Das Mädchen mit der lauternen Stimme - Abi Daré - E-Book

Das Mädchen mit der lauternen Stimme E-Book

Abi Daré

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Mutig, originell, unvergesslich« The New York Times

Die vierzehnjährige Adunni weiß genau, was sie will: Bildung. Denn das ist der einzige Weg für ein nigerianisches Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, Unabhängigkeit zu erlangen und den eigenen Träumen ein Stück näherzukommen.

Doch stattdessen verkauft ihr Vater sie als dritte Ehefrau an einen deutlich älteren Mann, damit sie ihm endlich den gewünschten Sohn schenkt. Adunni flieht in die Hauptstadt Lagos, in der Hoffnung, dort in die Schule gehen zu können. Doch auch hier muss sie zunächst viele Widerstände überwinden, bevor sie sich traut, ihre eigene Stimme zu erheben.


»Adunni steht für die Stärke der Schwachen, Ausgebeuteten und Benachteiligten« FAZ

»Einer der stärksten Kunstgriffe von Abi Daré ist Adunnis Sprache - von Simone Jakob wunderbar ins Deutsche übertragen« SZ


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Danksagung

Nachwort der Übersetzerin

Über dieses Buch

Die vierzehnjährige Adunni weiß genau, was sie will: Bildung. Denn das ist der einzige Weg für ein nigerianisches Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, Unabhängigkeit zu erlangen und den eigenen Träumen ein Stück näherzukommen.

Doch stattdessen verkauft sie ihr Vater als dritte Ehefrau an den deutlich älteren Morufu, damit sie ihm einen Sohn schenkt. Adunni flieht nach Lagos, in der Hoffnung, dort in die Schule gehen zu können. Aber auch hier scheint sie zunächst kein Glück zu haben …

Über die Autorin

Abi Daré ist in Lagos/Nigeria aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Großbritannien. Sie hat in Wolverhampton und Glasgow studiert, sowie Kreatives Schreiben an der Birkbeck University of London. The Girl With the Louding Voice hat 2018 den Bath Novel Award für noch unveröffentlichte Manuskripte gewonnen und schaffte es außerdem ins Finale bei der Literary Consultancy Pen Factor Competition. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Essex. Ihre Töchter haben sie zum Schreiben dieses Debütromans inspiriert.

ABI DARÉ

Das Mädchen mit der lauternen Stimme

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Simone Jakob

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe:»The Girl With the Louding Voice«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2020 by ADLC Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Bärbel Brands, BerlinUmschlaggestaltung: Christopher Lin unter Verwendung von Illustrationen von Vikki ChiueBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0948-4

luebbe.delesejury.de

Für meine Mutter, Frau Professorin Teju Somorin,nicht nur, weil du klug und wunderschön bist und 2019 als erste Frau zur Professorin für Steuerrecht von Nigeria ernannt wurdest, sondern auch, weil du mir beigebracht hast, wie wichtig Bildung ist, und so viel geopfert hast, damit ich die bestmögliche bekomme.

Prolog

Nigeria ist ein Land in Westafrika. Mit knapp 180 Millionen Einwohnern ist es das siebtbevölkerungsreichste Land der Erde, einer von sieben Afrikanern ist Nigerianer. Als ­sechstgrößter Rohölexporteur und mit einem Bruttoinlandsprodukt von 568,5 Milliarden Dollar ist Nigeria auch das reichste Land ­Afrikas. ­Bedauerlicherweise leben über 100 Millionen Nigerianer in ­Armut und haben weniger als einen Dollar pro Tag zum Leben.

Fakten über Nigeria: Von der Vergangenheit bis heute, 5. Auflage 2014

Kapitel 1

Heute Morgen ruft Papa mich ins Wohnzimmer.

Er sitzt auf dem Sofa ohne Polster und guckt mich an. Papa hat so eine Art, mich anzugucken. Als würd er mich am liebsten ohne Grund verhauen, als hätt ich Scheiße im Mund und, wenn ich ihn aufmach, stinkts im ganzen Haus danach.

