Das Leben ist köstlich...von süß war nie die Rede - Christian Henze - E-Book

Das Leben ist köstlich...von süß war nie die Rede E-Book

Christian Henze

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Beschreibung

Christian Henzes Leben und Lehren als Spitzenkoch

Sterne holt er gerne mal vom Himmel. Oder in seine Küche. Christian Henze war mit 28 Jahren der jüngste deutsche Sternekoch mit eigenem Restaurant, heute ist der Allgäuer ein bekannter Fernsehkoch auf vielen Sendern, kreiert Gerichte und hat eine der größten Kochschulen Deutschlands.
Ein Siegertyp? Ja, aber mit Krisenherden. Er fiel durch die Kochprüfung. Er arbeitete in der härtesten Küche Deutschlands bei Eckart Witzigmann. Er reiste als Privatkoch von Gunter Sachs durch die Welt. Und gründete auf einem Dorf mit seiner Frau aus dem Nichts ein Gourmet-Restaurant.
Auch der Privatmann ist schillernd: Henzes Karriere ist ein Märchen aus Thymian, Tränen und Trüffel. Er erzählt, wie er an Niederlagen gewachsen ist und schaut über den Tellerrand seines Lebens. Von Beruf ist er erst mal Mensch. Dann kommt der Koch. Und der Entertainer.

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Seitenzahl: 343

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© 2021 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

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Bildnachweis:

Coverbild ©Kathrin Rohde

Alle Bilder stammen von ©Christian Henze/privat, außer: Bildtafel siehe hier (mitte) ©Jörg Eberl, Bildtafel siehe hier (mitte) ©Kathrin Rohde, Bildtafel siehe hier (unten) ©Moritz Taylor

Projektleitung: Eva Wagner

Herstellung: Elke Cramer

Covergestaltung: Oh, Ja! München

Layout, Satz, DTP, E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Litho: Regg Media GmbH, München

ISBN 978-3-641-28710-8V001

VORWORT VON THEO WAIGEL, dem ehemaligen CSU-Chef und Bundesfinanzminister:

Christian Henze – ein Mann zu jeder Jahreszeit.

Ein Mann zu jeder Jahreszeit – so hieß ein berühmter Film in den sechziger Jahren. Dieser Spruch gilt auch für Christian Henze, der jederzeit, zu jeder Jahreszeit und überall Menschen glücklich macht, wenn sie seine Kochkünste genießen dürfen. Dieser in seiner Allgäuer Heimat tief verwurzelte Kochkünstler war in der ganzen Welt unterwegs, mit prominenten Zeitgenossen zusammen und freut sich über seine Gäste aus nah und fern, die seine Speisen genießen wollen. Ein Globalplayer und einer, der die Idylle seiner wunderschönen Heimat zu schätzen weiß. Er versteht den Umgang mit Herd und Küche wie den Umgang mit Menschen aller Couleur. Er versteht es am Bildschirm, im Fernsehen zu brillieren und zum Beispiel den Gästen des Presseballs in Kempten einen schmackhaften Abend zu bereiten. Wenn Christian Henze für Gäste im privaten Rahmen kocht, sind alle glücklich und zufrieden, denn er macht jedes Fest zu einem Event. Alles was er anpackt, geschieht mit Leidenschaft und vollem Engagement. Er weiß aber auch, dass Wechsel zum Leben gehört und stellt sich immer wieder neuen Herausforderungen, die er bravourös löst. Er gehört zu den mutigen und überzeugenden Allgäuern und Schwaben, die weit über Region und Landesgrenzen hinaus für ihre Heimat Ehre einlegen. Christian Henze ist mehr als ein begnadeter Kochkünstler und Gastgeber, er vermittelt seinen Gästen ein seliges Gefühl des Wohlbehagens, der Freude, des ungetrübten Genusses und der heimatlichen Geborgenheit. So ist Christian Henze nicht nur ein Zubereiter von herrlichen Gerichten, sondern Freund und Wegbegleiter in bewegten Zeiten. Ich wünsche mir noch viele Begegnungen mit ihm.

Theo Waigel

Bundesminister a. D.

Inhalt

Einleitung: Von Kässpatzen, Königsschlössern und der Kunst, seine Leidenschaft zu finden

Gang 1: Der kleine Michel aus Lönneberga – die Allgäuer Version

Omas Einmachfleisch

Gang 2: Lehrjahre sind keine Herrenjahre – warum ich trotzdem jeden Tag glücklich zur Arbeit ging

Lisls Tafelspitzsülze mit Bergkäse

Gang 3: Der Rückschlag – warum ich durch die Kochprüfung fiel und jeder Verlust auch ein Gewinn ist

Seezunge in Kapern-Senf-Butter

Gang 4: Grüezi Schweiz – warum ich von einer Kochkünstlerin so viel lernte und sie mir die entscheidende Tür öffnete

Originalrezept von Agnes Amberg: Perlhuhnbrust auf Lauchfondue mit Honigessig-Sauce

Gang 5: Nicht immer witzig – das harte Leben beim Meisterkoch Witzigmann

Meine beste Hummersauce

Gang 6: Als Privatkoch beim Playboy der Nation – zwei Jahre Reisen mit dem Weltbürger Gunter Sachs

Scharfes, angebratenes Tatar

Gang 7: Sternekoch im Allgäu auf dem Dorf – ein Landhaus-Traum wird wahr

Rinderfilet mit Trüffel, Pecorino und Artischocken

Gang 8: Die Kunst der Freundschaft – meine wichtigsten Gefährten

Deftige Kohlrouladen

Gang 9: Der kleine Koch schreibt ein Buch – mit 35 Fortsetzungen!

