viel unschuldiges Blut vergossen wie an jenem Morgen des 21. September im Jahr des Herrn 1407.

Die Sonne hatte sich erst vor Kurzem über dem schmalen, eisigen Tal erhoben, das von abweisenden, über zehntausend Fuß hoch aufragenden Gipfeln umgeben war, die es nicht nur schützten, sondern auch vor der Außenwelt abschirmten. Diese Gebirgskette im Osten des Alpenbogens bildete die Grenze der italienischen Halbinsel und trennte so das Tal deutlich vom übrigen Reich und dem Rest von Europa.

Herr über dieses Lehen war Fürst Marcus I. von Saxia, der Vater des Erbprinzen Marcus II. von Saxia.

Der kleine Marcus II. von Saxia saß an diesem Morgen verschlafen, fröstelnd und nackt auf der mit warmen, weichen Gänsedaunen gefüllten Matratze seines riesigen Bettes und baumelte mit den Beinen in der Luft, obwohl er für seine neun Jahre recht groß gewachsen war. Seine Augen waren grün und blickten träge wie die einer Katze, die langen blonden Haare fielen ihm in glänzenden Locken auf die Schultern, und seine Haut war so weiß, dass man ihn für ein Mädchen hätte halten können.

Eilika, seine Kinderfrau, die sich Tag und Nacht um ihn kümmerte, ja sogar wie ein treuer Hund auf einem Strohlager am Fußende des Bettes ihres kleinen Herrn schlief, legte dem Jungen ein Leintuch um die Schultern, das sie zunächst in kochendes Wasser getaucht und dann ausgedrückt hatte.

Der kleine Erbprinz stöhnte vor Behagen bei der Berührung mit dem warmen Tuch und schloss die Augen.

»Versuch ja nicht, wieder einzuschlafen, Marcus«, ermahnte ihn Eilika, »oder die Krähe hackt dir dein Piephähnchen ab.«

Der Junge lachte und legte schützend eine Hand zwischen seine Beine.

Eilika tauchte noch ein Tuch in den Zuber, drückte es aus und verteilte ein wenig Lauge darauf. »Komm schon, kleiner Faulpelz, ich will dich einseifen.«

»Muss ich mich wirklich jeden Tag waschen?«, jammerte Marcus II.

»Die Befehle deiner verehrten Mutter müssen genau befolgt werden«, erwiderte Eilika. »Man soll doch sehen, dass du ein Prinz bist und über dem gemeinen Volk stehst, selbst ohne deine kostbaren Kleider. Deine Haut muss glänzen und duften, als wärst du ein kleiner Gott.«

»Waschen mag ich aber nicht …«, maulte das Kind.

»Das wissen wir sehr gut, Prinz Schweinchen«, sagte Eilika und hob ihn vom Bett herunter.

Der Junge lachte, und als seine Füße den feuchten Steinboden berührten, fröstelte er wieder. »Mir ist kalt!«

»Kannst du nicht mal selbst aufpassen, wo du deine adligen Füße hinsetzt?«, sagte Eilika mit einem nachsichtigen Seufzen. Sie lenkte seinen Schritt auf ein dichtes Bärenfell, das als Teppich diente. Dann drehte sie ihn um und rubbelte mit dem lauwarmen Tuch seine Pobacken ab.

Der Junge spitzte die Ohren. Die Geräusche von außen drangen nur gedämpft herein.

»Warum ist es draußen so still …?« Fragend sah er seine Kinderfrau an, dann strahlten seine Augen plötzlich vor Freude auf. Die Kälte war schlagartig vergessen, als er sich Eilikas Bemühungen entwand und nackt, wie er war, zum Fenster rannte. Er zog sich an den Steinen des Mauervorsprungs hoch und sah nach, ob sein Eindruck ihn auch nicht getrogen hatte. »Es hat geschneit!«, rief er aufgeregt, während Eilika ihn packte und zurück auf das Bärenfell schleppte.

»Um Gottes willen, lass dich anziehen, ehe du dir noch den Tod holst!«

»Schnee! Schnee! Es hat geschneit!«, wiederholte der kleine Marcus und hüpfte aufgeregt auf und ab.

»Heute Nacht ist der erste Schnee gefallen, oh, großartig, so eine Freude!«, schnaubte Eilika. »Du hast es gut, dass du dich über etwas freuen kannst, worüber die anderen sich beklagen.«

»Aber der Schnee ist doch wunderschön!«

»Du hast warme Kleider, kleiner Prinz. Und Handschuhe für deine zarten Händchen. Und Pelzmützen.« Eilika zog ihm ein Hemd aus dicker gekochter Wolle über und die Kniestrümpfe, die sie selbst für ihn gestrickt hatte. »Für alle anderen bedeutet Schnee nur, dass die Kälte ihnen bis auf die Knochen dringt.«

»Und warum ziehen sie dann nicht auch warme Kleider an?«

Eilika sah den Jungen an, nickte bedächtig und strich ihm über den Kopf. »Ja, das frage ich mich manchmal auch.« Und dann fügte sie leise hinzu, fast mehr an sich selbst gerichtet: »Aber nicht laut, sonst schneiden sie mir den Kopf ab.«

»Und ich lass ihn dir dann wieder annähen«, sagte Marcus lachend. »Schließlich bin ich der Prinz und alle müssen tun, was ich sage, nicht wahr?«

»Ja, Euer Hoheit«, stimmte Eilika lachend zu, die den Jungen wirklich gernhatte und sein heiteres und unbekümmertes Wesen liebte. »Aber jetzt halt still, damit ich dich anziehen kann, sonst wirst du gleich noch steifer als Trockenfleisch.« Sie streifte ihm die mit Kaninchenfell gefütterte Tunika aus Rehleder über, dann die Jacke aus Hirschleder mit den Hornknöpfen und schließlich die Wolfsfellstiefel mit der dicken Sohle aus doppelt genommenem Kuhleder. »So, jetzt bist du fertig«, sagte sie, während sie ihm noch schnell die Mütze aus Murmeltierfell aufsetzte, die ihm bis über die Ohren ging, und ihm die wetterfesten Handschuhe aus Otterfell reichte.

»Schnee! Juhu!«, jubelte der Junge und rannte aus dem Zimmer, die Treppen zum Großen Saal der Burg hinunter, wo es trotz der Wandteppiche, die die dunklen Steinmauern bedeckten, und der dicken Tannenscheite, die in den beiden Kaminen links und rechts von der Tafel brannten, düster und kalt war.

»Marcus II. von Saxia«, ermahnte ihn seine Mutter, als sie ihren Sohn erblickte, der wild hereinstürmte und sich gierig über zwei Zinnteller mit Apfel-Ingwer-Kuchen und Hirschpastete hermachen wollte, »lerne endlich, dich wie ein Prinz zu benehmen und nicht wie irgendein dahergelaufener Bauernjunge.«

Eilika, die atemlos hinterhergeeilt kam, verneigte sich vor der kleinen Tischgesellschaft und sagte zur Fürstin: »Verzeiht mir, Herrin.«

Die Fürstin bedeutete ihr, dass ja nichts Schlimmes geschehen sei, und während sie weiter ihre erst wenige Wochen alte Tochter stillte, zog sie ihren Erstgeborenen an sich. »Gib deiner Mutter einen Kuss, bevor du dir den Mund beschmierst und meine Wangen dann auch«, sagte sie zu ihm.

»Na, hast du dich gestern mit irgendeinem Jungen geprügelt?«, fragte Marcus I. von Saxia seinen Sohn und packte ihn im Nacken. »Beklagt sich jemand, weil du zu grob zu ihm warst? Muss ich dich bestrafen?«

»Nein, Vater. Ich bin brav gewesen«, erwiderte der Junge.

Das Gesicht des regierenden Fürsten verfinsterte sich einen Augenblick. Er war ein beeindruckend großer und kräftiger Mann, sein Körper und sein Gesicht waren mit zahlreichen Narben bedeckt. Insgesamt wirkte er eher wie ein gemeiner Soldat und nicht wie einer jener eleganten Fürsten aus Deutschland oder Italien. Er verstärkte den Griff um den Nacken seines Sohnes, der nun schmerzhaft das Gesicht verzog. »Hast du nicht mal einem Hund einen Tritt versetzt?«

Der Junge wandte sich ratlos zu Eilika um.

