Das Licht in den Bäumen - Patricia Koelle - E-Book
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Das Licht in den Bäumen E-Book

Patricia Koelle

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Beschreibung

Der Wald ist wie ein Buch mit unzähligen Geschichten – Bestseller-Autorin Patricia Koelle erzählt uns davon in ihrer Sehnsuchtswald-Reihe Die Geschichten über Wälder und Bäume haben Nele schon immer fasziniert. Ihre Großmutter Vio hat sie erzählt, als Nele noch ein Kind war. Jetzt ist Nele erwachsen, und Vio bittet ihre Enkelin, eine kleine Kiefer nach Rügen zu bringen, damit sie dort weiter wachsen kann. Bei ihrer Ankunft lüftet Nele ein Geheimnis, das weit in ihre Familiengeschichte reicht. Sie folgt den Spuren zum Darßer Urwald und trifft dort auf Hella, eine ehemalige Försterin, und auf Timon, der ihr Gefühlsleben gehörig durcheinander bringt. Der Wald lässt Nele nicht mehr los. Und schon bald muss sie sich fragen, wo ihr Platz im Leben eigentlich ist, und ob sie auf der Suche nach der Vergangenheit vielleicht auch zu sich selbst finden kann. »Das Licht in den Bäumen« ist der erste Band der Sehnsuchtswald-Reihe von Patricia Koelle. Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großer Lesegenuss. Weitere Bücher der Autorin: Die Sehnsuchtswald-Reihe: ›Das Licht in den Bäumen‹, ›Das Glück in den Wäldern‹, ›Das Leuchten der Blätter‹, ›Der Klang des Windes‹ Die Inselgärten-Reihe: ›Die Zeit der Glühwürmchen‹, ›Das Lächeln der Libellen‹, ›Die Träume der Bienen‹, ›Das Geheimnis der Grashüpfer‹, ›Die Hoffnung der Marienkäfer‹ Die Nordsee-Trilogie: ›Wenn die Wellen leuchten‹, ›Wo die Dünen schimmern‹, ›Was die Gezeiten flüstern‹ Die Ostsee-Trilogie: ›Das Meer in deinem Namen‹, ›Das Licht in deiner Stimme‹, ›Der Horizont in deinen Augen‹

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Seitenzahl: 534

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Patricia Koelle

Das Licht in den Bäumen

Ein Sehnsuchtswald-Roman

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Als Vio ihre Enkelin bittet, eine kleine Kiefer, die sie einst in einem Balkonkasten gezogen hat, an die Ostsee zu bringen, begibt sich Nele auf eine ungeahnte Reise. Und diese Reise führt sie schließlich zum Darßer Urwald. Dort trifft sie auf Hella, eine ehemalige Försterin, und auf Timon, der ihr Gefühlsleben gehörig durcheinander bringt. Und schon bald lässt der Wald Nele nicht mehr los.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Patricia Koelle ist eine Autorin, die in ihren Büchern ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen, neben Romanen und Geschichten-Sammlungen, die Ostsee- und Nordsee-Trilogie sowie die Inselgärten-Reihe. ›Das Licht in den Bäumen‹ ist der erste Band ihrer Sehnsuchtswald-Reihe.

Für alle, die schon einmal unter einem Baum

Ruhe, Trost, Kraft oder auch nur Schatten

gefunden haben oder es noch tun werden.

Und für jeden Baum im Urwald auf dem Darß

und in der bezaubernden Ruppiner Schweiz,

der mit uns Himmel und Erde teilt.

Nele

Auf dem Weg nach Rügen

2018

1

»Was für ein Mist!« Nele schimpfte über den Stau, der sich einfach nicht auflösen wollte.

»So komme ich nie in diesen merkwürdigen Geschichtengarten!«, sagte sie dann zu einer Fliege an der Windschutzscheibe.

Der Schweiß lief ihr den Rücken herab. In ihrem alten Auto war die Klimaanlage defekt, außerdem war es viel zu heiß für September. Die halbe Welt schien auf der Suche nach Erfrischung unterwegs an die Ostsee zu sein. Wie war es nur dazu gekommen, dass sie ausgerechnet jetzt auf dem Weg nach Rügen war? Und das mit einem Baum auf der Rückbank.

Vor ihr stand seit einer guten Viertelstunde ein Lastwagen und bewegte sich keinen Zentimeter. Nur die überlaute Countrymusic, die aus dem Fahrerfenster dröhnte, erschütterte das Gefährt von Zeit zu Zeit. Ein haariger Arm hing heraus und schlug im Takt gegen das Blech. Nele lehnte sich resigniert zurück und versuchte, sich an den Tag zu erinnern, der sie aus ihrem vertrauten Alltag gerissen und in diese Lage gebracht hatte. Sie versetzte sich nur allzu gern wenigstens in Gedanken auf die Bühne des kleinen Theaters, das sie so liebte. Beinahe konnte sie die Stimme ihrer Chefin hören.

»Das geht so nicht, Nele! Du hast Mars und Venus verwechselt.« Teddy hatte sehr streng geblickt. »Du bist in letzter Zeit überhaupt nicht bei der Sache. Da wird jetzt mal etwas dran geändert!«

Zerknirscht zeigte Nele den beiden Kindern ihre richtigen Plätze im Tanz der Planeten. Diese Aufführung musste perfekt werden. Bald hatten sie Premiere, und das Theater war das Herzensprojekt ihrer alten Lehrerin Teddy. Und außerdem eine große Chance. Teddy hatte es verdient, dass Nele ihr Bestes gab, anstatt über andere Dinge nachzudenken.

Ein Kind kam angerannt. »Nele, kann ich doch lieber eine Wolke sein als ein Stern?«

»Nanu? Bist du sicher, Mia?«

»Jaaa, ganz sicher. Bitte, Nele! Die Kostüme sind so schön.«

Sie hatte fast damit gerechnet. Tüll gab es noch genug im Fundus. »Na, zum Glück geht das noch. Aber du musst Teddy erst fragen.«

»Mach ich!« Glücklich hüpfte Mia davon.

EINFACH THEATER stand über dem schlichten Eingang nahe der altehrwürdigen Albertbrücke, deren steinerne Bögen sich über die Elbe schwangen und schon viel gesehen hatten. Denn hier gab es keine anspruchsvollen, aufwendigen Inszenierungen, die schwer zu verstehen waren. Hier wurde Theater für alle gespielt, einfache Geschichten mit klaren Inhalten, die von menschlichen Schwächen und Liebenswürdigkeiten und den kleinen Wundern der Welt erzählten. Etliche davon waren für Kinder gedacht, aber so, dass sie ihren Eltern ebenso gefielen.

Teddy und ihr Team hatten sich mit Schweiß und Tränen einen guten Ruf aufgebaut. Da durfte man auf gar keinen Fall mal eben das Universum auf den Kopf stellen, indem man die Planeten verwechselte!

 

Teddy hieß eigentlich Thusnelda. Nele hatte nie gedacht, dass es Frauen gab, die wirklich so hießen, bis sie Teddy kennenlernte, die das auch nie richtig hatte glauben wollen und von klein an auf ihrem Spitznamen bestand. Selbst, als sie Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden wurde.

Der Name passte zu ihr. Sie war breit und gemütlich, trug kurze silberne Haare, die an den Seiten wie Ohren hochstanden, wenn sie sich hindurchfuhr, und besaß eine tiefe Stimme, die man überall heraushörte. Dementsprechend verschaffte sie sich mühelos Respekt bei ihren Studenten, die ein gemischtes, kreatives und eigenwilliges Völkchen waren, mit wild wuchernden Ideen und Plänen in den Köpfen. Sie konnten eine wohlwollende leitende Hand gebrauchen. Nele war eine von ihnen gewesen und hatte diese Hand besonders nötig gehabt, weil in ihrem Kopf ein solches Chaos an Einfällen herrschte, dass sie nicht immer damit zurechtkam.

Sie war in Dortmund aufgewachsen. Anfangs hatte sie Heimweh gehabt. Doch wenn sie Teddys Ausführungen lauschte oder auf der Albertbrücke stand und die Silhouette der Stadt betrachtete, bereute sie nicht einen Tag, hier Bühnen- und Kostümbild studiert zu haben.

Nun hatte sie ihr Diplom schon ein paar Jahre in der Tasche, aber es war schwer gewesen, Aufträge zu bekommen. Als Teddy in den Ruhestand ging und endlich ihren Traum vom eigenen Theater verwirklichen wollte, hatte sie Nele angerufen, die ihr schon öfter bei praktischen Projekten assistiert und mit der sie unter ihren Studentinnen am besten harmoniert hatte. Nele kam gut mit Teddys gelegentlich barscher Art klar.

»Macht nichts«, hatte sie unbekümmert geantwortet, als Teddy sich einmal bei ihr dafür entschuldigt hatte. »Ich bin das gewöhnt. Meine Großmutter Vio ist da ganz ähnlich. Und sie ist genau richtig so.«

»Vio?«, wunderte sich Teddy.

»Violaine«, erklärte Nele. Sie hatte den vollen Namen immer wunderschön gefunden, aber Vio wollte ihn nicht hören. »Viel zu umständlich. Der gehört in eine andere Zeit«, hatte sie kategorisch abgewinkt.

