Das letzte Wort - Ann Cleeves - E-Book

Das letzte Wort E-Book

Ann Cleeves

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Beschreibung

Die Dramaturgie des Tötens Die ruppige Kommissarin Vera Stanhope ist niemand, der leicht Freundschaften schließt. Doch ihre Nachbarin hat sie sofort ins Herz geschlossen. Als Joanna vermisst wird, macht sie sich höchstpersönlich auf die Suche. Die Spur führt zum Writers House, wo gerade ein Krimi-Workshop stattfindet. Dort hat man es längst nicht mehr mit fiktiven Mordfällen zu tun: Im Wintergarten wurde ein Dozent erstochen. Angeblich von Joanna. Doch die beteuert ihre Unschuld. Kein leichter Fall für Vera: Jeder der Kursteilnehmer hatte Grund, den Mann zu hassen. «Eine Kommissarin, die man einfach mögen muss!» (Freundin)

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Ann Cleeves

Das letzte Wort

 

 

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

 

Über dieses Buch

Die Dramaturgie des Tötens

 

Die ruppige Kommissarin Vera Stanhope ist niemand, der leicht Freundschaften schließt. Doch ihre Nachbarin hat sie sofort ins Herz geschlossen. Als Joanna vermisst wird, macht sie sich höchstpersönlich auf die Suche.

Die Spur führt zum Writers House, wo gerade ein Krimi-Workshop stattfindet. Dort hat man es längst nicht mehr mit fiktiven Mordfällen zu tun: Im Wintergarten wurde ein Dozent erstochen. Angeblich von Joanna. Doch die beteuert ihre Unschuld.

Kein leichter Fall für Vera: Jeder der Kursteilnehmer hatte Grund, den Mann zu hassen.

 

«Eine Kommissarin, die man einfach mögen muss!» (Freundin)

Vita

Ann Cleeves, geboren in Herefordshire, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für «Die Nacht der Raben», den ersten Band ihrer Krimireihe, die auf den Shetlands spielt, erhielt sie die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur: den «Duncan Lawrie Dagger Award».

 

Weitere Veröffentlichungen:

(mit dem Ermittler Jimmy Perez)

Die Nacht der Raben

Der längste Tag

Im kalten Licht des Frühlings

Sturmwarnung

Tote Wasser

 

(mit der Ermittlerin Vera Stanhope)

Totenblüte

Opferschuld

Seelentod

Ein dunkler Fleck

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2015

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

«The Glass Room» Copyright © 2012 by Ann Cleeves

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-56871-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Kapitel Eins

Vera Stanhope stieg aus Hectors altem Landrover und spürte sofort wieder die Last ihres Gewichts in den Beinen. Hectors Landrover. Ihr Vater war nun schon seit Jahren tot, aber immer noch betrachtete sie ihn als seinen Wagen. Sie blieb kurz stehen und ließ den Blick übers Tal schweifen. Auch das hatte ihr Vater ihr hinterlassen: dieses Haus. Scheiß auf den ganzen Rest, dachte sie, vielleicht sollte ich ihm ja allein deswegen verzeihen. Es war Oktober, und der Abend zog schon herauf. In der eiskalten Luft hing der Geruch von schwelendem Holz. Die meisten Bäume waren bereits kahl, und die Singschwäne waren auf den kleinen See zurückgekehrt.

Auf dem Heimweg von der Arbeit hatte sie beim Supermarkt vor Kimmerston haltgemacht, und auf dem Beifahrersitz stapelten sich die Einkaufstüten. Sie warf einen schuldbewussten Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass die Luft rein war. Ihre Nachbarn waren militante Umweltschützer, die den Gebrauch von Plastiktüten für eine Sünde hielten, und nach einem Tag im Büro ertrug sie einfach keinen tiefschürfenden Vortrag über die Rettung des Planeten mehr. Doch auf dem Hof nebenan war niemand zu sehen. Auf einem Streifen Unkraut pickten ein paar Hühner herum. Alles war still, und wenn Jack in der Scheune arbeitete, war immer laute Rockmusik zu hören. Oder ein jaulender Blues. Sie holte die Tüten aus dem Landrover und stellte sie auf der Türschwelle ab, um ihre Schlüssel zu suchen.

Doch die Tür war schon offen. Ihr ganzer Körper spannte sich an, und gleichzeitig spürte sie einen Schauer der Erregung. Ausgeschlossen, dass sie zur Arbeit fuhr, ohne die Tür abzusperren. An diesen ganzen romantischen Quatsch, dass man auf dem Land ruhig seine Türen offen lassen könne, hatte sie noch nie geglaubt. Verbrechen passierten auch in ländlichen Gemeinden. Sie kannte die Berichte und wusste, dass in den hübschen Mittelklasseschulen in Northumberland ebenso viele Drogen konsumiert wurden wie in den städtischen Highschools. Auf dem Lande konnten es die Lehrer nur besser unter den Teppich kehren. Mit dem Ellbogen stieß sie die Tür auf und dachte, ein Einbruch wäre nun wirklich das Letzte, was sie brauchen könne. Bei ihr gab es nicht viel, was man hätte klauen können. Jeder Einbrecher, der etwas auf sich hielt, hätte beim Anblick ihrer Secondhandklamotten, ihres armseligen Computers und des zehn Jahre alten Fernsehers die Nase gerümpft. Aber der Gedanke, ein Fremder könnte im Haus sein, war ihr zuwider. Und dann müsste sie ja auch die Spurensicherung rufen, und die würden das reinste Chaos hinterlassen und Fingerabdruckpuder auf allen Oberflächen. Danach würden sie wieder ins Büro gehen und allen erzählen, in was für einer Rumpelkammer sie lebte.

Trotz ihres beträchtlichen Gewichts bewegte sie sich leise. Diese Fähigkeit hatte sie schon als Kind erworben. Im Flur blieb sie stehen und lauschte. Im Haus rührte sich niemand. Es sei denn, die Einbrecher waren ebenso leise wie sie. Aber da war ein Geräusch, das Knacken von Zweigen. Irgendwo brannte ein Feuer. Der Geruch von schwelendem Holz kam aus ihrem Haus, nicht von den Cottages im Tal, wie sie zuerst gedacht hatte. Doch das hier war kein Brand, der außer Kontrolle geraten war. Nirgendwo im Haus war Rauch. Nirgendwo tosten die Flammen. Da, wo sie stand, war es nicht heiß.

Sie öffnete die Tür zu ihrem kleinen Wohnzimmer und sah Jack, ihren Nachbarn, auf dem bequemsten Stuhl sitzen. Auf dem Stuhl, wo Hector immer gesessen hatte. Jack hatte die Holzscheite angezündet, die sie im Kamin schon zurechtgelegt hatte, und blickte in die Flammen. Der Schreck und die Anspannung, die sie verspürt hatte, als sie ins Haus gekommen war, fielen von ihr ab, und jetzt wurde Vera wütend. Verdammte Hippies! Sie hatte ihnen einen Schlüssel für Notfälle gegeben und nicht, damit sie in ihrem Haus ein und aus gehen konnten, wann immer ihnen danach war. Sie kannten keinen Respekt vor der Privatsphäre anderer Leute.

«Was zum Teufel machen Sie da eigentlich?»

Jack hob den Kopf, und sie sah, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Sie stieß einen leisen Fluch aus. Was war passiert? Irgendeine Krise daheim? Ein Todesfall in der Familie? Es war ein Fehler gewesen, Bekanntschaft mit ihren Nachbarn zu schließen. Lass die Leute in dein Leben, und schon wollen sie was von dir. Sie hasste es, wenn jemand etwas von ihr wollte.

Dann erinnerte sie sich daran, wie oft Jack und Joanna die Zufahrt vom Schnee freigeschaufelt hatten, damit sie runter ins Tal zur Arbeit fahren konnte. An die Nächte, in denen sie sich uneingeladen zu ihnen hinübergeschlichen hatte, um ein paar Flaschen Selbstgebrautes zu mopsen, wenn sie dringend was zum Trinken brauchte. Die Abende, an denen sie alle drei am Küchentisch saßen, zusammen aßen und über irgendeinen dämlichen Witz lachten.

Er machte eine Kopfbewegung zum Feuer hin. «Tut mir leid», sagte er. «Es war verdammt kalt. Und zu Hause wollte ich nicht warten, nachdem ich mich dazu durchgerungen hatte, mit Ihnen zu reden.»

«Was ist los, Jack? Was ist passiert?»

Er schüttelte den Kopf. «Es geht um Joanna. Ich weiß nicht, wo sie steckt.»

Jack stammte aus Liverpool, ein sanftmütiger, gutherziger Kerl. Früher war er bei der Handelsmarine gewesen und durch die Welt gereist, er hatte genug Geschichten auf Lager, um einen vom Abendessen bis in feuchtfröhliche Morgenstunden hinein bestens zu unterhalten. Irgendwann hatte er begonnen, vom Landleben zu träumen, und als er vierzig wurde, kaufte er den kleinen Hof, der an Veras Haus grenzte. Er war in der Stadt groß geworden, und seine einzige Berührung mit dem Leben auf dem Lande waren seine jährlichen Pilgerfahrten zum Glastonbury Festival gewesen, aber irgendwie schaffte er es. Er arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und noch darüber hinaus. Oft, wenn sie von einem schwierigen Fall kurz vor Mitternacht heimkam, hörte Vera ihn noch in der Scheune und steckte ihren Kopf durchs Tor, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Und diese lose Bekanntschaft ermöglichte es ihr, zu glauben, dass ihre Kollegen unrecht hatten. Sie hatte sehr wohl Freunde. Sie hatte ein Leben jenseits der Arbeit.