Kaiserschmarrn mit Rhabarberkompott

Gang 10: Der Entertainer: Vom Fernsehkoch zum Liveact – warum Klappern zum Handwerk Kochen gehört

Papaya-Reis-Salat mit BBQ-Chicken

Gang 11: Kochen ist die Schule des Lebens – warum es jeder lernen kann und ich gerne Erfinder bin

Schaumige Basilikumsuppe mit Lachs

Gang 12: Meine Leidenschaften außerhalb der Küche – wo meine Augen auch noch leuchten

Mamas gefüllte Paprikaschoten

Gang 13: Der Familienmensch – warum ich Kinder so liebe und meine Frau mich perfekt ergänzt

Pias Spaghettisalat

Gang 14: Warum Reisen einen Koch so sehr bilden und uns das allzu süße Leben umbringt

Tofu-Sensation mit Schmorgurken und Erdnüssen

Gang 15: Die Ernährung der Zukunft – meine Vision vom guten Essen

Falafel mit Granatapfel-Minz-Joghurt

Gang 16: Mein Kampf gegen die Verschwendung – warum Lebensmittel niemals Abfall sein dürfen

Alp-Gröstl mit Endiviensalat

Ein letzter Gang zu mir selbst – meine schönsten Niederlagen

Epilog: Ein Mann in der Mitte des Lebens – was kommt noch?

Bildtafeln

VON KÄSSPATZEN, KÖNIGSSCHLÖSSERNund der Kunst, seine Leidenschaft zu finden

Ich bin kein Engel. Aber ich wohne im Paradies. Das ist nicht übertrieben, das ist mein Lebensgefühl. Ich habe zwei Kronzeugen: Der bayerische Märchenkönig Ludwig II. hat Bayern in seiner ihm eigenen Bescheidenheit immer als Himmel auf Erden betrachtet. Und der ehemalige Ministerpräsident Horst Seehofer bezeichnet Bayern ständig als »Vorstufe zum Paradies«. Aber das Allgäu, die Region aus der ich komme und die ich in meinem Leben nur für fünf Jahre verlassen habe, ist nicht nur Vorstufe, es ist Paradies pur. Zumindest für Noch-nicht-Engel wie mich. Der Königswinkel mit den Schlössern von Ludwig II. ist der schönste Ort, den die Welt meinen Augen zu bieten hat. Einen Steinwurf vom weltberühmten Schloss Neuschwanstein entfernt begann meine Karriere – was für ein Geschenk des Schicksals. Der Blick auf die bayerischen Alpen ist unbezahlbar, wir haben wunderbare Alpseen, ich lebe in einer intakten Natur, die Menschen sind keine Schicki-Mickis, sondern echt. Hier leben viele Persönlichkeiten, die anpacken. Und das freut einen Handwerker wie mich.

Wo gehobelt wird, fallen Späne, heißt ein altes Sprichwort bei uns. Bei mir fallen Spätzle. Die Allgäuer Kässpatzen sind keine Vogelart. Sie sind auch mehr als nur ein Gericht. Sie sind ein Lebensgefühl: einfach und edel. Das Sein ist hier wichtiger als der Schein. »Allgäu – da will ich hin«, heißt eine Fernsehreportage – ich bin schon da. Und gehe nicht mehr weg.

Ich komme aus einer kleinen, übersichtlichen Welt und lebe heute noch auf dem Dorf – das ist seit einigen Jahren im Trend. »Landlust« heißt ein sehr erfolgreiches Magazin. Ich bin verwurzelt. Aber nicht festgetackert. Ich kenne mich auch in New York aus. Wer in der Provinz lebt, muss nicht provinziell denken. Mobil war ich immer. In meinen 53 Jahren war ich in der ganzen Welt viel auf Wanderschaft. Strawanzen, Staunen und Spielen sind meine Leidenschaften, seit ich denken kann. Und ich habe früh gespürt: Wer sich nicht umschaut, wird sich irgendwann ganz schön umschauen. Ich habe mich in der Schweiz als Jüngling fortgebildet, bin als Leibkoch von Gunter Sachs, dem letzten wahren Playboy, zwei Jahre lang durch die Welt gejettet, von Gstaad bis Palm Springs, von St. Tropez bis Indian Wells. Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten, kenne die Orte des Was-kostet-die-Welt-Luxus genauso gut wie die der schlichten Freuden der bodenständigen Tradition. Manchmal vereinigt sich das sogar in einer Person: Mit Königsberger Klopsen konnte ich Gunter Sachs immer glücklich machen. Es musste nicht immer Kaviar sein.

Die Erfahrung, meine Nase in den Wind zu halten und Schnuppermomente zu sammeln, hat mich zu dem Menschen geformt, der ich sein möchte: Offenherzig, tatkräftig, neugierig auf unbekanntes Terrain, das noch nicht trittfest ist. Das finde ich interessanter als ausgetretene Pfade nachzulaufen. Ich bin ein Unternehmer, kein Unterlasser. Und deshalb möchte ich Sie oder dich in diesem Buch auf meine Lebensreise zu mir selbst mitnehmen. Sie werden Klartext lesen – aber Klartext mit Augenzwinkern. Wenn es ernst wird, kann es passieren, dass ich lustig werde. Und Schabernack treibe. Karl Valentin, der größte bayerische Komiker, hat zu recht gesagt: »Jedes Ding hat drei Seiten. Eine positive. Eine negative. Und eine komische.«

Die Mitte des Lebens ist ein guter Gipfel, um zurückzuschauen, um eine kleine Bilanz zu ziehen: Was habe ich auf der Pfanne? Welche Sternstunden sind mir geglückt? Wo bin ich gescheitert? Welchen Braten habe ich nicht gerochen? Woher komme ich? Wohin will ich? Wer bin ich wirklich im Wesenskern meiner Persönlichkeit? Und wo habe ich Erkenntnisse gewonnen, die auch anderen Menschen nützlich sein können und über sprichwörtliche Weisheiten wie »Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wurde« hinausgehen? Ich bin ganz sicher: Man kann das Glück selbst in die Hand nehmen. Zu sich einladen. Es großzügig bewirten. Mit Demut und Dankbarkeit. Auf dass es immer wiederkommen mag.

Zu viel des Guten ist natürlich auch schlecht: Erfolg hat einen schwierigen Bruder. Den Stress. Und eine lästige Schwester. Die Gier. Immer mehr. Immer schneller. Immer aufwendiger. Ich habe schon vor einigen Jahren Stop zu diesem Trend in der Sterne-Gastronomie gesagt: Anbrennen ist kein Drama in der Küche, Ausbrennen schon. Wessen Welt sich nur um die Löffel dreht, dem gibt das Schicksal etwas zwischen die Löffel. Die Gefahr des Überdrehens ist immer da. Ein leidenschaftlicher Koch ist immer drogensüchtig: Nach Arbeit, der unendlichen Ressource. Und muss es sich zumindest bewusst machen und Entspannungsoasen finden. Sonst endet er wie ein Soufflé. Er fällt in sich zusammen. Manchmal muss man sich selbst bremsen.