Teddys Gesicht hellte sich auf. »Ah! Noch so ein merkwürdiger Name! Da scheinen wir ja einiges gemeinsam zu haben, deine Oma und ich. Lade sie doch unbedingt mal zu einer Generalprobe ein!«

Teddy und Vio, so unterschiedlich sie bis auf die gelegentliche Ruppigkeit im Wesen waren, verstanden sich von Anfang an glänzend, obwohl Vio um einiges älter war als Teddy. Nele war sich nie sicher, wie begeistert sie davon war. Wenn sie den beiden zuhörte, wie sie über Neles Leben diskutierten, fühlte sie sich manchmal wieder wie ein Kind. Doch zurzeit, da Vio hinfälliger wurde, war es gut, dass sie mit Teddy über ihre diesbezüglichen Sorgen sprechen konnte.

 

»Was ist los mit dir, Nele? Wo bist du nur neuerdings immer mit deinen Gedanken?«, fragte diese, nachdem Nele den Kindern nach der Probe aus ihren Kostümen geholfen hatte. Nun saß sie hinter den Kulissen und vollzog einige Änderungen am Hut des kleinen Mars. Dabei konnte man gut nachdenken. An den Bäumen im Hintergrund musste sie auch noch etwas verbessern. Sie fand, ein Bühnenbild stimmte fast immer erst, wenn einige Baumsilhouetten lebendige Akzente setzten. Das gab dem Raum Tiefe, Höhe und Lebendigkeit.

»Vio hat mich vor ein paar Wochen gebeten, ihr bald einen Wunsch zu erfüllen.« Nele bekam schon wieder einen Kloß im Hals und musste aufpassen, sich nicht in den Finger zu stechen. Die Oberfläche des Mars, die wie rote Steine wirken sollte, war so widerspenstig.

»Und wo ist da das Problem?«, erkundigte sich Teddy geduldig. »Deine Großmutter hat selten Wünsche, soviel ich weiß.«

»Eben! Genau das macht mir Angst. Was, wenn es ihr letzter ist? Wenn sie nur noch bleibt, bis das erledigt ist?« Nele ärgerte sich über die Tränen, die sie selbst in ihrer Stimme hörte. Ihre Chefin hielt nichts von Gefühlsausbrüchen.

Doch Teddy berührte tröstlich ihre Schulter. »So ein Unsinn. Vio hat noch eine Menge Energie in sich, glaub mir!«

»Aber das Laufen fällt ihr immer schwerer. Manchmal kann sie kaum das Gleichgewicht halten.«

Teddy schnaubte. »Daran stirbt man nicht. Umso klarer ist sie im Kopf. Ich hatte gerade neulich erst mit ihr eine Diskussion über Quantenphysik. Ernsthaft! Was will sie denn von dir?«

»Ich soll für sie Bäume versetzen.«

»Bitte was sollst du?«

»Na ja, ein Bäumchen«, gab Nele zu. »Ich soll für sie einen jungen Baum, den sie im Balkonkasten gezogen hat, nach Rügen bringen. Also, den Baum hat das Eichhörnchen wohl dort eingepflanzt. Aber seither hegt und pflegt sie ihn. Ich habe mich schon länger über diese Kiefer zwischen Goldmohn und Minipetunien gewundert, aber Vio hat nichts dazu gesagt. Und nun behauptet sie, es wäre Schicksal, dass die von selbst da gewachsen ist, und ich soll ihr in einem Garten auf Rügen einen Platz suchen, wo Menschen Pflanzen mit einer persönlichen Geschichte hinbringen können. Die Geschichte wird daneben auf ein großes Schild gedruckt, damit alle Besucher sie lesen können und sie nicht vergessen wird. Ein Garten der Lebensgeschichten sozusagen.«

»Na, das klingt doch schön. Fast wie ein sehr langsames Theater«, fand Teddy. »Jetzt bin ich aber neugierig. Was ist denn Vios Geschichte?«

»Keine Ahnung!«, sagte Nele verstimmt. »Sie sagt, darum brauche ich mich nicht zu kümmern. Die hat sie den Leuten dort schon geschickt, damit die das Schild drucken können. Ich soll bloß noch den Baum hinbringen.«

»Und nun drängt sie dich dazu?«

»Eben nicht! Sie hat mich nur einmal darum gebeten, das Bäumchen dort hinzubringen, wenn ich mal Zeit habe. Seitdem hat sie kein Wort mehr gesagt.«

»Und umso mehr lastet es auf deiner Seele und lenkt dich ab«, stellte Teddy fest.

»Scheint so. Dieser komische Baum steht da auf ihrem Balkon und sieht mich jedes Mal mahnend an, wenn ich sie besuche.«

»Na, da gibt es nur eins.« Teddy nahm ihr die Nadel aus der Hand. »Du machst es einfach! Und zwar so schnell wie möglich. Vom Warten wird es nicht besser.«

»Aber, Chefin, die Premiere ….«

»Nix da. Kein aber.« Teddys Meinung war so fest und unerschütterlich wie der Turm der wiederaufgebauten Frauenkirche. »Aber ist die Pest! Es hält einen von allem ab, was man längst hätte tun sollen. Zum Kuckuck damit. Geh packen! Um die kleinen Wolken und Planeten können wir uns eine Weile auch ohne dich kümmern. Du hast Katrin gut angelernt, die schafft das schon.«

Genau das wollte Nele nicht. Es war doch auch ihr Projekt! Sie hatte schon so viel Leidenschaft hineingesteckt, nächtelang an Details der Kulissen gebaut und die Kostüme ausgearbeitet. Sie liebte es, Dinge mit ihren Händen zu gestalten. Bühnenbilder und Gewänder aus recyceltem Material, wenn möglich, und doch voller Phantasie und Märchenhaftigkeit, die den Aufführungen ihren besonderen Zauber verliehen und die Zuschauer in andere Welten mitnahmen.

Doch sie kannte Teddy, die leider auch noch recht hatte, und wagte kein weiteres Aber.

 

»Ich hatte keine Wahl«, sagte Nele zu der Fliege. Jetzt stand sie also in diesem bescheuerten Stau und sehnte sich zurück in ihre enge Werkstatt, wo sie schneiden, nähen, formen, nageln und zeichnen konnte. Wenn sie Pappe bog und Umrisse ausschnitt, Drahtgestelle montierte oder Modelliermasse anstrich, gab ihr dies das Gefühl, alles im Griff zu haben. Das Leben. Die Welt. Sich selbst. Es half ihr, ihr altes Gespenst der Melancholie zu verscheuchen, das gar nicht zu ihr passte und sich dennoch immer wieder anschlich. Von hinten und völlig unerwartet, immer in jenen Momenten, in denen sie eigentlich glücklich war. Dann legte sich etwas über sie wie eine unsichtbare Wolke, ein kühler grauer Nebel, der sie lähmte. Mit Arbeit konnte sie das immer abschütteln, aber nie auf Dauer. Keiner wusste davon. Nele schämte sich dafür. Es ging ihr doch gut!

Aber dieses ungreifbare Gefühl hatte sie schon als Kind manchmal überkommen, seit sie ihre Freundin verloren hatte und es einsam um sie geworden war. Die Abstände waren irgendwann größer geworden, und sie hatte gehofft, es würde ganz verschwinden.

In letzter Zeit allerdings war diese graue, kalte Wolke immer öfter zurückgekehrt. Nele konnte sich das nicht erklären. Es erfüllte sie mit einer zunehmenden Unruhe, und auch das war ein Grund, warum sie nicht mehr so konzentriert gewesen war. Die Bitte ihrer Großmutter hatte es nur noch schlimmer gemacht. Alles schien außer Kontrolle zu geraten, ohne dass etwas Besonderes passiert war. Vielleicht konnte sie diesen Prozess ja aufhalten, indem sie den Baum pflanzte und Vio damit glücklich machte?

 

»Na endlich!« Der Lastwagen rollte an. Die Kolonne geriet in Bewegung, und sie kam Rügen immerhin ein paar Meter näher. Doch der Verkehr blieb zäh wie Kaugummi. Als sie einen Rastplatz entdeckte, fuhr sie kurzentschlossen auf den Parkplatz, stieg aus und atmete tief durch. Neben ihr an einem alten blauen Käfer, dessen Türen weit offen standen, lehnte eine ältere Frau. Sie aß einen Schokoriegel und hob ihn zum Gruß wie ein Weinglas, als ihr Blick Neles traf. »Schlimm heute auf der Straße. Da braucht man Seelenfutter.«

»Prima Idee. Das mach ich auch«, beschloss Nele und holte sich in dem kleinen Shop gleich zwei Riegel mit Erdnüssen und eine eiskalte Cola. Sofort ging es ihr besser.

»Und? Gut?«, fragte die Frau mit dem Käfer, die inzwischen genüsslich ein Eis am Stiel verspeiste.

»Sehr gut.« Nele lächelte ihr zu. Manchmal war es hilfreich, an die einfachen Dinge erinnert zu werden. »Auch wenn meine Mutter entsetzt wäre.«

»Ihre Mutter mag keine Schokolade?« Die Frau klang ehrlich erschrocken, als wäre das unvorstellbar. Nele musste lachen.

»Doch, schon. Aber meine Eltern sind beide Köche in einem Restaurant. Gehobene Küche. Für sie fällt ein Schokoriegel nicht unter essbare Dinge.«

»Also, mir schmeckt es!« Die Frau warf den Stiel in einen Papierkorb und leckte sich die Finger ab. »Was einen glücklich macht und einem neue Energie gibt, kann nicht verkehrt sein. Also dann, gute Weiterfahrt!«

»Danke, gleichfalls.« Nele sah dem Käfer nach, der in einer Wolke, die seinem hustenden Auspuff entströmte, holpernd zurück auf die Autobahn entschwand. Auf dem Rücksitz saß ein Pudel und schien ihr die Zunge herauszustrecken. Dem war bestimmt auch warm.