»Suche die Antwort nicht in den Augen einer Dienerin!«, brauste der Fürst auf. Er ließ den Blick über die Tischgesellschaft wandern. Zunächst war da der Hauptmann der Wache, ein Söldner, der an seiner Seite gekämpft hatte. Daneben saß sein Beichtvater und spiritueller Ratgeber, den ihm der Bischof von Bamberg empfohlen hatte. Als Dritten betrachtete er den Kompositions- und Musiklehrer, den seine Frau vom Hofe des römisch-deutschen Königs, Ruprecht III. von Wittelsbach, hatte kommen lassen. Schließlich kehrte sein Blick zu seinem Sohn zurück, und er sagte ganz ruhig: »Marcus, ich habe es dir schon so oft gesagt, und ich werde es so oft wiederholen, bis du es gelernt hast: Du musst ein Krieger werden.«

»Aber ich mag mich nicht prügeln …«, sagte der Junge.

»Wie lange würde ein Wolf in unseren Wäldern überleben, wenn er keinen Blutdurst spürte?« Marcus I. schlug mit der Faust auf den Tisch. »Denn das sind wir Fürsten von Saxia: Wölfe! Dazu geboren, zu befehlen und andere Wölfe zu unterwerfen.«

Der Junge wich einen Schritt zurück, um sich aus dem festen Griff des Vaters zu befreien.

»Mein Gemahl, du erschreckst ihn«, wandte die Fürstin ein.

Marcus I. von Saxia atmete tief durch und versuchte sich zu beherrschen. Sein Gesicht war gerötet, und die Adern an seinem Hals waren hervorgetreten. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, zog er den Erbprinzen an sich. »Sohn, hör mir gut zu. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was die Kirche sagt, dass wir die Macht und unsere Stellung von Gottes Gnaden empfangen haben. Aber eins weiß ich genau: Um die Macht und die Stellung zu behalten, kannst du dich nicht auf Gott verlassen, sondern nur auf dich selbst. Auf deine eigene Stärke und Entschlossenheit, verstehst du?«

Der Junge nickte ernst.

»Deshalb musst du lernen zu kämpfen«, fuhr der Vater fort. »Du wirst im Blut leben, genau wie ich und alle unsere Vorfahren. Das ist unser Schicksal und unser Fluch. Jetzt achten die Leute dich, weil du mein Sohn bist. Aber du musst lernen, sie dazu zu bringen, dich deiner selbst wegen zu achten. Verstehst du das?«

Der Junge sah seinen Vater an und sagte schüchtern: »Werdet Ihr stolz auf mich sein, wenn ich heute einem Huhn einen kräftigen Fußtritt verpasse, Vater?«

Der Fürst sah ihn mit ernster Miene an. Dann lachte er schallend laut. »Ja, auch dann werde ich stolz auf dich sein, mein Sohn.« Er versetzte dem Jungen einen liebevollen Klaps auf den Kopf, dass ihm die Mütze aus Murmeltierfell herunterfiel. »Geh spielen«, sagte er und reichte ihm eine Scheibe Apfelkuchen und eine Hirschpastete.

Der Junge stopfte sich mehr als die Hälfte des Kuchenstücks in den Mund und wollte gleich wieder davonrennen, voller Vorfreude, den ersten Schnee in diesem Jahr zu begrüßen.

»Mein Sohn«, rief Marcus I. von Saxia ihn mit dröhnender Stimme zurück.

Der Junge blieb stehen und wandte sich seinem Vater zu.

»Du musst dem Huhn keinen Fußtritt verpassen, wie du es mir versprochen hast«, erklärte ihm der. »Ich bin auch so stolz auf dich.« Und er lächelte.

»Sag danke, Marcus«, flüsterte Eilika ihrem Schützling zu.

»Danke, Vater«, sagte der Junge folgsam, dann rannte er aus dem Saal. Er hatte es eilig, denn schließlich konnte er ja nicht wissen, dass er seinen Vater gerade zum letzten Mal hatte lächeln sehen.

An jenem 21. September 1407 bewunderte der kleine Marcus II. von Saxia vom Portal des Palas aus die vollkommene Stille über dem Hof, die der noch unberührte Schnee geschaffen hatte. Zu seiner Rechten hinter den fünf Klafter hohen Steinwällen mit den Wehrgängen aus Holz waren die Ställe für die Pferde und Kühe untergebracht. Über den Ställen hatte man, um die Wärme zu nutzen, die die Tiere abgaben, die Behausungen der niederen Dienerschaft gebaut, die nicht in den Dachkammern des Palas schliefen. Zu seiner Linken konnte der Junge die kleineren Ställe für Schweine, Hühner und Kaninchen sehen. Schwarze Schweine, Bergziegen, Hühner, Puter, Perlhühner, Pfauen und Kaninchen scharrten in ihren ordentlichen Gehegen. Vor sich sah er das große zweiflügelige, mit Eisen verstärkte Tor und den gedrungenen Bergfried, von dem aus man bis weit hinten ins Tal Raühnval blicken konnte. Wie immer am Tag war das Tor offen.

»Komm, wir spielen Verstecken!«, sagte Eilika, die ihm nachgekommen war.

Der Junge verschlang die letzten Bissen Apfelkuchen, und mit der Fleischpastete in der Hand machte er die ersten Schritte im Schnee. Als er die Mitte des Hofes erreicht hatte, drehte er sich um und bemerkte seine Fußstapfen. »Das gilt nicht! Du musst die Augen schließen!«, rief er seiner Kinderfrau zu.

Eilika wandte ihm lächelnd den Rücken zu und lehnte sich mit dem Kopf an die Mauer.

Der Junge beobachtete sie noch einen Moment, um sicherzugehen, dass sie nicht schummelte. Dann ließ er seinen Blick am Palas nach oben wandern. Es war ein massiver, viereckiger Bau, zwei Stockwerke hoch mit einem niedrigeren Dachgeschoss darüber, dessen Fenster klein und schmal waren, um der Kälte möglichst wenig Raum zum Eindringen zu bieten. Auf der Westseite stand eine kleine Kapelle, die an der dicken Palastmauer wie eine Warze wirkte.

Der Junge drehte sich wieder um zum großen Tor. Direkt daneben hatte man ein niedriges Gebäude aus Stein mit vier Räumen errichtet, das den Wachen der Burg als Unterkunft diente. Er ging darauf zu und spähte vorsichtig hinein. Er hatte schon öfter versucht, sich dort zu verstecken, weil er geglaubt hatte, dass Eilika ihn dort niemals suchen würde, aber die Männer hatten ihm immer den Zutritt verwehrt.

An diesem Morgen jedoch erlebte der Junge eine Überraschung. Die diensthabenden Wachen saßen rund um den Tisch in der Mitte des vorderen Raumes und schliefen. Einer der Männer hing zurückgelehnt auf seinem Stuhl, sein Kopf war in den Nacken gefallen, und er schnarchte mit offenem Mund. Die anderen drei waren vornübergesunken und ruhten mit den Köpfen auf dem Tisch. Aus einer umgekippten Flasche tropfte noch Wein auf den Boden aus gestampfter Erde. Das Feuer im Kamin war fast erloschen, doch niemand legte Holzscheite nach.

Rasch blickte der Junge über die Schulter zu Eilika, die ihm immer noch den Rücken zuwandte. Diesmal würde er es schaffen, sich unbeobachtet in die Wachstube zu schleichen. Mit einem zufriedenen Grinsen schickte er sich an, den Raum zu betreten.

»Weißt du denn nicht, dass man hier nicht reindarf?«, sagte da jemand hinter ihm.

Erschrocken fuhr der Junge herum. Vor ihm stand ein Mädchen ungefähr in seinem Alter. Ihr Gesicht war schmutzig und ihr hellblondes Haar ganz kurz geschnitten. Er kannte das Mädchen. Sie hieß Eloisa und war die Tochter von Agnete Veedon, der Frau, die die Kinder zur Welt brachte.

Diesen Anblick würde er niemals mehr vergessen.

2

Der Junge starrte Eloisa an und dachte nur, dass sein Vater bestimmt über ihn gelacht hätte, wenn er gesehen hätte, dass er sich von einem Mädchen in Lumpen hatte ins Bockshorn jagen lassen.

»Ich bin der Erbprinz und kann tun, was ich will«, antwortete er ihr und warf sich in die Brust. »Pass auf, was du zu mir sagst, sonst lasse ich dich auspeitschen«, fügte er hinzu, doch er wurde gleich rot vor Verlegenheit.

Eloisa wirkte kein bisschen eingeschüchtert. »Es stimmt nicht, dass du tun kannst, was du willst«, widersprach sie. »Da darfst nicht einmal du rein. Du bist nur ein kleiner Junge. Und ich habe gesehen, wie sie dich fortgejagt haben.«

»Du bist dumm und ungezogen.« Marcus II. von Saxia fühlte sich in die Enge getrieben. »Hast du verstanden, dass ich dich auspeitschen lasse, wenn du mich nicht in Ruhe lässt?«

Das Mädchen nickte. Doch sie wich keinen Schritt zurück. Ihre Augen, die so blau und klar waren wie Bergseen, waren unablässig auf die Hirschpastete in Marcus’ Hand gerichtet.

