Das lässt einen nicht mehr los - Nancy Aris - E-Book

Das lässt einen nicht mehr los E-Book

Nancy Aris

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Beschreibung

"Ich wollte keine Glatze haben. Schon aus dieser Angst heraus haben wir jeden Tag gelaust. Kleiderläuse, Haarläuse, alles." An die Lagerhaft erinnert sich Else Thomas noch heute. Mit Papierrollen drehen die Frauen sich Locken. Auch im Lager wollen sie schön sein. Geschichten wie diese gibt es viele. Mitarbeiter des Sächsischen Landesbeauftragten haben sie in Interviews gesammelt. Sie sprachen mit Menschen, die Opfer politischer Gewalt wurden, die in sowjetischen Lagern saßen, aus ihrer Heimat an der innerdeutschen Grenze vertrieben wurden, wegen Protestaktionen oder Fluchtversuchen hinter Gitter kamen. Nancy Aris hat eine Vielzahl solcher Lebensgeschichten durchgesehen, fesselnde Passagen ausgewählt und erneut mit den Frauen und Männern hinter diesen Geschichten gesprochen. Entstanden sind 32 packende Porträts, die, so erschütternd sie sind, auch von hoffnungsfroh stimmenden Zeichen der Mitmenschlichkeit berichten. Zahlreiche Fotos und Dokumente illustrieren die Berichte. Margot Jann +++ Alexander Latotzky +++ Sabine Popp +++ Horst Krüger +++ Else Thomas +++ Harald Möller +++ Annemarie Krause +++ Richard Böttge +++ und andere

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Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Band

Nancy Aris

Das lässt einen nicht mehr los

Opfer politischer Gewalt erinnern sich

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Titelfoto zeigt den Innenhof der Haftanstalt Hoheneck im Jahr 1989,

Quelle: Bundesarchiv (Bild 183-1989-1228-007), Foto: Wolfgang Thieme

3. durchges. und erg. Auflage 2017

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gesamtgestaltung: behnelux gestaltung, Halle/Saale

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04937-0

www.eva-leipzig.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Glossar

Zum Buch

Geschichte im Zeitzeugenlabyrinth

Vorbemerkung der Autorin

Von Schlesien nach Sibirien verschleppt: Else Thomas

Meine Nummer war die 80403: Eberhard Hoffmann

Fünf Todesurteile für eine Anstecknadel: Margot Jann

Zerquetschte Finger und endlose Verhöre: Wolfgang Lehmann

Fünf Jahre Lager ohne Urteil: Karl-Heinz Pilz

Als Kind nach Rügen deportiert: Wolf Roßberg

Trommelschläge auf den Kopf: Günter Brendel

Versöhnung im Krankenzimmer: Günter Gasch

Vom Kurier verraten: Horst Krüger

Suizidversuch in der Zelle: Ingeborg Linke

»Malenki«, der Kleine: Harald Möller

Ein verhängnisvoller Brief: Rosemarie Schmidt

Meine zerstörte Jugendliebe: Annemarie Krause

Das Konstruktionsbüro war seine Rettung: Werner Heinze

Ein heimliches Radio im Lager: Klaus Gabel

17 Graupenkörner in der Suppe: Horst Engelbrecht

Ein Schulstreich verändert sein Leben: Richard Böttge

Mit Stinkbomben gegen die SED: Gerhard Schneider

Flugblattraketen überm Postplatz: Siegfried Hentschel

Als Faustpfand für den KGB: Alexander Latotzky

Unheilvolle Heuernte im Grenzstreifen: Reiner Schenk

Über Nacht ohne Heimat: Ilse Schenk

Die Tragik der Résistance: Stefan Welzk

In den Mühlen der DDR-Jugendhilfe: Ralf Weber

Schreiben gegen das Trauma: Eva-Maria Neumann

Der Sonntag gehört dem Herrn: Helmut Nitzsche

Mit der Sprühdose gegen die Mauer: Sabine Popp

Genug mit Anpassen und Abwarten: Arnold Wiersbinski

Der Prophet Micha und das Lesezeichen: Harald Bretschneider

Kirche als geistige und geistliche Heimat: Bernd Albani

Im Talar vor der Polizeikette: Günter Buchenau

Flugblätter per Durchschlagpapier: Rocco Schettler

Reaktion von Ingeborg Linke

Radio in Bautzen: ein Bericht von Hans-Joachim Berndt

Übersicht über die Interviews

Die Autorin

Weitere Bücher

Glossar

Zivilverschleppte

Werwolf

Sowjetische Militärtribunale

Pelzmützentransport

Bodenreform

Sowjetische Speziallager

Die Ostbüros

Der Bautzener Häftlingsaufstand

Der Volksaufstand 17. Juni 1953

Politischer Strafvollzug in der DDR

Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit

Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze

Jugendwerkhof

Massenorganisationen: Pioniere

Jugendweihe

Bausoldaten

Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit

Häftlingsfreikauf

Schwerter zu Pflugscharen

Friedensseminare

Staatsfeindliche Hetze

Die hier vorliegende korrigierte 3. Auflage enthält Ergänzungen und Erweiterungen. Nach Herausgabe der 1. Auflage erreichten uns zahlreiche und vielfältige Reaktionen: neben einfachen Fehlerkorrekturen auch interessante Impulse für weitere Forschungen und neues Bildmaterial. Einiges davon wurde in die aktualisierte Ausgabe mit aufgenommen. So erfahren wir aus einem Bericht von Hans-Joachim Berndt wichtige Details über den Bau eines heimlichen Radios im Speziallager Bautzen oder können nun drei Flugblätter von Rocco Schettler als Faksimile in Augenschein nehmen. Insofern beschreitet die neue Auflage genau den Weg, den wir mit dem Buch anstoßen wollten: die weitere Beschäftigung mit dem Thema und das Entdecken bisher unbekannter Facetten.

Nancy Aris, August 2017

Geschichte im Zeitzeugenlabyrinth

»Das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk!« mit diesen Worten begrüßte mich am 20. Dezember 2016 freudig Horst Krüger, einer der Zeitzeugen in diesem Buch. Er kam zu unserem Treffen der Verfolgtenverbände und Aufarbeitungsinitiativen und hatte kurz zuvor den von der Autorin Nancy Aris geschriebenen Text zur Durchsicht zugeschickt bekommen. Er war überrascht und bewegt. Die Interviews lagen schon ein paar Jahre zurück und es hatte großer Kraftanstrengung bedurft, um aus dem hochspannenden mündlichen Rohmaterial ein gut lesbares Buch zu machen, das die Texte sortiert, strukturiert und die Biografien diskret herausarbeitet. Dabei entschied jeder Gesprächspartner selbst, was er preisgeben möchte.

Als die von Nancy Aris geschriebenen Porträts unseren Zeitzeugen zugingen, stand die nächsten Tage und Wochen das Telefon nicht mehr still. Es gab kurze sparsame Faktenkorrekturen und Lob. Es gab Begeisterung und ausführliche Anmerkungen, aus denen mehrstündige Gespräche wurden, manchmal mit allen Mitarbeiterinnen unserer Behörde. Und es fiel der einen oder dem anderen immer noch etwas ein. Das Lesen der eigenen Biografie wühlte die Menschen auf. Einer beschwerte sich, warum er das so kurz vor Weihnachten erhalte, das ganze Fest über müsse er jetzt daran denken. Jemand anderes zeichnete eine Skizze seines Dorfes, um die damalige Grenzsituation noch einmal genau zu veranschaulichen. Bei den Reaktionen überwog deutlich der Dank. Eine Witwe schrieb anstelle ihres leider schon verstorbenen Mannes, wie sehr ihn das gefreut hätte und wie sie nun auf das kleine Denkmal in Form des künftigen Buches warte. Jemand bewies seine Art des Zufriedenseins dadurch, dass er uns mürrisch freundlich zeigte, die Dinge im Detail doch noch besser zu kennen. Auch diese sicher berechtigten Korrekturen können jemandem dabei helfen, sich zu beweisen, von der Geschichte nicht überrollt worden zu sein.

Manchmal schien es, als sollte die Arbeit nach der Fertigstellung erst richtig beginnen. Die einen wollten unbedingt etwas hinzufügen, andere unbedingt etwas weglassen, das sie vor fünf Jahren schon für die Öffentlichkeit freigegeben hatten. Um einen Beitrag mussten wir richtig kämpfen. Aber alle waren sie sich an einem Punkt einig: Ob Opfer brutaler Gewalt in den 1940er Jahren und der frühen DDR oder einer anderen Art von Nötigungsgewalt der späten DDR – alle wollten mit ihren Geschichten an und in die Öffentlichkeit. Eine Reaktion haben wir in diesem Band abgedruckt. Ingeborg Linke beschreibt, wie sie den Interviewern von damals dankt und wie ihre Biografie plötzlich auf sie wirkt: »Ich bin einfach fassungslos. Nie habe ich erwartet, dass aus meinem ungeschultem Erzählen ein wirklich lesbarer Text entstehen werde.« Das zeigt, wie Beratungsarbeit, Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit einander berühren und ineinandergreifen und wie komplex und sensibel der Landesbeauftragte und seine Mitarbeiterinnen arbeiten. So ein Buch über Zeitzeugen lässt seine Macher selbst zu Zeitzeugen werden: Sie können berichten von der anhaltenden, ja zunehmenden Wichtigkeit erlebter, erlittener Geschichte. Und von der Unterschiedlichkeit, damit umzugehen und darauf zu reagieren.