«Was meinen Sie damit?» Vera versuchte, geduldig zu bleiben, obwohl sie einem Mann, der weinte, immer am liebsten eine runterhauen würde.

«Sie ist jetzt seit zwei Tagen verschwunden. Ohne ein Wort. Ich glaube, sie ist krank. Aber sie will nicht darüber sprechen.»

«Inwiefern krank?» Kurzes Schweigen. «Krebs?» Ihre Mutter war an Krebs gestorben, als Vera klein war, und noch immer scheute sie wie abergläubisch davor zurück, das Wort auszusprechen.

Er schüttelte den Kopf. Sein langsam grau werdendes Haar war in einem Pferdeschwanz zurückgebunden. «Ich glaube, es sind ihre Nerven. Eine Depression. Sie ist am Montag verschwunden, als ich auf dem Bauernmarkt in Morpeth war. Sie muss sich ein Taxi genommen haben. Sie hat gesagt, sie braucht etwas Raum für sich.»

«Sie hat Ihnen gesagt, dass sie geht?»

Wieder schüttelte er den Kopf. «Nein, sie hat eine Nachricht hinterlassen.» Er zog einen Zettel aus seinen Jeans, schob auf dem Tischchen neben sich einen Becher mit fünf Tage altem Kaffeesatz beiseite und legte die Nachricht so hin, dass Vera sie lesen konnte.

Vera erkannte die Handschrift. Joanna kommunizierte oft über kleine Nachrichten. Violette Tinte und gestochen scharfe, leicht geneigte Buchstaben, markant und schön. Habe den Klärbehälter geleert. – In der Scheune ist ein Päckchen. – Lust, heute Abend zum Essen rüberzukommen? In dieser hier stand: Bin ein paar Tage weg. Brauche etwas Platz für mich. Im Topf ist Suppe. Mach dir keine Sorgen. Keine Unterschrift, nicht mal ein J. Kein Kuss.

«Ein paar Tage», sagte Vera. «Sie kommt wieder. Oder sie ruft an.»

Er sah düster zu ihr hoch. «Sie hat ihre Pillen nicht genommen.»

«Was für Pillen?» Vera wusste, dass Jack Dope rauchte. Sein ganzes Haus roch danach. Manchmal, wenn er ein paar Bier zu viel intus hatte, drehte er sich auch bei ihr einen gigantischen Joint, ohne daran zu denken, dass er sie damit in Verlegenheit bringen könnte. Einmal hatte er ihn ihr sogar angeboten. Sie war versucht gewesen, hatte aber abgelehnt. Sie wusste, wie anfällig sie für Süchte aller Art war; besser, sie blieb bei legalen Lastern. Sie hatte angenommen, dass Joanna auch Dope rauchte, konnte sich aber nicht erinnern, sie jemals dabei gesehen zu haben. Joannas Droge war Rotwein, den sie aus einem großen, mattblauen Glas trank. «Das ist alles, was mir vererbt wurde», hatte sie einmal gesagt, während sie das Glas gegen das Licht hielt. «Alles, was ich noch von zu Hause habe.»

«Tabletten», sagte Jack. «Lithium. Damit sie seelisch nicht aus dem Gleichgewicht gerät.»

«Und deswegen machen Sie sich solche Sorgen?»

«Sorgen mache ich mir schon seit Wochen. Sie hat sich komisch verhalten. Hat nicht mehr mit mir geredet. Aber jetzt ist sie verschwunden.»

Schon als Vera die beiden zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass Jack Joanna anbetete. Immer wieder blickte er verstohlen zu ihr hinüber, blühte in ihrer Gegenwart auf. Joanna war eine stämmige Frau mit langem, weizenblondem Haar, das sie zu einem Zopf geflochten trug, der ihr den Rücken hinabfiel. Sie hatte ausdrucksvolle dunkle Augenbrauen. Einen breiten Mund und große braune Augen. Alles in ihrem Gesicht war groß und auffallend – und die Hände und Füße passten dazu. Sie trug riesige rote Lederschuhe, bunt geflickte Latzhosen und selbstgestrickte Pullover in leuchtenden Farben. Hätte man Vera gebeten, Joanna mit einem Wort zu beschreiben, dann hätte sie «vergnügt» gesagt. Dass Joanna depressiv sein könnte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Eher noch das Gegenteil, manchmal lachte Joanna zu laut und war bei Partys immer die Letzte, die ging, verteilte großzügig Küsschen und Umarmungen. Nicht unbedingt auf verführerische Art, aber doch aufsehenerregend. Vera fragte sich oft, ob Joanna früher vielleicht Theaterschauspielerin gewesen war oder Künstlerin. Oder ob sie aus vornehmen Kreisen kam. Sie sprach wie eine Adlige, mit so einem Tonfall, wie man ihn noch in den Sechzigern bei der BBC hatte hören können. Aber Joannas Leben vor Jack wurde nie erwähnt.

Vera ging zu den Einkaufstüten, die immer noch auf der Türschwelle standen, und nahm ein paar Flaschen Bier heraus. Neben dem Kaffeebecher auf dem Wohnzimmertischchen lag ein Flaschenöffner. So viel zu dem häuslichen Abend, den sie geplant hatte: das Bettzeug wechseln, ein paar Handtücher in die Waschmaschine stecken.

«Na los», sagte sie. «Erzählen Sie mir alles.»

«Ich habe nie begriffen, was sie an mir findet.» Seine Stimme war brüchig, der Liverpooler Akzent kam jetzt noch deutlicher hervor.

«Hören Sie auf, um Komplimente zu betteln», raunzte Vera ihn an. «Für Kinderkram habe ich keine Zeit.»

Erschrocken hob er den Kopf. Er hatte Mitgefühl erwartet, geglaubt, sie würde ihm ihre Hilfe anbieten.

«Wo haben Sie sich kennengelernt?» Vera war sich nicht sicher, inwieweit das von Bedeutung war, aber sie hatte es sowieso schon immer wissen wollen und dachte, so käme er wenigstens ins Reden.

«In Marseille», sagte er. «In einer Hafenbar. Ich habe da unten gearbeitet, hatte gerade meinen Vertrag mit der Schiffsgesellschaft erfüllt und meinen Lohn in der Tasche. Sie saß da ganz allein, hatte schon eine halbe Flasche Wein getrunken. Sie wollte sich betrinken und nicht etwa nur ein Gläschen zu ihrem Fisch genießen. Sie hörte, wie ich mit der Bedienung sprach, merkte, dass ich mich im Leben nicht würde verständlich machen können, und übersetzte für mich. Sie hat schon immer gern ein bisschen angegeben. Wir kamen ins Gespräch. Sie kennen das ja.»

«Was hat sie in Marseille gemacht?»

«Sie war auf der Flucht vor ihrem Mann», sagte Jack. «Irgendeinem reichen Bastard.» Er verstellte seine Stimme, nahm einen vornehm-gezierten Ton an: «Er war Büroleiter in Paris. Irgend so ein Geschäftsmann. Oder Banker. Oder sonst ein Wichser. Paris–Marseille war die größtmögliche Entfernung, die sie zwischen ihn und sich bringen konnte.»

«Warum ist sie nicht nach England zurückgekehrt?» Vera dachte, wenn man seinen Mann verlassen hat, will man doch Freunde um sich herum. Sogar die Familie.

«Sie konnte nirgendshin. Sie ist so was wie das schwarze Schaf in der Familie. Die haben gedroht, sie einzuweisen, wenn sie ihren Mann verlässt. Sie in die Klapsmühle zu sperren, wissen Sie.» Er schwieg kurz. «Sie hat versucht, sich umzubringen. An ihrem Handgelenk ist eine Narbe. Die habe ich gleich beim ersten Mal gesehen, als wir da in der Sonne vor der Bar in Marseille saßen. Die ist immer noch da. Joanna nennt sie ihre Kriegsverletzung.»

«Die ist mir nie aufgefallen.»

«Deswegen trägt sie immer diese ganzen Armreifen. Wie dem auch sei, das ist schon lange her. Ich habe ihr da rausgeholfen. Bin mit ihr zum Arzt gegangen. Wenn sie ihre Tabletten nimmt, geht es ihr gut. Sie meinten, sie hätte eine bipolare Störung. Keine Ahnung, ich wäre jedenfalls verrückt geworden, wenn ich erlebt hätte, was sie durchgemacht hat.»

«Aber sie hat aufgehört, ihre Tabletten zu nehmen?»

«Aye. Hat gesagt, ihr geht’s jetzt wieder gut und sie braucht sie nicht mehr.» Wieder hielt er inne und blickte hoch, Vera direkt in die Augen. «Ich glaube, es gibt da einen anderen Mann.» Dann: «Ich glaube, sie will dieses Hochgefühl, verliebt zu sein. Deswegen hat sie aufgehört, ihr Lithium zu nehmen.»