Sie holte sich noch ein Wasser, von dem sie dem Bäumchen im Topf etwas abgab. Es sah in der Hitze so deprimiert aus, wie sie sich vorhin selbst gefühlt hatte.

Und dann kaufte sie sich auch ein Eis. Die Kälte mit dem Vanillearoma kitzelte angenehm in ihrem Magen und weckte eine plötzliche, neue kleine Freude darüber, dass man sie gezwungen hatte, aus ihrem Alltag auszubrechen. Sie stand hier mitten im Nichts auf einem Rastplatz, an einem Ort, an dem sie noch nie gewesen war, völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Das wirkte erstaunlich befreiend. Andere Leute waren mit ihrem Hund unterwegs. Sie eben mit einem Baum. Das hatte was.

 

Vielleicht inspirierte sie dieser Garten auf Rügen ja zu dem einen oder anderen neuen Bühnenbild. Oder, wenn es dort so viele Geschichten gab, sogar für ein eigenes Stück? Sie hatte Teddy nie verraten, dass sie davon träumte, eines Tages selbst eines zu schreiben. Dann könnte sie die Kulissen bauen und die Kostüme für ihre Geschichte schneidern. Alles würde perfekt zusammenpassen.

Vielleicht war es das, was sie so unruhig machte? War es Zeit, endlich mit ihrem Vorhaben zu beginnen? Traute sie sich das denn zu? Zwar war sie inzwischen schon zweiunddreißig. Aber fehlte ihr dafür nicht trotzdem noch Erfahrung?

»Was du nicht versuchst, wirst du auch nicht schaffen«, sagte Vio immer in solchen Fällen. Neles Großmutter hatte niemals vor irgendeiner Aufgabe verzagt. Vielleicht lag es daran, dass sie nie verheiratet gewesen war. »Ich bin zu gern unabhängig«, hatte Vio auf alle mehr oder weniger diskreten Fragen zu ihrem Liebesleben geantwortet. »Das fordert mich, und ich roste nicht ein. Hat schon immer gut funktioniert.«

Vio war mit dieser Einstellung ihrer Zeit voraus gewesen. Den Namen von Neles Großvater hatte sie niemals jemandem verraten. Man ging davon aus, dass es ein Besatzungssoldat gewesen war, ein Engländer vielleicht oder ein Amerikaner, der wieder in seine Heimat entschwunden war und Vio entweder sitzengelassen oder gar nichts von seiner Vaterschaft gewusst hatte. Das war in jenen Jahren oft genug vorgekommen.

 

Nele wünschte, sie hätte mehr von Vios Mut und Entschlossenheit geerbt. Sie atmete tief durch und startete den Motor. Sie würde damit anfangen herauszufinden, ob jener Garten auf der Ostseeinsel vielleicht nicht nur Platz für einen Baum, sondern auch Inspiration für sie selbst zu bieten hatte.

Und gegen innere Unruhe sollte Reisen ja bekanntlich helfen.

2

Vio hatte ihr auf der Insel ein Zimmer besorgt. Das war so typisch! Wenn Neles Großmutter etwas wollte, schuf sie Tatsachen. Es war immer noch Hauptsaison, und auf Rügen gab es so gut wie keine freien Unterkünfte. Doch das war nichts, was sie akzeptierte.

Sobald Nele erwähnt hatte, dass sie jetzt zu der Fahrt bereit war, hatte Vio sich zum Telefonieren zurückgezogen und ihr eine Viertelstunde später einen Zettel hingelegt. »In dieser Pension gibt es ein Zimmer für drei Nächte. Ich habe einfach die Besitzerin des Gartens gefragt. Sie kennt sich ja aus und hat das für dich klargemacht.«

»Wieso drei Nächte?« Insgeheim hatte Nele gehofft, die Aktion mangels Unterkunft doch noch auf den Herbst schieben zu können. Aber wenn sie das unbedingt jetzt machen musste, würde eine Nacht ja wohl genügen. Dann war sie wenigstens rechtzeitig zurück, um dem Bühnenbild den letzten Schliff zu geben.

»Weil ich will, dass du mir ausführlich von dort berichtest!«, sagte Vio bestimmt. »Und weil du in Ruhe den richtigen Platz für meine Kiefer finden sollst.«

Da erst begriff Nele, wie enorm wichtig ihrer Großmutter dieser Baum war, warum auch immer. »Möchtest du nicht mitkommen?«

Vio schüttelte den Kopf. »Das ist mir viel zu anstrengend. Das Gerüttel auf der Straße, das lange Sitzen. Du machst das schon!«

»Und warum möchtest du das Bäumchen nicht noch eine Weile behalten, wenn es dir so viel bedeutet?«

»Weil ich zu meinem neunzigsten Geburtstag in ein Heim gehen werde.«

Nele öffnete den Mund zum Widerspruch, doch Vio hob die Hand. »Darüber haben wir oft genug gestritten. Ich habe mich bereits angemeldet. Mir gefällt es da, eine Freundin lebt dort schon, und sie haben einen Park. Ich werde ganz bald für einige Probewochen dort wohnen. Nur einen Balkon habe ich nicht, darum gibt es keinen Platz für den Baum. Wenn du eine schöne Stelle in dem Geschichtengarten findest, geht es mir gut, und dem Baum auch. Wirst du das für mich tun, ja oder nein?«

Nele ergab sich. »Natürlich mache ich das.«

»Und hör bitte auf, ›das Bäumchen‹ zu sagen«, fügte Vio leise an. »Es ist eine Kiefer! Ein Baum ist eine Persönlichkeit. Er ist einzigartig.«

Da hatte Nele noch darüber geschmunzelt. Doch nun, da sie nach der ermüdenden Fahrt endlich auf die Brücke nach Rügen zusteuerte, ertappte sie sich bei der Frage, ob der junge Baum wie sie unter der Hitze und dem Rütteln litt. Nele war ein Stadtkind. Sie wusste so wenig über Bäume, obwohl ihr unterwegs Dinge einzufallen begannen, die Vio ihr früher erzählt hatte, als sie noch klein gewesen war.

»Ich hoffe, es geht dir gut«, sagte sie unwillkürlich laut zu dem zarten, schwankenden Wesen auf dem Beifahrersitz, wo sie es festgeschnallt hatte, damit es bei einer Bremsung nicht herunterfiel. »Übrigens danke für den Duft.« Der Geruch der Kiefernnadeln erinnerte Nele an die heißen Bäder, die Vio ihr damals im Winter gemacht hatte, wenn sie durchgefroren vom Schlittenfahren im Stadtpark heimkam. Das passte jetzt zwar nicht zum Wetter, aber der Gedanke nahm der Schwüle etwas von der Stickigkeit, wie eine frische Brise.

Vielleicht verband so etwas ja – eine gemeinsame Reise.

 

Vio hatte Bäume immer als Wesen betrachtet, mit denen sie auf Augenhöhe umging. Als Kind hatte Nele gedacht, ihre Großmutter erzähle Märchen über die Bäume, so wie sie auch von Hexen und Zwergen und sprechenden Ziegen erzählte. Nele war fasziniert davon. »Der Wald ist wie ein Buch voller Geschichten«, sagte Vio oft. Sie zeigte Nele auch, wie man auf Bäume kletterte und dabei darauf achtete, dass keine Zweige abbrachen. Nele nahm an, das wäre wegen der Sicherheit, damit sie nicht herunterfiel. Viel später erst wurde ihr klar, dass Vio es nicht ertrug, wenn ein Baum verletzt wurde.

 

In der Pubertät dann belächelte sie ihre Großmutter, wenn die mal wieder ihre Hand an die zerklüftete Rinde eines dicken Nussbaums legte und sagte: »Wenn du Kummer hast, Kind, oder dir der Mut zu etwas fehlt, dann berühre einen Baum. Du wirst sehen, erst wird es ganz still in dir, und dann spürst du, wie er dir von seiner Kraft abgibt. Komm her und probiere es einmal!«

Vielleicht lag es ja daran, dass man in dem Alter häufig glaubt, mehr zu wissen als die Alten. Oder daran, dass Nele insgeheim überzeugt war, dass es nichts gab, was die tiefe Traurigkeit in ihr ganz vertreiben konnte. Jedenfalls war die Faszination der Kindheit verflogen, und sie fühlte außer der Sonnenwärme des Baumstamms unter ihrer Handfläche nichts. Der leicht modrige Geruch war ihr unangenehm.

»Schon gut, Nele Sommer«, hatte Vio enttäuscht gesagt. »Eines Tages wirst du es spüren und an mich denken.«

»Ich denke ganz oft an dich!«, sagte Nele empört. Sie liebte ihre Großmutter, auch wenn die etwas merkwürdig war.

»Schon gut. Nimm es ihr nicht übel«, sagte Vio zu dem Baum. »Man muss Geduld haben mit den Menschen. Vor allem mit den jungen.« Ein leiser Wind war durch die Äste gefahren und hatte ein Rascheln in den Blättern geweckt. Vio lächelte. »Er meint, im Verhältnis zu ihm bin ich auch noch jung.«

Jetzt, da sie daran dachte, schämte sie sich. Sie hätte Vio besser zuhören sollen. Sie hatte ihrer Großmutter so viel zu verdanken. Vielleicht war Vio so ganz ohne Partner ja doch einsamer, als sie zugab.