»Verschwinde«, sagte der Junge und sah besorgt zu Eilika, die sich inzwischen umgedreht hatte und nach ihm suchte.

»Gibst du mir ein Stück ab?«, fragte Eloisa.

»Das gehört mir«, erklärte Marcus.

»Ich habe Hunger.«

»Ich auch.«

Das Mädchen sah ihn wortlos an. Sie trug ein Kleid aus grobem, rotem Stoff, das mit Lederbändern abgesteppt und gesäumt war, darüber ein dünnes, mit Dutzenden dunklen Flecken übersätes Jäckchen aus Barchent. An den nackten Füßen hatte sie Holzpantinen, von denen eine gebrochen war und mit einem Band zusammengehalten wurde.

Der Junge sah wieder zu seiner Kinderfrau. Dieses dumme Mädchen verdarb ihm das ganze schöne Spiel. »Gehst du, wenn ich dir die Pastete gebe?«

»Ja.«

Marcus wollte sie ihr schon reichen, doch dann hielt seine Hand auf halbem Weg inne. »Wenn du erzählst, dass ich mich hier versteckt habe, lasse ich dir den Kopf abschneiden.«

»Gib mir die Pastete.«

»Schwöre!«

»Ich schwöre … Weißt du, dein Kinderkram ist mir ohnehin egal.«

»Du siehst aber aus wie eine Spielverderberin.«

Das Mädchen hatte die Hand ausgestreckt. Sie war dreckverkrustet, und unter den Nägeln waren dicke schwarze Ränder.

Marcus reichte ihr die Pastete.

Eloisa packte sie gierig, ihre Augen funkelten freudig auf. Sie stopfte sich ein großes Stück davon in den Mund und ging, ohne den Erbprinzen noch eines Blickes zu würdigen.

Marcus blieb noch einige Augenblicke in der Tür des Wachlokals stehen und beobachtete sie verstohlen. Er sah, dass Eilika das Mädchen bemerkt hatte und auch die Pastete, die es verschlang. Seine Kinderfrau ging zu ihr und fragte sie etwas. Bestimmt erkundigte sie sich danach, woher sie die hatte, weil sie auf der Suche nach ihrem Prinz Schweinchen war.

»Ich lasse dir den Kopf abschneiden, du gemeine Schlange«, murmelte Marcus, der sich schon verraten glaubte.

Doch dann sah er, wie Eloisa auf die Pferdeställe deutete und Eilika sofort in diese Richtung rannte.

Das Mädchen wandte sich blitzschnell um, in der Gewissheit, dass Marcus sie beobachtete, und streckte ihm die Zunge heraus.

Marcus lachte. Dann betrat er den vorderen Raum des Wachlokals.

Die Wachen schliefen immer noch, doch dem Jungen fiel nicht auf, wie merkwürdig das war. Er hatte nur eins im Sinn: Eilika sollte ihn nicht finden. Dieses Mal würde er bestimmt gewinnen. Zufrieden lächelnd machte er sich auf die Suche nach einem Versteck. Auf Zehenspitzen durchquerte er den Raum und betrat den nächsten. Die vier Strohlager dort drinnen waren leer, und es gab nichts, wohinter er sich verbergen konnte. Also ging er weiter. Im dritten Raum stieß er auf weitere fünf Wachen. Auch die schliefen tief und fest und ruhten dabei merkwürdig schief und krumm auf ihren Lagern. Neben ihnen bemerkte er zwei Weinflaschen, eine davon war umgekippt. Der Junge überlegte, dass er sich in dem großen Schrank verstecken konnte, in dem die Waffen, Breitschwerter, Dolche, Bogen und Pfeile aufbewahrt wurden. Doch zunächst sah er sich noch den letzten Raum des Gebäudes an und stieß auch dort auf fünf schlafende Wachen.

Erst Jahre später sollte er sich fragen, warum ihn das nicht beunruhigt hatte. Und ob er dann etwas am Lauf der Dinge hätte ändern können. Doch an jenem Tag dachte er nur daran, dass Eilika ihn nicht finden sollte.

Im letzten Raum entdeckte er unten an der hintersten Wand eine kleine, dunkle Nische, die von einem Stuhl verdeckt wurde. Immer noch auf Zehenspitzen schlich er dorthin, schob leise den Stuhl beiseite und kroch in die Nische. Da es darin so eng war, dass er sich nicht drehen und wenden konnte, zog er den Stuhl mit dem Fuß wieder hinter sich vor die Öffnung. Vor ihm ging es weiter, und als er tiefer in die Dunkelheit eindrang, stellte er fest, dass es sich um einen kurzen Gang handelte, der zum Ziegenpferch führte. Doch dort kam man nicht hinaus, denn man hatte den Durchschlupf notdürftig zugemauert. Es gab nur ein kleines Loch zwischen den Steinen, durch das er Eilika beobachten konnte, die ihn suchte. Außerdem sah er die Pferdeknechte, die die Ställe ausmisteten, die Köchinnen, die die Eier einsammelten, den Fleischer, der in seinem Laden ein an einem Haken aufgehängtes Rind zerlegte. Er hielt auch Ausschau nach dem Mädchen, dem er die Pastete gegeben hatte, doch unter den Leuten, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen, konnte er sie nicht entdecken. Das Burgtor konnte er ebenfalls nicht sehen, obwohl er versuchte, sich so weit wie möglich vorzubeugen. Doch die Öffnung zwischen den Steinen war schlichtweg zu eng.

So verfolgte er mit den Augen wieder Eilika, die auf ihrer Suche nach ihm vergeblich in seinen üblichen Verstecken nachsah. Er lachte leise und war stolz auf sich, dass er diesen Ort gefunden hatte. Was für ein Glück, dass die Wachen so müde waren, dass sie am helllichten Tag schliefen.

Der Junge setzte sich auf den Boden, an diesem Ende war der Gang breit genug dafür. Wieder lauschte er der Stille, die der Schnee mitgebracht hatte, und nahm sie tief in sich auf. Sie war vollkommen.

Doch dieser Eindruck hielt nur einen Augenblick an.

Zunächst war es nur so ein Gefühl, doch es kam ihm vor, als würde der Boden erzittern. Er zog einen seiner Otterfellhandschuhe aus und legte die Handfläche auf den Boden. Ja, da war ein Beben, gleichmäßig und dumpf. Noch begriff er nicht, woher es kam. Doch das Beben wurde stärker, und es rückte immer näher.

Als es ihm noch heftiger erschien, einen Moment bevor der kleine Marcus endlich erkannte, woher es kam, schaute er durch die Öffnung. Er sah, wie der Schmied angstvoll die Augen aufriss. Und wie zwei Dienerinnen die Bierkrüge fallen ließen, die sie auf den Köpfen trugen. Er sah eine dicke Köchin, die ihre Röcke raffte und hastig auf den Palas zurannte. Die Wäscherinnen, die die Bettlaken und Kleider im Schnee liegen ließen und erschrocken die Hände vor den Mund schlugen. Und die Stallknechte, die mit ihren Schaufeln voller Pferdemist mitten in der Luft innehielten.

Und dann – als dieses Beben sich als das furchterregende Herangaloppieren von zwanzig Streitrossen herausstellte und die vollkommene Stille des Schnees von Kriegsrufen und Angstschreien durchbrochen wurde – sah der Erbprinz des Fürstentums von Raühnval, wie ein Haufen Räuber mit drohend geschwungenen Schwertern in den Burghof eindrang.

Als Erster starb der Gehilfe des Schmieds, er war noch nicht einmal vierzehn. Die Klinge eines Räubers durchbohrte ihn und hinterließ eine schreckliche Wunde zwischen seinen Rippen. Die Leiche des Gehilfen wurde von der Heftigkeit des Hiebes und dem Schwung des Pferdes in die Luft geschleudert und fiel schließlich merkwürdig verdreht wie eine leblose Puppe zu Boden.

Fortan sollte Schnee für den Jungen bis ans Ende seiner Tage nie mehr weiß sein.

Alles geschah blitzschnell. Die Männer schlugen überall erbarmungslos zu. Die dicke Köchin stürzte zu Boden, ehe sie den Palas erreichen konnte, von einem Schwerthieb in den Rücken getroffen. Als Nächstes fielen die zwei Dienerinnen, eine wurde von einem Schwert durchbohrt, die andere endete unter den Hufen der Pferde. Die Wäscherinnen tränkten mit ihrem Blut die Laken, die sie gerade gewaschen hatten und die sich nun um sie wickelten wie Leichentücher. Die Stallknechte sackten im Pferdemist zusammen. Und dann beobachtete Marcus atemlos, wie ein Schwert auf den Schmied niederfuhr und ihm den rechten Arm an der Schulter abtrennte. Er sah den Arm zu Boden fallen, dessen Hand immer noch den mächtigen Hammer umklammerte. Der Räuber, der den Hieb ausgeführt hatte, lachte dreckig und spaltete dem armen Mann mit der Axt den Kopf.