Wenn Sie die Biografie eines strahlenden Siegertypen erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Ich serviere Ihnen Trüffel, Thymian, Tränen und trockenes Brot, an dem man sich die Zähne ausbeißen kann . Ich bin öfter mal gestolpert in meinem Leben. Ich bin immer wieder hingefallen, aber – das ist meine eigentliche Leistung – nicht lange liegengeblieben. Ich habe mir viele Schürfwunden zugezogen, ich wurde gedemütigt und kam mir in mancher Küche während meiner Lehrjahre wie ein Leibeigener vor. Beim deutschen Kochgenie Eckart Witzigmann, in dessen Nobelrestaurant »Aubergine« ich mich als Jung-Koch mit gerade mal 21 Jahren als Poissonnier, also eine Art Herr der Fische, entwickeln durfte, war es auch nicht immer witzig. Aber Lehrjahre sind Lernjahre – auch seelisch. Und Jammern ist nicht mein Stilmittel. Angst ist kein guter Berater. Und ein noch schlechterer Koch.

Das Leben ist ein Sprung, das wissen nicht nur die tollkühnen Skispringer im Allgäu, die in Oberstdorf auf einer der besten Schanzen der Welt trainieren. Der Moment, als ich im Kocholymp »Aubergine« kündigte, um Privatkoch von Gunter Sachs zu werden, war unbezahlbar. Weil die Freiheit größer ist als Prestige.

Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen. Sie mitnehmen in meine jugendliche Welt der Abenteuer. Ich war eine Mischung aus Zappelphilipp und Daniel Düsentrieb. Ein Lausbub in meinem Forscherdrang. In meiner Risikolust. In meiner gespielten Unschuld. In meiner brennenden Leidenschaft für diesen in jeglicher Hinsicht heißen Beruf. In meine Höhenflüge. Und auch in meine Abgründe. Meine Schmach, die schon begann als ich in meiner ersten Kochprüfung zum Gesellen durchfiel und sich die Erde vor mir auftat. Heute weiß ich: Dieser Schmerz hat mein Leben gewürzt. Solche Löcher hat jeder Mensch. Den Durchfaller hab ich abgestreift. Ein bisschen was ist ja noch aus mir geworden. Diese einschneidende Erfahrung hat mir sogar zu einer wertvollen Lebensphilosophie verholfen: Jeder Verlust ist ein Gewinn. Und jeder Gewinn ein Verlust. Klingt vertrackt. Davon später mehr. Ich bin jedenfalls dadurch auch Experte für Krisenherde aller Art.

Aber was heißt schon Krise? In meinem 1900-Seelen-Dorf Probstried steht neben der Kirche eine Kapelle aus dem Jahr 1649, als die Pest hier wütete und die Menschen nur noch beten konnten. Das waren wirklich Krisen. Wir leben im Corona-Zeitalter, das Virus hat auch mich ein paar Tage niedergestreckt, aber die Forscher haben in Rekordzeit großartige Impfstoffe entwickelt und die Seuche beherrschbar gemacht. Was ich damit sagen will: Ich bin dankbar, im 21. Jahrhundert zu leben. Wir leben in der besten aller bisherigen Welten. Oder möchten Sie in einer früheren Generation leben? »Früher war alles besser« ist die größte Lüge der Welt – auch und gerade in der Küche. Ich mag Vielfalt und lebe gern im Hier und Jetzt. Selbstmitleid werden Sie in diesem Buch nicht finden. Aber eine Riesenportion Dankbarkeit dafür, wie sich alles gefügt hat und im Schrecken schon ein Sonnenstrahl funkelt.

Ich will Ihnen auch Geheimwelten öffnen. Die der Sterneköche, in der sich keineswegs alle grün sind, in der es manchmal auch giftig und ellenbogenartig zugeht. Bei uns herrscht nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Ich war mit 28 Jahren der, der mit dem Stern tanzt. Mit meinem »Landhaus Henze«, das immer ausgebucht war, verblüffte ich die Fachwelt. Wenn man als Koch vom Dorf einen Stern bekommt, macht das was mit einem. Man kann durchdrehen vor Glück und ein hohes Ross besteigen – oder sich weiterentwickeln, als Koch und als Mensch. Es reicht ja nicht, brillant zu kochen, man muss auch ein Team führen können. Ich bin Lehrer, aber auch genau so gerne Schüler. Weil ich auch in meiner Kochschule, einer der größten in Deutschland, jeden Tag dazulerne. Weil ich die Leute mag – jeder ist Wer. Weil ich mein Publikum nicht missionieren will, aber bereichern. Weil ich von Beruf erst mal Mensch bin. Und nicht Koch.

Gutes Essen ist mein Lebensthema, der Gaumen ist meine Gaudi. Aber es gibt auch einen anderen roten Faden in meinem Leben, der über die Küche hinausweist: Die Lust am Ausprobieren. Das Experimentieren. Das Hineinschmecken. Ich war schon als Kind ein Herdplattenanfasser. Probieren geht über Studieren, das darf ich als Mann, der nie studieren konnte, weil ich mit 15 von der Schule abging, getrost sagen. Leben ist im Wesentlichen die Kunst, sich mit den richtigen Menschen zu umgeben, zu lieben und seine Leidenschaft zu finden, seine Bestimmung, seine Erfüllung. Meine Mutter hat mich zu meinem kreativen Beruf ermutigt. Und ich spürte: Was wir aussenden, kommt zu uns zurück. Es lohnt sich, freundlich zu sein. Vertrauen zu wecken. Und in sich zu speichern.