«Wo sollte sie denn einen anderen Mann kennenlernen?» Vera dachte, dass er seiner Phantasie nun die Zügel schießenließ. «Wen trifft sie denn überhaupt, wenn man mal von Chris im Pub und Arthur, dem Tierarzt, absieht?»

«Sie hat ihren eigenen Freundeskreis», sagte Jack. «Ihre eigenen Interessen. Das war von Anfang an so abgemacht. Ich sollte ihr nicht sagen, wie sie zu leben hat.» Er zögerte. «Letzte Woche hat sie telefoniert und aufgelegt, als ich ins Zimmer gekommen bin. Sie wollte nicht sagen, wer dran war.»

«Was glauben Sie denn, wo sie hingegangen ist?» Vera merkte, dass ihr Bier alle war. Sie dachte, dass sie Jack gern loswerden würde, bevor sie sich noch eins aufmachte. Dann könnte sie es in Ruhe genießen.

«Ich weiß es nicht», sagte er. «Wenn ich es wüsste, würde ich losziehen und sie suchen.»

«Obwohl Sie ihr nicht sagen wollten, wie sie zu leben hat?» Vera sah ihn an, forderte eine vernünftige Antwort von ihm. «Vielleicht ist es ja wirklich nur so, wie sie in ihrer Nachricht schreibt, und sie braucht ein paar Tage für sich.» Das wird ein Kinderspiel für mich, herauszufinden, wo Joanna hin ist, dachte sie. Im Umkreis von zehn Meilen vom Hof gab es bloß ein einziges Taxiunternehmen, das jeder hier in Anspruch nahm. Wenn sie Tommy Wooler anrief, würde sie bald wissen, wo Jo sich versteckte. Wenn Jack sich nicht solche Sorgen machen würde, hätte er auch schon daran gedacht.

«Sie nimmt ihre Tabletten nicht mehr», sagte er wieder und beugte sich nach vorn, um sicherzugehen, dass Vera auch verstand, wie wichtig seine Worte waren. «Seit Tagen steckt sie in einem Wechselbad der Gefühle: In einem Moment strahlt sie vor Freude, singt und lacht, und im nächsten ist sie furchtbar gereizt und schreit herum. Sie ist nicht sie selbst. Ich werde sie sicher nicht gegen ihren Willen zurück nach Hause zerren. Glauben Sie wirklich, ich würde mit ihr zusammenleben, wenn sie nicht bei mir sein wollte? Glauben Sie, ich würde sie zwingen, unglücklich zu sein? Ich weiß ja, dass Sie mich für ein Weichei halten, aber für Joanna Tobin würde ich mein Leben lassen.» Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. «Ich mache mir Sorgen um sie, ich habe Angst, dass sie sich was antun könnte.»

«Sie glauben, dass sie wieder versuchen könnte, sich umzubringen?»

«Ja», sagte er. «Genau das glaube ich. Wenn die Dinge nicht gut für sie laufen. Wenn, was immer sie sich erträumt, nicht in Erfüllung geht.»

Vera rappelte sich hoch. In ihren Tüten waren tiefgefrorene Lebensmittel, die bald auftauen würden. «Was soll ich also für Sie tun?»

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. «Sie finden natürlich. Sich vergewissern, dass es ihr gutgeht.»

«Und dann?»

«Das ist alles.» Er war ebenfalls aufgestanden, und sie gingen zur Tür. Draußen fror es, und der Himmel war mit Sternen übersät. «Vergewissern Sie sich nur, dass es ihr gutgeht.»

Kapitel Zwei

Großer Gott, dachte Vera, wenn irgendeiner von den anderen auch nur daran denken würde, so was zu tun – auf eigene Faust ermitteln, den Privatdetektiv spielen –, dem würde ich ja so die Hölle heißmachen. Sie stand im Anbau und räumte den Inhalt ihrer Einkaufstüten in den Froster. Es war eine Gefriertruhe, eigentlich zu groß für sie, wo sie doch allein lebte. Genauso groß, fiel ihr jetzt zum ersten Mal auf, wie die Truhe, in der Hector seine ganzen toten Tiere und Vögel aufbewahrt hatte, das Herzstück seiner illegalen Betätigung als Präparator. Die hatte sie rausgeworfen, als Hector gestorben war. Sie hatte gestunken. Aber warum hatte sie sich dann wieder eine gekauft, und zwar genau die Gleiche? Für gewisse Seelenklempner wäre das bestimmt ein gefundenes Fressen. Oder sie würden den Schluss ziehen, dass Vera zu faul und phantasielos war, um selbst zu denken.

Und warum hatte sie sich bloß einverstanden erklärt, Jacks Bitten nachzukommen und die Grafschaft auf der Suche nach Joanna zu durchkämmen? Weil ich viel zu weichherzig bin, dachte sie. Weil ich Happy Ends liebe und die beiden wieder zusammenbringen will, als wäre ich ein großer fetter Amor in Gummistiefeln. Weil es verdammt schwer auszuhalten wäre, hier zu wohnen, ohne die beiden nebenan.

In der Küche machte sie sich noch ein Bier auf, legte eine Schweinepastete und eine Tomate zusammen mit einer Scheibe knusprigen Brots und einem Stück noch eingepackter Butter auf einen Teller und trug das Ganze auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Das Feuer war fast heruntergebrannt, und sie warf ein paar Holzscheite nach. Auf der Uhr aus den Dreißigern auf dem Kaminsims war es gerade neun. Besser, sie versuchte jetzt gleich, Tommy Wooler anzurufen. Für gewöhnlich verbrachte er die Zeit bis zur Sperrstunde im Percy Arms in Sallyford.

Er erkannte ihre Handynummer. «Wo stecken Sie denn? Sind Sie wieder sturzbetrunken und brauchen ein Taxi nach Hause?»

«Kein Tropfen ist über meine Lippen gekommen, Tommy. Na ja, jedenfalls nicht so viel, dass es Ihnen auffallen würde, und ich sitze sicher und wohlbehalten zu Hause. Ich brauche ein paar Informationen.»

«Was für Informationen?» Jetzt klang er vorsichtig. Als junger Bursche hatte er ab und zu herumrandaliert. Nicht böswillig, er war bloß ein bisschen dumm und ungestüm gewesen. Mit ein paar von den üblen Kerlen, die er in der Jugendstrafanstalt in Castington kennengelernt hatte, war er in Verbindung geblieben. Vera hatte ihn noch nie nach ihnen gefragt, aber er blieb eben auf der Hut.

«Vor zwei Tagen haben Sie Joanna Tobin gefahren.» Das war eine Feststellung, keine Frage.

«Aye, das stimmt.» Er klang nicht argwöhnisch, bloß erleichtert, dass sie sich nicht nach seinen alten zwielichtigen Bekanntschaften erkundigte. Vera fragte sich, was die wohl im Schilde führen mochten und wieso Tommy so nervös war, und machte sich eine Notiz im Geiste, da mal nachzuforschen. Oder Holly nachforschen zu lassen.

«Wo haben Sie sie noch mal hingebracht?» Als wüsste sie es im Grunde schon und es wäre ihr nur gerade entfallen.

Tommy war das jetzt egal. Er wollte bloß noch in den Pub.

«An die Küste. In Richtung Howick.»

«Wohin genau, Tommy?» Sie spürte, wie ihr Magen knurrte, und hatte das Gefühl, dass die Pastete sie hämisch angrinste.

«Genau weiß ich das nicht. Sie musste mir den Weg sagen. Irgendwo im Nirgendwo. Sie wusste nicht mal die Postleitzahl, deshalb konnte ich es nicht ins Navi eingeben. Ein Albtraum!» Er schwieg kurz. «Sie hat es das Writers’ House genannt. Komischer Name.» Wieder schwieg er. «Was wollen Sie denn von ihr?»

Aber Vera gab keine Antwort. Sie hatte schon aufgelegt und den Mund voller Pastete.

 

Am nächsten Morgen lag Jack schon draußen auf der Lauer, um sie abzufangen, bevor sie nach Kimmerston aufbrach. Sie war früher dran als sonst und hatte gedacht, sie könnte ihm entwischen. Wie lang war er wohl schon da auf dem Hof? Er tat so, als würde er an seinem alten Traktor arbeiten, aber Vera wusste nur zu gut, dass er sie kontrollierte. Sie ging zu ihm hin, baute sich vor ihm auf, die Beine leicht gespreizt, die Hände in die Hüften gestemmt, und herrschte ihn in dem scharfen Tonfall an, mit dem sie ihrem Team auch immer klarmachte, dass es ihr ernst war.

«Ich habe Ihnen versprochen, dass ich nach ihr suche. Aber das mache ich, wie und wann ich es für richtig halte. Sobald es was Neues gibt, sage ich Ihnen schon Bescheid.»

Er nickte, sagte aber nichts, und bei Jack – aus dem sonst die blumigsten Worte heraussprudelten, dessen Leben aus einer Abfolge von Geschichten bestand – sprach ein solches Schweigen Bände. Sie stieg in den Landrover und fuhr los, wobei sie genau wusste, dass er sie bis zum Ende der Zufahrt nicht aus den Augen ließ.