»Eilika …«, flüsterte der Junge und klammerte sich ängstlich an den Steinen seines Verstecks fest.

Als hätte sie ihn gehört, lief die Kinderfrau so aufgescheucht durch den Hof wie die Tiere, die die Zäune ihrer Gehege niedergetrampelt hatten, und rief laut: »Marcus! Bleib, wo du bist! Marcus! Ma …«

Dann sah der Junge, wie Eilika gleichsam vom Boden hochgehoben wurde, während die Spitze eines Schwertes vorn aus ihrer Brust ragte. Die Kinderfrau riss erstaunt die Augen auf, und ihr Mund öffnete und schloss sich stumm. Doch sie würde nie wieder den Namen ihres kleinen Prinzen rufen können.

Der Räuber stützte sich vom Sattel seines Pferdes aus mit dem Fuß an ihrer Schulter ab und zog sein Breitschwert aus ihr heraus.

Eilika blieb einen Moment aufrecht stehen, dann fiel sie mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee und rührte sich nicht mehr.

Der Junge konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Doch in dem Moment drängten sich die Ziegen draußen im Pferch vor der Wand zusammen, meckerten ängstlich ob des Blutgeruchs und versperrten ihm die Sicht.

Als die Tiere wieder auseinanderliefen, sah Marcus viele weitere Leichen auf dem Boden liegen. Männer, Frauen, Kinder. Den Beichtvater, dessen Kutte unanständig weit hochgeschoben war. Den Musiklehrer, der mit offenem Mund dalag, als würde er singen.

Und aufrecht mitten im Burghof sah er seinen Vater mit dem Schwert in der Hand, der einem Pferd die Beine durchtrennte und dann dem Räuber im Sattel mit einem mächtigen Hieb die Kehle durchschnitt, ehe der noch den Boden berührte. Auch der Hauptmann der Wachen schlug sich tapfer. Doch jetzt waren nur noch sie beide übrig. Kurz darauf waren fünf Räuber tot. Aber auch der Hauptmann.

»Du wirst im Blut leben, genau wie ich und alle unsere Vorfahren. Das ist unser Schicksal und unser Fluch«, hatte der Vater ihm am Morgen gesagt. Und jetzt begriff der kleine Marcus, was diese Worte und die Bemerkung über Wölfe wirklich bedeuteten. Und er sah, was für ein großartiger Krieger sein Vater war. Er würde sie retten.

Im gleichen Moment wurde der Fürst von Saxia von einem mächtigen Hieb in die Brust getroffen. Er schwankte, knurrte, fletschte die Zähne wie ein Wolf. Doch dann richtete er sich auf und kämpfte weiter, stürzte sich in eine Gruppe Männer, die er vom Pferd geholt hatte. Der Junge beobachtete, wie sein Vater hinter einer Übermacht an Feinden verschwand, und sah Schwerter durch die Luft wirbeln. Als die Kämpfenden schließlich voneinander abließen und der Kreis sich öffnete, lagen drei Räuber tot auf dem Boden. Den Fürsten von Saxia hatten die Kräfte verlassen, er war auf die Knie gesunken und stützte sich auf sein Schwert wie ein alter Mann auf seinen Stock. Einer der Räuber – wahrscheinlich ihr Anführer, dachte sich der kleine Marcus – näherte sich ihm mit langsamen Schritten. Der Fürst sah furchtlos zu ihm auf und spuckte ihn an.

Der Räuber grinste höhnisch. Dann gab er einem seiner Männer ein Zeichen.

Der schleppte eine aufgelöste Frau herbei, deren Gesicht vor Kummer verzerrt war. Sie umklammerte ihr Neugeborenes, das schlaff wie eine Lumpenpuppe in ihrem Arm lag. Eine rote Puppe.

»Mutter …«, flüsterte der Junge.

Der Anführer der Schurken packte die Fürstin am Arm und drehte sie zum Fürsten um. Brutal riss er ihr das Gewand herunter, entblößte ihre Brüste und knetete sie. Der Fürst versuchte aufzustehen, doch aus den zahllosen Wunden, die seinen Körper übersäten, strömte das Blut, und sein von Narben überzogenes Gesicht war totenblass. Die Schurken, die ihn umringten, lachten. Da griff der Fürst nach dem Dolch in seinem Gürtel und warf ihn seiner Frau schnell zu. Die Fürstin fing ihn auf und sah ihren Ehemann wortlos an. Aber es war, als würden die Augen der beiden für sie sprechen. Der Lärm schien zu verstummen, und alles um sie herum schien verschwunden zu sein. Darauf stieß sich die Frau ohne zu zögern den Dolch ins Herz und fiel langsam zu Boden, das tote Kind immer noch im Arm. Eindringlich blickte sie ihren Ehemann an, während das Leben aus ihr wich.

Der Junge bemerkte, wie Tränen über das Gesicht des Vaters liefen, als er seine Frau sterben sah. Und wie der Anführer der Räuber wütend sein Schwert hob und dem Vater den Kopf abschlug.

Der Junge kroch den Gang zurück. Er war zu Tode erschrocken und hatte nur einen Gedanken: Flucht. Doch als er das Ende des Gangs erreichte, hörte er dort im Wachlokal Stimmen. Und er sah, wie die Räuber die schlafenden Männer mit ihren Schwertern durchbohrten.

»Der Kräutermönch hatte recht, dieses Schlafmittel ist wirklich stark«, sagte einer von ihnen zu dem Anführer, jenem Mann, der soeben den Fürsten von Saxia getötet hatte und jetzt den Raum betrat.

Der Mann setzte sich auf den Stuhl vor der Nische.

Dem Jungen stieg sein Gestank in die Nase. Er roch nach Schweiß, nach ungewaschener Kleidung und dann noch nach etwas anderem. Diesen ekelhaft süßlichen Geruch kannte der kleine Marcus bis jetzt nur aus dem Laden des Fleischhauers auf der Burg.

Einer der Männer kam herein und zerrte ein Mädchen hinter sich her, das weinte und schrie. Der Junge kannte sie, es war eine der Wäscherinnen. Sie war jung, hübsch und hatte gerötete Hände.

Der Anführer stand auf und schob seine Tunika über die Hüften hoch. Zwei Männer rissen der Wäscherin die Kleider vom Leib, sodass sie vollständig nackt war. Dann warfen sie sie auf ein Strohlager, neben zwei der toten Wachen. Das Mädchen weinte und flehte um Gnade. Doch der Anführer stieg auf sie, spreizte ihre Beine und vergewaltigte sie brutal.

Der Junge sah zu, wie gelähmt.

Die Wäscherin weinte und schrie in einem fort.

Als der Anführer mit ihr fertig war, stand er auf und sagte zu einem seiner Männer, der das Ganze beobachtet hatte: »Sie gehört dir, wenn du willst.«

»Nein, ich habe mich schon draußen bedient«, erwiderte der grinsend.

»Na, dann hat dein Jammern jetzt ein Ende, Mädchen«, sagte der Anführer zu der jungen Wäscherin.

Unter Tränen antwortete das Mädchen: »Danke, Herr, vielen Dank!«

»Du hast wohl nicht begriffen«, sagte der Räuberhauptmann lachend. Dann hob er sein Schwert und tötete sie.

Der Junge war wie versteinert. Er fühlte, dass er gleich schreien würde. Deshalb biss er sich auf die Zunge, so fest, dass er die Zähne tief in seinem Fleisch spürte.

»Alle sind tot, Agomar«, sagte einer der Männer, der gerade hereinkam, zu seinem Anführer.

»Habt ihr den kleinen Prinzen gefunden?«, fragte Agomar.

»Nein …«

Agomar versetzte ihm eine Ohrfeige. »Dann sind noch nicht alle tot, du Trottel!« Wütend trat er so heftig gegen eine Truhe, dass eine Seite herausbrach. »Findet ihn und tötet ihn! Der Herr von Ojsternig hat Befehl gegeben, niemanden am Leben zu lassen. Vor allem niemanden aus dem Fürstenhaus Saxia, ihr Idioten!«

Dem Jungen drehte sich der Magen um. Schnell wich er wieder zurück und versuchte, sich möglichst leise zu verhalten. Unterwegs erbrach er den Apfel-Ingwer-Kuchen und verharrte reglos auf den Knien in der Hoffnung, dass niemand ihn bemerkte. Dann kroch er langsam weiter bis zu dem vermauerten Zugang beim Gehege und spähte durch die Lücke nach draußen.