Sie werden mich in diesem Buch so privat wie möglich kennenlernen, meine wildesten Träume, meine ärgsten Abstürze, meine phantastische Familie, die meinen familienfeindlichen Beruf erträgt, meine urige Heimat, meinen engsten Kosmos, meine Wurzeln, meine Flügel. Sie werden rasch merken: Ein Sternekoch ist auch nur ein Mensch, der nicht jede Nacht die Sterne vom Himmel runterholt. Aber ich will Ihnen meine bescheidenen Rezepte für ein gutes Leben auftischen. Vom Wandelmut, dem Gegenteil von Wankelmut, vom trotzigen Jetzt-erst-recht, vom Glück im Unglück erzählen. Das gibt es immer. Alles hat seinen Sinn, hat meine kluge Mutter bei Rückschlägen zu mir gesagt. Diese Weisheit habe ich verinnerlicht und bin daran gewachsen. Und so darf ich Ihnen jetzt die Geschichte von einem erzählen, der auszog, das Leben zu kosten. Und zu würzen. Alles in Butter ist natürlich nie durchgehend, immer nur in Momenten. Aber ich weiß, dass mein Butterbrot oft auf die richtige Seite gefallen ist. Und wenn nicht, habe ich es einfach neu bestrichen. Lassen Sie uns auf eine Genussreise gehen. Und das Leben feiern. Oder kennen Sie einen besseren Sinn des Lebens? Das Leben ist köstlich – von süß war nie die Rede. Allzuviel Zucker ist sowieso ungesund. Und immer nur Zuckerschlecken ist langweilig.

So, nun genug vom ersten Teller Buchstabensuppe, die ich Ihnen vorab serviert habe. Ich möchte, dass Sie mit mir über den Tellerrand des Lebens schauen – 16 Gänge habe ich vorbereitet, 16 Gedankengänge, 16 Schicksalsgänge, 16 Gratwanderungen mit Absturzgefahr. Steigen Sie ein in die Achterbahn meines Lebens. Es wird heftig. Es ruckelt. Es zieht. Es gibt Gegenwind. Die Überholspur ist keine Komfortzone. Ich liebe Kurven mehr als Geraden. Also, auf mit Karacho in mein saftiges Lebensgefühl von A wie Aubergine bis Z wie Zitrone. Und M wie Mohn. Mit dem habe ich eine spezielle Geschichte. Und eine beglichene Rechnung. Rache ist süß. Aber wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Ich bin kein Opfer, ich bin lieber Täter. Mit Genuss statt Groll. Enjoy your life – das ist leicht dahingesagt und doch eine hohe Kunst. Lassen Sie uns genussfähig bleiben. Oder werden. Wenn Sie diese Kunst noch nicht beherrschen – jeder kann sie lernen. Wer nicht genießt, ist undankbar – und ungenießbar.

Gang 1

DER KLEINE MICHEL AUS LÖNNEBERGA –die Allgäuer Version

Das Leben ist eine Lotterie. Keiner kann beeinflussen, wo er geboren wird, in welche Zeit, in welches Milieu, in welche Landschaft. In der Jugend wünscht man sich manchmal an Orte, die einem cooler erscheinen, aber mit 53 Jahren Abstand zu meiner Geburt kann ich sagen, dass ich ein ziemlich gutes Los gezogen habe. Meine Wiege stand in Füssen, dieser liebenswerten Kleinstadt im Allgäu (16000 Einwohner), die mit dem Slogan »die romantische Seele Bayerns« wirbt. Füssen liegt ganz aktuell in einer Rangliste der Google-Suchanfragen auf Platz 1 der 10 beliebtesten Kleinstädte Deutschlands, ich wurde also da geboren, wo andere Urlaub machen. In Füssen wird man entweder Gastronom, Fremdenführer, Touristiker oder Eishockeyspieler. Und jeder Junge darf sich ein bisschen als kleiner Prinz fühlen, weil die Königsschlösser von Ludwig II. so nah liegen. Und die vielen Touristen uns immer wieder vor Augen führen, dass wir da von der Geschichte einen Schatz geschenkt bekommen haben. Seine wahnsinnigen Bauprojekte begründeten den Reichtum der Region.

Meine Mutter schenkte mir am 27. Juni 1968 den Eintritt in eine bunte Welt. Ich bin also ein Achtundsechziger – quasi ein geborener Revolutionär, 1968 steht seit der Studentenrebellion für Veränderung. Und ich bin Krebs, ein klassischer: Sensibel, ein großer Gefühlsmensch, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, ein hochkreativer Bengel. Ich glaube schon ein bisschen an astrologische Prägungen, die den Charakter prägen können. Der große Astrologe Gunter Sachs, den ich zwei Jahre begleiten durfte, hat dazu große Forschungen angestellt, die mir schlüssig erscheinen: Die Sterne sind nicht Schall und Rauch. Weder in Küchen noch in realen Menschenleben.

Ich war kein Einzelkind, darüber bin ich sehr froh. Ein Jahr vor mir war mein Bruder auf die Welt gekommen, ich hatte also immer einen Spielkameraden. Aber schon sehr früh war klar, dass ich keine Probleme hatte, Freundschaften zu knüpfen. Ich ging mit aller kindlichen Arglosigkeit auf Menschen zu. Das Leben war ein Kinderspiel – und ich wurde gefördert.

Meine Mutter ist eine waschechte Allgäuerin: herzlich, zugewandt, aber nicht überfürsorglich. Ihr Vater hatte ein Sägewerk, das unternehmerische Blut war in der Familie angelegt, sie arbeitete im Familienbetrieb mit. Mein Vater war dagegen ein Preuße aus Hildesheim, einer derjenigen, die man in Bayern die »Zuagroasten« nennt. Er bekam von seinen Eltern lange nicht die Liebe, die ich später erfuhr, und wurde als Junge in ein Internat in Hohenschwangau gesteckt. Er wohnte bei seiner Tante und seinem Onkel, einem Gymnasialprofessor. Mein Vater war klug und bekam sehr viel formale Bildung, aber wenn es um Herzensbildung und menschliche Wärme ging, ist er fast verhungert. Dass sich meine Mutter, die hübsche Unternehmerstochter vom Dorf, und der angehende Jurist ineinander verliebten, war ein Glücksfall. Die Warmherzigkeit meiner Mutter brachte den mitunter kühlen Intellekt meines Vaters in eine bessere Balance. Sie kam aus einer heilen Welt, er aus einer brüchigen, in der mit Liebe gegeizt wurde, in der man sich Wertschätzung verdienen musste. Wenn die Liebe nicht bedingungslos ist, kann sie zur Bürde werden. Aber dieser Druck, etwas zeigen zu müssen, kann auch anspornen. Mein Papa hatte Charisma, das ist etwas, das man nicht lernen kann. Er war sehr von sich überzeugt, das merkte man in seiner Mimik und Gestik. Er war kein Leisetreter, sondern einer, der mit breiter Brust auftrat. Er hatte große Ideen. Und die wichtigste habe ich immer beherzigt: Wer in kleinen Verhältnissen geboren ist, und wir lebten zu viert in einer Dreizimmerwohnung, muss nicht darin bleiben. Jeder ist seines Glückes Schmied, pardon Koch. Im Bayerischen gibt es dazu einen klaren Satz mit philosophischer Tiefe: Scheiß dir nix, dann fehlt dir nix.