Im Büro googelte sie nach dem Writers’ House und fand es sofort. Es wirkte alles andere als bedrohlich. Außer natürlich man hielt Dichter und Romanautoren für bedrohlich. Schriftsteller aller Art konnten sich dorthin zurückziehen, und zudem wurde übers Jahr verteilt eine Reihe von Schreibseminaren auf unterschiedlichsten Niveaus angeboten. Was hatte sie denn erwartet? Einen mittelalterlichen Turm, in dem Joanna von einem Verrückten gefangen gehalten wurde, der sie dazu gebracht hatte, sich in ihn zu verlieben? Die Bilder auf der Website zeigten ein großes, weiß getünchtes Bauernhaus. Dem Begleittext zufolge war es zum Teil sehr alt und hatte einst als Befestigung gegen die Schotten gedient, die in England eingefallen waren. Tatsächlich sah man auf einem Bild eine kahle Außenmauer mit Zinnen. Und es gab eine kleine, düstere Kapelle. Im Haus jedoch war alles sehr geschmackvoll und keine Spur mittelalterlich. Steinfliesen auf dem Küchenboden, freiliegende Deckenbalken, abgebeizte Holztüren. Gemütliche Sofas und Sessel, und nur gelegentlich ließ ein Flipchart erkennen, dass es sich nicht um ein reines Wohnhaus handelte. Anscheinend wurde das Writers’ House von einem Unternehmen gleichen Namens betrieben, und das wiederum leitete eine gewisse Miranda Barton.

Auf der Website waren Fotos der Dozenten abgebildet, und selbst Vera erkannte ein paar Namen: Da gab es einen Dichter, der ab und zu im Fernsehen auftrat und sich über den Niedergang der britischen Kultur ausließ, und einen Dramatiker. Die Gebühren kamen ihr astronomisch hoch vor, und bestimmt lagen sie weit über Joannas Mitteln. Es sei denn, Joanna besaß noch ein finanzielles Polster aus ihrer Ehe, das sie geheim hielt. Auf der Website stand in großen roten Buchstaben, dass talentierte Autoren auch Stipendien erhalten könnten, und Vera kam der Gedanke, dass hinter Joannas Verschwinden nichts Beunruhigenderes stecken mochte, als dass sie sich für eine Schriftstellerin hielt. Vielleicht hatte sie ja ein Stipendium erhalten, war aber davor zurückgeschreckt, Jack von ihrem Vorhaben zu erzählen. Vielleicht wollte sie warten, bis sie etwas fertig geschrieben hatte, bevor sie es ihm sagte.

Am selben Tag, an dem Joanna sich von der Myers Farm davongestohlen hatte, hatte eines der Seminare begonnen: Kein Sterbenswort zu viel. Die Kunst, einen zeitgenössischen Kurzkrimi zu schreiben. Sterbenswort, dachte Vera. Das ist gut. Man merkt, dass sie mit Worten umgehen können. Sie hatte gerade auf den Link geklickt, als sie Schritte vor ihrem Büro hörte: Joe Ashworth, ihr Sergeant, auf die Minute pünktlich für die tägliche Morgenbesprechung. Sie schaltete den Computer aus und fühlte sich ein bisschen schuldig, ohne so recht zu verstehen, wieso.

 

Am späten Nachmittag spazierte sie in das Großraumbüro, wo Joe gerade sein Überstundenformular ausfüllte.

«Ich bin dann weg», sagte sie. «Ich nehme mir ein paar von den Stunden, die mir noch aus dem Lister-Fall zustehen.»

«Gehen Sie ins Fitnessstudio?» Er lächelte verschmitzt. Er wusste, dass man ihr geraten hatte abzunehmen.

«Scheren Sie sich zum Teufel.» Aber das war nicht böse gemeint. Nach einer Woche voller Strategie-Meetings und Mitarbeitergespräche freute sie sich darauf, das Büro hinter sich zu lassen. Draußen war es noch klar und sonnig, und als sie an den frisch umgebrochenen Feldern vorbei Richtung Osten fuhr und die Bäume längs der Straße vor ihr lange Schatten in der niedrig stehenden Sonne warfen, fühlte sie sich so zuversichtlich wie schon ewig nicht mehr. Wie seit ihrer letzten großen Ermittlung nicht mehr.

Sie hatte sich von der Website des Writers’ House eine Wegbeschreibung ausgedruckt und musste hin und wieder anhalten, um sich zurechtzufinden. Da sie im Grunde nicht dienstlich unterwegs war, hatte sie wieder Hectors Landrover genommen. Ohne GPS. Sie fühlte sich so herrlich frei, als würde sie blaumachen. Einmal, als sie eine Hügelkuppe umrundete, hatte sie einen Blick auf Alnmouth mit seinen hübschen bunten Häusern und der Bucht und wandte sich dann gen Norden, vorbei an den Masten und Kuppeln des Militärflugplatzes in Boulmer. Und dann, nachdem sie ein paarmal falsch abgebogen war und ein paar Sträßchen verpasst hatte, konnte sie das Haus sehen. Es lag an einem steil abfallenden Hang, der sich bis zur Küste hin erstreckte, und war landeinwärts durch ein Wäldchen geschützt. Ein altes, befestigtes Gehöft und ein neuer Anbau, der vom Meer abgewandt stand. Die Kapelle bildete die eine Seite eines Innenhofs. Vera hielt an einem Gatter, um sich zu orientieren und zu überlegen, wie sie nun weiter vorgehen wollte. Jetzt, wo sie hier war, war sie nicht ganz sicher, wie sie sich am besten verhalten sollte. Was, wenn sie beim Seminar gerade mitten in einer leidenschaftlichen Diskussion über die Bedeutung von Literatur und Leben steckten? Vera stellte sich vor, wie sie alle im Kreis in dem Salon saßen, den sie im Internet gesehen hatte, Schreibblöcke auf den Knien, die Stirn konzentriert gerunzelt. Bestimmt würden alle das Drama einer solchen Unterbrechung genießen: Wenn Vera hereinspazierte und verlangte, mit Joanna zu sprechen. Alle außer Joanna, die entsetzlich gedemütigt wäre. Hier wäre wohl mal ein bisschen Takt angebracht, meine Liebe, sagte sich Vera.

Es musste doch, dachte sie, Personal geben. Einen Büroleiter, einen Koch, jemanden, der die Betten machte und die Toiletten reinigte. Leute, mit denen sie sprechen konnte, um ein Gefühl für diesen Ort zu bekommen. Wenn die Gäste hier schon so viel Geld für eine Woche am Ende der Welt bezahlten, erwarteten sie sicher, dass man sich um sie kümmerte. Sie beschloss, das Auto da stehenzulassen, wo es war, und zu Fuß weiterzugehen, das Gelände zu sondieren und zu warten, bis alle Gruppensitzungen und Workshops vorbei waren und sie Joanna allein erwischen konnte.

Es dämmerte jetzt schnell, und es war kühler geworden. Die schmale Zufahrt, auf der Vera ostwärts den Hang hinabging, lag vollständig im Schatten. Das Haus, das morgens in hellem Sonnenlicht liegen musste, wirkte nun düster und trostlos. Überall auf dem Sträßchen lagen die toten Blätter von den Bäumen des kleinen Waldes. Einmal wäre Vera fast ausgerutscht. Schließlich erreichte sie das Tor des Writers’ House. Dort hing ein fachmännisch gemaltes Schild mit dem Logo eines Federkiels, das sie von der Website her wiedererkannte, und dahinter erstreckte sich ein riesiger Garten. Ab dem Haus verlor sich die Zufahrt in einen schmalen Weg, kaum mehr als ein Trampelpfad. Dieser führte steil zu dem kleinen Kiesstrand hinunter, der ihr schon vom Auto aus ins Auge gefallen war. Andere Gebäude waren nicht zu sehen. Wenn man irgendwo schreiben wollte, ohne abgelenkt zu werden, gab es wohl keinen besseren Ort als diesen. Aber Vera hatte das Gefühl, dass es bestimmt ein ganz schön langer Marsch bis zum nächsten Pub war.

Als sie sich dem Haus näherte, wurde sie nervös. In einem solchen Umfeld war ihr einfach unbehaglich zumute. Sie konnte schließlich nicht ihren Dienstausweis zücken und Respekt und Aufmerksamkeit verlangen. Es war ja kein Verbrechen begangen worden. Und mit diesen ganzen Künstlertypen war sie noch nie sonderlich gut ausgekommen: diese Leute, die immer so hochtrabende Worte verwendeten, aber nichts Greifbares zu sagen hatten. Im Umgang mit den Verbrechern, die sie vor Gericht brachte, fühlte sie sich weitaus wohler.

Jetzt konnte sie die Einzelheiten besser erkennen: ein großes Haus, und dann ein paar alte Nebengebäude, Ställe womöglich, die man zu einem Cottage umgebaut hatte. Die Gebäude wiesen alle auf einen gepflasterten Hof, der einst bestimmt zu einem bäuerlichen Anwesen gehört hatte. Zu Veras Rechten stand die kleine Kapelle, die früher der Großfamilie gedient haben musste, die hier gelebt hatte. Im Haupthaus brannte inzwischen Licht, nur die Vorhänge waren noch nicht zugezogen. Dies war Veras liebste Tageszeit. Sie war schon immer neugierig gewesen und genoss es, die Straßen entlangzugehen und Einblicke in das häusliche Leben anderer Menschen zu erhaschen. Und worum ging es schließlich bei der ganzen Polizeiarbeit, wenn nicht darum, seine Nase in das Leben anderer Leute zu stecken? Es gab eine große Haustür, aber um die machte Vera einen Bogen. Sie sah aus, als wäre sie von innen verschlossen, und die Kommissarin wollte nicht an der Messingglocke ziehen, die außen hing. Nicht bevor sie wusste, ob Joanna noch dort war, und sie selbst eine Vorstellung davon hatte, was drinnen vor sich ging.