 

Doch hatte Nele Vios Einfluss immerhin zu verdanken, dass sie später unwillkürlich so viele und ausdrucksvolle Baumsilhouetten in ihren Kulissen verwendete und sich damit einen Namen machte. Es war unbeabsichtigt zu ihrem Markenzeichen geworden. Außerdem konnte sie ihr damaliges Verhalten jetzt ein wenig gutmachen, indem sie Vios Bitte erfüllte und die kleine Kiefer einpflanzte.

»Na, dann wollen wir also mal!«, sagte sie zu dem Baum, als sie über die Brücke fuhr, und war auf einmal wesentlich besser gelaunt. Der Verkehr war noch immer dicht, so dass sie Zeit hatte, das blaugraue Meer rechts und links zu bewundern, das einen interessanten Geruch durch das offene Fenster schickte und in den Duft der Kiefer mischte.

Nele war fast nie am Meer gewesen. Ihre Eltern interessierten sich für Architektur und vor allem für Restaurants und Großstadthotels in aller Welt, und so hatten sie in den Ferien meist Städtereisen gemacht. Nele hatte es gemocht, nachts aus den Fenstern in hohen Stockwerken auf die vielen Lichter unter sich zu blicken. Am liebsten, wenn es regnete und diese Lichter sich in den Pfützen auf den Straßen spiegelten und die Tropfen auf den Fensterscheiben in allen Farben funkeln ließen.

Als die Sonne einen Weg zwischen den Wolken hindurchfand, glitzerte das Meer jetzt auch. Blendend silbern, nicht bunt. Nele fand es wohltuend und wünschte sich plötzlich, dass neben ihr auf dem Beifahrersitz jemand wäre, mit dem sie sich gemeinsam darüber freuen könnte. Jemand, der kein Baum in einem Topf war.

»Aber ich bin ja selbst schuld«, sagte sie zu den Kiefernnadeln, die im Fahrtwind mitfühlend zu vibrieren schienen. Sie war es gewesen, die erst die Beziehung zu ihrem Kommilitonen Kevin und dann zu dem Regisseur Marcel beendet hatte. Keiner von beiden hatte ihre Gespenster vertreiben können. Keiner von beiden war ihr innerlich so nahegekommen, dass sie sich nicht mehr allein fühlte, egal, wie sehr sie es sich gewünscht und darum bemüht hatte. Ähnelte sie Vio einfach zu sehr? Ob es bei ihrer Großmutter bereits in jungen Jahren genauso gewesen sein konnte? Waren sie beide einfach nicht bindungsfähig?

Es gab so viele Fragen, auf die sie eine Antwort suchte. Das wurde ihr erst jetzt richtig bewusst.

Unwillkürlich gab Nele Gas. Der Verkehr hatte sich hinter der Brücke entspannt.

»Mist!«, entfuhr es ihr, als sie den Blitzer zu spät sah.

 

Sie fuhr durch grüne Alleen, deren Reihen alter Bäume zu beiden Seiten ein kühles grünes Dach über die Straßen spannten. Das hätte Vio gefallen. Nele hielt an der Seite, um ein Bild davon zu machen, und schickte es ihr. Die Häkchen an der Nachricht wurden postwendend blau, und ein erhobener Daumen kam zurück. Nele lächelte zärtlich. Mit der modernen Technik hielt ihre Großmutter noch problemlos mit. Obwohl sie mit Bäumen sprach.

»Dann kann ich das ja eigentlich unbesorgt auch tun«, sagte sie zu ihrem Beifahrer. »Aber es wird Zeit, dass ich dich loswerde, sonst wird das noch zur Gewohnheit.«

Es war noch ein ganzes Stück bis zum Örtchen Sagard nahe dem Jasmunder Bodden. Die Wärme machte Nele müde. Sie sehnte sich nach dem Herbst, dessen leiser Melancholie sie sich immer schon nahe gefühlt hatte. Sie mochte es, wenn die Blätter bunt wurden, wenn die Luft frisch und kühl um ihre Stirn wehte und die folgende Zeit der Ruhe ankündigte, ehe dann alles still wurde und die Bäume sich in Silhouetten verwandelten wie in ihren Kulissen.

 

Die Pension Silberpappel stellte sich als gemütlicher alter Hof heraus, der behutsam umgebaut worden war. Am Empfangstresen war niemand, doch als Nele zaghaft auf die rostige Glocke drückte und ihr ein bescheidenes »Ping« entlockte, kam eine gemütlich wirkende ältere Frau aus einem hinteren Raum geeilt und lächelte sie an.

»Ah, guten Tag, Sie müssen Nele Sommer sein! Remy hat sie schon angekündigt.«

»Remy?«, fragte Nele verwirrt.

»Remona Kreyhenibbe, die Betreiberin des Geschichtengartens. Mit der haben Sie doch morgen einen Termin? Sie rief mich an, ob ich nicht ein Zimmer für Sie habe. Eigentlich war es noch nicht fertig. Wir haben neue Möbel eingeräumt, wissen Sie. Remy zuliebe haben wir es gestern Abend noch halbwegs hergerichtet.« Sie breitete die Arme aus. »Man kann ihr nichts abschlagen. Es kann sein, dass im Zimmer noch nicht alles perfekt ist. Sagen Sie einfach Bescheid.«

Doch als Nele ihren Rucksack abstellte und sich umsah, fand sie alles wunderbar. Vor dem Fenster plätscherte ein kleiner steinerner Brunnen im Schutze einer Wildrosenhecke voller erstaunlich dicker, rotleuchtender Hagebutten. Der Bettbezug mit den zartblauen Muscheln war glatt gestrichen, eine dazu passende Bordüre zierte die Wand. Die neuen Möbel waren aus Kiefernholz, das noch frisch wirkte und nicht nachgedunkelt war. Ein runder Tisch, zwei Stühle, ein schlichter Schrank mit runden Füßen und ein Regalbrett mit zwei Leuchttürmen aus Messing als Buchstützen rechts und links.

Bis auf eine dicke Kerze aus naturbelassenem Bienenwachs und einem dunklen Feuerstein, der einem Seehund ähnelte, war das Regal leer. Auf dem Tisch stand ein Strauß aus Gräsern, Hagebutten und Strandflieder, und an der Wand hing die Fotografie einer Wiese, signiert mit Märkisches Licht. Beim Anblick der knallroten Mohn- und tiefblauen Kornblumen wurde Nele ganz leicht zumute. Das Zimmer war so hell und freundlich schlicht, dass der Strudel ihrer Gedanken wie durch Zauberhand zur Ruhe kam.

Das hier war etwas ganz anderes als Vios vollgestopftes Gästezimmer, in dem sich die Sedimente eines langen Lebens angehäuft hatten. Oder als die zusammengestückelte Einrichtung der WG in Dresden, wo Nele mit Katrin wohnte.

Nele stellte den Topf mit dem Baum vor das Fenster, wo er Licht hatte. Vorsichtshalber legte sie eine Plastiktüte unter, damit der freundliche Flickenteppich auf dem Parkett keinen Wasserfleck bekam.

 

Eine schmale Tür führte in ein winziges Bad, in dem die mattblauen Kacheln ein Muster aus weißen Möwen trugen und förmlich dazu einluden, unter eine erfrischende Dusche zu steigen. Kurzerhand gab Nele diesem Impuls nach, streifte ihre verschwitzten Sachen ab und stand lange unter dem lauwarmen Regen. Danach schlüpfte sie in ein leichtes Baumwollkleid und band ihre langen weißblonden Haare zu einem Pferdeschwanz. Sie fühlte sich wie neugeboren und ungewöhnlich entspannt. Jetzt war sie dankbar für die drei Tage und dafür, dass der Termin im Geschichtengarten erst morgen war.

Sie öffnete das Fenster weit und stellte erleichtert fest, dass es ein Fliegengitter gab. Nichts war schlimmer als Mücken, die einem nachts um die Ohren summten.

Als sie ihren Notizblock in die Schublade des nagelneuen Nachttischchens legen wollte, fiel der Knauf ab. Vergeblich versuchte sie, ihn wieder zu befestigen. Anscheinend fehlte die Schraube, er hatte nur lose in einem zu kurzen Loch festgesteckt. Das fiel dann wohl unter »noch nicht perfekt«. Nele beschloss, die nette Wirtin einfach nach einer Schraube zu fragen. Notwerkzeug wie unter anderem eine Feile und einen Handbohrer hatte sie immer in ihrem Rucksack dabei. Man konnte nie wissen, was es irgendwo zu tun oder zu gestalten gab. Solche Werkeleien beruhigten sie.

 

Als sie auf den Tresen zusteuerte, an dem die Wirtin gerade etwas notierte, kam ihr ein Mann in Shorts zuvor.

»Marion, hast du vielleicht einen Knopf übrig?«, fragte er und fuchtelte mit einem Hemd. »Nadel und Faden habe ich, aber der Knopf bleibt verschwunden.«

Die Wirtin lächelte ihm beruhigend zu und legte den Stift weg. »Natürlich, für meine Gäste doch immer.« Sie verschwand im Nebenraum und kehrte kurze Zeit später mit einer Schachtel zurück. »Bedien dich!« Dann wandte sie sich an Nele. »Und, ist das Zimmer recht?«

»Ja, sehr, aber ich habe schon etwas kaputtgemacht«, sagte Nele. »Das heißt, es war gar nicht ganz. Da fehlt die Schraube.« Sie hielt den Knauf hoch. »Hätten Sie eine? Dann bringe ich das in Ordnung.«

»Ach, sag doch Marion, das machen hier alle. Klar habe ich Schrauben, aber das kann mein Hans doch nachher machen!«

»Ich bin Nele. Ich mache das gern, und Werkzeug habe ich auch.«

Marion strahlte. »Wie wunderbar! Ich sehe mal nach.« Bald kehrte sie zurück und drückte ihr eine Zigarrenschachtel in die Hand, in der eine Menge unsortierter Schrauben eine glänzende Gemeinschaft bildeten. Der Duft aus der Schachtel nach Holz und Tabak war angenehm.