Die Erziehung seiner Söhne überließ mein Vater, der Justiziar in einem mittelständischen Unternehmen der Möbelbranche war, weitgehend seiner Frau, damals war es noch so, dass Männer sich da gerne raushielten und sich lieber in der Rolle des Familienoberhaupts und Ernährers sahen, der ab und zu mal streng auftrat, um seine Autorität zu wahren. Der abwesende, aushäusige Vater war das Standardmodell in den Familien. Dass Väter sich heute in gleicher Weise wie die Mütter um die Kinder kümmern, ist eine historisch neue Entwicklung. Die ich sehr begrüße. Weil Kinder das männliche und das weibliche Vorbild brauchen.

Um so alt zu werden wie ich, braucht es viele Engel, die einen beflügeln und manchmal auch retten. Meine Mutter war mein erster Engel in meinem Leben. Ohne Engel in Menschengestalt kann sich niemand zu einem glücklichen Menschen entwickeln. Sie konnte damit umgehen, dass ich ein hyperaktives Kind war. Meine Mutter spannte ein Netz über mein Kinderbett, aber ich zog mich hoch und krabbelte trotzdem raus. Und fiel. Und schrie. Und kroch. Jugend forscht. Das war mein Ding. Grenzen waren für mich nur da, um sie zu überschreiten. Ich hatte zu viel Energie. Und hinter jeder Ecke lauerten ja Abenteuer und Mutproben, Würmer und Eidechsen, Steine und Gräser. Ich war ein Junge, der an jede Herdplatte fasste, alles in den Mund nahm und sich oft die Finger verbrannte. In der Schule schmierte ich schwarze Schuhcreme an Türklinken. Das fand keiner so richtig lustig, ich schon.

Ich war ein Lausbub. Nicht aus Zufall, sondern aus Überzeugung. Astrid Lindgrens »Michel aus Lönneberga« war mein Vorbild. Gut gelaunt Streiche verüben und danach den Unschuldsengel mimen, das war meine Spezialdisziplin. Im Kindergarten konnte ich nicht ruhig sitzen, weil ich zu viele Wespen im Hintern hatte. Stuhlkreise, in denen das brave Benehmen gelehrt wurde, waren mir ein Graus, ich stand mehr auf groben Unfug. Heute würde man sagen: Ich war ein typisches ADHS-Kind, erfreute mich an einer prächtigen Aufmerksamkeits-Defizit-Störung, war leicht ablenkbar. Als krank oder gestört empfand ich mich nicht. Nur als außerordentlich munter. Diagnose: Unterfordert. Einmal sprangen mein Freund und ich sogar voller Übermut aus dem Fenster der Kindergarten-Toilette, eine ganz klammheimliche Aktion, wir fühlten uns großartig bei diesem Fluchtversuch. Die Erzieherin suchte uns verzweifelt. Als sie uns fand, bekam mein Freund eine Ohrfeige, die ich als treibende Kraft verdient hätte. Das Leben ist nicht fair. Das lernte ich rasch.

Meine Mutter war immer stolz auf mich und meinen Bruder, auch wenn ich kein Musterschüler war oder nie eine Eins in Mathe aus der Schule heimbrachte. Sie liebte mich bedingungslos – ohne dass ich bestimmte Leistungen dafür erbringen musste, ohne dass ich mir ihre Liebe verdienen musste. Sie gab mir nie das Gefühl, dass ich ein missratenes Kind wäre, nur weil ich nicht den Übertritt ans Gymnasium geschafft hatte. Mein Talent war nun mal nicht rechnen, sondern leben, leidenschaftlich leben. Sie war stolz darauf, dass ich Menschen lesen konnte, ihre Körpersprache, den Subtext zwischen ihren Bemerkungen, was ein Mensch aussendet. Ich stellte immer etwas an, aber ich stellte mich nicht an, wenn es um Handlungsschnelligkeit und Schlagfertigkeit ging. Ich konnte mit Worten blitzschnell aus der Hüfte schießen.

Als ich 20 Jahre später meine Mutter anrief, in einem Zustand, in dem ich völlig aus dem Häuschen war und nur noch begrenzt zurechnungsfähig, und ihr sagte, dass ich einen Stern bekam, weinte sie. Nicht weil da ein lang gehegter Traum von ihr in Erfüllung gegangen war. Meine Mutter kochte gern, aber es war nicht ihr Lebensthema, ich musste auch nicht stellvertretend für sie etwas Großes erreichen. Sie hat sich einfach mächtig gefreut und auch ihr Leben änderte sich dann etwas. Sie wurde ständig auf mich angesprochen: Sind Sie nicht die Mutter von …? Das Allgäu ist ein Mikro-Kosmos, hier begegnet jeder irgendwann jedem. Meine Mutter brüstete sich nicht mit mir, sie ist auch nicht kritiklos. Nach jeder Fernsehsendung schickt sie per whatsapp eine gut verpackte wohlwollende Kritik: »Du hast wieder so gut ausgeschaut – auch wenn die Haare relativ kurz sind.«

Freuen – das ist eine der Grundtugenden meiner lieben Mutter. Diese Grundheiterkeit, die manchmal ohne erkennbaren Anlass auf ihrem Gesicht stand, gab sie an mich weiter. Die Leichtigkeit des Seins, der Appetit auf das saftige, knusprige Leben, die Neugier auf das, was hinter dem nächsten Hügel ist. Was kostet die Welt? Und wie viel Trinkgeld muss ich geben, um meine Wohltäter glücklich zu machen? Mama genießt, sie genießt ohne Ende. Und ihre Paprikaschoten sind ein Wahnsinn an Geschmack.