Ein Geständnis zwischendurch: Eigentlich mag ich keine dicken Bücher in einer Schriftenreihe, die sonst handliche Taschenbücher präsentiert, die sich bequem einstecken lassen und auch als Klassensatz für Schulen dienen können. Aber diese auf Gesprächen basierenden biografischen Porträts waren nicht seitenärmer zu haben. Nancy Aris musste viel weglassen, kürzen, komprimieren, durch Nachfragen herausdestillieren, ergänzen – und mit Hilfe der befragten Menschen nach Fotos und Dokumenten suchen, die jene Zeit und diese Lebensgeschichten noch anschaulicher werden lassen. Das Verlebendigen der Geschichte wird immer schwieriger. Und immer notwendiger. Dazwischen gibt es sparsame Erklärungsseiten zu wichtigen Begriffen, damit auch unkundige Leser in dieses Thema hineinkommen können. Im Anhang können Forscher in den Interviewübersichten nach einzelnen Details suchen.

Allen Porträts ist anzumerken, wie sich die Autorin zurücknimmt und dennoch nicht auf fundierte eigene Wertungen verzichtet. Es gibt Erzähltechniken, bei denen der Autor seine Qualität daran misst, wie unauffällig er als Autor bleibt. Sein scheinbares Nichtvorhandensein ist die eigentliche Qualität: die Kunst einer beiläufigen Verdichtung, die keine Hast und keinen mangelnden Respekt vor dem Gegenstand kennt, der hier der Mensch ist. Im Mittelpunkt steht der jeweils Einzelne, das ganz persönliche Schicksal, das – sich zu einem Gruppenbild ausweitend – die Machtverhältnisse einer real existierenden Diktatur entblößt. Die Geschichte lässt einen schaudern. Wir lesen von Folter – von zerquetschten Fingern, abgedrückten Hoden, von Trommelstöcken auf dem Kopf, von Schlägen mit dem Feuerhaken oder dem Sitzen auf einer Flasche. Die Perfidie der Unterwerfung zeigt sich in all seinen Facetten. Wir lesen von Frauen, die in den Karzer kommen, weil sie stricken, von Frauen, denen man nur dann die Fotos ihrer Kinder zeigt, wenn sie die Arbeitsnorm erfüllen. Manches wirkt fast unwirklich. Wir lesen von einem angeblichen "Grenzverletzer", der die Grenzstreife, die ihn verhaften soll, auf dem Heuwagen mit zu sich nach Hause nimmt, mit ihnen das Heu ablädt, den Stall ausmistet und sie danach auf die Wache, zur Verhaftung begleitet. Wir lesen von einer schwer rheumakranken Gefangenen, der als Krankengymnastik das Putzen des Hafthauses verordnet wird.

Und doch macht das Buch Mut: weil die Menschen, von denen es erzählt, nicht gescheitert sind. Wir lesen vom Häftlingsaufstand in Bautzen, vom Hungerstreik in Hoheneck, von Zuversicht und Solidarität. Ihre Geschichten verknüpfen sich zu einer Schicksalsgemeinschaft höchst unterschiedlicher Art, ohne dass sich die meisten dieser Menschen in der DDR jemals begegnet sind.

Wie können Leidensgeschichten erzählt werden, ohne dass nur Mitleid mit den Betroffenen übrigbleibt? Nancy Aris zeigt das: durch sensible Rationalisierung auf der einen Seite – das Sachbuch-Korsett des Bandes mit seinen erklärenden Einschüben hilft dabei – und durch lakonisch gekonnte erzählerische Verdichtungen auf der anderen Seite. Wie heißt es im Porträt der aus Schlesien nach Sibirien verschleppten Else Thomas? »Mit Papierrollen drehen die Frauen sich Locken. Trotz Lager wollen sie schön sein.« Wem die Zeit oder Lust fehlt, sich so ein dickes Buch vorzunehmen, der könnte mit dieser Geschichte beginnen. Sie ist die erste.

Die auf Video festgehaltenen Zeitzeugeninterviews entstanden unter meinem Vorgänger Michael Beleites. Wie kam er auf die Idee dazu? Der Ausgangspunkt lag in der Zusammenarbeit mit den Verfolgtenverbänden, schrieb er mir kürzlich. Da gab es immer wieder Vertreter, die sich für andere Haftkameraden engagierten, ihr eigenes Schicksal aber nie erwähnten. Deshalb bot er bei den Verbandstreffen die Möglichkeit, über die eigene Widerstands- und Verfolgungsgeschichte zu berichten. »Auf diesem Wege konnte nicht nur eine größere Wertschätzung der Vertreter von oft untereinander konkurrierenden Verbänden erreicht werden. Es wurde so auch erkennbar, welches Potenzial für die politische Bildung der nachfolgenden Generationen in diesen Biographien steckt. Die daraufhin verstärkte Vermittlung von Betroffenen zu Zeitzeugengesprächen an Schulen offenbarte einen großen Synergieeffekt: auf der einen Seite bekamen die Schüler die Möglichkeit, Erfahrungsberichte von Menschen zu hören, die politische Verfolgung in der kommunistischen Diktatur unmittelbar erlebten. Auf der anderen Seite fühlten sich die Verfolgten mit all den Opfern, die sie für Freiheit und Demokratie auf sich genommen hatten, von unserer Demokratie ernst genommen, angemessen gewürdigt und auch ›moralisch rehabilitiert‹, wenn ihr Lebensschicksal in die Bildung der Jugend direkt einfließt.« (Michael Beleites)

Dies gilt unverändert für die Lebensgeschichten in diesem Buch. Da aus Altersgründen immer weniger Zeitzeugen reisen und in Schulen sprechen können, müssen andere Vermittlungsformen gefunden werden. Die Videoaufnahmen der Interviews, die diesem Buch zugrunde liegen, können zwar von Bildungseinrichtungen genutzt werden, doch sollte man das traditionelle Buch nicht als altmodisch beiseite legen. Es bleibt universell, in seiner Nutzung vielfältig und es braucht keine Technik, keinen Strom. Das Buch kann auch eine Basis für die künftige Arbeit mit Zeitzeugen und vor allem mit Zeitzeugnissen sein. Vielleicht auch als Materialvorlage für Schauspieler, für Radiofeatures, als Anregung für Ausstellungen oder für eine bildnerische Darstellung von Lebensgeschichten – bis hin zum Film. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihren unterschiedlichen Geschichten soll auch dazu anregen, die Gegenwart verantwortungsvoll mitzugestalten. Entstanden ist so der vielleicht wichtigste und gewichtigste Band dieser Reihe – für die Betroffenen geht es um ihr ganzes und einziges Leben vor der DDR, zu Zeiten der DDR und um die Lebensechos nach 1990. Die in die Öffentlichkeit vermittelte Zeitzeugenschaft verwandelt den ehemals Ausgelieferten in einen Akteur, der sich nicht einer passiven Opferrolle überlässt, sondern zum Handelnden wird. – Ein guter Grund, dieses immens spannende Buch zu lesen.

Lutz Rathenow

Sächsischer Landesbeauftragter

zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Mein persönliches »Das lässt einen nicht mehr los« Vorbemerkung der Autorin

Als der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen im Jahr 2009 die Idee zu den Zeitzeugeninterviews hatte, ging es ihm weniger um ein Buch, sondern vielmehr darum, Erinnerungen zu konservieren. Und zwar von denen, die in der Nachkriegszeit oder in der noch jungen DDR politisch verfolgt wurden. 2009 war ein erinnerungspolitisch wichtiges Jahr. Die Friedliche Revolution feierte damals ihren 20. Jahrestag. Das Jubiläum wurde intensiv begangen und stieß auf unerwartet große Resonanz. Mit zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen würdigte man den Aufbruch im Herbst ’89 als Epochenzäsur. Fast konnte man bei dem Überschwang, mit dem das Ende der DDR bejubelt wurde, den Eindruck gewinnen, dass dabei der Anfang dieser DDR etwas aus dem Blick geriet. Das war ein Grund für uns, die Blickrichtung zu wechseln und zurückzuschauen. Denn viele derer, die in der Sowjetischen Besatzungszone Opfer politischer Gewalt geworden waren, zählten mittlerweile zu einer immer kleiner werdenden Gruppe betagter Mahner. Wie lange würden sie noch von ihren Erfahrungen berichten können? Erlebten wir nicht jedes Jahr aufs Neue, dass diese Gruppe immer kleiner wurde und wieder einer von ihnen verstorben war? Für uns war klar, dass sie als Erste befragt werden müssen. Menschen, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren Repressionserfahrungen gemacht hatten, wollten wir auch zu Wort kommen lassen, jedoch sollten sie nicht im Mittelpunkt des Projektes stehen.

Aus den in den Interviews zusammengetragenen Erinnerungen wollten wir eine Broschüre für den Schulunterricht erstellen. Angedacht war auch ein Arbeitsmaterial, ergänzt durch Videoausschnitte. Utz Rachowski und Ralf Marten machten sich im Auftrag des Landesbeauftragten an das Projekt, recherchierten Haftschicksale, kontaktierten Zeitzeugen, schrieben Briefe, telefonierten viel. Später besuchten sie sie bei sich zu Hause. Wochenlang waren sie mit ihrer Kamera unterwegs, wohnten in Hotels, fuhren von A nach B, quer durch die Republik. Als die über dreißig Interviews im Kasten waren, begann die Arbeit im Büro: das Abtippen der Interviews, die Kurzzusammenfassungen, dann die Biografien. Kurz darauf verließ Ralf Marten unsere Behörde. Einen anderen Mitarbeiter gab es dafür nicht. Was tun? Ich sichtete die Filme, machte mir Notizen, suchte nach Ausschnitten, die mir geeignet für den Geschichtsunterricht schienen. Dann las ich die Abschriften der Interviews, insgesamt mehrere tausend Seiten. Relativ bald war klar, dass mehr als eine Broschüre daraus werden würde, nämlich ein neuer Band in unserer Schriftenreihe. Doch so reizvoll diese Aufgabe auch schien, ich war überfordert. Nicht nur von der schieren Fülle, sondern auch von dem, was ich las. Ich kannte einige Zeitzeugen persönlich, war vertraut mit dem Thema, eigentlich bestens informiert. Dennoch eröffneten diese Berichte in ihrer Intensität, in ihrer Intimität und Offenheit eine Dimension, die für mich nicht so einfach fassbar und schon gar nicht einfangbar war. Wie sollte ich das ungeheure Leid, das die Menschen erfahren hatten, das Grauen und ihren Schmerz in eine verstehbare Form bringen? Wie konnte ich einen Weg finden, das für heutige Leser nachvollziehbar zu machen, ohne den Erzählungen etwas hinzuzufügen oder sie zu beschneiden? Ich entschied mich – auch in Anbetracht der 32 Schicksale, die alle in dem Buch Eingang finden sollten – für die Form von Kurzporträts. Gleichzeitig war mir klar, dass es kaum möglich sei, ein Interview von vierzig auf vier Seiten zu bringen.