»Sah?«, sage ich, knie mich hin und stütz mir mit der Hand den Rücken. »Was gibts?«

»Komm näher«, sagt Papa.

Ich weiß, er will mir irgendwas Schlimmes sagen. Ich sehs ihm an den Augen an. Sie sind so trüb wie braune Steine, die zu lange in der heißen Sonne gelegen haben. So hat er auch geguckt, als er mir vor drei Jahren gesagt hat, ich muss mit der Schule aufhören. Damals war ich die Älteste in meiner Klasse, und alle Kinder haben mich Aunty genannt. Der Tag, an dem ich mit der Schule aufhören musste, und der, an dem uns meine Mama gestorben ist, waren die schlimmsten meines Lebens.

Als Papa sagt, ich soll näher kommen, rühr ich mich nicht vom Fleck – unser Wohnzimmer ist so klein wie ein Mazda. Was soll ich machen, mich auf seinen Schoß hocken? Ich bleib, wo ich bin, und warte drauf, dass er sagt, was er zu sagen hat.

Papa räuspert sich und lehnt sich auf dem Sofa ohne Polster zurück. Das Polster war irgendwann zu dreckig, weil Kayus, unser Letztgeborener, hat zu oft draufgepinkelt. Seit der Junge ein Baby war, hat er gepisst, als wär er verflucht. Als das vollgepinkelte Polster hinüber war, hats Mama Kayus zum Drauf-Schlafen gegeben.

Wir haben auch ein Fernseh in unserem Wohnzimmer, aber das ist kaputt. Born-boy, unser Erstgeborener, hats in der Mülltonne gefunden, als er vor zwei Jahren als Müllsammler im Nachbardorf gearbeitet hat. Es steht nur da, weils gut aussieht, thront wie ein prächtiger Prinz in der Ecke neben der Eingangstür. Wir haben sogar eine kleine Blume draufgestellt, wie die Krone auf dem Prinzenkopf. Wenn wir Besuch haben, tut Papa immer so, als würds noch funktionieren, und sagt: »Adunni, komm und schalt Mr Bada die Abendnachrichten ein.« Und ich sag dann: »Papa, der Fernbediener ist weg.« Papa schüttelt den Kopf und sagt: »Diese nichtsnutzigen Kinder, haben die wieder den Fernbediener verschlampt. Kommen Sie, setzen wir uns nach draußen, und trinken wir ein Gläschen, um die Sorgen unserer Nation Nigeria zu vergessen.«

Mr Bada muss ein Idiot sein, wenn er dadrauf reinfällt.

Wir haben auch einen Ventilator, dem zwei von den Flügeln fehlen, darum ist es im Wohnzimmer immer zu heiß. Papa sitzt abends immer mit gekreuzten Füßen davor und trinkt aus der Flasche, mit der er verheiratet ist, seit Mama uns gestorben ist.

»Adunni, deine Mama ist uns gestorben«, sagt Papa nach einer Weile. Ich kann den Alkoholmief an ihm riechen. Auch wenn Papa grad nichts getrunken hat, riechen seine Haut und sein Schweiß danach.

»Ja, Papa. Ich weiß«, sag ich. Warum erzählt er mir was, was ich schon weiß? Außerdem was, was mir ein großes Loch ins Herz gerissen und es mit einem dicken Klumpen aus Schmerz gefüllt hat, den ich immer mit mir rumschlepp? Als könnt ich je vergessen, wie Mama drei Monate lang Blut gehustet hat, rot und zäh und mit Spuckeblasen drin? Wenn ich abends die Augen zumach, seh ich das Blut immer noch vor mir, und manchmal schmeck ich, wie salzig es ist.

»Ich weiß, Papa«, wiederhole ich. »Ist was Schlimmes passiert?«

Papa seufzt. »Sie sagen, wir müssen hier raus.«

»Wohin denn?« Manchmal mach ich mir Sorgen um Papa. Seit Mama uns gestorben ist, sagt er ständig Sachen, die keinen Sinn machen, redet mit sich selbst oder weint, wenn er glaubt, dass es niemand hört.