Habe ich von meiner Mutter das Kochen gelernt? Jein. So bewusst wie ich meinen Kindern das Kochen gezeigt habe, machte es meine Mutter nicht bei mir. Sie kochte aus dem Bauch heraus, nicht aus dem Kochbuch. Sie hatte kein Kochbuch, bevor ich ihr mein erstes schenkte. Diese Generation waren Autodidakten, also Menschen, die sich alles selbst beibrachten. Oder von ihren Vorfahren und Verwandten erlernten. Aber die Weihnachtsbäckerei war immer ein Ritual für mich. Ein Bild habe ich in mir gespeichert: ich verschmierte den Teig und das Mehl für die heißgeliebten Schokoladen-Halbmonde auf meiner roten Strumpfhose, so etwas vergesse ich nie. Kochen und Backen war etwas Sinnliches, etwas Spielerisches, das nahm ich unbewusst in mich auf. Ich war auch ein Topfgucker und immer neugierig, was da so appetitlich vor sich hinbrutzelte. Aber meine Mutter hat keine Kochkurse mit mir gemacht. Sie hat einfach gekocht. Und das sehr gekonnt. Das macht sie heute noch, wenn ich zu ihr komme. Ihre Spaghetti mit Hackfleischsauce sind ein Gedicht. Und dann das legendäre Rezept meiner Oma, das sich »Einmachfleisch« nannte. Ein Kalbschnitzel, geklopft, gewürzt und paniert in einer wunderbaren Soße, dazu frische Spätzle – ich war süchtig danach. Wenn ich zu meiner Mutter gehe, mache ich gewohnheitsmäßig erst mal den Kühlschrank auf. Das ist mein Grundreflex: Was kann man aus den Zutaten machen? Meine Mutter kann zaubern, auch aus Resten. Ein Gröstl aus Knödeln, Zwiebel, Ei und etwas Braten ist so lecker.

Es war ja die Zeit, als russische Eier und Toast Hawaii noch als große kulinarische Sensationen galten und die etwas biedere deutsche Küche erst noch Inspiration durch die italienische, französische, spanische und asiatische brauchte. Aus dem Urlaub kamen dann die Ideen auch auf die deutschen Tische, und die Gastronomen aus ganz Europa brachten uns Kultur bei. Es fehlte noch an Phantasie und Experimentierlust, die Disziplin hatten wir Deutschen dafür als Nationaltugend. Bis auf den Frechdachs Christian. In dem Zeitalter, als es noch keine Geschirrspülmaschinen gab, entzog ich mich immer dem Abtrocknen. Meine Mutter ließ es zu, sie war schon froh, wenn ich keinen Radau machte. Oder mit einem Löffel Apfelmus auf meinen Bruder schleuderte. Da war dann Alarm im Gebälk. Lebensmittelverschwendung war im Hause Henze eine schwere Sünde. Aber meine Mutter konnte nie lange böse sein, wenn ich ihr treuherzig sagte: Mama, du bist so lieb und schön. Und ich habe nie ein Jammern oder Nörgeln von ihr gehört. Das ist einfach nicht ihre Grundmelodie. Sie ist eine Berufsoptimistin. Mir sagt man nach, dass mir die Sonne aus dem Hintern scheint. Hab ich alles von Mama.

Meine Mutter ist heute 81, aber fit wie ein Turnschuh. Sie fährt Rad, geht zu kulturellen Veranstaltungen, kann mit dem Handy umgehen. Sie ist Witwe, aber nicht einsam. Aber auch so ein trittfester Mensch wie sie kann stolpern. Es gibt Tage, an denen man den Atem anhält, an dem Millimeter über ein Schicksal entscheiden. Meine Mutter hatte einen Treppensturz und kam sofort ins Krankenhaus, ihr Leben hing an einem dünnen Faden, die Halswirbelsäule war betroffen, eine Lähmung und ein Leben im Rollstuhl drohten. Ich fragte den Chefarzt, wie viele er von diesen riskanten Operationen schon gemacht hat. Er antwortete nicht, sondern speiste mich ab mit den Worten: »Henze, das ist nicht Suppen Kochen, das ist Operieren.« Ich ignorierte diese Frechheit von oben herab und fragte energisch noch mal nach: »Wie viele Operationen?« Er musste zugeben: »Drei.« Nur drei. Ich schrie noch auf dem Gang: »Nicht operieren! Stop!« Mein Bruder und ich verlegten die Mutter sofort in das Unfallkrankenhaus Murnau, wo sie von einem Arzt operiert wurde, der diese Operation schon 400 mal gemacht hatte. Dass wir so radikal gehandelt hatten und uns nicht der Autorität des ersten Arztes gebeugt haben, darauf bin ich heute noch stolz. Aber es war unsere Familienlosung: Alle für eine. Eine für alle. Das WIR gewinnt. Aber das ICH darf schon auch richtig Auslauf haben bei jedem in unserer Sippe. Nur durch Reibung entsteht Entwicklung. Nicht durch braves Kopfsenken, Nicken, Drill und Dressur.

Schon früh bewies ich Geschäftstüchtigkeit: Im Alter von drei Jahren bot ich dem Nachbarsjungen mein kaputtes Gokart mit drei Rädern an. Ich tauschte es gegen ein Fahrrad, das wirklich funktionierte, und ein paar Süßigkeiten ein. Meine Tante meinte anerkennend zu meiner Mutter: Erika, aus dem Jungen wird was.