Sie schlich um das Haupthaus herum, wobei sie den Kiespfad mied und sich auf dem Rasenstück hielt, das direkt an der Mauer entlangführte. Dabei bewegte sie sich vollkommen lautlos. Als sie beim ersten Fenster ankam, blieb sie mit dem Rücken zum Haus stehen. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie ganz und gar lächerlich aussehen musste. Wenn da jemand weiter oben am Hang stand und hinunterschaute – ein Vogelbeobachter, beispielsweise, mit einem Fernglas –, würde der sie wohl für verrückt halten oder für einen besonders tölpelhaften Einbrecher. Immer noch eng an die Hauswand gedrückt, sodass sie von drinnen nicht gesehen werden konnte, spähte sie durchs Fenster. Die Küche. Mit dem Rücken zu ihr stand ein junger Mann in einer weißen Kochjacke vor einem Herd und rührte in einem Topf. Auf dem Tisch standen eine Teekanne und zwei blaue Becher. Eine ältere Frau saß da und las in einem maschinegeschriebenen Manuskript. Sie sah ziemlich aufgetakelt aus, mit blond gefärbtem Haar. Die Nägel der Finger, mit denen sie jetzt die Seiten umblätterte, waren rot lackiert. War das Miranda Barton? Von Joanna jedenfalls war nichts zu sehen, und Vera bückte sich und huschte unter der Fensterbank weiter.

Das nächste Zimmer war leer. Es sah aus wie eine Bibliothek, die Wände vollgestellt mit Bücherregalen. Ein paar Tischchen standen herum und Stühle mit Lederbezügen. Dann bog Vera um die nächste Ecke und befand sich auf einer steinernen Veranda, die aufs Meer hinausging. Auf dem Rasen weiter unten war ein Futterplatz für Vögel mit ein paar kunstvoll gefertigten Näpfen voller Nüsse und Körner. Im Norden konnte sie den Leuchtturm bei den Farne Islands sehen und im Süden Coquet Island. Im Sommer war es sicher herrlich, hier zu sitzen. Vera stellte sich vor, wie sie, nachdem sie den Tag über geschrieben hatten, hier saßen, teuren Wein tranken und über ihre Einfälle sprachen. Ihre Show abzogen. Warum hatte sie das Bedürfnis, darüber zu spotten? Weil die Leute, die über Bücher oder Malerei oder Filme sprachen, ihr immer das Gefühl gaben, ungebildet zu sein und von nichts eine Ahnung zu haben.

Sie blieb an der Ecke stehen, denn die zum Meer gewandte Seite bestand zum größten Teil aus Glas. Es gab zwei hohe Fenster, die beinahe von der Decke bis zum Boden reichten, mit einer gläsernen Doppeltür dazwischen. Ein großes, helles Zimmer. Das war der Salon, den man auf der Website gesehen hatte, mit den Sofas und Sesseln. Und drinnen waren Leute. Vera hatte den Eindruck, als wäre die Gruppe gerade dabei, sich zu zerstreuen. Alle standen herum und plauderten. Es hatte wohl Tee gegeben, denn sie hatten Tassen und Untertassen in den Händen und balancierten Gebäck auf Papierservietten. Jetzt war es draußen fast vollkommen dunkel, und Vera dachte, dass sie kaum mehr Gefahr lief, gesehen zu werden. Die Leute im Salon waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Ihre Gesichter wirkten angeregt. Sie waren zu sechst, doch die Tür, die ins Haus führte, stand offen, ein paar Leute waren also vielleicht schon gegangen. Von Joanna jedenfalls keine Spur.

Vera blieb einen Moment lang stehen und fragte sich, wie Joanna wohl in diese Gruppe passen mochte. Joanna, mit den großen Händen und Füßen, ihrem lauten Lachen und den dreckigen Fingernägeln. Mit ihren leuchtend bunten, selbstgenähten Klamotten. Wenn sie wirklich hier war, war sie dann schon in die Einsamkeit ihres Zimmers geflüchtet, eingeschüchtert vom Selbstvertrauen ihrer Mitstreiter?

Vera beschloss, dass es an der Zeit war, zur Haustür zurückzugehen, an der Messingglocke zu ziehen und darum zu bitten, mit Joanna sprechen zu können. Sie hatte sich jetzt eine Geschichte zurechtgelegt. Es gebe ein Problem zu Hause: ein Verwandter sei krank geworden. Und just in dem Moment hörte Vera einen Schrei, der die Gruppe auf der anderen Seite der Glasfront aus ihren angeregten Gesprächen riss. Das schien kein Mensch mehr zu sein, der diesen alterslosen, geschlechtslosen Schrei ausstieß: gellend und durchdringend und markerschütternd.

Kapitel Drei

Vera konnte nicht sagen, woher der Schrei kam. Aus dem Haus? Wenn ja, wieso war er dann so laut, selbst hier draußen? Der Schrei schien sie einzukreisen, sie förmlich zu verschlingen. Vielleicht lag es daran, dass er so schrill war, doch sie hatte das Gefühl, ihn gar nicht richtig mit den Ohren zu hören, als vielmehr bis tief in die Knochen hinein zu spüren. Es gab kein Entrinnen. Sie taumelte ein paar Schritte zurück und sah nach oben. Im ersten Stock des Hauses führte eine gläserne Doppeltür, die der hier unten, die auf die Terrasse hinausging, genau glich, auf einen Balkon aus Stein. Da stand die Frau aus der Küche, lehnte sich im Schein des Lichts aus dem Raum hinter ihr über die Brüstung und ließ das Gellen aus ihrer Lunge in die kalte Luft strömen. Vera fühlte sich an einen Besoffenen erinnert, der sich übergab. Plötzlich brach der Schrei ab.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Vera endlich ins Haus kam. Es war so schwer, sich überhaupt bemerkbar zu machen, ins Innere des Hauses zu gelangen, dass sie an einen ihrer immer wiederkehrenden Albträume denken musste: Sie war noch ein Kind, ausgesperrt aus einem Haus, in dem ihre Mutter im Sterben lag, und nie fand sie einen Weg hinein, um sie zu retten. Jetzt hämmerte die erwachsene Vera gegen die Verandatüren, wo wenige Augenblicke zuvor die Gäste noch ihren Tee getrunken hatten. Niemand hörte sie. Sie mussten alle davongestürmt sein, um zu schauen, woher der Schrei kam. Vera lief zurück ums Haus zur Eingangstür. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, und sie strauchelte, kam vom Pfad ab und geriet in die dichten Büsche. Sie bahnte sich einen Weg durchs Gestrüpp, kämpfte verzweifelt gegen die Panik an und glaubte, dass sie in die falsche Richtung unterwegs war, da sie den Pfad immer noch nicht wiedergefunden hatte. Die Zweige zerkratzten ihr das Gesicht und zerrten an ihren Kleidern. Sie zwang sich, stehen zu bleiben. Sie war kein Kind mehr, das sich verlaufen hatte.

In der Ferne hörte sie das schwache Geräusch von Wellen auf Kies. Als sie sich davon abwandte, zeichnete sich über den Büschen der wuchtige Umriss des Hauses klar gegen den Himmel ab. Vera fand zu dem Pfad zurück und ging ums Haus herum zur Eingangstür. Von drinnen war kein Laut zu hören. Als sie auf ihre Uhr sah, stellte sie fest, dass sie fast zwanzig Minuten lang im Garten umhergeirrt war. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und klaubte sich ein Blatt von der Jacke, dann läutete sie die Messingglocke, indem sie an dem Seil zog, das mit einem schweren Klöppel verbunden war. Niemand kam. Im Cottage auf der anderen Seite des Hofs brannte Licht, und sie überlegte, ob sie dorthin gehen sollte. In dem Moment ging die Tür auf, und sie erblickte den jungen Koch, der in der Küche gearbeitet hatte. Er trug immer noch seine weiße Jacke.

«Hier entlang», sagte er. Dann fügte er zerstreut hinzu: «Wie sind Sie so schnell hergekommen?»

Einen Augenblick lang fühlte Vera sich wie eine sehr fette Alice in einem bizarren Wunderland. Der Koch stürzte ihr voraus einen schmalen Korridor hinunter und überließ es ihr, ihm zu folgen oder nicht. Er war dünn, mit nachtdunklem Haar. Als er ihr eben die Tür aufgemacht hatte, hatte sie auf seinen Handrücken und den Unterarmen schwarze Härchen gesehen. Ein Wolf im Chefkochpelz. Durch eine halb offen stehende Tür erhaschte sie einen Blick auf die Gäste des Hauses, doch der Koch lief so schnell, dass sie niemanden deutlich erkennen konnte, während sie ihm hinterherhastete. Wenn Joanna dort drinnen war, hatte Vera sie jedenfalls nicht gesehen. Innen war das Haus noch viel größer, als sie vermutet hätte, ein Labyrinth aus engen Korridoren und winzigen Zimmern. Er führte sie eine kleine Treppe hoch. Mittlerweile hatte Vera vollkommen die Orientierung verloren; von außen hatte sie offenbar gerade mal den neuen Anbau gesehen, und hier gab es auch keine Fenster mehr, mit deren Hilfe sie hätte herausfinden können, welche Richtung sie eingeschlagen hatten.