Erschwerend kam hinzu, dass sich viele Erfahrungen, gerade aus den Speziallagern, auf frappierende Weise ähnelten. Kein Bericht, der nicht ausführlich die Lagertrias ›Hunger, Kälte, Ungeziefer‹ umkreiste. Man hätte natürlich exemplarisch einzelne Biografien herausgreifen können. Aber wird man dann allen gerecht? Eher nicht. Deshalb entschied ich mich dafür, dass jeder der Interviewten mit seiner ganz eigenen Leiderfahrung zu Wort kommen sollte, auch wenn sich vielleicht das eine oder andere wiederholen würde. Im Gegenzug habe ich versucht, aus jedem Bericht ungewöhnliche Details herauszupicken, intime Momente oder eine besondere Perspektive, die die Persönlichkeit des Porträtierten stärker hervortreten ließ. In den Porträts habe ich die Zeitzeugen in zahlreichen und teilweise umfangreichen Passagen zu Wort kommen lassen. Das war mir wichtig, denn ich wollte nicht nur über sie schreiben, sondern mit ihnen. Manchmal war es schwierig, weil mir Informationen fehlten oder ich dachte, dass ich im Interview ganz andere Fragen gestellt hätte, gerade auch bei den Frauen. Mit einigen tauschte ich mich telefonisch aus, bei anderen war es bereits zu spät. In solchen Situationen habe ich mich geärgert. Zuweilen war ich ratlos, weil ich nicht wusste, wie es mir gelingen kann, die teils sehr ausholenden Gedankengänge der Interviewten in eine kurze und prägnante Form zu bringen. Das Gelesene holte mich nach der Arbeit ein, am Abend oder am Wochenende. Es ließ mich, so wie es der Titel sagt, nicht mehr los. Manchmal saß ich beim Lesen fassungslos da, dann gerührt, oft wütend. Immer wieder war ich tief beeindruckt von der Kraft und der Solidarität, die die Menschen unter widrigsten Verhältnissen bewiesen haben. Und das ist für mich persönlich auch der eigentliche Wert dieser vielen Erzählungen neben der fast selbstverständlichen Mahnung, an das Unrecht zu erinnern. Es ist die Erkenntnis, dass die hier porträtierten Menschen selbst in einem diktatorischen System absoluter Willkür und unter unwürdigsten Bedingungen es sich nicht haben nehmen lassen, ihre Würde zu bewahren und auf einen unveräußerlichen Rest innerer Freiheit zu bestehen. Vor dieser Selbstbehauptung und dem Beharren auf Menschlichkeit habe ich höchsten Respekt.

Ich danke allen Zeitzeugen, dass sie sich zu den Interviews bereiterklärt haben, dass sie sich geöffnet und so viel Persönliches von sich preisgegeben haben. Dies wird nachfolgenden Generationen hoffentlich helfen, die Vergangenheit besser zu verstehen. Vielleicht kann es ihnen auch moralisches Rüstzeug bieten, um in einer von Extremismus gefährdeten Zukunft gut gewappnet zu sein.

Ich danke Utz Rachowski und Ralf Marten für die Interviews, für ihre Geduld und ihr Einfühlungsvermögen. Kathryn Babeck danke ich für die Unterstützung bei der Recherche und für die Durchsicht der Texte.

Nancy Aris

Quelle: Archiv LASD Sachsen, Foto: Ralf Marten

Von Schlesien nach Sibirien verschleppt: Else Thomas

Else Thomas wird am 16. Oktober 1926 im niederschlesischen Jarischau (heute Jaryszów) geboren. Sie wächst mit drei Geschwistern in einem christlich geprägten Elternhaus auf. Ihr Vater ist Meister in einem für die Region typischen Granitsteinbruch. Ihre Mutter ist Hausfrau. Mit Politik haben beide nichts am Hut. Else Thomas hat eine sehr behütete Kindheit und verbringt viel Zeit in der Natur, denn die Familie wohnt sehr abgelegen vom Dorf, mitten im Wald. Bis zur nächsten Ortschaft sind es vier Kilometer. Else Thomas besucht dort bis zur achten Klasse die katholische Volksschule. Darauf folgt das von den Nazis eingeführte Pflichtjahr. Danach nimmt sie eine Bürolehre im Heeresverpflegungsamt in Striegau (heute Strzegom) auf. »Für mich war damals das Leben als junger Mensch interessant, sehr abwechslungsreich und ich fand es nach heutiger Sicht für mich wirklich gut. Zwar waren die Strapazen für uns schon groß, weil wir so abgelegen wohnten und der Weg zur Schule und auch später zu meiner Lehrstelle ja sehr weit war. Meistens musste ich zu Fuß laufen. Vor allem der Winter war hart in Schlesien. Manchmal bedienten wir uns der Skier, um überhaupt in die Schule zu kommen. Trotzdem war es gut.«

Else Thomas arbeitet im Heeresverpflegungsamt bis die ersten sowjetischen Bomben auf Striegau fallen. Es ist eine chaotische Zeit, denn die Stadt wurde nicht rechtzeitig evakuiert. Verwandte aus Oberschlesien suchen bei der Familie Zuflucht vor der vorrückenden Roten Armee, im Kinderzimmer hat sich zugleich eine Einheit des Volkssturms verschanzt. »Wir standen dann früh vor der Frage, was wir machen. Hauen wir ab? Gehen wir jetzt wirklich auf die Flucht oder bleiben wir hier? Wir waren uns vorher einig mit den Verwandten, meine Oma war ja auch schon alt, die Tante schwanger, dass wir eigentlich nicht weg wollten, weil wir uns die Frage stellten, was wollen wir bei dem Wetter, bei der Kälte hier auf der Flucht? Wir sahen ja das Chaos der Flüchtlinge. Wir wollten bleiben. Bewegt hat uns doch, in letzter Minute unseren Wohnsitz zu verlassen, dass diese riesengroße Munitionsfabrik Mona bei uns gesprengt wurde – von den Nazis, den Hitlertruppen. Und da kriegten wir fürchterliche Angst und haben uns am 13. Februar um acht Uhr doch entschlossen, unseren Wohnsitz zu verlassen. Es war aber alles zu spät. Wir kamen nicht mehr zu dem Bahnhof, weil vor den Toren der Stadt Striegau bereits die russischen Panzer waren.«

Die Familie flüchtet nach Jarischau und kommt im Joseph-Stift unter. Es folgen Wochen des Schreckens, reihenweise werden Frauen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt, auch ihre Tante. Else Thomas entgeht nur um ein Haar einem Übergriff. Wochenlang versteckt sie sich tagsüber mit einem Dienstmädchen der Grauen Schwestern und ihrer Tante im Altarschrank der Kapelle. Am 12. März kommt die deutsche Front nach Jarischau zurück. »Wir sind immer ins Hinterland. Und da haben wir die Zustände erlebt, die der Krieg gezeichnet hat. Es waren so viel Tote. Die lagen rum, auch viel russische Soldaten. Also was ich dort an Toten gesehen habe, an Verwüstungen. Tote Tiere, Kühe, die nicht gemolken wurden. Es war ein trauriges Dasein.«

Gedicht einer Haftkameradin zur Weihnachtszeit mit einer Zeichnung vom Lager.