Der Schnee im Hof glänzte rot wie ein kostbarer Teppich, auf dem Dutzende von Männern, Frauen und Kindern zu schlafen schienen. Einigen fehlten die Köpfe, anderen die Arme. Die jungen Frauen waren alle nackt.

»Findet den kleinen Prinzen!«, schrie ein Mann.

Die Räuber verteilten sich über die Burg und verschwanden im Palas, den Schweineställen, den Stallungen für die Pferde, den Hühnergehegen und der Kapelle.

Ihre Suche schien sich endlos hinzuziehen.

Schließlich kamen die Männer in der Mitte des Hofes zusammen und scharten sich um ihren Anführer.

»Wir können ihn nicht finden«, verkündete einer der Männer und sprach damit für alle.

Agomar, ein Mann mit dichten Augenbrauen, rötlichen Haaren und Bart und schwarzen, schmalen Augen, hob die rechte Hand. Der Junge sah, dass er nur vier Finger hatte, der kleine Finger fehlte. »Treibt das Vieh aus den Ställen und brennt alles nieder!«, rief er. »Dann wird das Prinzchen eben geröstet. Wenn ihr ihn nicht findet, finden ihn die Flammen der Hölle! Los, beeilt euch!«

Der kleine Marcus sah, wie die Räuber alles Vieh hinaustrieben.

Agomar warf seine Fackel in das mittlere Fenster des ersten Stockes. Gleich darauf flogen Dutzende durch die Luft in den Palas, in die Schweineställe, die Stallungen für die Pferde, auf die Dächer der Gesindehäuser. Und sofort schlugen die Flammen überall hoch.

»Raus hier!«, befahl Agomar. »Und verrammelt das Tor hinter euch.« Er sprang auf sein Pferd, ließ es hochsteigen und schrie laut: »Leb wohl, kleiner Prinz!« Dann galoppierte er höhnisch lachend aus der Burg.

Der Junge hörte, wie die beiden Torflügel geschlossen wurden. Er drehte sich um und kroch zurück zum Wachlokal, um einen Fluchtweg zu finden. Doch kaum hatte er den Raum erreicht, schlug ihm eine unerträgliche Hitze entgegen, und der beißende Rauch brachte seine Augen zum Tränen. Die Strohlager der Wachen und das Holzdach standen in hellen Flammen.

Der Junge hustete. Er bekam kaum noch Luft. Auf allen vieren kroch er zurück, bis er wieder das andere Ende des Gangs erreicht hatte. Durch die Lücke in der Mauer sah er, dass überall Flammen hochschlugen und die Burg zerstörten. Er saß in der Falle.

Noch einmal drehte er sich um. Er musste trotz allem versuchen, durch die Wachstube zu entkommen. Doch kaum hatte er wieder das Ende des Gangs erreicht, zerbarsten die großen Balken, die das Dach stützten, mit einem betäubend lauten Knall und stürzten in einem Funkenregen zu Boden.

Der Junge bekam keine Luft mehr. Ihm wurde schwindelig. Er hustete nur noch, und seine Augen waren tränenblind. Der Rauch, der in den Gang eindrang, ließ ihn immer weiter zurückweichen, bis er sich wieder mit dem Rücken an der Mauer zum Gehege fand. Und obwohl er gerade einmal neun Jahre alt war und erst an diesem Morgen Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hatte, wusste er, dass er nun sterben würde.

»Da bist du ja, ich habe dich gefunden!«, rief eine Stimme.

Der Junge wandte sich erschrocken um. Ein blaues Auge spähte durch die Mauerlücke.

Er versuchte zu schreien, doch ihm versagte die Stimme. Starr vor Furcht sah er noch, wie ein Stein in der Mauer sich nach drinnen schob, dann verlor er das Bewusstsein.

3

Der Junge öffnete die Augen. Und riss den Mund auf, ganz plötzlich, als hätte er lange keine Luft mehr bekommen.

Er sah in das Gesicht einer Frau, die sich über ihn beugte und ihn anstarrte.

»Er atmet«, sagte sie.

Er wusste nicht, wo er war. Nur, dass er auf irgendetwas Hartem lag. Und dass ihm das Atmen schwerfiel. Seine Kehle brannte. Er unterdrückte seinen Husten, indem er die Lippen fest zusammenpresste. Er erinnerte sich an nichts. Wusste nichts. Und er wollte sich auch weder erinnern noch etwas wissen. Er schloss die Augen wieder.

Etwas in seinem Inneren tat weh, und er spürte, dass es unbedingt herauswollte. Deshalb kniff er Lippen und Augen nur noch fester zusammen.

So lange wie möglich blieb er regungslos in der Dunkelheit liegen. Doch dann begann die Schwärze um ihn herum sich zu drehen, verwandelte sich in einen trüben Strudel, der plötzlich heller wurde und jenen Farbton annahm, der seinem Herzen einen Stich versetzte.

Da riss er die Augen wieder auf, um all diesem Rot zu entgehen, das sich vor ihm verfestigte.

Die Frau stand noch über ihn gebeugt. Ihr Gesicht war hart, und es hatten sich tiefe Falten darin eingegraben. Es kam dem Jungen vage bekannt vor, aber er erinnerte sich weder an die Frau noch an irgendetwas anderes.

»Wird er sterben?«, hörte er eine Stimme links von ihm fragen.

Der Junge wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sein Blick begegnete dem eines kleinen Mädchens mit schmutzigem Gesicht, mit Augen so blau und klar wie Bergseen und hellblondem, kurz geschnittenem Haar. Angsterfüllt drehte er sich weg. Er wollte sie nicht wiedererkennen, doch er konnte es nicht ändern. Gewaltsam presste er Lippen und Augenlider fest zusammen, schüttelte den Kopf und wehrte sich mit aller Macht dagegen.

»Wird er sterben, Mutter?«, fragte das Mädchen wieder.

»Sei still, Eloisa«, schimpfte die Frau.

Kaum hatte der Junge den Namen Eloisa gehört, kam in ihm die Erinnerung hoch, gewaltig und reißend wie ein Sturzbach und vernichtend wie eine Flut. Plötzlich sah er alles wieder vor sich: den kämpfenden Vater, die Mutter, die sich den Dolch ins Herz stieß, während sie ihre tote kleine Tochter im Arm hielt. Den Räuber, der einen Fuß auf Eilikas Rücken gestützt hatte, um sein Schwert herauszuziehen. Die unanständig hochgeschobene Kutte des Beichtvaters, den weit aufgerissenen Mund des Musiklehrers, den jungen Gehilfen des Schmieds, der als Erster durch die Luft geflogen war, den abgehackten Arm des Schmieds, der noch mit dem Hammer in der Hand zu Boden fiel. Er erinnerte sich an die Schreie der Menschen und den Lärm, an den Rauch, an das Dach der Wachstube, das in sich zusammenbrach. Und dann sah er das Blut. Ströme von Blut. Er spürte, dass er gleich losschreien würde. Bevor ihn die Bilder mit sich in ihren Abgrund reißen konnten, öffnete er schnell die Augen.

Die Frau sah ihn weiterhin an, aber sie berührte ihn nicht.

Jetzt erkannte der Junge auch sie. Es war Agnete, die Hebamme.

»Du bist in meinem Haus«, sagte Agnete.

Der Junge blieb stocksteif liegen. Sah sich nicht um. Sagte kein Wort.

»Erinnerst du dich, was geschehen ist?«, fragte Agnete.

Der Junge starrte sie mit leeren Augen an und rührte noch immer keinen Muskel.

»Ist er blödsinnig geworden, Mutter?«, fragte Eloisa.

»Ich habe gesagt, du sollst still sein«, schimpfte die Mutter. Dann wandte sie sich wieder an den Jungen. »Hörst du mich?«, fragte sie knapp.

Der Junge nickte kaum merklich.

»Verstehst du, was ich sage?«

Der Junge nickte wieder.

»Sag: Weißt du, was geschehen ist?«

Der Junge presste die Lider fest zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, und biss sich auf die Lippen. Als er die Augen wieder öffnete, stand Agnete immer noch vor ihm und starrte ihn an.

»Kannst du sprechen?«, fragte sie ihn.

Der Junge blieb stumm.

Agnete packte ihn am Arm. »Du musst jetzt aufstehen, du kannst hier nicht ewig herumliegen«, sagte sie und zog ihn hoch, dass er zum Sitzen kam.