»Möchtest du nachher ein kleines Abendbrot?«, erkundigte sich Marion. »Ich biete das für Gäste an, wenn sie mir vorher Bescheid sagen. Heute gibt es Salat mit Schafskäse. Oder ein Bauernfrühstück, wenn du großen Appetit hast.«

»Salat klingt super, vielen Dank!«

»Dann um sieben«, verkündete Marion.

»Gerne. Bis später!«

Die passende Schraube war schnell gefunden und der Knauf befestigt. In Zukunft würde er unerschütterlich seinen Dienst tun. Befriedigt mit ihrem Werk zog es Nele an die Luft.

 

Draußen begann es jetzt, angenehm kühl zu werden. Die schräge Sonne fiel auf goldgrüne Wiesen, ein Maisfeld und kurz dahinter auf blaues Wasser. Streifen von Silber glitzerten in der Ferne, davor wie winzige Scherenschnitte die Umrisse von Stehpaddlern und Booten. Der Bodden, folgerte Nele. Ein schmaler Pfad brachte sie näher an den Schilfgürtel. Sie spazierte daran entlang, bis sich eine Stelle am Ufer öffnete.

Das Wasser spiegelte den Himmel und die Wolken in einer Klarheit, wie Nele es noch nie gesehen hatte. Einzelne Weiden standen am Ufer zwischen dem Schilf und zarten Gräsern in allen Schattierungen von Dunkelrot und Violett über Goldgelb, Braun und Grün bis hin zu Bronzetönen. Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm. Als sie Vio anrufen und ihr sagen wollte, dass sie gut angekommen war, gab es kein Netz.

Vor ihr tauchte ein Kormoran in das seltsam flüssige Licht. Ein erschrockener Fisch sprang ein paar Meter vor ihm in die Höhe und verschwand mit einem Platschen, das ihr übermäßig laut erschien. Überhaupt, diese Stille! Nele war das nicht gewöhnt. Nicht von zu Hause, nicht von Dresden und schon gar nicht nach dem Verkehr auf der Autobahn. Es schien unwirklich.

Existierte sie überhaupt noch, oder konnte man sich auflösen in dieser beinahe menschenleeren Weite, diesem Licht und der Geräuschlosigkeit?

3

Nele saß dort, ohne sich zu rühren, bis sie allmählich auch innerlich zur Ruhe kam. Teddy und das Theater schienen unglaublich weit fort, aber das war auf einmal nicht mehr so schlimm, wie es ihr bis jetzt erschienen war. Katrin würde schon klarkommen, und Teddy war ja da, um zu helfen, wenn es nötig sein würde.

Sie lehnte sich zurück. Dabei entdeckte sie, dass sie unter einem Vogelbeerbaum saß, dessen Äste strahlend orangene Beeren trugen. Die Farbe wirkte unter dem blauen Himmel überwältigend intensiv. Unwillkürlich lächelte Nele, denn der Anblick brachte ihr Vio so nahe, als säße ihre Großmutter unsichtbar neben ihr. »Vogelbeeren in der Vase im Herbst, das muss sein! Sie bringen Glück. Wenn alles andere abzusterben beginnt, leuchten sie erst richtig hell und voller Lebensfreude«, hatte Vio jedes Jahr wieder erklärt und überall im Haus Sträuße aus Gräsern, Astern, Sonnenblumen, Dahlien, Lampionblumen und jeder Menge Vogelbeeren verteilt, die dann irgendwann abzufallen begannen und überallhin rollten.

Nele pflückte eines der fiedrigen Blätter und zerrieb es zwischen den Fingern. Ja, da war das charakteristische Bittermandelaroma. Es musste ein alter Baum sein, die Rinde war dunkel und rissig. Den selbst gebrannten »Vogelbeergeist« in Flaschen, den ein Nachbar gelegentlich vorbeibrachte, wusste Vio auch zu schätzen. Nele hatte er nie geschmeckt, aber das Knallorange der Beeren war wie ein Gruß und erdete sie wieder in der Realität. Anscheinend hatte die lange Fahrt mit der Kiefer etwas in ihr bewegt. Der knorrige Baum erschien ihr urplötzlich wie ein alter Freund. »Zum ersten Mal verstehe ich dich, Vio«, murmelte sie und ließ ihre Hand eine Weile auf der warmen Rinde liegen.

Einen schönen Platz hatte er hier. Zumindest als Baum konnte man sich an einem so ruhigen, einsamen Ort bestimmt wohlfühlen.

 

Nele rappelte sich auf, wanderte noch ein Stück weiter und kehrte dann um. Der Gedanke an Marions Salat war auf einmal ebenso verlockend wie der an menschliche Gesellschaft.

»Du kommst gerade richtig. Na, wie gefällt dir unsere Gegend?«

»Es ist wunderschön. Und so ruhig.«

Marion lachte. »Ja, so mancher muss sich daran erst gewöhnen. Aber keine Sorge, bei Remy im Garten ist reger Betrieb. Du wirst es morgen erleben.« Sie zeigte Nele eine Terrasse hinter dem Haus, blumengesäumt und voller weiß gedeckter Tische. »Der hier ist für dich. Was magst du trinken?«

Nele entschied sich für die hausgemachte Zitronenlimonade. An den anderen Tischen saßen ebenfalls Hausgäste. Das leise Stimmengewirr, unterbrochen von gelegentlichem Lachen, tat Nele so wohl wie der Duft von späten Rosen, der alles umwehte. Schwalben flogen übermütige Kapriolen um das Hausdach. »Bald werden sie nach Süden aufbrechen«, sagte Marion wehmütig, als sie den Salat servierte. »Dann wird es hier noch stiller. Ich vermisse sie immer.«

Wieder kamen Nele Worte von Vio in den Sinn. Auch wenn ihre Großmutter nicht hier war, so schien sie Nele doch auf ihre eigene Art auf dieser Reise zu begleiten. »Bäume bleiben immer an derselben Stelle. Das mag ich an ihnen«, hatte sie einmal gesagt, als eine Schar Wildgänse über sie hinwegzog. »Egal, wann du einen von ihnen besuchen möchtest, er ist immer zu Hause. Ihr eigener Ort genügt ihnen völlig. Nur ihre Samen schicken sie auf Reisen. Und darin sind sie ganz schön raffiniert.«

Raffiniert genug, um mittels eines Eichhörnchens einen Kiefernzapfen in Vios Balkonkasten zu pflanzen und dafür zu sorgen, dass Nele jetzt hier war, anstatt aus der kleinen Mia eine Wolke zu machen.

 

Nele widmete sich ihrem Salat, der herrlich nach Kräutern schmeckte und mit Blüten von Kapuzinerkresse dekoriert war. Dazu eine Scheibe Vollkornbrot, das allein schon eine Delikatesse war. Es schmeckte malzig, nach Herbst und Geheimnissen und einfach rund und gut. »Selbst gebacken«, sagte Marion stolz, als Nele sie darauf ansprach, und Nele fragte sich, ob sie das nicht auch einmal versuchen sollte. Das wäre etwas ganz Neues.

»Möchtest du noch etwas davon?«, bot Marion an.

»Danke, ich kann beim besten Willen nicht mehr, leider. Bekomme ich die Rechnung oder können wir es aufs Zimmer schreiben?«

»Das Zimmer hat deine Großmutter schon bezahlt«, meinte Marion.

»Oh. Das wusste ich nicht.« Typisch.

»Großmütter sind eben so«, fand Marion.

 

Oben im Zimmer hatte Nele Empfang. Endlich konnte sie Vio anrufen und ihr sagen, dass sie gut angekommen war.

»Gefällt es dir dort?«

»Ja, sehr! Es ist ungewohnt, aber schön. Und morgen bringe ich deinen Baum in den Garten.«

»Das ist gut, Liebes. Ich bin so froh, wenn er dort wachsen kann. Ein Topf ist kein Platz für einen Baum, und ein Balkon schon gar nicht. Sie müssen ihre Wurzeln in richtige Erde treiben können. In einen Boden.«

Nele berichtete noch von ihrer Begegnung mit dem Vogelbeerbaum und hörte ein wenig beschämt die Freude in Vios Stimme darüber, dass ihre Enkelin sich auf einmal solche neuen Gedanken machte.

»Sie muss immer den Eindruck gehabt haben, dass ich sie nicht verstehe und für wunderlich halte«, sagte Nele zu der Kiefer im Topf, die in der Sonne gestanden hatte und nun mit ihrem Duft den Raum erfüllte.

Nele lag eine Weile wach, ehe die Ruhe und die Atmosphäre von Geborgenheit sie doch in einen tiefen Schlaf sinken ließen, wie sie ihn schon lange nicht mehr gekannt hatte. Keine Träume von fehlerhaften Kostümen oder Kulissen, keine Schatten alter oder neuer Traurigkeit. Da war nur das Zirpen der Grillen vor dem Fenster und ein leichter Wind, der um die Hausecken strich.