Die Familie kommt in einer Schule unter, wo sie von ersten Verhaftungen hört. Else Thomas will weiter, doch am Morgen wird sie mit ihrem Bruder von zwei sowjetischen Offizieren auf offener Straße, direkt vor der Kommandantur, verhaftet und anschließend verhört. »Wir standen früh zeitig an der Dorfstraße, direkt vor der Kommandantur, der russischen. Haben wir ja nicht gewusst. Da kamen dann zwei Offiziere auf uns zu und nahmen mich und meinen Bruder, der war jünger als ich, zur Kommandantur zum Verhör. Ja, da wurde gefragt, welcher Waffengattung mein Vater angehörte? Wie ich politisch, ob ich engagiert gewesen sei? Also BDM waren wir ja alle. Ja, und warum wir nicht geflüchtet seien? Wir hätten wohl im Hinterland, war ihre Meinung, die russische Front sabotiert?« Die Verhafteten müssen unter unmenschlichen Bedingungen in Dachkammern und Schweineställen ausharren. »Wir wurden dort behandelt, fürchterlich, wie Verbrecher, zu essen gab es kaum was, es gab nur Pellkartoffeln, nicht mal für jeden eine, zu trinken gab es auch kaum was.« Dann werden sie in eine Sammelstelle ins Beuthener Gefängnis gebracht. Auch dort ist die Unterbringung schlecht. »Dann wurden wir zu zwölft abgezählt und gelangten in eine Einmannzelle für vierzehn oder zwölf Frauen, wo wir vierzehn Tage lang verharren mussten. Wir wurden schon befallen von Ungeziefer. Manche wurden schon krank. Das Essen war so knapp, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Es gab gerade so viel, dass man noch leben konnte.« Ostern 1945 wird sie im Viehwaggon nach Sibirien deportiert. Unter den rund 2.000 Gefangenen befinden sich 150 Frauen oder junge Mädchen. Sechzig Frauen werden in einem Waggon zusammengepfercht. Die Zugfahrt dauert vier Wochen. Das Ziel heißt Kemerowo. Dort kommt sie in ein Kriegsgefangenenlager mit deutschen und japanischen Häftlingen und muss in einer Ziegelbrennerei arbeiten. »Wir wurden dann untersucht, wer nun arbeitsfähig ist und wer nicht. Ich habe, nachdem ich das Elend dort sah und nicht in die Krankenbaracke wollte, mich freiwillig zur Arbeit gemeldet. Wir wurden dann eingeteilt in die Arbeitskommandos und mussten zwölf Stunden arbeiten mit wenig Essen. Ich war in der Ziegelei tätig, musste mit so Kiepen acht Steine schleppen, und da können Sie sich ja vorstellen, wie lange es gebraucht hat, um so einen Riesenwaggon zu beladen. Wir kriegten durch die scharfen, aus dem Ofen kommenden Ziegelsteine immer blutige Hände. Damit mussten wir einfach leben.« Else Thomas muss viereinhalb Jahre in diesem Lager zubringen, mal muss sie in der Kolchose arbeiten, dann am Bahndamm, hin und wieder im Bau. Sie wird zu Schachtarbeiten eingesetzt, leistet Schwerstarbeit, sieben Tage die Woche, im Winter bei minus vierzig Grad. Wie durch ein Wunder bleibt sie die gesamte Zeit von den grassierenden Krankheiten wie Typhus und Cholera verschont. Im Lager darf sie sich frei bewegen. Außerhalb des Lagers lernt sie bei Baumaßnahmen Russlanddeutsche kennen, die ebenfalls nach Sibirien deportiert wurden. Der Hunger ist allgegenwärtig. Else Thomas bettelt, obwohl sie sich schämt, sammelt Holz, um es gegen Essen zu tauschen. Auch die Russen helfen, obwohl sie selbst nichts haben. Trotz elender Lebensbedingungen behält Else Thomas ihren Lebensmut, denkt in die Zukunft. Trost findet sie im Singen. »Aber wir haben, und das muss ich sagen, immer wieder versucht, uns Mut zuzusprechen, indem wir viel gesungen haben. Und man hat mir gesagt, dass das Singen beim Menschen in der schweren Zeit, auch überhaupt, das Singen einem immer ein bisschen Kraft und Lebensmut gibt.« Sie trotzt so den unerträglichen Bedingungen, die sie kaum aushält. »Die Unterbringung in den ersten Jahren war furchtbar. Wir haben auf blankem Holz geschlafen. Es gab keine Decken, es gab nichts. Man hat sich nur das untern Kopf legen können, was man anhatte. Die meisten hatten wenig anzuziehen, weil sie nichts dabei hatten, als sie auf der Straße verhaftet wurden. Ich habe mir durch meine ständige Flucht immer etliche Kleider übergezogen, so dass ich mit mehreren Kleidern und anderen Pullovern dort in Sibirien gelandet bin. Ich konnte manchen Frauen auch noch aushelfen mit Kleidern, selbst später, als wir tanzen durften. Das Ungeziefer, das war furchtbar. Das war wie eine Pest, wie Haustiere. Die Mäuse, die Ratten, die Wanzen, die am Abend, wenn wir uns hingelegt haben, uns keine Ruhe ließen und manchmal, wenn wir nicht aufgepasst haben, unseren Kanten Brot noch fraßen. Aber die Läuse, die waren noch viel schlimmer. Um nicht die Haare zu verlieren, wir waren etwas eitel, immer noch, trotz alledem, wir wollten nicht verkommen, wollten nicht verkommen sein, wir hatten doch noch Lebensmut, wir wollten nach Hause und haben uns immer wieder was vorgegaukelt, haben also immer wieder erzählt von zu Hause, von unserer Jugend. Ja, und dann haben wir uns also gesagt, wir müssen uns vor den Läusen retten. Wenn man da nichts unternahm, hätten sie uns aufgefressen. Die haben sich ins Fleisch festgebissen. Es entstanden Geschwüre und da sind manche auch daran gestorben. Ich wollte keine Glatze haben und schon aus dieser Angst haben wir jeden Tag gelaust, Kleiderläuse, Haarläuse, alles.« Mit der Zeit bessern sich die Bedingungen etwas, einige Häftlinge gestalten Kulturprogramme, spielen Theater, musizieren. Im Speisesaal darf ab und zu getanzt werden. Mit Papierrollen drehen die Frauen sich Locken. Trotz Lager wollen sie schön sein. Else Thomas hat Kontakt zu anderen Häftlingen, darunter jene, die Ende 1947 aus den sowjetischen Speziallagern zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. Eine große Stütze sind Gedichte anderer Häftlinge, die Else Thomas sich einprägt und bis heute beherrscht.

Postkarte an die Eltern, 22. November 1947

Abschrift

Meine Lieben!

Karte vom 23.10. erhalten. Freude war groß. Freue mich auf eine Photografie. War Hannchen bei Euch? Sorgt Euch nicht um mich. Ein lieber Mensch steht mir zur Seite.

Viele liebe Grüße + Küsse

Euch meine Lieben

Eure Tochter

Else

Entlassungsschein von Else Thomas, 22. Oktober 1949.

Noch wichtiger ist der Zusammenhalt, die Kameradschaft unter den Leidensgenossen. »Für uns war es ein schweres Leben, diese Strapazen auszuhalten, diese Kälte, diese Hungersnot, dieses Ungeziefer, ja, die Ungewissheit, wann komme ich nach Hause. Und da waren einfach solche Dinge für uns wichtig, dass wir zusammenhielten, dass wir Disziplin wahrten, dass wir uns auch Freude untereinander gemacht haben, Kumpels waren, geteilt haben, soweit es möglich war. Also da war eine echte Kameradschaft.« 1947 erfährt Else Thomas über das Deutsche Rote Kreuz, dass ihre Eltern noch leben. Auch diese Nachricht hilft ihr, den schweren Alltag zu überstehen.

Else Thomas, Anfang der 1950er Jahre.

Im Herbst 1949 mehren sich die Gerüchte, dass es nach Hause geht. Und tatsächlich, die Frauen werden aus den Nebenlagern in das große Hauptlager gebracht. »Da waren wir so traurig. Ich denke heute noch daran, dass dort in Kemerowo zuerst die Kriegsgefangenen heim durften und wir Frauen, die wir gar nichts gemacht haben, wir saßen bis zum Schluss.«

Else Thomas geht zurück zu ihren Eltern, die mittlerweile in der Nähe von Leipzig leben. Doch Heimkehr und Neuanfang gestalten sich schwer. Else Thomas hat kaum etwas anzuziehen, sie traut sich nicht aus dem Haus, ist verängstigt und scheu. Die Nachbarn sind solidarisch. Sie helfen, wo sie können. 1950 beginnt Else Thomas in Borna eine Arbeit bei der Konsumgenossenschaft. Weil sie keinen Abschluss hat, qualifiziert sie sich nach und nach in vielen Lehrgängen weiter. Später absolviert sie die Fachhochschule für Binnenhandel in Dresden.

1960 lernt sie in Leipzig ihren zukünftigen Mann kennen, heiratet ihn und gründet eine Familie. Zwei Kinder werden geboren. Sie arbeitet bis ins Rentenalter in der Konsumgenossenschaft. Else Thomas führt ein angepasstes Leben, um nicht aufzufallen. Nur mit ehemaligen Haftkameraden spricht sie über ihr Haftschicksal. Erst nach dem Mauerfall bricht sie ihr Schweigen. Sie engagiert sich im Bund der stalinistisch Verfolgten und ist bis ins hohe Alter als Zeitzeugin aktiv. Für eine angemessene Würdigung des erlittenen Unrechts und die strafrechtliche Rehabilitierung der Zivilverschleppten, die den Weg zu Ausgleichszahlungen eröffnet, kämpft Else Thomas jahrelang ohne Erfolg. Erst am 6. Juli 2016 erfährt sie eine kleine Genugtuung. Wenn sie auch nicht rehabilitiert wird, so billigt der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die »Richtlinie über eine Anerkennungsleistung ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter«. Demnach können Zivilpersonen, die aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit kriegs- oder kriegsfolgenbedingt im Ausland zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, eine Ausgleichszahlung von 2.500Euro erhalten. Else Thomas hat diese Leistung beantragt und erhalten. Diese Anerkennung ist ihr wichtig.

Else Thomas lebt heute in Leipzig.

Zivilverschleppte

Bereits um die Jahreswende 1944/45 – also noch vor Kriegsende – deportierte der sowjetische Geheimdienst NKWD über 600.000 deutsche Zivilisten in die Sowjetunion, darunter viele Frauen. Gemäß dem Deportationsbefehl sollten Männer im Alter von 17 bis 55 und Frauen im Alter von 18 bis 32 Jahren erfasst werden. Die Deportation der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung begann in den deutschen Minderheitsgebieten auf dem Balkan. Die Gruppe der »Reparationsverschleppten« sollte zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden beitragen. In sibirischen Lagern mussten sie die deutsche Kriegsschuld abarbeiten. Mit dem Vorrücken der Roten Armee in die damaligen deutschen Ostgebiete wurden die Deportationen fortgesetzt und erst an der zukünftigen Oder-Neiße-Grenze gestoppt. Diese Zivildeportationen wurden auf der Konferenz von Jalta von den Alliierten als sogenannte reparations in kind legitimiert. Mehr als ein Drittel der Deportierten kehrte nicht zurück, starb an Schwäche und Unterernährung oder schon während des Transports im Viehwaggon. Die anderen hielt man gefangen, solange sie arbeitsfähig waren. Dann wurden sie, von Krankheiten gezeichnet und bis auf die Knochen abgemagert, nach Deutschland entlassen.