«Ich war sowieso gerade in der Gegend.» Endlich hatte sie nah genug zu ihm aufgeschlossen, um seine Frage zu beantworten. Sie waren so schnell unterwegs, dass sie etwas außer Atem war.

«Ich habe auch einen Rettungswagen bestellt. Keine Ahnung, wo die bleiben.»

«Hm», machte sie. «Die werden wohl ein bisschen brauchen, bis sie hier sind. Kommen höchstwahrscheinlich von Alnwick.»

«Eigentlich …» Der junge Mann zögerte. «Eigentlich glaube ich nicht, dass die Zeit drängt. Sie werden ja doch nichts mehr tun können.» Am Ende des Gangs blieb er stehen und machte die Tür auf.

Sie hatte etwas anderes erwartet. Sie hatte gedacht, in ein Schlafzimmer geführt zu werden, ein luxuriöses Schlafzimmer, wegen des Balkons. Aber jetzt fühlte sie sich wieder wie Alice im Wunderland. Wieder war alles auf den Kopf gestellt. Es sah aus, als hätte man ein Stück Natur ins Haus hinein verpflanzt. Alles war grün und voller Leben. Sie blieb auf der Schwelle stehen und blickte sich um.

Das Zimmer im ersten Stock war ein Wintergarten. Ein hoher, schmaler Raum mit Glastüren, die auf den Balkon führten, und auch die Dachschräge war aus Glas. Das hatte sie unten von der Terrasse aus nicht sehen können. Und die Seitenwände waren ebenfalls aus Glas. Auf einem gefliesten Fußboden standen bunte Korbstühle herum. Töpfe mit riesigen Pflanzen voll glänzender dunkler Blätter bildeten einen tropischen Miniaturdschungel. Die Pflanzen waren dick und fleischig, eine hatte einen hohen Stängel mit rosafarbenen Blüten. Es roch nach Kompost und feuchter Vegetation. Bei Tageslicht musste man von hier einen umwerfenden Blick aufs Meer haben. An der einzigen gemauerten Wand hing ein großer Spiegel in einem grünen Rahmen. Das Glas musste alt und schon gesprungen sein, denn es warf ein leicht verzerrtes Spiegelbild, und als Vera hineinblickte, spürte sie ein flaues Gefühl im Magen, ganz als wäre sie seekrank. Es war sehr warm in dem Raum.

«Und was soll ich mir jetzt hier anschauen?» Sie schüttelte den Kopf, versuchte, wieder klar zu sehen.

«Hat man Ihnen das nicht gesagt? Ich musste doch alles schon zweimal erzählen.» Der junge Mann schritt an den Pflanzen und Gartenmöbeln vorbei und machte die Glastür zum Balkon auf. Kalte Luft strömte herein, und in der Ferne hörte man die Flut auf den Kies plätschern. Der Balkon war breit und lag links und rechts der Glastüren im Halbdunkel. Ungeduldig drehte der Koch sich zu Vera um. «Hier draußen!»

Sie folgte ihm auf den Balkon und sah in dem schwachen Licht, das aus dem Wintergarten fiel, einen Mann, der in einer Ecke der Steinbrüstung kauerte, die Knie fast bis zum Kinn hochgezogen. Das sah seltsam aus, denn sein kurzgeschnittenes Haar war grau; er war wohl so um die sechzig. Ältere Männer hockten sich nicht auf den Fußboden, weil sie nur schwer wieder hochkamen. Die Gelenke knarzten. Und Ende Oktober würde sich auch niemand mehr auf einen Steinfußboden setzen. Das Licht aus dem Wintergarten warf seltsame Schatten auf sein Gesicht. Er sah wütend aus. Empört.

Er trug ein pastellfarbenes Hemd unter einem schwarzen Sakko. In diesem Licht war es schwer, die genaue Farbe des Hemds zu erkennen. Es war voller Blut. Und der Steinboden und die Wand waren ebenfalls voller Blut. Als sie genauer hinschaute, entdeckte Vera einen Blutspritzer auf der Glastür. Offenbar war der Mann erstochen worden, doch ein Messer war auf den ersten Blick nicht zu sehen.

«Wer ist das?»

«Das habe ich doch schon gesagt, als ich die Polizei angerufen habe.» Langsam wurde der junge Mann argwöhnisch. «Wer sind Sie eigentlich?»

«Aye, wissen Sie, es wird nicht alles weitergeleitet.» Vera zeigte ihm ihren Dienstausweis, froh, dass sie ihn gleich beim ersten Griff in ihre Tasche hatte; sie hielt ihn so, dass das Licht auf das Foto fiel. «Ich bin Detective Inspector Stanhope. Und wie heißen Sie?»

«Alex Barton.»

«Dann leitet Ihre Mutter dieses Haus?» Sie hätte ihn für einen Angestellten gehalten und konnte die Überraschung in ihrer Stimme nicht verbergen.

«Wir leiten es gemeinsam. Ich bin gleichberechtigt. Auch wenn man das manchmal nicht glauben würde.» Das klang verbittert, und Alex bereute den Kommentar sofort, nachdem er ihm herausgerutscht war. Er merkte, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt war, Familienstreitigkeiten zur Sprache zu bringen. «Wollen Sie denn nicht wissen, was hier vorgefallen ist? Sollten Sie nicht mit –»

«Aber sicher, Herzchen. Erzählen Sie mir zunächst einmal etwas über das Opfer.» Vera hatte es noch nie leiden können, wenn man ihr sagte, wie sie ihre Arbeit machen sollte. Sie nahm Alex beim Arm und führte ihn durch den seltsamen, verglasten Garten zurück in den Korridor. «Aber besser hier draußen, ja? Wir wollen am Tatort ja nicht noch mehr durcheinanderbringen als ohnehin schon.»

Auf dem Weg zum Wintergarten war ihr an einer Stelle, wo sich zwei Korridore kreuzten, eine kleine Sitzgruppe aufgefallen. Dort standen eine Chaiselongue und ein niedriges Tischchen, das mit ausgewählten Zeitungen und Literaturzeitschriften übersät war. Auch hier gab es kein Fenster, und eine schummrige Wandlampe mit rotem Schirm warf das einzige Licht. Vera dachte, dass es ziemlich mühsam sein musste, hier irgendwas zu lesen, und dass das ganze Haus eher wie eine große Bühne aussah denn wie ein Ort zum Arbeiten und Schreiben. Vorsichtig ließ sie sich auf dem Sofa nieder, und Alex setzte sich dazu.

«Wo sind die anderen alle?», fragte sie. Wenn so etwas geschah, gab es doch immer Zuschauer.

«Ich habe ihnen gesagt, sie sollen im Salon warten.»

«Und sie machen immer, was Sie ihnen sagen, was, Herzchen?» Darauf antwortete er nicht, und sie fuhr fort. «Was wissen Sie über den Kerl da auf dem Balkon?»

«Haben Sie ihn denn nicht erkannt?» In der Frage schwang etwas Überhebliches mit. Den gleichen Ton hatte Vera einmal geerntet, als sie in einem schicken Restaurant Pommes frites bestellt hatte.

«Dann ist er also berühmt, was?»

«Er heißt Tony Ferdinand. Professor Tony Ferdinand. Er lehrt an der Uni, schreibt Kritiken und ist der Guru der Kulturschaffenden. Sie haben ihn bestimmt schon mal in der Culture Show gesehen. Und auf BBC4 hat er diese Reihe über den zeitgenössischen Roman gemacht.» Der junge Mann wartete nicht auf Antwort. Vielleicht hatte er schon erraten, dass Vera nicht unbedingt zu denen gehörte, die regelmäßig BBC4 sahen. «Großer Gott, das wird ein Albtraum. Jetzt werden wir gar keinen von den Londoner Unileuten mehr dazu bewegen können, herzukommen. Stellen Sie sich bloß mal die Schlagzeilen vor! Durchgeknallte Nachwuchsschriftsteller schneiden Dozenten die Kehlen durch! Dabei ist es so schon schwer genug, die Schnösel mal aus London wegzulocken!»

«Er hat also für Sie gearbeitet?» Aber gemocht hatten sie ihn wohl nicht gerade, dachte Vera, wenn Alex’ erste Überlegung dem Geschäft galt und nicht dem Toten.

«Er hat sich herabgelassen, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren.» Alex merkte, dass Vera weitere Erklärungen brauchte. «Er ist alle paar Jahre wieder als Dozent ins Writers’ House gekommen. Nie ohne darauf herumzureiten, dass er meiner Mutter damit einen Riesengefallen tut. Sie sind schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet. Aber als wir angefangen haben, die Schreibseminare anzubieten, war seine Unterstützung echt eine Menge wert.» Er hielt inne, offenbar wurde ihm bewusst, dass er gefühllos klang. «Tut mir leid. Es ist schwer zu glauben, dass er tot ist.»