 

Marion hatte recht gehabt. Vor, in und um den Geschichtengarten von Remy Kreyhenibbe herrschte zwar kein Gedränge, aber reger Betrieb. Menschen in Arbeitskleidung und mit Gartenwerkzeugen oder Schubkarren, Touristen mit Kameras und ganze Familien liefen fröhlich durcheinander. Vor dem Torbogen gab es Verkaufstische mit Blumensträußen, blühenden Ablegern und Körben voller Äpfel und Pfirsiche. Am Zaun rankten Winden und Waldreben, dahinter ragten Sonnenblumen empor, und davor blühten reihenweise Stockrosen zwischen blauen Bartblumen, von Bienen und Schmetterlingen umschwärmt. Es wirkte auf Nele wie eine Theaterszene vor einer zu üppigen Kulisse, die den Figuren die Schau stahl.

Für sie war es eine völlig fremde Welt. Es war so anders als Stadtparks oder die Ordnung der Botanischen Gärten, die sie in den Städten vieler Länder mit ihren Eltern besucht hatte. Etwas hilflos stand sie mit dem Topf im Arm vor dem Tor, bevor sie sich schließlich hineinwagte. Gleich kam eine große, schlanke Frau mit einem kurzen schwarzen Haarschnitt und sehr hellblauen Augen auf sie zugeeilt. An einer Schläfe zog sich eine einzige weiße Strähne durch eine Muschel.

»Hallo, du musst Nele sein«, sagte die Frau und lächelte sie herzlich an. »Ich erkenne es an der kleinen Kiefer. Deine Großmutter hat mir ja alles geschrieben. Wir haben das Schild mit der Geschichte schon fertig gemacht. Es ist eine schöne Geschichte, findest du nicht? Etwas traurig vielleicht, aber sie strahlt. Deine Großmutter muss eine bemerkenswerte Frau sein.«

»Ja, das ist sie, aber ich kenne die Geschichte noch gar nicht«, sagte Nele verlegen.

»Ach?«, fragte Remy interessiert.

»Vielleicht habe ich Vio nicht immer richtig zugehört.« Auf einmal war Nele den Tränen nahe.

»Das glaube ich nicht«, sagte Remy entschieden. »Es sollte dann wohl eher eine Überraschung sein. Oder sie hielt es für genau den richtigen Zeitpunkt. Bei vielen Geschichten ist es sehr wichtig, dass man sie genau zum richtigen Zeitpunkt hört. Oder am richtigen Ort. Sie hatte ganz gewiss einen Grund.«

»Habt ihr deshalb hier diesen Garten angelegt – damit man genau dann hingehen kann, wenn man eine Geschichte braucht?«, wollte Nele wissen.

Remy lächelte. »Vielleicht auch. Aber vor allem, damit sie nicht verlorengehen und weiterwachsen können und die Menschen sie in Sicherheit wissen. Die Pflanzen und die Geschichten. Komm und sieh es dir an!«

Irgendetwas an dieser Frau bewirkte, dass Nele sich entspannte. Remy Kreyhenibbe besaß eine lockere, fröhliche und herzliche Ausstrahlung, ohne unangenehm überschwänglich zu sein. Gleichzeitig war da eine unaufgeregte Souveränität. Der Eindruck, dass Remy genau wusste, was sie wollte, und das gelassen und entschieden in die Tat umsetzte. Während sie vorausging, sprach sie hier kurz mit einem Gärtner, gab dort einer Jugendlichen einen Auftrag, erklärte einem Gast auf dessen Frage hin die Bedingungen, die eine bestimmte Pflanze zum Gedeihen benötigte. Sie verlor keine Zeit, ohne dabei hektisch zu werden. So wäre ich auch gerne, dachte Nele.

 

Die Wege, die sich zwischen unzähligen großzügigen Beeten schlängelten, waren aus kurz gemähtem Gras. Es lief sich angenehm darauf. Nele spürte den Wunsch, die Schuhe auszuziehen, aber sie trug ja den Topf mit der Kiefer. Hoffentlich gab es für Vios Bäumchen hier überhaupt noch Platz? Es schien alles voll zu sein. Eine Fülle von Farben stürmte auf Nele ein. Sonnenblumen in Gelb und Dunkelrot, Dahlien in Rosa, Pink und Violett, Astern in Blau und Weiß und Burgunder, Kapuzinerkresse in Gelb und Orange, Löwenmäulchen in allen erdenklichen Schattierungen. Fast fühlte sie sich geblendet, verwirrt, wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Einen Augenblick sehnte sie sich nach der Stadt zurück, in der Grau und Anthrazit vorherrschten, und nach den sanften Farben der Elbe.

Doch dann umhüllte sie ein Duft, und den hätte sie bestimmt nicht gegen die Gerüche von Benzin und Rauch eintauschen wollen.

»Das sind die Säckelblumen«, erklärte Remy und deutete auf blaublühende Sträucher, deren Blütenrispen sich unter dem Gewicht zahlloser Bienen bogen. »Hier im Blockhaus ist unser Büro, ich hole rasch das Schild für deinen Baum.«

»Vios Baum«, korrigierte Nele unwillkürlich.

Remy lächelte. »Ja, natürlich, Vios Baum.«

Während Remy fort war, beobachtete Nele einen Schmetterling, der auf den blauen Blumen von einer Blüte zur anderen flatterte und eine Art Tanz darauf aufführte. Dann eine Hummel, die in einer Löwenmäulchenblüte fast verschwand.

Das wären wunderschöne Kostüme. Vielleicht könnten wir im Frühling eine Aufführung mit Insekten machen?, dachte Nele. Mia wäre bestimmt gern ein Schmetterling. Und der flauschige Stoff, der vom letzten Winter übrig ist, der ginge gut für eine Hummel …

»So.« Remy war wieder da, einen Korb mit Werkzeug und ein großes Schild an einem Stock in der Hand. Eine papierne Schutzhülle war darübergezogen. »Ich trage es für dich, bis du den richtigen Platz für deinen Baum gefunden hast, dann lasse ich dich allein, damit du ihn pflanzen und die Geschichte in Ruhe lesen kannst.«

»Danke, aber …« Nele sah sich fragend um.

»Hier ist kein Platz mehr, meinst du? Ja, so sieht es aus. Hier nicht. Das ist der alte, ursprüngliche Teil des Gartens. Dort weiter hinten haben wir Land dazukaufen können. Anfangs war es ja ein Garten für Blumen und kleine Sträucher. Wir wollten eine Oase für Insekten schaffen, nicht nur für Geschichten und Pflanzen. Aber nach und nach haben wir festgestellt, dass viele Menschen auch zu Bäumen persönliche Beziehungen und Geschichten haben. Wir haben daher gerade begonnen, einen kleinen Geschichtenwald anzulegen.« Remy blieb kurz stehen, um eine umgefallene Sonnenblume aufzurichten und an einem Stab zu befestigen. »Er ist noch im Entstehen begriffen. Deshalb habe ich mich über die Anfrage deiner Großmutter besonders gefreut. Bäume benötigen natürlich mehr Zeit. Aber die können sie ja haben.« Remy lächelte Nele an. »Deine Kiefer braucht einen sonnigen Standort, dann hält sie fast alles aus – Frost, Sturm und auch einen mageren Boden.«

»Wie Vio«, sagte Nele. »Die hat sich auch von nichts umwerfen lassen. Sie hat meine Mutter ganz allein großgezogen.« Sie wusste auch nicht, warum sie das erzählte. An Remy war einfach etwas, das Vertrauen weckte.

»Das war damals bestimmt nicht leicht. Was hat sie denn gemacht?«, fragte Remy interessiert.

»Sie war Musiklehrerin. Und manchmal ging sie noch putzen oder hat bei einem Gärtner ausgeholfen.«

»Und spielst du auch ein Instrument?«

»Ja, Gitarre. Das kann ich manchmal im Theater gebrauchen.«

»Ach, das ist schön! Hast du Lust, heute Abend zu unserem Sommerfest zu kommen? Wir veranstalten immer eines zu Sommeranfang und ein zweites, wenn der Sommer langsam zu Ende geht und es schon früher dunkel wird. Dann gibt es ein Lagerfeuer und ein Buffet mit Essen, und wenn du dazu Gitarre spielen könntest, wäre das etwas Besonderes!«

Remy war offenbar jemand, der Chancen ergriff, sobald sie sie entdeckte. Wahrscheinlich hatte sie deshalb so viel auf die Beine stellen können.

»Ja, wenn du das möchtest, gerne.« Nele war sich nicht sicher, ob sie vor so vielen Fremden spielen wollte. Aber so anders als im Theater würde es wohl nicht sein. Und irgendwie war es tatsächlich unmöglich, zu Remy »Nein« zu sagen. Nun wusste sie, was Marion damit gemeint hatte.

 

Schließlich gelangten sie an einen niedrigen Wall aus Feldsteinen, der mit Moos, Glockenblumen und kleinen Farnen bewachsen war. Eine Eidechse huschte darüber und verschwand in einer Ritze, und an einem Loch flogen Hummeln ein und aus. »Die Steine haben wir alle beim Graben und Pflanzen gefunden«, sagte Remy. »Damit konnten wir diese wunderbare Trockenmauer bauen. Sie bildet die Grenze zum Wald.«

Nele atmete unwillkürlich auf. So schön der Garten war, hier gab es nicht gar so viele Farben und mehr Luft und Raum. Die wenigen Bäume, die auf einem sanften Hügel standen, waren noch klein. Dazwischen gab es eine Bank, etwas schief aus einem liegenden Baumstamm gesägt. Es war kühler, ein leiser Wind ging, und in der Ferne konnte man den Bodden glitzern sehen. Oben kreisten gelassen zwei Greifvögel.