Da die zivilverschleppten Personen in der Sowjetunion nicht verurteilt wurden, konnten sie nach ihrer Heimkehr keine Rehabilitierung erwirken. Erst im Jahr 2007 beschloss der Deutsche Bundestag das Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetz, nach dem Zivildeportierte eine einmalige Zahlung von 3.000Euro für das ihnen widerfahrene Unrecht hätten erhalten sollen. Dieser Beschluss wurde jedoch rückgängig gemacht, so dass finanziell bedürftige ehemalige Zivildeportierte nur bei der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge in Bonn Unterstützungszahlungen beantragen konnten. Nach langen Kämpfen billigte am 6. Juli 2016 der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die »Richtlinie über eine Anerkennungsleistung ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter«. Zivilpersonen, die aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit kriegs- oder kriegsfolgenbedingt zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, können bis zum 31. Dezember 2017 eine Ausgleichszahlung von 2.500Euro beantragen.

Daniela Hendel: Zivildeportationen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 in die Sowjetunion, Berlin 2005.

Freya Klier: Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern, Berlin 1996.

www.vertriebene-frauen.de

Quelle: Archiv LASD Sachsen, Foto: Ralf Marten

Meine Nummer war die 80403: Eberhard Hoffmann

Eberhard Hoffmann wird am 19. Januar 1928 in Burgstädt geboren. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf, sein Vater ist Justizangestellter, seine Mutter Näherin. Sein Vater wird 1942 zur Wehrmacht eingezogen, so dass Eberhard Hoffmann die letzten drei Kriegsjahre allein mit seiner Mutter verbringt. Er besucht die Volksschule und Mittelschule und wird 1944 mit der mittleren Reife entlassen. Mit sechzehn wird er gemustert, aber noch nicht kriegsverwendungsfähig geschrieben. Deshalb wird er vorerst in der Hitlerjugend notdienstverpflichtet und arbeitet im Büro der Standortverwaltung Burgstädt. Eberhard Hoffmann ist Angehöriger der Flieger-HJ, 1943 hat er die Segelflugprüfung A gemacht, im Januar 1945 wird er Fähnleinführer. Die Jugendlichen werden im Nachbarort für den Volkssturm ausgebildet: zwei, drei Tage an MG und Panzerfaust. Genau einen Tag bevor die Amerikaner in Burgstädt einmarschieren, wird Eberhard Hoffmann am 13. April eingezogen. Schon am nächsten Tag gerät er in Kriegsgefangenschaft und wird bis über den Rhein, nach Bad Kreuznach, in ein Lager gebracht. Im Juni schmuggelt er sich in das Entlassungscamp und kehrt nach Hause zurück. In Chemnitz beginnt er eine Ausbildung als Zimmerer.

Am 13. Oktober 1945 wird er zu Hause vom Bürgermeister und dem Polizeichef verhaftet, die ihn den Sowjets übergeben. »Ich wurde danach gefragt, wann ich in die Schule kam. Er sagte: ›Wann du in Schule?‹ Ich hab gesagt, dass ich 1934 in die Schule gekommen bin. ›Nein, wann du in Schule?‹ Ich sage, ich bin 1928 geboren, bin ich also 1934 in die Schule gekommen. ›Nix, wann du in Werwolfschule?‹ Und da hab ich für einen Moment gedacht, da kann dir ja überhaupt nichts passieren. Mit dem Werwolf hast du ja nie was zu tun gehabt, also in keiner Weise, in keiner Phase. Und daraufhin habe ich gesagt: Ich war in keiner Werwolfschule. ›Wann du in Werwolfschule Hartmannsdorf‹, also Hartmannsdorf, der Nachbarort hier. Das stimmte nun wieder überein mit der Ausbildung für den Volkssturm. Da wurde die Ausbildungsschule praktisch zur Werwolfschule erklärt und damit war man automatisch Werwolf.«

Eberhard Hoffmann wird nach Rochlitz ins Schlossgefängnis gebracht, wo er brutale Verhöre ertragen muss. »Es endete auf jeden Fall, dass man ein Protokoll unterschreiben musste, was in Russisch geschrieben war, was man auch nicht vorgelesen bekam. Also ich habe das ohne weiteres unterschrieben. Was da drin stand, kann ich natürlich nicht sagen. Man war dann froh, dass man, sagen wir mal, nach der Unterschrift wieder rauskam.« Anfang November kommt er ins Lager Mühlberg, ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager, das nun von den Sowjets als Speziallager genutzt wird. Er kennt den Ort nicht, weiß nicht, was auf ihn zukommt. »Das Erste, was uns dort begegnete, war die Jauchekolonne. Und zwar waren das sechs oder acht Jauchewagen und Personen, die gezogen und geschoben haben. Die auch schon zerlumpte Sachen anhatten. Also es war ein ganz fürchterlicher Anblick, und dort war so mein erster Gedanke: Das ist ein Straflager, und hier musst du wahrscheinlich den ganzen Tag mit so einem Wagen durch die Gegend ziehen.«

Innenansicht einer Baracke im Lager Mühlberg.

Quelle: Eberhard Hoffmann, Zeichnung: Walter Reiche

Die Häftlinge sind sich selbst überlassen, nicht einmal ein Essensgefäß erhalten sie. »Das Schlimmste war, dass man weder einen Löffel noch ein Essgeschirr hatte. Da hat man erfahren, dass man versuchen soll, sich irgendwie im Lager was zu organisieren. Zu der Zeit, wo ich dort hingekommen bin, da waren schon keine brauchbaren Büchsen mehr vorhanden, und da haben wir uns geholfen mit einer Ofenkachel. Das war so eine abgewinkelte, so eine Eckkachel, und da ging immer gerade so der dreiviertel Liter Essen rein. Der schwappte so halb über, und dadurch, dass die Kachel auch sehr porös war, saugte das ja auch schon Feuchtigkeit auf.«

Das Leben im Lager ist militärisch organisiert. Insgesamt befinden sich über 10.000 Insassen dort. Eberhard Hoffmann ist ein Internierter. Er ist nicht verurteilt und weiß daher nicht, wie lange er in Mühlberg bleiben muss. Das Essen ist in der Anfangszeit eintönig, aber gerade so ausreichend. Die Einrichtung der ehemaligen Kriegsgefangenenbaracken ist spartanisch.»Die Sowjets haben die Baracken umbauen lassen. Es gab keine Betten, sondern durchgehende Doppelpritschen, Liegepritschen. Dort hatte jeder Platz – zwischen fünfzig und sechzig Zentimeter als Liegeplatz. Ansonsten bestand die Einrichtung aus Holzbänken und einfach gezimmerten Holztischen. Es waren auch zwei gemauerte Öfen drin. In vielen Baracken fehlte die Zwischendecke, so dass im Winter dort Eiszapfen hingen.« Auch die sanitären Einrichtungen sind schlecht. Es gibt Großlatrinen und einfache Rohre, aus denen Wasser fließt, alles ohne Waschbecken. »Das Schlimme war, wir durften ja nichts besitzen. Und zu dem Nichts gehörte auch kein Papier. Man musste sich helfen, indem man aus dem Hemd ein Stück Stoff rausgetrennt hat. Und das hat man praktisch zur Reinigung benutzt. Man musste das hinterher mit kaltem Wasser auswaschen, und da man ja auch keine Möglichkeit hatte, das irgendwo hinzutun, hat man das in der Tasche mit rumgetragen. Von der Seite her waren Infektionskrankheiten natürlich vorprogrammiert.«

Eberhard Hoffmann erlebt den Lageralltag als einzige Langeweile. Täglich mehrere, oft stundenlange Zählappelle, das Barackenräumen und das ewige Warten auf die nächste Mahlzeit strukturieren den allzu zähen Tagesablauf. »Nach dem Mittagessen war wieder Langeweile angesagt. Und das war für alle mit das Schlimmste. Die Beschäftigungslosigkeit. Man hat versucht, sich da selber zu helfen. Also wir jungen Kerle, wir haben natürlich dann auch alles gemacht, was verboten war, oder versucht, das zu machen. Also ich erinnere mich, ich hab dort Skat spielen gelernt. Und die Karten bestanden aus Dachpappe mit, was weiß ich, RA war Rot Ass oder so was. Kann ich mich heute nicht mehr so genau erinnern. Und da haben wir so lange gespielt, bis uns bei einer Razzia alles weggenommen wurde. Und dann wurde sich wieder irgendwie beholfen. Man hat versucht, sich zu beschäftigen. Es waren ja bei den Älteren Professoren dabei, Hochschullehrer und Rechtsanwälte und Richter und Polizisten und Bürgermeister, und da waren natürlich auch viele in der Lage, aus ihrem Berufsleben oder von ihren Erlebnissen, von ihren Reisen zu erzählen. Wir hatten hier auch Leute vom Film. Ich erinnere mich an den Jakubowski. Das war so ein Filmregisseur. Der kannte die Filme aus dem Effeff.

Zeichnung eines Häftlings vom Außengelände des Lagers Mühlberg.