Aus unserer Familie wurde auch was: Mein Vater hatte die Enge satt. Wir zogen aus Füssen weg in den kleinen Ort Lengenwang und wohnten jetzt in einem großen Holzhaus, das Baumaterial kam aus dem Sägewerk meiner Mutter. Dunkle Balken, viel Glas – wir waren unserer Zeit, in der Backsteine und Beton das bevorzugte Baumaterial war, voraus, das Wort Ökologie gab es damals noch nicht. Wir waren grüner als uns bewusst war. Bella und Moritz, zwei Berner Sennenhunde, die im Garten auch eine schmucke Hütte bewohnten, machten unsere Familienidylle perfekt.

Und mein Vater hatte eine Idee: Er pachtete eine große Jagdfläche und wollte in einem eingezäunten Naturgehehe Damwild züchten und danach mit Wildfleisch handeln, das damals sehr begehrt war Aber letztlich fehlten ihm dafür die Fachkenntnisse, es lag kein Segen darauf. Später gründete er eine Import-Export-Agentur mit Nigeria, ich hörte ihn oft in der Nacht mit den Afrikanern telefonieren, er sprach ein perfektes Englisch. Er war ein Global Player, ein Visionär, weil er eine gute Idee hatte, aber es hat nicht immer zum Ziel geführt, weil er sich nicht ausreichend mit den Details beschäftigte. Und auch keine Kritik von kompetenten Leuten annahm. Aber eine reine Ego-Show führt ins Abseits. Er brachte die PS, die er eigentlich in seinem Kopf hatte, nicht auf die Straße. Auch den Rat von meiner Mutter, die eine klar denkende Familienmanagerin war, nahm er oft nicht an. Um es fußballerisch zu sagen: Er wollte Flanke und Torschuss selbst erledigen. Er wollte immer am Ball bleiben und ihn nicht abgeben. Diesen Sturkopf wollte ich nicht übernehmen von ihm. Aber das Kreative und Visionäre, das mich auch auszeichnet, habe ich von ihm. Die DNA, groß zu denken, steckt in mir. Ein erfahrener Steuerberater sagte einmal zu mir: »Herr Henze, Sie wollen immer 100 Prozent, erreichen aber oft nur 50. Aber die 50 sind ein Quantensprung – weitaus mehr als andere erreichen.« Er hatte recht: Ich wollte groß denken. Wer klein denkt, wird auch nur klein ernten. Oder um es mit dem großen Philosophen Immanuel Kant zu sagen, bei dem ich mir einen Satz gemerkt habe: »Wer sich zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird.«

Mein Vater war das leuchtende Beispiel für mich. Aber auch das Warnende. Eine clevere Idee reicht nicht aus. Für die Umsetzung braucht man Biss, Geduld und Teamwork. Ich bin immer neugierig auf das Urteil der Anderen. Sie sehen oft das Brett, das sich vor einem Kopf aufgebaut hat. Wer nicht fragt, bleibt dumm. Das ist eine schlichte Weisheit. Und da hat mir meine Mutter viel beigebracht. Sie ist eine Meisterin des Zwischenmenschlichen. Sie beherrscht auch die leisen Töne. Sie hat mir beigebracht, dass Poltern manchmal genau das Gegenteil bewirkt. Deshalb bin ich heute kein Choleriker, sondern eher ein Diplomat. Man muss nicht jedem Menschen mit dem Hintern ins Gesicht springen und ihn zwangsbeglücken.

Ich hatte eine glückliche Kindheit auf dem Land, so etwas kann ich nur jedem Kind wünschen. Meine Eltern gaben mir Wurzeln und Flügel, Urvertrauen und Liebe. Nur mein Sitzproblem blieb. Ich konnte auch in der Dorfschule nicht still sitzen. Ein Lehrer konnte sich irgendwann nicht mehr beherrschen und gar mir eine Ohrfeige. Damals war das noch nicht verboten, körperliche Züchtigung bei frechen Kindern galt als völlig normale Erziehungsmethode. Als ich es zu Hause erzählte, flippte mein Vater aus und faltete den Prügel-Lehrer am Telefon zusammen: Ein Diplomat war er wirklich nicht. Beim Religionslehrer, der auch der Dorfpfarrer war, ging es mir genauso. Ihm hatte ich allerdings einen Reißnagel auf den Stuhl gelegt. Er schrie auf und sprang auf mich zu, verpasste mir eine Ohrfeige, nach der ich mein Ohr noch zwei Wochen brummen hörte. Ich fand es trotzdem lustig. »Nussknacker« nannten wir diese Hiebe, die mit Christentum so wenig zu tun hatten wie eine Kaulquappe mit einem Flugzeug. Es war das Gegenteil von Nächstenliebe. Kleine Kinder sind eben kleine Kinder – und so nachsichtig sollte man sie behandeln und nicht wutentbrannt. Aber das Gefühl, diesen hilflosen und aufgeblasenen Pädagogen lächerlich zu machen, war es mir wert. Bei der Erstkommunion schleifte er mich aus der Kirchenbank vor den Altar, weil ich mit meinem Freund ein paar Worte gewechselt hatte. Er war ein Gewalttäter. Heute weiß man, dass die Gewalt gegen Kinder strukturell war und es nicht nur Einzelfälle sind, sondern Ausdruck eines erbarmungslosen Systems. Menschen, die in kirchlichen Heimen waren, berichten heute von Misshandlungen, die keine Ausnahme waren, sondern die Regel.

Aber trotz der Schläge, die ich abbekam: Zum willigen Opfer eignete ich mich nicht. Abschreckung und Einschüchterung funktionieren bei mir nicht. Ich habe mich nicht brechen lassen und übernahm liebend gern die Rolle des Klassenclowns. Ich liebte es, Quatsch zu machen anstatt nur passiv rumzusitzen. Und meine Nase reinzustecken, wo sie nicht hinsollte. Zum Beispiel in den Sack des Nikolaus, der uns besuchte und den ich enttarnte. Die Rute spüre ich heute noch. Aber die Neugier hat immer gesiegt bei mir. Ich war meine eigene Rasselbande. Folgen und Fügen waren für mich Fremdwörter.

Weil ich eines ganz sicher nicht wollte: Brav sein, mich ducken, unauffällig sein. Meine Mutter zog im Hintergrund die Strippen, dass es für mich glimpflich ausging. Mein Ungehorsam zog sich wie ein roter Faden durch mein Leben: Mit Autoritäten habe ich Probleme. Vor allem, wenn sie sich nur auf ihr Amt berufen und keine Klasse an sich haben.