»Sieh dich um und lass dir Zeit dabei«, sagte Remy. »Dann wirst du den richtigen Platz finden.« Sie ließ Nele ganz in Ruhe und begann, verfilztes Gras um den Stamm eines jungen Apfelbaums herauszuzupfen.

Nele war plötzlich den Tränen nahe. Dieser Ort würde Vio ganz sicher sehr gefallen. Doch sie fühlte sich überfordert, allein zu entscheiden, wo genau der Baum hinsollte. Kurz entschlossen nahm sie ein Video auf und schickte es an ihre Großmutter. Hoffentlich war diese gerade erreichbar.

Nervös wartete sie. Sie wollte Remy nicht lange aufhalten. Zum Glück dauerte es nur wenige Minuten, bis eine Nachricht von Vio aufleuchtete.

Links neben dem Büschel blühender Goldruten. Das ist genau der richtige Platz! Ich freue mich so. Schick noch ein Bild, wenn du die Kiefer eingepflanzt hast, ja? Vielen Dank, Liebes!

»Remy? Meine Großmutter findet, hier wäre es gut. Würde die Kiefer da gedeihen?« Nele zeigte auf die Stelle.

Remy kam zu ihr herüber. »Ja, hier hat sie Sonne und ausreichend Raum.« Sie trieb die Schaufel versuchsweise in die Erde. »Der Boden ist recht locker. Ich denke, du bekommst sie ohne Hilfe eingepflanzt. Hier!« Sie reichte Nele das Werkzeug, auch einen Hammer und eine Gießkanne. »Da drüben findest du einen Wasserhahn.« Sie zeigte auf eine Stelle hinter dem Wall. »Das Schild lehne ich hier an den Apfelbaum. In dem Korb ist ein Gummihammer, damit bekommst du es in den Boden. Lass dir Zeit. Komm einfach nach vorn ins Büro, wenn du fertig bist.«

 

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Nele zu der kleinen Kiefer und begann zu graben. Auf einmal wurde ihr ein bisschen wehmütig zumute. Belustigt stellte sie fest, dass sie sich an die Gesellschaft des Bäumchens gewöhnt hatte. »Du wirst es hier guthaben.«

Schließlich erschien ihr das Loch groß genug. Während sie behutsam die zarten Wurzeln mit Erde bedeckte und dann den Baum sorgfältig angoss, blickte sie immer wieder zu dem Schild hinüber.

Was war Vios Geschichte?

4

Nele hämmerte das Schild vorsichtig in den Boden, bevor sie die Schutzhülle abzog. Sie befürchtete, die Tafel zu beschädigen. Endlich saß es fest. Nele spülte sich die Erde von den Händen, ehe sie den Umschlag entfernte. Eine Bachstelze hüpfte heran, als ob auch sie die Geschichte lesen wollte. Die Sonne brannte auf Neles Rücken, als sie sich davor kniete.

Der Text war in der schönen, gut lesbaren Schrift und in demselben Format gedruckt wie alle anderen Schilder im Garten. An den Seiten hatte ihn jemand mit feinen Zeichnungen verziert, und dann war er wetterfest laminiert und auf das Holz aufgebracht worden. Es sah so professionell aus, dass es Nele zunächst seltsam erschien, dass dies tatsächlich die persönlichen Worte ihrer Großmutter waren.

Es war gegen Ende meiner Ausbildung. Im Oktober gab es einen Austausch zwischen unserem Studiengang und einer kleinen Musikschule auf dem Darß. Ein paar von uns durften dort an einem Seminar teilnehmen. Ich fror und war eingeschüchtert von dem heftigen Wind und dem weiten Meer mit der schäumenden Brandung. Es war eine völlig andere Welt für mich Stadtkind.

 

Am ersten Advent gab es einen Handwerksmarkt. Ich blieb an einem Stand stehen, an dem ein junger Mann Dinge aus Treibholz verkaufte. Ich weiß noch, dass ich eine Tüte geröstete Maronen in der Hand hatte. Der Geschmack von Maronen beschwört ihn seither immer für mich herauf, als stünde er mir gegenüber. Ein Anhänger auf seinem Verkaufstisch faszinierte mich. Es war ein fingerlanges, von den Wellen glatt geschliffenes und von der Sonne silbrig gewordenes Stück Holz mit einer Drehung darin. Mir war, als hätte es ein Gesicht. Im Inneren war ein Loch, in dem die Schale einer weißen Herzmuschel eingeschlossen war. Etwas daran ließ mich nicht los. »Es ist ein Stück einer Wurzel«, sagte der Mann mit einem seltsam ernsten Lächeln. »Du kannst die Kraft darin spüren.« Ich kaufte es. Immer, wenn ich es in die Hand nahm, schien es mir tatsächlich wohlzutun.

 

Die Naturgewalten dieser wilden Küste schüchterten mich fortan nicht mehr so ein. Ich wanderte oft am Weststrand entlang. Einmal hörte ich ein Geräusch, das mir bis ins Innerste fuhr, wie ein geheimnisvolles, grandioses Lied. Ich folgte dem Ton, denn ich musste ihm unbedingt auf den Grund gehen. Auf dem Kamm einer Düne lag ein hohler Ast, so dick wie mein Arm, und dieser beständige Wind pfiff hindurch. Daher kam der schwingende, reichhaltige Ton, der sich ständig änderte. Natürlich wusste ich, dass auf diese Art Klänge erzeugt werden können. Jede Flöte funktioniert nach demselben Prinzip. Doch noch nie hatte ich so etwas in der Natur erlebt, und noch nie hatte es mich so ergriffen. Während ich da lange stand und lauschte, tauchte der Mann vom Handwerksmarkt auf. Er löste sich aus den Schatten des Küstenwaldes wie ein Geist und kam zu mir herüber.

 

»Kann ich dir helfen?«

 

Mein Gesichtsausdruck musste wohl merkwürdig gewesen sein. Ich schüttelte den Kopf. Er wirkte unnahbar und etwas wild mit seinem Bart, aber instinktiv vertraute ich ihm. Er erschuf so schöne Dinge. »Ich finde nur den Ton so überwältigend.«

 

Erstaunt trat er näher, lauschte und untersuchte den Ast. »Nun habe ich so viel mit Holz zu tun und habe das doch noch nie gehört.«

 

»Kannst du mir etwas darüber beibringen?«, fragte ich ihn. »Über Holz?«

 

»Dann muss ich dir die Bäume vorstellen, die hier leben«, antwortete er und streckte mir die Hand hin. »Komm!«

 

 

Joram hieß er, und er war ein paar Jahre jünger als ich, obwohl er älter wirkte. Ich habe nie vergessen, was er mich alles über Bäume gelehrt hat, die viel mehr seine Gefährten waren als Menschen. Er war ein Einzelgänger, doch mir vertraute er ebenso wie ich ihm. Vielleicht, weil ich ahnte, was er fühlte, wenn wir im Wald standen und dem Wind in den Kronen lauschten. Er machte mir zum ersten Mal klar, dass es Lebewesen sind, die atmen, wachsen, auf ihre Art miteinander sprechen, tanzen, Persönlichkeiten haben, sterben. Er ließ mich die Kraft und den Trost in diesen erstaunlichen Wesen wahrnehmen und dass man sich in der Nähe eines Baumes niemals einsam und verloren fühlen muss. Mein Name klänge wie der erste erfrischende Windstoß, der nach einer Flaute in die Äste fährt, meinte er einmal. Er kürzte ihn nie ab.

 

Wir kamen uns sehr nahe in jenen Herbstwochen, ehe ich den Darß wieder verlassen musste. Doch ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen. Es war so intensiv und leuchtend und vergänglich wie die Farben, die im Herbstlaub brannten. Joram war frei und unruhig wie die Zugvögel. Und noch so jung. Wenn ich versuchen sollte, ihn zu halten und zu ändern, würde er nicht mehr der sein, der mir etwas Einzigartiges bedeutete. Auch er versuchte nicht, mich zum Bleiben zu bewegen. Er hatte anfangs sogar einmal erwähnt, dass er niemals eine Familie gründen wollte.

 

Als ich im neuen Jahr meine Schwangerschaft bemerkte, wusste ich, dass ich keinen Kontakt zu ihm suchen würde. Ich wollte unbedingt ebenso ungebunden sein wie er. Da war ich mir sicher. Er hatte mir gezeigt, wie es geht. Ich würde stark sein wie ein Baum, der allein und glücklich aufrecht im Wind steht. Oder notfalls auch krumm wie die zähen Kiefern an der Küste, wenn der Wind zu heftig wird, aber durch und durch lebendig.

 

Das ist mir danach mein Leben lang tatsächlich gelungen. Es war nicht einfach, und nur wenige haben mich verstanden in jener Zeit. Aber für mich war es richtig. Das war mein Wesen, so wie jeder Baum seines besitzt.

 

Joram hat mich dauerhaft geprägt. Er hat mir außer meiner Tochter für immer den Trost der Bäume geschenkt und mir gezeigt, wer ich bin. Er war ein Wegweiser für mich, und dafür bin ich dankbar. Unsere Begegnung verdient eine Erinnerung. Dafür soll diese Kiefer wachsen, für Joram und mich und den Mut, allein im Sturm aufrecht zu stehen und die Musik der Naturgewalten zu genießen. Sie soll tiefe Wurzeln treiben und unter dem weiten Himmel dem Seewind von uns erzählen. Und sie soll am Meer leben. Denn das zweistimmige Rauschen von Brandung und Wald ist die perfekte Melodie, die uns Frieden gibt und zugleich in Bewegung bringt, so sagte Joram damals. Sie fließt wie das Blut in den Adern, eine Melodie wie das Leben selbst, wenn es im Einklang mit sich und voller Energie ist.