Quelle: Eberhard Hoffmann, Zeichnung: Walter Reiche

Er hat praktisch die Filme geschildert, so dass man das miterlebt hat. Oder es gab Leute, die Romane erzählt haben. Oder eben auch die ein bisschen künstlerisch veranlagt waren, wo man dann angefangen hat, aus dem ›Faust‹ den ›Osterspaziergang‹ zu lernen. Also ich konnte den ehrlich gesagt auch aus dem Effeff. Es gab ja in Mühlberg ein recht ordentliches Lagertheater. Wir hatten einen Kommandanten, der war künstlerisch veranlagt, fast kulturbesessen. Ursprünglich war das gedacht für die sowjetische Garnison. Da wurde also ein Theater aufgebaut. Und da hat der – wir hatten ja viele Leute aus dem Vogtland hier, aus Klingenthal – Leute aufgeladen, nach Hause gebracht, und da mussten die Musikinstrumente holen. Ich weiß nicht, ob Hans Wolfgang Sachse ein Begriff ist? Der war Chef des Kurorchesters in Bad Elster. Und der baute ein Orchester, richtiges Orchester auf. Und nun wollten die Russen, die wollten ja auch tanzen, und da wurde eine Tanzkapelle aufgebaut, und damit sind die sogar nach Mühlberg in den Gasthof und haben dort zum Tanz gespielt, und hinter der Bühne haben die Bewacher mit der MP gesessen, damit also keine Kontakte zustande kamen. Und anschließend haben die uns wieder ins Lager reingefahren. Für die Inhaftierten war es eine willkommene Abwechslung, wobei das auch unterschiedlich war. Man hatte auf der einen Seite im Theater die Belustigung, auf der anderen Seite das Massensterben. Und da gab’s auch eine ganze Reihe Leute, die sich geweigert haben, überhaupt in das Theater zu gehen. Für uns junge Leute war das natürlich eine willkommene Sache. Ich hab manche Sachen vielleicht zehnmal gesehen.«

Entlassungsbescheinigung für Eberhard Hoffmann aus dem Internierungslager, Februar 1950.

Quelle: Eberhard Hoffmann

Im Winter 1946 ändert sich die Versorgungslage dramatisch, denn am 5. Dezember 1946 wird die Verpflegung in Mühlberg um die Hälfte reduziert. »Mit dem Moment begann eigentlich in Mühlberg das Massensterben. Dort sind dann innerhalb von einem Vierteljahr rund 2.000 Leute gestorben. Und da konnte man sich faktisch ausrechnen, wann das Lager leer ist.« Die Alten und Kranken sterben in diesem Hungerwinter zuerst, dann trifft es die Gefangenen quer durch die Bank. Insgesamt sterben 7.000 Gefangene, etwa jeder Dritte. 1948 wird das Speziallager Mühlberg aufgelöst. 6.500 Insassen werden entlassen, der Rest, etwa 3.500 Gefangene, kommt nach Buchenwald.

Eberhard Hoffmann wird aufgefordert, seinen Entlassungsschein zurückzugeben. Die Erinnerung an die Internierungslager soll getilgt werden.

Quelle: Eberhard Hoffmann

Auch Eberhard Hoffmann. Die Verhältnisse sind dort etwas besser, doch die Unfreiheit noch größer.

»Buchenwald, also die hygienischen Verhältnisse, die waren in Buchenwald wesentlich besser. Weil die Ausstattung während der KZ-Zeit, die war komfortabler als im Kriegsgefangenenlager. Dazu kam, dass die Gebäude des KZs erhalten geblieben sind, so wie sie waren, also nicht geplündert worden waren. Demgegenüber war die Bewegungsfreiheit in Buchenwald wesentlich eingeschränkter. Während in Mühlberg ursprünglich das ganze Lager frei begehbar war und erst später Zonen abgeteilt wurden, war in Buchenwald jede Baracke noch mal einzeln abgetrennt, so dass praktisch ein Gefängnishof zum Auslauf entstand. Das war wesentlich unangenehmer. Ansonsten waren die Verhältnisse ähnlich. In Buchenwald waren kleinere Räume: Holzbetten mit Strohsäcken. In Mühlberg hatten wir auf blanken Brettern gelegen. Also in Buchenwald waren dann wenigstens Strohsäcke vorhanden. Das Schlimme war bloß, dass die derartig verwanzt waren. Also das war eine ungeheure Plage und für mich persönlich ein unheimliches Grauen.«

Die ganzen Jahre hat Eberhard Hoffmann keinen Kontakt zu seiner Familie, weiß nichts von seinen Eltern, darf nicht schreiben. »Es gab ja eine absolute Isolierung, es gab keine Verbindung. Ich persönlich habe in allen viereinhalb Jahren nichts, nicht das Geringste von zu Hause gehört und gewusst. Und umgekehrt ja genauso. Mir ist nicht gelungen, irgendwelche Kassiber rauszubringen. Am Anfang ist es vielen gelungen, ein kleines Zettelchen mit Adresse und teilweise auch größere Dinge rauszubringen. Es gab die Engel von Mühlberg und Neuburxsdorf, das waren Frauen, die gekommen sind und geguckt haben, ob irgendwo was ist und das dann nach Hause geschickt haben. Aber sonst war absolut keine Verbindung da.«

Im Februar 1950 wird Eberhard Hoffmann endlich entlassen. Doch die Entlassungsprozedur verlangt ihm Geduld ab und hält bis zum Schluss einigen Nervenkitzel bereit. »Also in Buchenwald begannen Mitte Januar 1950 die Entlassungen. Die gingen nach der sogenannten Registriernummer. Meine Nummer war die 80403. Man dachte, jetzt müsste man dran sein, aber es wurden immer welche übersprungen. Und nach einer Zeit gingen dann Gerüchte rum, dass die Übersprungenen nicht entlassen werden, sondern nach Waldheim kommen. Und ich bin auch mit übersprungen worden an diesem Tag, wo ich dran gewesen wäre. Also das war eine ganz harte Zeit. Der erste Transport nach Waldheim war bereits abgegangen. Und da war die Gefahr unheimlich groß, wieder mit dabei zu sein. Ich hatte mich schon so gut wie abgefunden an diesem 10. Februar, da waren die Baracken schon wieder verschlossen. Aber dann klapperten noch mal die Schlüssel, und da hab ich gedacht, also jetzt oder nie. Und tatsächlich wurde ich mit aufgerufen und bin dann am 11. Februar entlassen worden.«

Eberhard Hoffmann fährt zu einer Tante nach Weimar und kehrt dann nach Burgstädt zurück, wo er seine Familie wohlbehalten vorfindet. Auch sein Vater ist mittlerweile aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. »Na ja, das Wiedersehen kann man sich vorstellen. Das war natürlich für alle ergreifend. Die erste Zeit ist mir unheimlich schwergefallen. Ich bin auch die ersten Tage so gut wie nicht aus dem Haus gegangen. Ich hab eine ganze Weile gebraucht, auf jeden Fall Wochen, bevor ich wieder einigermaßen Verbindung zur Zivilisation bekommen habe. Man hat ja viereinhalb Jahre von der Außenwelt nichts gehört, man hat verlernt, mit Messer und Gabel zu essen, und das sind bloß praktische, ganz einfache Dinge. Ich kann mich erinnern, das war gleich der erste Abend, da hatten meine Eltern einen Bückling. Ich wusste nicht, wie ich den essen soll. Ich bin da fast erstickt dran. Also das kann man sich nicht vorstellen, wie man da völlig entwöhnt war von vielen Dingen.«

Eberhard Hoffmann in den 1950er Jahren.

Quelle: Eberhard Hoffmann

Eberhard Hoffmann gewöhnt sich wieder ein und arbeitet zunächst als Maurerumschüler, um nicht zur Wismut zwangsverpflichtet zu werden. In nur einem Jahr und drei Monaten legt er die Gesellenprüfung ab, und nach drei Jahren hat er den Meisterbrief in der Tasche. Im Abendstudium qualifiziert er sich dann zum Bauingenieur weiter. Beruflich läuft es gut, auch wenn er nicht bereit ist, in die Partei einzutreten. Er erzählt seinem Betriebsdirektor von Buchenwald. Daraufhin lässt man ihn in Ruhe, man schätzt seine Qualifikation. 1953 heiratet er und wird Vater. Die Familie entscheidet sich dafür, in der DDR zu bleiben. Eberhard Hoffmann verschweigt seine Zeit im Lager nicht. Als er in die Produktionsleitung aufsteigt, gerät er in den Fokus der Staatssicherheit. Sie lädt ihn mehrmals vor und versucht, ihn anzuwerben, doch ohne Erfolg.

Eberhard Hoffmann hält bereits zu DDR-Zeiten engen Kontakt zu seinen ehemaligen Haftkameraden. Nach 1989 engagiert er sich in der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V., in deren Vorstand er seit 1991 arbeitet. Im Jahr 2006 wird ihm für sein ehrenamtliches Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. Noch mit 85 Jahren führt er Schülergruppen über das ehemalige Lagergelände, verschickt Gedenkstättenrundbriefe, wirbt Spenden ein, organisiert und leitet die jährlichen Arbeitseinsätze und bereitet das jährlich im September stattfindende Gedenktreffen vor.

Werwolf

Der Werwolf als nationalsozialistische Partisanenbewegung wurde vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler, im September 1944 als »letztes Aufgebot« ins Leben gerufen. Neben dem Volkssturm sollten die Werwölfe als Freischärler-Verband Sabotageakte gegen die vorrückenden Armeen durchführen, hinter den feindlichen Linien aus dem Hinterhalt agieren und kriegsmüde Deserteure und Verräter in den eigenen Reihen ausschalten. Der Begriff »Werwölfe« tauchte erstmals am 28. Oktober 1944 in einer Rede Himmlers vor Angehörigen des ostpreußischen Volkssturms auf. Da der Aufruf zur Bildung einer solchen Untergrundorganisation und den entsprechenden Spezialeinheiten erst kam, als alliierte Truppen bereits auf deutschem Boden standen, bildeten sich nur wenige Gruppen. Neben der Rekrutierung der verdeckten Kämpfer aus den Wehrmachtsverbänden sollten Freiwillige in der zivilen Bevölkerung gefunden werden. Am Ostersonntag, dem 1. April 1945, verlas Goebbels einen Rundfunkappell, in dem er den Werwolf als »spontane Untergrundbewegung« bekannt machte und Unterstützung einforderte. Die geforderte Bildung von Werwolfverbänden fand jedoch nur geringe Resonanz. Eine Bewegung, in der sich, wie von Goebbels gefordert, die ganze Bevölkerung versammeln sollte, kam nicht ansatzweise zustande. In einigen Gebieten gab es Einzelaktionen. Werwölfe legten Feuer oder ermordeten Zivilisten, denen sie »ehrlosen Verrat« vorwarfen. Vieles wurde aber propagandistisch aufgebläht. Aktionen, wie die Ermordung des Aachener Bürgermeisters Oppenhoff, die aufs Konto der SS gingen, wurden den Werwölfen zugerechnet, um sie als allseits schlagkräftige Bewegung zu präsentieren und die Angst zu schüren. Nach Hitlers Tod untersagte Karl Dönitz, Oberbefehlshaber der Wehrmacht, am 5. Mai 1945 weitere Werwolf-Aktionen als illegale Kampftätigkeit. Die Alliierten waren von der »Werwolf«-Propaganda dennoch verunsichert. Obwohl sie kaum auf die erwarteten Partisanen stießen, brach in dem von den Sowjets befreiten Gebiet eine regelrechte »Werwolf«-Hysterie aus. Tausende Jugendliche wurden aufgegriffen und als vermeintliche Partisanen in sowjetische Speziallager verbracht.