Der Junge erkannte nun, dass er auf einem Tisch neben einem runden Kamin saß, in der Mitte einer dunklen Hütte, die nach Körperausdünstungen und nach Zwiebeln stank. In einer Ecke der Hütte gab es ein Strohlager, auf dem ein Kuhfell als Decke lag.

»Trink«, sagte Agnete und hielt ihm eine Kelle Wasser hin.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Trink!«, wiederholte Agnete.

Daraufhin trank der Junge. Und musste gleich darauf husten.

»Deine Lungen müssen sich von dem Rauch reinigen. Trink noch mehr.«

Der Junge gehorchte.

Agnete schob ihn ohne viel Federlesens vom Tisch. Ihre Hände fühlten sich rau und stark an. Wenn sie sprach, klang das nicht so sanft wie bei Eilika. »Zieh dich aus«, sagte sie zu ihm.

Eloisa kicherte.

Der Junge rührte sich nicht.

»Hast du begriffen, was auf der Burg geschehen ist?«, fragte Agnete grob.

Der Junge nickte.

»Was ist geschehen?«, bedrängte die Frau ihn weiter.

Der Junge presste die Lippen aufeinander.

»Ist er stumm geworden, Mutter?«, fragte Eloisa.

»Oh, möge Gott doch dich mit Stummheit schlagen!«, erwiderte die Mutter seufzend. »Ich hab dir gesagt, du sollst still sein.« Sie wandte sich erneut an den Jungen: »Alle sind tot. Auch die Diener. Weißt du, was das bedeutet? Dass bald ein neuer Fürst kommen wird. Und es passt bestimmt nicht in die Pläne dieses Schurken, dass du am Leben bist. Hast du so weit alles begriffen?«

Der Junge fühlte, wie die Tränen in ihm unbedingt nach draußen drängten.

»Aber du bist am Leben, und zwar weil meine Tochter dich gerettet hat«, fuhr Agnete fort. »Sie hat dich ganz allein aus der Burg geschleppt und dich hinter einem Busch versteckt, und dann hat sie mich geholt. Und ich habe dich in einem Sack hierhergetragen. Das habe ich für sie getan. Und weil ich dich auf die Welt geholt habe wie viele andere Kinder und mich nicht mitschuldig machen will an deinem Tod, indem ich wegsehe.« Agnete beugte sich wieder über ihn. »Du hast nur eine Möglichkeit, um am Leben zu bleiben: Du darfst nicht mehr der sein, der du bist.«

Der Junge begriff nicht, was sie meinte. Agnete jagte ihm Angst ein. Sie redete auf eine Weise mit ihm, wie es zuvor noch niemand getan hatte.

»Zieh dich aus, mach schon, bevor ich die Geduld verliere«, drängte Agnete.

Der Junge rührte sich nicht.

Ungeduldig packte Agnete seine Jacke aus Hirschleder und riss sie ihm beinahe vom Leib. Dann verfuhr sie mit seinen übrigen Kleidern genauso, bis er nackt vor ihr stand.

Eloisa kicherte immer noch.

»So schöne Sachen«, brummte Agnete und ging mit ihnen zum Kamin.

»Wir können sie auf dem Markt verkaufen«, schlug Eloisa vor.

»Wir verkaufen gar nichts, du Närrin«, erwiderte ihre Mutter barsch, während sie die wertvollen Kleider in die Flammen warf. »Wie soll eine Hungerleiderin wie du zu solch feinen Pelzen und Ledersachen kommen, um sie zu verkaufen? Wem können die gehören, wenn nicht einem Prinzen? Einem kleinen Prinzen … den alle für tot halten«, schloss sie und wandte sich dem Jungen zu. Während ein beißender Geruch nach verbranntem Pelz den Raum erfüllte, ging sie zu einer Holztruhe und holte einige Kleidungsstücke hervor. »Du wirst vergessen, wie weich Samt ist und wie gut Wolle wärmt, Junge. Du wirst wie wir alle gegen die Kälte ankämpfen müssen, mit einer Jacke aus dünnem Stoff und ein paar Kaninchenfellen. Du wirst lernen, dir auf die Hände und die Füße zu pissen, damit du keine Frostbeulen bekommst, und wenn du nicht krank wirst und stirbst, wirst du so stark und zäh werden wie wir.« Sie hielt ihm die Kleider hin. »Zieh die an. Sie haben meinem Sohn gehört.« Hier schwankte ihre Stimme leicht, wurde jedoch gleich wieder hart, als wäre nichts gewesen: »Er hat es nicht geschafft. Er ist nicht stark und zäh geworden.«

Der Junge blieb mit den Kleidern in der Hand regungslos stehen.

»Zieh dich an!«, schrie Agnete beinahe.

Zum ersten Mal in seinem Leben kleidete sich der Junge allein an. Und als er die ungewohnten Sachen am Leib trug, ahnte er, dass ihm sehr kalt werden würde.

»Niemand wird dich mehr kleiner Herr oder Prinz oder bei deinem Namen nennen, den ich nicht einmal aussprechen will«, erklärte Agnete und nahm die große Schere, mit der sie sonst die Ziegen schor.

Sie stieß den Jungen zu einem wackeligen Schemel und drückte ihn herunter. Dann packte sie seine langen blonden Locken und schnitt sie so kurz ab, dass er nur noch einen zarten Flaum auf dem Kopf hatte.

»Wie schön«, sagte Eloisa und betrachtete bewundernd die goldenen Locken, die sich auf dem Boden ringelten.

»Verbrenn sie«, befahl ihr die Mutter.

Eloisa sammelte sie auf und warf sie in den Kamin. Bis auf eine einzige lange Strähne, die sie heimlich in der Tasche ihres Kleides verbarg.

Agnete hatte inzwischen ihre Hände in eine dunkle, übel riechende Pfütze in einer Zimmerecke getaucht, wo es vom Dach heruntertropfte. »Von heute an wirst du dreckig sein und stinken wie wir«, sagte sie und rieb ihre schmutzigen Hände über sein Gesicht und seine Brust. Sie kniff in seinen Arm. »Du bist fett wie eine Weihnachtsgans. Doch bald schon wird man an dir die Rippen zählen können wie bei jedem von uns.«

Der Junge konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

»Lerne, den Schmerz zu ertragen«, ermahnte Agnete ihn hart und vorwurfsvoll. »Schau genau zu«, sagte sie, drehte sich zu Eloisa um und schlug ihr kräftig ins Gesicht.

Eloisa nahm die Ohrfeige ohne einen Klagelaut hin, obwohl ihr Blut aus der Nase lief. Sie weinte nicht. Sie jammerte nicht.

Agnete wandte sich dem Jungen zu. »Hast du gesehen? Und dabei ist sie nur ein Mädchen. Wisch dir also die Tränen ab!«, befahl sie ihm.

Der Junge fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Vorstellung, eine Ohrfeige zu bekommen, ängstigte ihn, da er noch nie geschlagen worden war.

Agnete hingegen nickte zufrieden. Sie schob die Holztruhe, aus der sie die Kleider ihres toten Sohnes genommen hatte, zur Seite. Darunter kam eine Falltür im Boden zum Vorschein. Die zog sie auf und zeigte sie dem Jungen. »Du wirst dich so lange dort unten verstecken, bis man dich vergessen hat und du ein anderer geworden bist. Dann werde ich mir irgendeine Erklärung einfallen lassen, wieso du plötzlich in unserem Leben aufgetaucht bist.«

Der Junge betrachtete mit Grauen die Falltür und das schwarze Loch dahinter.

Agnete packte ihn an einem Arm und schob ihn darauf zu.

Der Junge stemmte die Füße in den Boden und wehrte sich weinend mit allen Kräften.

Da ließ Agnete seinen Arm fahren und packte ihn stattdessen beim Ohr. Sie zog ihn bis zur Tür der Hütte. »Niemand hält dich zurück, Junge«, sagte sie mit ihrer harten Stimme, während sie die Tür öffnete. »Ich weiß nicht, ob du dich irgendwo vor diesen Räubern verstecken kannst, was du essen oder wo du schlafen willst. Aber es steht dir frei zu gehen. Wenn die entdecken, dass wir dich gerettet haben, schneiden sie uns die Kehle durch. Ich will nicht, dass du uns in Gefahr bringst. Entscheide dich. Entweder du gehst … oder du bleibst hier. Zu meinen Bedingungen.«

Der Junge schaute nach draußen.

An diesem Tag, so würde er später sagen, schien es, als hätte der gütige Gott sich aus dem Teil der Welt zurückgezogen, den er dort erblickte.