«Wie lange kennen Sie ihn denn schon?» Vera unterdrückte ein Schmunzeln. Dieser junge Mann hier war doch kaum älter als ein Kind und konnte höchstens seit ein paar Jahren am Writers’ House beteiligt sein.

«Eigentlich solange ich denken kann. Seit ich klein war. Tony hat zur gleichen Zeit am St. Ursula’s gearbeitet wie meine Mutter, und als sie ihr erstes Buch veröffentlichte, haben seine guten Kritiken ihrer Karriere einen ganz schönen Schub gegeben.»

Vera hatte keine Ahnung, wie so was ablief. Das St. Ursula’s? Das war eine Welt, die ihr völlig unbekannt war.

«Ist sie denn auch Schriftstellerin?»

«Aber natürlich. Miranda Barton!» Er schwieg kurz. «Ich nehme an, heutzutage ist sie nicht mehr so bekannt. Aber lassen Sie sich nicht anmerken, dass Sie noch nie von ihr gehört haben. Sie wäre zutiefst gekränkt.»

«Tut mir leid, Herzchen. In meinem Beruf komme ich nicht so oft zum Lesen. Was Romane angeht jedenfalls.» Aus der Ferne hörte sie das durch die dicken Mauern gedämpfte Heulen einer Polizeisirene. Die örtliche Kavallerie kam angetrabt und machte sich lauthals bemerkbar. Wozu um alles in der Welt brauchten die eine Sirene? Um einen Traktor und ein paar Schafe von der Straße zu scheuchen?

«Was hat Mr. Ferdinand denn diesmal hier gemacht?», fuhr Vera fort. «Hat er einen Kurs für dieses Seminar gegeben, Kein Sterbenswort zu viel?»

«Theoretisch ja.» Wieder glaubte sie, Bitterkeit aus der Stimme des jungen Mannes herauszuhören. Dieser Fall hatte offenbar einiges an Verwicklungen zu bieten. Wenigstens hoffte sie das. Sie mochte Fälle, in die sie sich richtig hineinwühlen konnte, Fälle, bei denen sie zeigen konnte, was für eine exzellente Ermittlerin sie war.

«Und praktisch?»

«Er war hier, um seinem Ego zu schmeicheln, um sich zu vergewissern, dass er immer noch genauso viel Einfluss besitzt wie früher. 1990 hat der Observer über ihn geschrieben, er würde Stars erschaffen. Ich glaube, er hielt immer Ausschau nach neuen Stars, um seine Bedeutung am literarischen Sternenhimmel unter Beweis zu stellen.»

Wieder war Vera sich nicht sicher, was das genau bedeuten sollte, aber jetzt war nicht die Zeit, ihre Unwissenheit ein weiteres Mal zu demonstrieren.

«Wer hat die Leiche gefunden?», fragte sie.

Alex lehnte sich in der Chaiselongue zurück, als wäre er plötzlich erschöpft. «Meine Mutter. Tony sollte vor dem Abendessen noch eine offene Fragestunde abhalten. Wie man einen Agenten findet oder einen Verleger, wie man seine Arbeiten am besten einreicht, so was alles. Das war oft der beliebteste Kurs der ganzen Woche, über die praktischen Aspekte, wie man es schafft, seine Werke auch zu veröffentlichen. Dafür sind viele von den Teilnehmern überhaupt hergekommen. Natürlich haben sie alle gehofft, Tony würde ihr Genie erkennen und sie an einen Agenten oder Verleger weiterempfehlen. Er hatte Charisma, wissen Sie. Ein lobendes Wort von ihm, und schon haben sie sich für Schriftsteller gehalten. Zum Tee war Tony nicht aufgetaucht, deshalb ist Mutter ihn suchen gegangen. Der Wintergarten hat zu seinen Lieblingsorten hier gehört.»

«So nennen Sie den Raum? Den Wintergarten?»

«Ja.» Wieder sah er Vera argwöhnisch an.

«War das denn ungewöhnlich? Dass Mr. Ferdinand nicht rechtzeitig zu seinen Kursen erscheint?»

«Doch, schon. Es war nicht unbedingt angenehm, mit Tony zu arbeiten, aber er war sehr professionell.»

«Und Ihre Mutter ist hier hochgekommen und hat ihn auf dem Balkon gefunden?» Vera fragte sich, ob das Sinn ergab. Wenn man jemanden suchte, würde man dann nicht einfach nur den Kopf durch die Tür stecken, um nachzusehen, ob er im Zimmer war? Woher konnte Alex’ Mutter wissen, dass Ferdinand zusammengesackt an der Balkonbrüstung hockte?

«Ja», sagte Alex. «Und dann war die Hölle los.» Obwohl er sich angesichts des Mordes an dem Professor entsetzt gezeigt hatte, kam es Vera so vor, als fehlte dem jungen Mann jedes echte Gefühl. Er tat einfach nur so, als ob. Was man von seiner Mutter nicht behaupten konnte. Vera hatte Miranda Bartons gellenden Schrei noch immer in den Ohren, sie spürte ihn im ganzen Körper widerhallen. Natürlich war der Anblick des Mannes auf dem Balkon – der starre und wütende Ausdruck seines Gesichts, das Blut – ein Schock. Doch Vera glaubte, dass hinter dem Schrei mehr als nur Schock gesteckt hatte. Etwas Persönlicheres. Wie bei einer Mutter, die um ihr Kind trauerte. Oder einer Frau, die ihren Liebsten beklagte.

«Der Wintergarten liegt direkt über dem Salon», fuhr Alex fort, «deshalb konnten alle, die gerade Tee tranken, sie hören. Alle sind nach draußen gerannt, um zu sehen, was los war. Das Letzte, was ich wollte, war irgendein Riesenzirkus, deshalb habe ich ihnen gesagt, sie sollen unten warten. Es braucht nicht viel, um meine Mutter aus dem Häuschen zu bringen. Wenn überhaupt, war mir das Ganze peinlich. Ich dachte, sie macht bloß eine Szene. Als ich Tony dann sah, brachte ich Mutter nach unten und bat Giles Rickard, einen von den anderen Dozenten, sie in unser Cottage zu bringen. Dann bin ich ins Büro gegangen, um die Polizei zu rufen.»

«Und den Krankenwagen», sagte Vera.

Jetzt zeigte er erstmals ein bitteres kleines Lächeln. «Das war albern, ich weiß. Aber ich habe vorher noch nie einen Toten gesehen. Ich brauchte wahrscheinlich eine Bestätigung, einen Arzt, der mir sagt, dass ich mir das alles nicht bloß ausgedacht habe. Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte.»

An der Haustür klingelte es. «Das wird die örtliche Polizei sein», sagte Vera. «Sie lassen sie am besten herein. Sagen Sie ihnen, dass ich da bin, und bringen Sie sie herauf. Die können den Tatort absichern, und ich kann mit meinen Ermittlungen anfangen.»

Alex stand auf und sah sie merkwürdig an. «Was für Ermittlungen?»

«Na ja, damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt, ich mache Kriminelle dingfest.» Eingekeilt, wie sie da in diesem engen Lese-Eck saß, mit den seltsamen Schatten, die das rote Licht auf die weiße Wand warf, hatte sie wieder das Gefühl, in dem verdrehten Traum eines Fremden herumzutappen. Sie sehnte Joe Ashworth herbei, ihren Sergeant, mit seiner jugendlichen Tatkraft und dem gesunden Menschenverstand.

«Aber das habe ich denen doch schon am Telefon gesagt!» Jetzt verlor der junge Mann offenbar vollends die Geduld mit ihr. «Wir wissen, wer Tony Ferdinand umgebracht hat.»

«Ihre Mutter hat den Mörder gesehen?»

«Nein, ich! Wie ich Ihnen eben sagen wollte. Wie ich es Ihren Kollegen schon erzählt habe. Als meine Mutter geschrien hat, bin ich zum Wintergarten gerannt und hier auf dem Korridor mit der Frau zusammengestoßen. Sie hatte ein Messer in der Hand.»

«Wie praktisch.» So ein Mist, dachte Vera. Da hieß es also zurück zu dem ganzen langweiligen Kram, den elenden Junkies und den Schlägereien in den Pubs, gerade als sie geglaubt hatte, da käme etwas Aufregenderes, das ihr Interesse fesseln könnte. Und dann schoss ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf, der sie sogar noch mehr beunruhigte. «Ich nehme an, Ihre Mörderin hat auch einen Namen?»

«Sie hat am Seminar teilgenommen. Wir haben sie in ihr Zimmer eingeschlossen. Sie heißt Joanna Tobin.»

Kapitel Vier

Joannas Zimmer war klein. An der einen Wand stand ein Einzelbett und an der anderen ein Schreibtisch mit einer Lampe und einem Stuhl. Ein schmaler Schrank. Auf dem Boden lag ein roter Teppich, das Bettzeug und die Vorhänge waren in einem dunkleren Rot gehalten. Eine Tür führte in ein winziges Duschbad. Es sah zwar etwas gemütlicher aus als die Zelle im Gefängnis von Durham, in der sie höchstwahrscheinlich landen würde, war aber kaum größer. Natürlich, dachte Vera, könnte das Gericht auch zu dem Schluss kommen, dass Joanna verrückt sei, und dann würde sie stattdessen in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Vera war sich nicht sicher, was von beidem schlimmer war. Hätte sie die Wahl in einer ähnlichen Situation, würde sie sich wohl fürs Gefängnis entscheiden. Da gäbe es zwar auch jede Menge Spinner, aber man wüsste wenigstens, wann man wieder rauskäme. In Einrichtungen wie Broadmoor dagegen hing die Entlassung von der Laune einer Schar Psychiater und Politiker ab.