Volker Koop: Himmlers letztes Aufgebot: Die NS-Organisation »Werwolf«, München 2008.

Quelle: Archiv LASD Sachsen, Foto: Ralf Marten

Fünf Todesurteile für eine Anstecknadel: Margot Jann

Margot Jann wird am 2. September 1926 als Margot Senf in Großröhrsdorf geboren. Sie hat eine behütete Kindheit, trotz Krieg. Besonders ihre Freunde, zu denen sie ein sehr enges Verhältnis hat, prägen diese Zeit. Sie verbringt viel Zeit mit den Jungs aus der Nachbarschaft. Die Kinder sind viel draußen, denken sich Spiele aus oder üben im Garten Armbrustschießen. Später unternimmt sie eher mehr mit ihren Freundinnen, häufig übernachten sie zusammen. Sie alle sind beim Jungvolk und bei den Jungmädchen, haben Spaß an den gemeinsamen Aktionen. Als ihr Schuldirektor am 10. November 1938 die Zerstörung eines jüdischen Ladens lobt, ist die Gruppe entsetzt. Margot Jann besucht die Volks- und Mittelschule. Als ihre Freundinnen zur höheren Handelsschule nach Pulsnitz wechseln, geht sie notgedrungen mit, um nicht allein zu bleiben. Sie macht eine Lehre als Bankkauffrau. Dann arbeitet sie in der Stadtbank Großröhrsdorf. Das Kriegsende erlebt sie als äußerst brutal. Die Russen scheinen der ihnen vorgesetzten Nazipropaganda tatsächlich zu entsprechen: willkürliche Erschießungen, Vergewaltigungen und Gewalt erlebt Margot Jann hautnah. Sie hat Angst, weil zunehmend auch Männer aus ihrem Ort spurlos verschwinden. Die Jugendlichen kommen zusammen und denken über ihre Zukunft nach. »Tja, und da saßen wir nun und sagten: ›Was soll das nur werden? So kann das doch nicht weitergehen. Wir sind ja vollkommen rechtlos, wir müssen nur immer zittern, müssen Angst haben. Wir haben den Krieg verloren, aber man muss uns zumindest wie Menschen behandeln.‹ Und hier hatten wir das Gefühl, dass wir nicht wie Menschen behandelt werden. Es war so, dass sich immer wieder Menschen das Leben nahmen. Einige von ihnen kannten wir recht gut. Aber was konnte man tun? Alles, was wir überlegten, hatte eigentlich wenig Sinn, und wir fühlten uns schwach. Da haben wir gesagt: ›Wir müssen abwarten. Wir müssen sehen, wie es weitergeht. Irgendwie muss es ja besser werden.‹ Im Krieg hatte uns meine Freundin ein Abzeichen genäht: eine grüne Anstecknadel als Zeichen unserer Hoffnung. Irgendwann musste der Krieg ja ein Ende haben. Nun hatte sie uns wieder ein Abzeichen genäht. Ein grünes Band für unsere Hoffnung, dass alles besser werden musste. Und ein blaues, das bedeutete, dass wir fest zusammenhalten wollen. Denn wenn wir zusammenhalten, dann können wir alles viel besser ertragen.« Die Situation normalisiert sich in den folgenden Monaten, Übergriffe werden von den Besatzern geahndet, bei ihren Großeltern erlebt Margot Jann Offiziere, die sich vollkommen normal verhalten. Erste Tanzveranstaltungen finden statt. Das Leben scheint wieder in Gang zu kommen. Auch der Freundeskreis trifft sich regelmäßig, doch die Jugendlichen meiden ein neu in die Gruppe gekommenes Mädchen wegen ihrer engen Kontakte zu den Russen. Zu einer Geburtstagsfeier wird sie bewusst nicht eingeladen.

Brunhilt Gebler und Margot Senf (heute Jann) vor ihrer Verhaftung, um 1945.

Quelle: Margot Jann

»Wir waren froh, dass die nicht eingeladen wurde, denn wir mochten mit ihr nichts mehr richtig zu tun haben. Die war uns unheimlich, weil die immer mit den Russen verkehrte. Tja, und da sagte sie zu meiner Freundin: ›Das vergesse ich den Jungens nicht.‹

Es war eine sehr schöne Feier und wir waren wieder ein richtig großer Kreis, wie vor dem Krieg. Und auf einmal, es war im September, den 22. oder 23. September, da hieß es, unsere drei Jungs, die sind weggeholt worden. Aber wir sahen keine Verbindung dazu. Das, was wir mal erzählt hatten, das konnte keiner wissen. Und getan hatten wir ja auch nichts.« Keine zwei Wochen später wird auch Margot Jann verhaftet. »Und ich komme am 2. Oktober nach Hause. Ich will mich von meinem Freund verabschieden, da steht eine Frau vorm Haus, eine Nachbarin, und sagt: ›Du Margot, geh da mal nicht rein. Bei euch sind die Russen. Ich glaube, die wollen dich holen. Brunhilt ist im Übrigen auch schon da.‹ Mein Freund sagt: ›Hier gehst du auf gar keinen Fall rein. Du gehst jetzt sofort wieder mit mir zurück.‹ Aber ich dachte natürlich, meine Freundin Brunhilt ist da. Meine Eltern, die werden sich sorgen, und ich hab ja nichts gemacht. Warum soll ich denn nicht reingehen? Und ich gehe rein. Schon allein, weil meine Freundin da war. Und da sind ein Offizier und ein Dolmetscher, sie unterhalten sich gut mit meinen Eltern, mit der Freundin auch. Keine bedrohliche Stimmung, gar nichts. Und sie sagen, ›Ach, Ihre Tochter, lassen Sie doch die mal mitgehen, wir haben nur eine ganz kurze Befragung und morgen früh sind die Mädchen sowieso wieder hier. Das versprechen wir Ihnen.‹«

Margot Jann kommt mit ihrer Freundin Brunhilt in jene Villa, von wo aus so viele Menschen verschwinden. Beide werden getrennt, und man sperrt sie in die leere, verdunkelte Küche. In den ersten Verhören wirft man ihr neben ihrer Kritik an den Vergewaltigungen vor, eine Gruppierung gegründet, Flugblätter verteilt und sogar Anschläge geplant zu haben. Man setzt ein Protokoll auf und verlangt eine Unterschrift von ihr, doch Margot Jann weigert sich.

»Das unterschreibe ich nicht. Das stimmt ja überhaupt gar nicht. Und wollten Sie mich nicht nach Hause lassen? ›Ja, wenn Sie unterschreiben. Das liegt alles nur an Ihnen.‹ Da kam ich wieder in meine Küche und war den ganzen Tag allein in der Dunkelheit. Und so ging es weiter. Sie waren gar nicht mehr nett und sagten, ich sei ein ganz gefährlicher und sturer Typ. Alle anderen hätten unterschrieben, nur ich nicht. Wenn das so weiterginge, dann müsste man mich nach Sibirien bringen. Aber ich konnte das nicht unterschreiben. Und dann sagten sie zu mir: ›Ihre Mutter ist schwerkrank, und wenn Sie hier unterschreiben, dann kommen Sie nach Hause, und wenn Sie nicht unterschreiben, dann müssen Sie damit rechnen, dass Ihre Mutter stirbt und Sie haben Schuld daran. Die anderen sind im Übrigen alle schon zu Hause, die haben ja alle unterschrieben.‹ Und sie lesen mir das vor und das klingt relativ harmlos, gar nichts von einer gefährlichen Organisation. Ich denke, das wirst du doch unterschreiben. Ich will heim. Und wenn meine Mutter so krank ist. Ich sage, ich werde mir das bis morgen überlegen. Am nächsten Tag gehe ich hin. Da ist eine Dolmetscherin und ich sage, sie möchte mir das noch mal vorlesen. Und sie liest mir das vor und mir stehen die Haare zu Berge. Das hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem, was der Dolmetscher vorgelesen hatte. Da sage ich, dass ich das niemals unterschreiben werde, das stimmt ja alles überhaupt nicht. ›Die anderen sind alle zu Hause. Ihre Mutter wird sterben.‹ Die haben mich stundenlang bearbeitet, haben mir alles angedroht. Sogar, mich zu erschießen. Ich sage, ich werde das NIE unterschreiben. Das kommt überhaupt nicht infrage. Dann müssen sie mich eben nach Sibirien bringen oder erschießen, aber ich unterschreibe das nicht. Ich habe das dann zerrissen. Da war der Teufel los. Aber ich wurde nie geschlagen. Und dann wurde ich wieder gerufen, und da ist meine Freundin, die schonlängst zu Hause sein sollte. Sie ist aufgelöst, weint und sagt, dass ich unterschreiben muss. ›Wenn du das nicht unterschreibst, kommen wir nie heim, und wenn du unterschreibst, dann kommen wir zusammen. Ich kann das allein nicht mehr durchstehen. Ich halte das nicht mehr aus.‹ Sie hat so furchtbar geweint, ich hab es mir nicht mehr vorlesen lassen, ich hab einfach unterschrieben. Sie hatten versprochen, dass wir dann sofort zusammenkommen und natürlich auch bald nach Hause. Ja, sie haben zumindest zum Teil Wort gehalten, wir kamen zusammen. Ich kam mit meiner Freundin in den Gang unten im Keller.«

Auszug aus dem Gnadengesuch von Brunhilt Gebler, 23. Dezember 1945.