Ich hatte nur ein Problem: Ich war nicht gut genug in der Schule, um wirklich nicht erpressbar zu sein. Meine Leistungen schwankten. Ich wäre gerne gut gewesen, aber ich hatte zu viele Interessen. An einen Übertritt aufs Gymnasium wie bei meinem Bruder war nach der vierten Klasse nicht zu denken.

Wenn es den Beruf Streicheerfinder gegeben hätte, hätte ich den sofort ergriffen. Eine Zeit lang war ich ganz verrückt danach, Chemikalien auszuprobieren und verwüstete damit als Christian Düsentrieb mein Kinderzimmer. Mein Freund Otto setzte die Knabentoilette in Brand mit Schwarzpulver, das ich ihm gemischt hatte. Bei einem Sommerfest bewies ich mir selbst, dass ich tricky sein kann. Es ging beim sogenannten »Bockstechen« darum, mit Lanzen auf eine Scheibe zu werfen, die einen Durchmesser von zweieinhalb Metern hatte. Wer die 100 traf, gewann den Hauptpreis: Ein Spanferkel. Das ganze Dorf machte mit, alle bekamen als Gag eine Waschmitteltrommel aufgesetzt, so dass keiner etwas sah. Weil ich aber so klein war, konnte ich auf den Boden sehen. Und markierte mit Kaugummipapier den optimalen Weg, den ich am Nachmittag schon mal geprobt hatte. Die anderen liefen alle schräg. Ich nicht. Die optimale Hüfthöhe für das Werfen der Lanze hatte ich auch getestet. So schritt ich ganz langsam und konzentriert von Kaugummipapier zu Kaugummipapier und feuerte dann meine Lanze auf die Zielscheibe: Dong! Ich traf die 100. Und gewann sensationell das Spanferkel. Mit List und Tücke, aber keiner kam drauf, wie ich es hinkriegte, ich war so stolz auf meine Cleverness. Ich kam mir vor wie David gegen Goliath. Oder Asterix gegen die Römer. Als Lausbub hatte ich das Recht zum Schummeln. Und verschwand mit dem lebenden Ferkel in der Kiste. Dass es später geschlachtet wurde und in der Tiefkühltruhe verschwand, fand ich nicht so lustig, weil es so niedlich war. Und einen hohen emotionalen Wert für mich hatte. Dass ich später mal mit solchen Tieren in der Küche zu tun haben würde, war damals noch nicht absehbar. Aber das sichere Lebensgefühl, dass ich Schwein(e) habe und familiären Rückhalt, auch wenn es eng wird, trug ich mit mir herum.

Wer ganz eindeutig zu meiner glücklichen Jugend sehr beigetragen hat, war mein Bruder. Im Allgäu gibt es ein geflügeltes Wort in vielen Familien: »Wir haben keine Deppen großgezogen.« Das stimmt bei den Henzes allemal. Gerade mal ein Jahr sind wir auseinander, er kam vor mir auf die schöne Welt im Allgäu. Und wenn ich mir einen idealen Bruder hätte schnitzen können, er hätte so wie Rainer ausgesehen. Er hat mir Geborgenheit gegeben, aber vor allem auch Freiheit. Er hat mich nicht gequält, Kinder können ja manchmal grausam sein. Ich musste nicht so sein wie er. Er war nicht die Norm, der ich mich unterzuordnen hatte. Obwohl wir die gleiche Erziehung genossen haben, zeigte sich einmal mehr: Jeder Mensch ist anders. Wie wunderbar ist das denn? Wir sind alle Unikate. Im Lauf des Lebens schauen wir uns zwar einiges ab von unserer Umwelt, aber kein Mensch sollte eine Kopie sein. Während ich die Welt mit meinen frechen Auftritten provozierte, war Rainer eher ein ruhiger Geselle. Keiner, der im Mittelpunkt stehen will, er ist froh, dass er nur 20 Kontakte in seinem Handy stehen hat. Ein sportliches Ausnahmetalent im Fußball, Tennis und im Skifahren, aber immer ganz bescheiden in seinem Auftreten. Ein ruhender Pol, kein Showtalent wie ich. In der Schule war er zur Freude meines akademischen Vaters ein Überflieger, der ganz locker vom Hocker die Hochschulreife erreichte. Aber das stieg ihm nie zu Kopf. »Ich habe mich Christian nie überlegen gefühlt, da wäre ich ganz vorsichtig. Er hat ganz andere Talente, von denen ich nur träumen kann. Und davon ist das Zaubern eines Gerichts in 15 Minuten, wenn er uns zum Grillen einlädt, noch das Geringste, ich bewundere zum Beispiel seinen ausgeprägten Geschäftssinn«, sagt mein kluger Bruder. Nett ist er auch noch.

Wir lieben uns bis heute: Auch unsere Familien treffen sich oft. Rainer ist auch verheiratet und hat zwei Kinder, so oft wie möglich kommen sie mich besuchen. Und dann sind wir mit meinen zwei Kindern und meiner Frau zu acht. Und wenn wir das Glück vervielfachen wollen, ist unsere muntere Mutter auch dabei. We are Family – dieses umwerfende Lied von Sister Sledge leben wir. Ein kleiner Textauszug aus dieser Hymne: »Jeder kann sehen, dass wir zusammengehören, wenn wir vorbeigehen. Nur fürs Protokoll: Wir schenken Liebe in einer Familiendose. Das Leben ist Spaß und wir haben erst angefangen, unseren Teil von den Freuden der Welt zu bekommen. Wir, nein, wir werden nicht depressiv, das ist unsere goldene Regel. Glaub an dich und an die Dinge, die du tust, dann machst du nichts falsch. Dies ist unser Familienjuwel. Wir sind eine Familie, steht alle auf und singt.«

Na gut, singen tun wir weniger, und ich koche lieber auf. Aber auch zum Kochen muss man aufstehen. Jedes Familientreffen ist ein Fest der Verbundenheit. Und erinnert mich an eine alte Weisheit: Vergesse niemals, woher du kommst.