Vor der verschlossenen Zimmertür hatte ein Mann gestanden. Er war groß und kräftig gebaut. Sie glaubte, dass er einmal sportlich gewesen sein musste, jetzt aber setzte er langsam Fett an. In billigen Jeans und einem Sweatshirt stand er breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestemmt. Die klassische Pose des Rausschmeißers. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, aber Vera vermutete, dass er die Situation genoss. Insgeheim fand doch jeder so einen Mordfall beinahe genauso spannend wie sie. Das Dramatische daran, der Schauer der Angst und der Rausch, selbst noch am Leben zu sein, zog sie alle an. Schon seit jeher hatten die Menschen sich Geschichten über den Tod und Motive für einen Mord ausgedacht, um ihr Publikum zu faszinieren und zu unterhalten. Natürlich war es etwas anderes, wenn man dem Opfer nahestand. Oder dem Täter. Vera hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie sie Jack beibringen sollte, was hier vorgefallen war.

«Wer sind Sie?», hatte Vera Joannas Bewacher gefragt, bevor er die Tür aufschloss.

«Lenny Thomas.» Schon aus diesen vier Silben konnte sie heraushören, dass der Mann aus Ashington oder einem anderen der Bergarbeiterdörfer im Südosten der Grafschaft stammte und nicht aus dem ländlichen Northumberland.

«Sind Sie hier angestellt? Oder gehören Sie zu den Schriftstellern?» Vera hätte ihn für den Hausmeister oder Gärtner gehalten, aber ihr waren auch schon Akademiker begegnet, die schmuddeliger herumliefen als er.

«Ich bin Schriftsteller.» Plötzlich sah er überrascht aus, als hätte er diese Worte noch nie zuvor ausgesprochen.

«Nehmen Sie am Seminar teil, oder sind Sie Dozent?»

«Ich bin in dem Seminar, aber dieser Professor Ferdinand hat gesagt, dass ich das Zeug dazu hätte, veröffentlicht zu werden. Er hat gesagt, vielleicht nimmt er mich in sein Aufbaustudium auf. Stellen Sie sich das mal vor! Ich soll einen Magister in Creative Writing machen, dabei habe ich gerade mal so meinen Schulabschluss geschafft. Er hat gesagt, das wäre egal. Er wollte ein gutes Wort für mich einlegen. Und ein gutes Wort von ihm würde den Ausschlag geben. Das wüssten alle.» Lenny lachte leise auf, nicht im Mindesten verbittert. «Aber daraus wird jetzt nichts mehr, hm? Insgeheim habe ich ja gewusst, dass es zu schön ist, um wahr zu sein. Leute wie ich haben nie so viel Glück. Aber es war nett, daran zu glauben, wissen Sie, solange es gedauert hat.»

«Wenn er gedacht hat, dass Sie gut genug sind, werden andere das auch tun», sagte Vera.

«Aye, kann sein.» Und Vera erkannte, dass Lenny vermutlich gar nicht so versessen auf den Erfolg war, oder vielleicht traute er sich nicht genug zu, um für seine Arbeit zu kämpfen. Sie deutete mit dem Kinn zur Tür. «Wie geht’s ihr?»

«Macht keinen Ärger», sagte Lenny. «Gibt keinen Mucks von sich.» Und er trat beiseite, um Vera ins Zimmer zu lassen. «Wollen Sie, dass ich mit reingehe?»

«Nein», sagte Vera. «Wir kommen schon zurecht. Gehen Sie und holen Sie sich eine Tasse Tee.»

Sie spürte, dass der Mann enttäuscht war, doch er ging, ohne noch etwas zu sagen.

Joanna saß auf der Fensterbank und blickte hinaus in den Garten. Draußen war es jetzt stockdunkel, und sie konnte eigentlich nichts mehr erkennen. Obwohl sie gehört haben musste, wie die Tür aufging, wandte sie den Kopf nicht um und schien in ihre eigene Welt versunken.

«Na, Kleine, da haben Sie sich ja ganz schön in was reingeritten.»

Vera setzte sich auf die Bettkante. Sie hätte auch den Schreibtischstuhl nehmen können, aber das Bett war bequemer und stand näher bei Joanna. Wenn Joanna den Kopf nur ein klein bisschen drehte, hätte sie Vera im Blickfeld.

«Eine Frage», fuhr Vera fort. «Haben Sie ihn dazu gebracht, sich auf den Balkon zu setzen, und ihn dann erstochen, oder haben Sie’s im Wintergarten erledigt und ihn dann rausgeschafft? Es ergibt irgendwie keinen Sinn. Das werden wir natürlich wissen, sobald der Gerichtsmediziner hier ist, aber wenn Sie mir erklären, wie er da rausgekommen ist, würde uns das Zeit sparen. Im Wintergarten selbst konnte ich kein Blut entdecken, daher glaube ich, dass Sie ihn vorher dazu gebracht haben, rauszugehen.»

Nun drehte Joanna sich doch um, sodass sie ins Zimmer schaute. Es sah aus, als würde sie Vera jetzt erst bemerken. Ihre Haltung, wie sie da auf der Fensterbank saß, mit dem Rücken zum Fenster, war beinahe königlich.

«Ich habe ihn überhaupt nicht umgebracht.» Sie war, wie Lenny gesagt hatte, vollkommen ruhig.

«Ach kommen Sie, Herzchen. Sie sind vor dem Wintergarten im Korridor rumgelaufen und hatten ein Messer in der Hand!»

«Ja, das stimmt», gab Joanna ihr mit diesem vornehmen südenglischen Akzent recht, der Vera immer an eine Gutsherrin denken ließ, die gerade ein Dorffest eröffnete. Oder an die Gattin eines Kolonialherrn. «Ganz Lady Macbeth!»

«Ich brauche Ihre Kleider, für die gerichtsmedizinische Untersuchung.» Vera kam zu dem Schluss, dass die Frau verrückt sein musste und es wohl am besten war, ihre Kleider an sich zu nehmen, solange sie noch kooperierte.

«Ich war im Wintergarten», sagte Joanna. «Aber umgebracht habe ich Ferdinand nicht. Ich habe ihn nicht mal gesehen. Er muss wohl schon tot gewesen sein.» Obwohl sie den Mord abstritt, glitt sie von der Fensterbank und fing an, sich auszuziehen. Sie hatte sich noch nie geschämt, wenn sie nackt war. Einmal, an einem sehr heißen Tag im Juli, hatte Vera sie zufällig gesehen, wie sie nackt in dem Bergsee unweit des Hofs gebadet hatte. Über Veras Überraschung hatte sie laut gelacht: Warum kommen Sie nicht auch rein? Es ist herrlich!

Von der Feldarbeit im Sommer war sie immer noch braun. Sie bewegte sich weich und geschmeidig. An einem Haken an der Tür sah Vera einen Morgenmantel, den sie ihr zuwarf. Sie dachte, dass es vielleicht besser war, ganz am Anfang der Geschichte zu beginnen. «Was haben Sie hier überhaupt gemacht?»

Joanna wickelte sich den Morgenmantel um und knotete ihn zu. Er war aus Seide und sah aus wie ein Kimono. Bestimmt hatte sie ihn für ein paar Pence auf einem Wohltätigkeitsbasar erstanden und triumphierend mit nach Hause gebracht, um damit vor Jack zu posieren.

«Sollte ich denn mit Ihnen reden, ohne einen Anwalt?» Mit einem Mal hatte Joanna ihre anmaßendste Seite hervorgekehrt, und Vera war überrascht.

«Wahrscheinlich nicht», sagte sie. «Wenn Sie wollen, warten wir, bis wir auf dem Revier sind und dort miteinander reden können. Mit Anwalt und Tonband. Mit allem Drum und Dran. Ist wohl auch am besten. Ich habe Sie noch nicht über Ihre Rechte belehrt und kriege nur Ärger, wenn die Sache dann vor Gericht kommt.»

Ein Schatten schien über Joannas Gesicht zu gleiten. «Tut mir leid», sagte sie. «Wenn ich Angst habe, werde ich immer unausstehlich.»

«Jack hat gesagt, dass Sie Ihre Tabletten nicht mehr nehmen.»

Bei Jacks Erwähnung zuckte sie zusammen, und eine Sekunde lang dachte Vera, sie würde in Tränen ausbrechen. «Ja, ein paar Wochen habe ich ausgesetzt, aber jetzt nehme ich sie wieder. Ich habe gemerkt, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, damit aufzuhören. Den gibt es vielleicht nicht.» Sie sah Vera direkt ins Gesicht und lächelte breit. «Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich bin nicht verrückt.»

Und jetzt dachte Vera, dass das wahrscheinlich stimmte. Hier war die Joanna, die sie kannte: laut und sprunghaft, doch klar im Kopf. Aber hatte die Frau dann wirklich einen Professor für Englische Literatur erstochen?

«Erzählen Sie’s mir», wiederholte sie. «Wieso sind Sie hier?»