 

Violaine

Wie als Antwort blies eine zärtliche Brise eine Haarsträhne in Neles Gesicht. Sie wischte sie fort, schluckte und berührte das Schild.

»Violaine«, sagte sie leise. »Danke für die Geschichte.«

Den Anhänger kannte sie. Vio trug ihn oft an einem Lederband um den Hals. Wenn nicht, hing er an ihrer Nachttischlampe. Das Holz war nicht mehr silbrig, wie sie es beschrieben hatte. Es war dunkel und glänzend von den Jahren und der Berührung ihrer Haut.

 

Nach einer Weile räusperte sich Nele, machte ein Bild von der Kiefer und dem Schild und schickte es ihrer Großmutter. Sie ließ die Minuten verstreichen, bis eine Nachricht mit einem Herz, einem Glücksklee und einem erhobenen Daumen zurückkam, dann rief sie sie an.

»Danke, Vio! Danke für die Geschichte.«

»Ich danke dir, Liebes. Nun geht es mir gut! Seit dieser Baum in meinem Balkonkasten wuchs, wusste ich, dass ich das tun musste. Aber ich konnte es dann doch nicht mehr selbst. Außerdem …« Vio schwieg.

»Außerdem was?«

»Ach, nichts, Liebes.«

»Vio, hast du jemals herausgefunden, was aus Joram geworden ist?«

»Nein, und ich wollte es auch nie wissen. Es spielt keine Rolle.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, wirklich nicht. Er war in meinem Leben wie eine Jahreszeit, die vorübergeht. Und das war gut so. Genau richtig.«

Nele hörte an der Überzeugung in Vios Stimme, dass sie die Wahrheit sagte.

»Aber ich weiß, dass er tot ist«, fügte diese Stimme plötzlich an.

»Wie willst du das denn wissen?«, fragte Nele traurig. Für einen Augenblick hatte sie gehofft, ihren Großvater kennenlernen zu können.

»Die Bäume haben es mir gesagt.«

Das ließ Nele lieber unkommentiert. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich etwas über ihn herausfinde?«, erkundigte sie sich.

»Nicht, wenn du das möchtest. Ich habe die Geschichte freigelassen. Nun gehört sie jedem, auch dir, Liebes. Du kannst damit tun, was du willst. Wie gefällt es dir dort? Bist du mir noch gram, dass ich dich fortgeschickt habe? Ich weiß ja, wie wichtig dir die Aufführung ist.«

»Nein, gar nicht«, versicherte Nele wahrheitsgemäß. »Vio, weiß meine Mutter, wer ihr Vater ist? Sie hat immer behauptet, dass sie keine Ahnung hat und es ihr auch egal ist.«

»Nein, Anita weiß es nicht. Wenn sie es jemals wissen will, kann sie es ja nun auf dem Schild nachlesen. Aber solange sie sich ausschließlich für ihre Kochkünste interessiert, ist das wenig wahrscheinlich.« Vio sagte es ohne Vorwurf in der Stimme. Anita war eben Anita. Sowohl Vio als auch Nele hatten sich schon lange damit abgefunden. Sie hatten einander.

Als Nele aufgelegt hatte, rief sie Teddy an und erkundigte sich, wie es lief. Sie hatte Vios Auftrag ja nun erfüllt und konnte notfalls sofort zurückfahren.

Doch Teddy klang unbeschwert. »Der Mars hat Windpocken, aber es hat sich schon eine Vertretung gefunden«, sagte sie vergnügt. »Und Mia möchte nicht nur eine Wolke, sondern eine Regenwolke sein, mit vielen glitzernden Tropfen. Macht nichts, das geht in Ordnung. Katrin hat es im Griff.«

»Gut, aber sagt Bescheid, wenn ihr mich braucht, ja?«

»Natürlich. Aber du kümmere dich mal um dein eigenes Drama«, erklärte Teddy und verabschiedete sich, ehe Nele fragen konnte, was sie damit meinte.

 

Sie steckte ihr Handy ein und stand auf. »Dann mach es mal gut, kleine Kiefer«, sagte sie und strich über einen weichen Ast. Der Abschied fiel ihr tatsächlich schwer. Sie würde eines Tages nachsehen kommen, wie es dem Baum hier ging. Oder konnte man vielleicht eine Webcam einbauen um zu sehen, wie der junge Wald hier wuchs? Sie sah sich um und entschied sich dann dagegen, Remy diesen Vorschlag zu machen. Es erschien ihr seltsam ungehörig, den Frieden der Bäume zu stören. Hatten sie nicht auch so etwas wie eine Privatsphäre?

Nele hatte es nicht eilig, sich wieder in Gesellschaft der Menschen zu begeben. Nun, da ihre Aufgabe erfüllt war, stieg die graue Melancholie wieder in ihr auf wie Abendnebel aus dem feuchten Boden. Woher kam das nur? Hatte sie das von ihrem Großvater geerbt, der nun einen Namen hatte?

Joram.

Diese Unruhe in ihm, der Hang zum Alleinsein, der Unwille, sich zu binden. Das alles kannte sie gut. Kam das daher? Und gestaltete sie vielleicht deshalb immer wieder Bäume in ihren Kulissen, weil es auf geheimnisvolle Weise ihr Erbe war?

Sie hätte Vio fragen können, ob diese Traurigkeit manchmal auch in Joram gewesen war, aber dann musste sie sich ihr offenbaren. Das wollte sie nicht. Vio sollte sich keine Sorgen machen müssen.

Joram. Später würde sie in den Weiten des Internets nach ihm suchen, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dort Spuren von ihm zu finden. Es war zu lange her. Aber wenn er Künstler gewesen war, hatte es vielleicht einmal eine Ausstellung gegeben.

»Nele? Ist bei dir alles in Ordnung?« Remy kam durch die Lücke im Wall, ein Glas in der Hand. »Ich dachte, du hast vielleicht Durst. Recht anstrengend, so ein Loch zu graben.«

»Oh, ja. Danke!« Das eiskalte Wasser, in dem Blätter von Zitronenmelisse und etwas Dill steckten, schmeckte himmlisch. Nele merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. Nicht nur vom Graben, auch von der Wucht der Geschichte, die ihr viel über ihre Großmutter verriet und die junge Frau so gegenwärtig machte, die sie einst gewesen war.

»Wenn du etwas Abstand brauchst, da unten am Steg liegt ein altes Boot, das uns gehört«, schlug Remy vor. Nele hatte das Gefühl, dass diese ungewöhnlich hellen Augen genau wahrnehmen konnten, wie es in ihr aussah. »Die ›Sonnenblume‹. Der Name steht am Bug, du kannst es nicht verwechseln, weil es knallgelb gestrichen ist. Die Ruder liegen drin. Du kannst gern damit auf den Bodden rausfahren. Nur nicht zu weit. Man unterschätzt das.«

5

Das mit dem Boot war eine wunderbare Idee gewesen, stellte Nele fest, als sie nahe am Ufer entlangruderte.

Hier wuchsen noch mehr Vogelbeerbäume. Die leuchten-den Beeren spiegelten sich im Wasser und setzten fröhliche Akzente. Die Sonne stand schon tiefer, und ein weicher Dunst wehte wie eine Ahnung über die Oberfläche. Nele atmete auf. Von den Spätsommerdüften über dem Wasser wurde ihr leichter ums Herz, und der Rhythmus der Ruderschläge beruhigte sie. Es tat gut, für eine Weile fern der anderen Menschen zu sein. Sie spürte eine merkwürdige Seelenverwandtschaft zu diesem Großvater, von dem sie zum ersten Mal etwas erfahren hatte.

Einerseits konnte sie es kaum erwarten, mehr über ihn herauszufinden. Andererseits genoss sie es, dass gerade kein Computer zur Hand war und ihr Handy hier draußen auf dem Bodden schon wieder kein Netz hatte. So konnte sie ihn sich erst einmal so vorstellen, wie sie wollte.

Wenn er vorhin mit ihr unter dem Vogelbeerbaum gesessen hätte, hätte er ihr vielleicht einen Anhänger aus einem der Aststücke gemacht, die darunterlagen. Oder er hätte ihr etwas über den Baum erklärt. Wodurch sich sein Holz von dem der anderen Bäume unterschied und was er schon daraus geschaffen hatte. Mit welchem Material hatte er wohl am liebsten gearbeitet? Oder bedeutete ihm jedes davon etwas anderes? Treibholz, hatte Vio geschrieben. Wann hatte er das gesammelt? Ganz früh am Morgen, bevor andere unterwegs waren? Oder am besten nach Herbststürmen?

Nele sah Joram deutlich vor sich, in einem losen Mantel, eine Silhouette in der nebligen Dämmerung. Er lief am Strand entlang, am Flutsaum, und bückte sich hin und wieder. Ein Bündel bizarrer Hölzer steckte unter seinem Arm. Hinter ihm standen zerzauste Bäume auf einer Steilküste, ähnlich jenen, die Nele für ihre Kulissen ausschnitt.

Sie rieb sich die Augen. Die Sonne schien, das Wasser funkelte, und das flache Ufer war leer. Woher war dieses Bild gerade eben so deutlich gekommen? Für einen Moment war ihr gewesen, als könne sie diese Gestalt ansprechen und bekäme eine Antwort.

So ähnlich ging es ihr manches Mal, wenn sie ihre Kulissen gestaltete – als wären es Landschaften, die sie schon einmal gesehen hatte.