Die Hauptstraße des Dorfes sah aus wie ein Fluss aus gefrorenem Schlamm, in dem die Abdrücke von Vieh und Mensch zu bizarren Formen erstarrt waren. Und in dieser fahlen Eislandschaft, aus der alle Farbe gewichen zu sein schien, beobachtete der Junge einen alten Mann, der sich zu einem Kuhknochen schleppte und sich dann mit der spärlichen Kraft, die das Elend ihm gelassen hatte, daran festklammerte. Ein Hund machte ihm seinen Fund knurrend und sabbernd streitig. Und der alte Mann heulte los wie ein Kind, als er sah, dass er der wütenden Kraft des Hundes nichts entgegensetzen konnte.

In der Ferne war der Hügel im Norden des Raühnval, der alles im Tal überragte, in den dichten Rauch des Brandes eingehüllt, der immer noch in der Burg wütete. Dem Jungen kam es so vor, als würde ein Windstoß ihm den Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase wehen. Und ihm schlug das Herz bis zum Hals, als ihm klar wurde, dass der alte Mann und der Hund diese Nacht in der Asche der Burg nach etwas Essbarem suchen würden.

Der Junge ließ den Kopf sinken und ging langsam von der Tür weg, die in diese Hölle führte. Er hörte, wie sie hinter ihm geschlossen wurde. Als er die Luke erreicht hatte, sah er Agnete an.

Die sagte ihm: »Du musst einen anderen Namen annehmen. Wie möchtest du heißen?«

Der Junge zuckte mit den Schultern.

»Wie möchtest du heißen?«, fragte Agnete noch einmal.

Der Junge blieb wortlos stehen.

»Mikael!«, rief Eloisa aus.

Agnete sah ihn an. »Gefällt dir Mikael?«

Der Junge zuckte wieder nur mit den Schultern.

»Dann wirst du also Mikael heißen«, erklärte Agnete. »Wenn der Name dir gefällt, dann ist das nicht dein Verdienst, denn meine Tochter hat ihn dir gegeben. Wenn er dir nicht gefällt, musst du das mit dir selbst ausmachen, da du dich nicht entscheiden konntest. Im Leben musst du deine Wahl treffen, denk daran.« Sie zündete eine Talgkerze an, die einen schwachen Lichtschein verströmte, und drückte sie ihm in die Hand. »Geh sparsam damit um. Und pass auf, die letzte Stufe ist durchgebrochen. Du findest dort unten eine Decke und ein Glutbecken. Jetzt geh.«

Der Junge sah verängstigt in das dunkle Loch, in das er hinabsteigen sollte. Dann kletterte er langsam die wackelige Leiter hinunter.

Agnete schloss die Luke hinter ihm.

»Gute Frau …«, hörte sie von unten. »Er ist doch nicht stumm«, sagte Eloisa kichernd. Agnete öffnete die Luke wieder.

»Gute Frau …«, rief der Junge wieder mit kläglicher Stimme. »Was willst du?«

»Es gibt kein Bett …«

»Nein.«

»Aber ich … ich bin es gewohnt, in einem Bett zu schlafen …«

Es entstand eine lange Pause. Dann sagte Agnete: »Du wirst nie wieder ein Bett haben. Jetzt bist du einer von uns.«

4

Als der Junge in jener Nacht hörte, wie die Luke geschlossen und die Truhe darübergeschoben wurde, erschauerte er. Er fühlte, wie die Kälte in sein Herz kroch. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse und hielt dabei die Kerze vor sich in die Dunkelheit.

Er befand sich in einem engen Raum, nicht größer als drei mal drei Schritt und so niedrig, dass ein Erwachsener darin nicht hätte stehen können. Die Decke bestand aus den Bodendielen der Hütte, die von Querbalken aus entrindetem Tannenholz getragen wurden. Den Boden bildete festgestampfte Erde. In einer Ecke stand ein schmales, aus Brettern gezimmertes Podest, das mit Stroh bedeckt war und kaum mehr Platz einnahm als eine Hundehütte. Die Liegefläche befand sich etwa eine Handbreit über dem Boden, damit man beim Schlafen nicht mit der feuchten Erde in Berührung kam. Auf dem Stroh war eine Decke ausgebreitet, ein dünnes Laken aus verschlissenem Stoff. Und in einem Becken daneben glimmte ein wenig Glut.

Der Junge spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen, während ein Gestank nach Schimmel und Mäusekot in seine Nase drang. Agnete hatte ihm gesagt, er solle die Kerze löschen. Aber wenn er das täte, dachte er, und dabei lief ihm ein Schauder über den Rücken, würde er sie nicht wieder anzünden können. Andererseits fürchtete er sich davor, Agnete nicht zu gehorchen. Diese Frau war hart, ganz anders als Eilika, die jede Nacht vor dem Fußende seines Bettes geschlafen hatte, stets bereit, alle Schwierigkeiten für ihn aus dem Weg zu räumen oder ihn nach einem schlechten Traum zu trösten. Der Junge betrachtete noch einmal die Kerzenflamme, als wollte er ihr Licht in seine Pupillen einbrennen, dann blies er sie ganz vorsichtig aus. Er rollte sich auf den Brettern zusammen, zog die Decke über sich und schob sich möglichst nahe an das Glutbecken heran. Er versuchte sich auszustrecken, aber gleich darauf setzte er sich wieder auf und zog die Knie eng an die Brust.

So blieb er, alle Sinne geschärft, regungslos sitzen und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Vor Müdigkeit nickte er ab und zu ein, aber dieser Schlaf war kurz und unruhig; immer wieder schreckte er hoch, weil grausige Bilder seine Träume erfüllten.

Am nächsten Morgen war er vollkommen erschöpft. Erleichtert bemerkte er, wie sich in der Hütte über ihm Leben regte. Er lauschte dem Klappern der Holzpantinen auf den Dielen, hörte, wie die Truhe knarrend von der Luke gezogen wurde, und sah aufatmend einen spärlichen Lichtschein in sein Versteck fallen.

»Komm her, Junge«, sagte Agnete.

Der Junge rappelte sich auf und näherte sich dem unteren Ende der Leiter. Von der Anspannung und der Kälte der Nacht tat ihm jeder Muskel weh.

Oben an der Öffnung erschien das strenge Gesicht der Frau. »Du darfst nicht hinaus«, sagte Agnete und reichte ihm eine dampfende Schale und einen Kanten Brot. »Iss.«

Erst jetzt merkte der Junge, dass er am Abend vor dem Angriff auf die Burg zum letzten Mal ordentlich gegessen hatte, denn sein Frühstück hatte er ja erbrochen. Und er stellte fest, dass er hungrig war, trotz der Trauer über den Tod der Menschen, die er geliebt hatte, und trotz seiner Furcht. Er fühlte sich beinahe schuldig. Er streckte die Hand nach der Schale aus, die sehr heiß war. Schnell stellte er sie auf dem Boden ab und nahm den Kanten Brot. Er war hart.

»Tunk das in die Brühe, dann wird es weich, Junge«, sagte Agnete.

Der Junge schaute hinauf, in Erwartung, dass es noch etwas zu essen gäbe.

»Für dein Geschäft gräbst du ein Loch in den Boden und bedeckst es mit Erde«, erklärte Agnete ihm und warf ihm einen Pflock mit einem zugespitzten Ende zu. Dann wollte sie schon die Falltür schließen, hielt jedoch kurz inne. »Trink die Brühe, solange sie heiß ist«, ermahnte sie ihn und schloss die Luke. »Eloisa, stell die Truhe an ihren Platz und dann gehen wir«, sagte sie zu ihrer Tochter und öffnete die Tür der Hütte.

»Geht schon einmal vor, Mutter«, erwiderte Eloisa. »Ich komme sofort nach.«

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Luke wieder.

»Da, nimm«, flüsterte Eloisa.

Der Junge sah die Hand des Mädchens, die ihm etwas hinhielt. Aber er zögerte, es zu nehmen.

»Wovor hast du Angst, Dummerjan? Das ist eine Zwiebel«, sagte Eloisa und lachte. »Iss sie zusammen mit dem Brot. Das schmeckt gut.«

Der Junge nahm die Zwiebel.

»Was machst du da noch?«, hörte man Agnete von draußen fragen.

Die Falltür wurde hastig geschlossen.

»Nichts, Mutter. Ich habe mich nur von ihm verabschiedet«, erwiderte Eloisa.

»Wo ist deine Zwiebel?«, fragte Agnete.

»Die habe ich gegessen.«

»Lügnerin.«

»Ich hab sie schon gegessen, Mutter!«

»Ich komm gleich und schnupper an deinem Mund. Wenn ich dann keine Zwiebel rieche, setzt es aber was«, drohte Agnete. »Also? Wo ist deine Zwiebel?«

Ein endloser Moment der Stille folgte, bevor Eloisa gestand: »Ich habe sie ihm gegeben.«

Der Junge hörte ein klatschendes Geräusch und dann ein Aufstöhnen.