»Soll ich dir Wasser für dein Morgenbad holen?«, frag ich. »Oder Morgenessen, frisches Brot mit Zuckererdnüssen?«

»Die Miete für die kommunalen Häuser kostet dreißigtausend Naira«, sagt Papa. »Wenn wir das Geld nicht bezahlen können, müssen wir uns was anderes suchen.« Dreißigtausend Naira sind ein Haufen Geld. Ich weiß, Papa kann so viel nicht in ganz Nigeria zusammenkratzen, weil schon mein Schulgeld hat siebentausend Naira gekostet, und er hatte nicht mal die. Bevor Mama uns gestorben ist, hat sie immer das Schulgeld, die Miete, das Essen und alles andere bezahlt.

»Wo willst du so viel Geld herkriegen?«, frag ich.

»Morufu«, sagt Papa. »Du kennst doch Morufu? Er ist gestern vorbeigekommen. Wollte mit mir reden.«

»Morufu, der Taxifahrer?« Morufu ist ein alter Mann mit Ziegenbockgesicht, der in unserem Dorf Taxi fährt. Er hat schon zwei Frauen, außerdem vier Kinder, die nicht in die Schule gehen. Die planschen nur in dreckigen Hosen im Dorffluss, ziehen Zuckerkartons an einem Faden hinter sich her, spielen Suwe und Klatschspiele, bis sie wunde Hände haben. Warum ist Morufu in unser Haus gekommen? Was wollte er hier?

»Ja«, sagt Papa mit einem knappen Lächeln. »Guter Mann, Morufu. Hat mich gestern überrascht. Hat mir gesagt, er übernimmt die Miete für uns. Die ganzen dreißigtausend.«

»Ist das gut?«, frag ich, weil das macht keinen Sinn. Ich weiß, dass kein Mann die Miete für einen anderen bezahlt, ohne was dafür zu wollen. Warum bezahlt Morufu unsere Miete? Was will er dafür? Oder schuldet er Papa noch Geld von früher? Ich guck Papa an, voller Hoffnung, dass es nicht das ist, was ich denk. »Papa?«

»Ja.« Papa schweigt kurz, schluckt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Die Miete ist … die Miete ist Teil von deinem Owo-ori.«

»Meinem Brautpreis?« Mein Herz will brechen, weil ich bin erst vierzehn, fast fünfzehn, und ich will keinen dummen alten Mann heiraten, ich will wieder in die Schule gehen und eine erwachsene Frau werden, Lehrerarbeit lernen, Geld verdienen, ein Auto fahren, in einem schicken Haus mit einem Sofa mit Polster wohnen und Papa und meinen beiden Brüdern helfen. Ich will keinen Mann, keinen Jungen oder sonst wen heiraten. Ich frag Papa noch mal, ganz langsam, damit er jedes Wort versteht und nichts durcheinanderbringt: »Papa, ist der Brautpreis für mich?«

Papa nickt langsam und sagt, ohne auf die Tränen in meinen Augen zu achten: »Der Brautpreis ist für dich, Adunni. Nächste Woche wirst du Morufus Frau.«

Kapitel 2

Als die Sonne vom Himmel klettert und sich tief im Tal der Nacht versteckt, sitz ich auf meiner Bastmatte, mit dem Rücken an die Wand unseres Zimmers gelehnt, und kick Kayus’ Bein von meinen Füßen.

Mein Kopf bombardiert mich seit heute Morgen mit haufenweise Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Wie wirds sein, mit einem Mann verheiratet zu sein, der zwei Frauen und vier Kinder hat? Wozu braucht Morufu noch eine Frau, wenn er schon zwei hat? Und warum will Papa mich, ohne drüber nachzudenken, wie ich mich fühl, an einen alten Mann verschachern? Warum hat er das Versprechen nicht gehalten, das er Mama gegeben hat, bevor sie uns gestorben ist?

Ich reib mir die Brust, die wehtut von den ganzen Fragen, die auf mich einprasseln. Ich steh auf und geh zum Fenster. Draußen hängt ein roter Mond zu tief am Himmel, als hätte Gott sich ein zorniges Auge ausgerissen und auf unser Grundstück geschmissen.