Quelle: Margot Jann

Aber frei kommen die beiden nicht. Die nächsten Monate verbringen sie im Keller. An Kleidung haben sie das, was sie bei der Verhaftung am Leib trugen. Die einfachen Wärter sind im Gegensatz zu den Offizieren nett zu ihnen. Aus der Nachbarzelle hören sie von Todesurteilen. Das verstärkt die Angst vor dem Prozess, der kurz vor Weihnachten stattfinden wird. Bei der Verhandlung sieht sie zum ersten Mal auch die drei Jungs wieder, die während der Haft offenbar gefoltert wurden. In der Verhandlung wird den fünfen der Aufbau einer faschistischen Untergrundorganisation, die andere Mitglieder angeworben habe, vorgeworfen. Eingehend fragt man nach der Anstecknadel und erkundigt sich, wer sich durch Redebeiträge hervorgetan habe. »Nach 21 Uhr gingen die raus zur Beratung. Ich bin sicher, dass das Urteil von vornherein feststand. Und dann kommen die wieder. Wir müssen alle aufstehen, und die verkünden das Urteil: Wir werden alle zum Tode verurteilt. Wir haben nicht geweint.«

Man bietet ihnen an, ein Gnadengesuch zu schreiben. Margot Jann und ihre Freundin Brunhilt Gebler lehnen zunächst ab, weil sie nicht bitten und betteln wollen. Doch die gutmütigen Posten ermuntern sie immer wieder und überreden sie schließlich zu diesem Schritt.

Am 24. Dezember werden die fünf abgeholt und nach Radebeul, in die Villa Bellaria, gebracht. Man nimmt ihnen alle persönlichen Dinge ab. Die Frauen werden bei elender Kälte notdürftig bekleidet in einen Verschlag unter der Treppe eingesperrt. Sie werden von den Posten getreten und schikaniert, einmal am Tag dürfen sie die Latrine benutzen. Beide sind furchtbar erkältet, leiden unter Husten und Schnupfen. Als ein Posten sieht, dass die Frauen ihr Mantelfutter als Taschentuch benutzen, reißt er das gesamte Futter heraus. »Wenn wir unsere Tage hatten, kriegte man überhaupt nichts. Da zerriss meine Freundin als Erste ihr Hemd, und da haben wir das genommen. Also wir waren verdreckt, und es war wirklich furchtbar. Nochmal würde ich das nicht durchstehen. Ich frag mich, wie wir das geschafft haben.«

Nach knapp drei Wochen werden die Freundinnen getrennt. »In der Nacht vom 10. zum 11. Januar höre ich, wie Aufrufe erfolgen. Und dann höre ich, wie man den Günther von uns aufruft. Und dann ruft man die Brunhilt, und wir verabschieden uns nicht, weil wir sicher sind, dass auch ich aufgerufen werde. Und auf einmal hören die auf.« Bis Ende Februar bleibt Margot Jann allein in ihrem Verschlag und erlebt dort Dinge, von denen sie bis heute nicht sprechen kann. Am 26. Februar erfährt sie, dass sie zu zehn Jahren Besserungslager begnadigt wurde. Sie kommt nach Bautzen, in das dortige sowjetische Speziallager. Ihre Zellenkameradinnen Doris und Martl nehmen sich ihrer an und päppeln sie so gut es geht wieder auf. Später werden sie sagen, dass sie noch nie eine so verwahrlost aussehende Frau gesehen haben. Die beiden geben ihr wieder Halt und etwas Zuversicht. Dennoch will sie endlich Kontakt zu ihrer Familie und schmuggelt einen Brief nach draußen.

Kassiber von Margot Jann, Weihnachten 1946.

Quelle: Margot Jann

Abschrift

Meine geliebten Eltern. Nun ist das 2. Weihnachtsfest vergangen, das ich nicht bei Euch war. Ihr werdet immer an mich gedacht haben. So wie auch meine Gedanken immer bei Euch sind. Weint nicht zu oft. Seid tapfer, so wie auch ich tapfer sein will. Ich bin gesund und mir geht es nicht schlecht. Bleibt auch Ihr mir gesund. Haltet aus! Mit Euch stehe und falle auch ich. Und ich habe den festen Willen durchzuhalten, um zu Euch, hoffentlich bald, zurückzukehren. Bis dahin beschütze Euch Gott. Viele liebe Grüße und sehnsüchtige Küsse von Eurer Margot. Grüßt mir Rolf und alle Verwandten und Bekannten vielmals.

»Die Martl hatte mir ein Stück Stoff besorgt, auch einen Stift. Ich habe damit an meine Eltern geschrieben und meinen ›Brief‹ an einem Bindfaden aus unserem Fenster ins Erdgeschoss runtergelassen. Irgendwie ist es von den Häftlingen fortbefördert worden. Wie, das weiß ich nicht. Auf alle Fälle haben es meine Eltern bekommen. Und 1948 habe ich dann nochmal geschrieben. Aller paar Wochen gingen wir zum Duschen. Und da hatte ich Gelegenheit, einen weiteren Gruß zu übergegen. Ich bat den Häftling, der die Dusche bewachte, und der hat das befördert. Das war sehr gefährlich. Ich habe zwei Tagesrationen Brot gespart, und die habe ich ihm dafür gegeben. Man hatte immer Hunger und das war sehr, sehr schwer, das zu sparen. Aber das war es mir einfach wert. Wenn ich dachte, meine Mutter, wie soll die das ohne mich durchhalten. Die muss wissen, dass ich noch lebe. Und da hab ich zweimal geschrieben. Aber ich bin, glaube ich, die einzige gewesen, die das geschafft hat.«

Margot Jann wird von der Zelle in einen Saal verlegt. Ihre Pritsche und den Essnapf teilt sie sich mit Dorle, die mittlerweile an Tbc erkrankt ist und kurze Zeit später in der Krankenstation stirbt. Der Hunger in Bautzen ist allgegenwärtig. »In Bautzen haben wir sehr, sehr gehungert. Unwahrscheinlich. Zu essen, da gab es so ein Süppchen, das war fast nur Wasser. Manchmal hatten wir viele Blätter drin, Rübenblätter. Da war das Ungeziefer noch dran, die Larven und alles. Das machte natürlich besonderen Appetit. Ein Teil hat das zwar rausgemacht, aber ein Teil hat das mitgegessen. Und ich kann mich noch erinnern, beim Rundgang, da bückten sich welche und haben Gras gerupft und haben das Gras gegessen. In Bautzen haben wir jämmerlich gehungert.« Die Zeit vertreiben sich die Frauen mit Erzählen oder damit, Tücher heimlich zu besticken, meist eingetauschte Bettlaken. Die bunten Fäden nehmen sie aus alten Kleidungsstücken. Eine Nadel ist viel wert und wird weitergegeben, wenn eine Frau das Lager verlässt, so wie Margot Jann im Sommer 1948. Da kommt sie nach Sachsenhausen. Das Konzentrationslager der Nazis ist nun sowjetisches Speziallager. Der Transport dorthin erfolgt im völlig überfüllten Viehwaggon, ohne Wasser, mitten im Juli. Auch wenn es in Sachsenhausen viel Ungeziefer gibt und die hygienischen Verhältnisse miserabel sind, erwarten sie dort kleine Freiheiten: Sie kann aus dem Fenster schauen und die Baracke verlassen. »Wir waren ganz entzückt, wir kommen da in Baracken, vor den Fenstern keine Schuten mehr. Wir konnten auch raus, konnten mal zur anderen Baracke gehen.« In Sachsenhausen darf Margot Jann das erste Mal offiziell nach Hause schreiben. Im Juni 1949 erhält sie nach fast vier Jahren Haft den ersten Brief von ihren Eltern. Überhaupt scheint die Zeit in Sachsenhausen etwas schneller zu vergehen – es gibt ein Theater, das die meisten Gefangenen jedoch nie von innen sehen, ab und zu Zeitungen und zu Weihnachten sogar eine Besuchserlaubnis. »Zu Weihnachten, da konnten Verwandte, die auch im Lager waren, eine Sprecherlaubnis beantragen. Ich wurde zu meinem Cousin geholt und war vollkommen überrascht. Ich hatte den noch nie gesehen. Auf einmal hatte ich mehrere Cousins. Zwei, drei junge Männer, da war ich die Cousine. Aber die kannten unsere Jungs, die mit mir eingesperrt wurden, und da sind die irgendwie an meinen Namen gekommen. Ich hatte auf einmal Verwandte, die ich zwar nicht kannte, aber ich konnte mit denen sprechen. Das war natürlich etwas Besonderes.«

Eine der Schattenseiten in Sachsenhausen sind die ewigen Zählappelle. Manchmal stehen die Frauen stundenlang in eisiger Kälte, weil sich der Wachhabende verzählt hat. Ob dies mit Absicht geschieht, wissen die Frauen nicht, aber viele schaffen es körperlich gar nicht, sich mehrere Stunden auf den Beinen zu halten. Regelmäßig klappen einige der von Hunger und Krankheit ausgezehrten Frauen ab und fallen einfach um.