»Aua, Mutter, mein Ohr tut weh, wenn Ihr so daran zieht …«

Jetzt klang Eloisas Stimme nicht mehr so nah. Die Mutter musste sie bis zur Tür der Hütte geschleift haben, dachte der Junge.

»Ich will nicht, dass du ihm Essen gibst.« Agnete versuchte, trotz ihrer Wut leise zu sprechen.

»Aber Mutter …«

»Du gehorchst mir und Schluss!«, unterbrach Agnete sie entschieden.

»Ich habe Angst, dass er stirbt …«

Der Junge fühlte einen Kloß in seiner Kehle.

»Vielleicht wird er sterben. Vielleicht auch nicht«, sagte Agnete in deutlich sanfterem Ton zu ihrer Tochter. »Wir werden sehen. Aber er muss es allein schaffen. Sonst wird er sein Leben lang schwach bleiben.«

»Aber ich …«

»Ihm ist mehr damit geholfen, wenn du ihm zeigst, dass du an dich selbst denkst. Eine Zwiebel hält nur so lange vor, wie man sie kaut. Ein gutes Beispiel dagegen nützt ihm das ganze Leben lang. Und er muss lernen, so zurechtzukommen wie wir.«

Dann hörte der Junge nichts mehr, außer dem Geräusch von Holz, das über Holz schabte. Er konnte Eloisa fast vor sich sehen, wie sie mit einer ihrer Pantinen verlegen auf dem Boden scharrte. Dann hörte er sie sagen: »Verzeiht mir, Mutter.«

»Zieh die Truhe über die Luke und dann lass uns gehen«, entgegnete Agnete. »Wir müssen den alten Raphael besuchen. Heute Nacht ist mir etwas eingefallen.«

Der Junge hörte, wie sich Eloisa näherte. Wie sie vor Anstrengung stöhnte, während sie die Truhe über die Luke zerrte, und dann wieder zur Tür der Hütte ging. Doch plötzlich hielten die Schritte an und kamen noch einmal in seine Richtung.

»Werde nicht krank und stirb mir nicht, Dummerjan«, flüsterte ihm Eloisa hastig durch die Bodendielen zu, dann ging sie und zog die Tür hinter sich zu.

Der Junge lauschte weiterhin. Als er sich damit abgefunden hatte, dass niemand mehr da war, kauerte er sich mit der Schale Brühe, dem Brotkanten und der rohen Zwiebel auf dem Podest zusammen. Er kostete die Brühe. Sie schmeckte nach gar nichts. Das war keine Fleischbrühe, wie er sie gewohnt war. Als er in der Schale rührte, fand er nur ein wenig Gemüse. Beherzt biss er in den Brotkanten, aber der war zu hart für seine Zähne. Also befolgte er Agnetes Rat und tauchte ihn in die Brühe ein. Das Brot war aus grobem Mehl ohne Salz gebacken. Dann versuchte er die Zwiebel, und augenblicklich begannen seine Augen zu tränen. In der Burg hatte er das Gesinde Zwiebeln essen sehen. Er selbst aß Fleischpastete oder Apfelkuchen. Die rohe Zwiebel schmeckte ihm nicht, daher trank er ein wenig Brühe, um den üblen Geschmack im Mund loszuwerden. Die Zwiebel legte er auf das Stroh neben sich und widmete sich wieder dem Brot und der Brühe.

Als er damit fertig war, hörte er ein Rascheln auf dem Strohlager. Und in dem spärlichen Licht, das durch die Bodendielen fiel, machte er den Schatten einer Maus aus, die wohl der Geruch der Zwiebel angelockt hatte. Der Junge wich erschrocken zurück, und auch die Maus huschte schnell davon. Doch dann näherten sich beide erneut ganz langsam der Zwiebel. Der Junge nahm die leere Suppenschale und hob sie vorsichtig hoch über den Kopf, bereit, sie auf das Tier niederfahren zu lassen. Die Maus sah ihn mit ihren Knopfaugen an und kräuselte die Nase, während sie sie witternd in die Luft streckte. Der Junge dachte, dass er, wenn er sie tötete, noch mehr Blut sehen müsste. Also ließ er die Schale aufs Stroh fallen und griff nach der Zwiebel. Die Maus quietschte ängstlich und trippelte wieder davon.

Der Junge biss in die Zwiebel und verzog angeekelt das Gesicht, während die Maus wieder näher kam. Der Junge beobachtete sie. Er riss ein Stück von der Zwiebel ab und hielt es ihr hin. Misstrauisch holte sie sich das Stück und verschwand mit ihrer Beute. Der Junge hörte sie gierig in der Dunkelheit kauen. Daraufhin versuchte er selbst noch einmal die Zwiebel. Jetzt schmeckte sie schon ein wenig besser. Als er sie beinahe aufgegessen hatte, näherte sich die Maus wieder und hielt ihr Schnäuzchen witternd in die Luft. Der Junge teilte den Rest der Zwiebel in zwei Teile. Eine Hälfte aß er selbst, die andere hielt er der Maus hin, die diesmal vor ihm sitzen blieb, das Zwiebelstück zwischen die Vorderpfoten nahm und es verputzte, während sie den Jungen mit ihren runden Äuglein immer im Blick behielt.

Als beide fertig waren, beobachteten sie einander.

Nach einer Weile merkte der Junge, wie ihn die Müdigkeit überkam. Er rollte sich zusammen und zog die Decke über sich.

Die Maus quiekte ängstlich und versteckte sich in einer dunklen Ecke.

Der Junge konnte sie nicht mehr sehen, aber er wusste, dass sie noch dort war. Seine Lider sanken müde herab, und er fühlte sich schrecklich einsam.

»Ich heiße … Mikael«, sagte er schläfrig.

Er spürte, wie die Maus vorsichtig näher kam, sich auf die Hinterpfoten stellte und seine frisch gestutzten Haare beschnupperte, und er wiederholte: »Ich heiße Mikael.«

Ein schöner Name, dachte er noch. Dann schlief er ein.

5

Wir lagern hier«, sagte Agomar und hob die Hand, an der ihm der kleine Finger fehlte. Auf seinem Gesicht und seiner Kleidung klebte immer noch das Blut, das er vergossen hatte.

Die Männer sahen sich um. Sie befanden sich in einer engen Schlucht zwischen zwei steilen Felswänden. Beim Angriff auf die Burg waren sie zwanzig gewesen. Jetzt waren noch zwölf von ihnen übrig, und drei davon waren schwer verletzt. Zwei würden die kommende Nacht wohl nicht überstehen, sie zitterten am ganzen Leib, und ihre Augen glänzten fiebrig. Der Fürst von Saxia hatte sich als exzellenter Kämpfer erwiesen.

»Schlagt hier das Lager auf«, befahl Agomar. »Ich werde unseren Lohn abholen.«

Die Männer trugen die Verletzten unter einen Felsvorsprung und machten Feuer.

Agomar beobachtete sie. Sie standen seit mehr als fünf Jahren unter seinem Befehl und hatten im Krieg wie auch in mageren Zeiten treu zu ihm gestanden. Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt zum Ausgang der Schlucht. Kaum hatte er die engen Felswände hinter sich gelassen, da hörte er ein Grollen hinter sich. Er drehte sich schnell um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein riesiger Stein über den weichen Schnee von oben herabrollte, am Ende des Hangs liegen blieb und so den Zugang zur Schlucht versperrte. Und dann spürte er, wie auf der anderen Seite der Schlucht die Erde erzitterte. Sein Pferd wieherte ängstlich und schlug aus. Agomar hielt es im Zaum. Das Grollen der Felsbrocken, die die Flanke des Berges hinunterstürzten, war gerade verstummt, als trockenes Schnalzen von Bogen- und Armbrustsehnen die Luft erfüllte. Und das Zischen von Pfeilen und Bolzen.

Agomar hörte die Schmerzensschreie seiner Männer.

Einige erkannte er an der Stimme. Die schrille von Jaka, die heisere von Niklas und die hohe Stimme des Kastraten Monaldo, des Brutalsten unter seinen Gefolgsleuten. Dann die glockenhelle von Ole, der erst sechzehn war, und die belegte von Tebbe, dem Ältesten und Erfahrensten unter ihnen, der Agomars Lehrmeister gewesen war und ihm alles beigebracht hatte, was er über den Krieg wusste.

Seine Männer starben einer nach dem anderen in einem Hinterhalt, rettungslos verloren, da sie von oben angegriffen wurden, von Soldaten, die sich hinter den spitzen Felsen versteckten.