Heute Nacht sind eine Menge Glühwürmchen unterwegs, ihre Körper leuchten in allen möglichen Farben – grün, blau und gelb tanzen sie in der Dunkelheit. Früher hat Mama mir mal erzählt, dass Glühwürmchen den Menschen gute Nachrichten bringen. »Glühwürmchen sind die Augen der Engel«, hat sie gesagt. »Siehst du das, das dahinten auf dem Baum auf einem Blatt sitzt, Adunni? Das bringt uns die Nachricht, dass Geld zu uns kommt.« Ich weiß nicht, welche gute Nachricht das Glühwürmchen damals für uns hatte, aber Geld hats uns keins gebracht.

Als Mama uns gestorben ist, ist ein Licht in mir ausgegangen. Monatelang war alles in mir dunkel, bis Kayus mich eines Tages weinend in unserem Zimmer gefunden hat; seine Augen sind vor lauter Angst ganz groß geworden, und er hat mich angefleht, mit Weinen aufzuhören, weil davon tut ihm das Herz weh.

An dem Tag hab ich die Trauer genommen und in mein Herz eingesperrt, damit ich stark sein und mich um Kayus und Papa kümmern kann. Aber an manchen Tagen, so wie heute, kommt sie wieder hervorgekrochen und streckt mir die Zunge raus.

Manchmal, wenn ich die Augen zumach, seh ich Mama wie eine Blume vor mir: eine lila-gelb-rote Rose mit leuchtenden Blättern. Und wenn ich dann tief einatme, kann ich sie auch riechen. Süß wie ein Rosenbusch, frisch wie Minze, mit einem Hauch Kokosnussseife, wie ihre Haare, wenn sie sie im Agan-Wasserfall gewaschen hatte.

Sie hatte lange Haare, die sie mit schwarzen Fäden zu einem Zopf geflochten und sich um den Kopf gewickelt hat wie ein dickes Seil; als hätte sie zwei, drei kleine Reifen um den Kopf. Manchmal hat sie die Haare auch gelöst und lang runterhängen lassen, damit ich sie mit der Holzbürste auskämmen kann. Und manchmal hat sie mir die Bürste aus der Hand genommen, sich draußen auf die Bank beim Brunnen gesetzt und mir die Haare mit so viel Kokosöl geflochten, dass, wenn ich ins Dorf gegangen bin, alles nach frittiertem Essen gerochen hat.

Mama war noch nicht alt, erst um die vierzig, als sie uns gestorben ist, und jeden Tag denk ich mit einem schmerzhaften Ziehen an ihr sanftes Lachen, ihre Stimme, ihre weichen Arme, die mehr sagen als ihr Mund.

Gott sei Dank war sie nicht lange krank. Nur sechseinhalb Monate voller Husten, bis der Husten sie ganz aufgefressen hatte und ihre Knochen rausgestakt haben wie die Klinke an unserer Wohnzimmertür.

Vor der teuflischen Krankheit war Mama immer beschäftigt. Hat für alle im Dorf dies und das gemacht. Hat jeden Tag hundert Puff-Puffs gebacken, die sie auf dem Markt in Ikati verkauft hat; manchmal hat sie die schönsten fünfzig goldbraunen Kringel aus dem heißen Öl gefischt und mir gesagt, ich soll sie Iya bringen, einer alten Frau, die in Agan wohnt.

Ich weiß nicht genau, woher Iya und Mama sich kennen, und auch nicht, wie sie wirklich heißt, denn Iya heißt auf Yoruba »alte Frau«. Ich weiß nur, Mama hat mich immer zu Iya geschickt, um ihr was zu essen zu bringen und auch all den anderen alten Frauen in den Dörfern rings um Ikati: heiße Amala, Okra-Suppe mit Flusskrebsen oder Bohnen und Dodo, weiche, ölige Kochbananen.

Einmal, als Mama zu krank war, um weit zu gehen, hab ich Iya Puff-Puffs gebracht, und als ich abends zurück nach Hause kam und Mama gefragt hab, warum sie den Leuten Essen schickt, wenns ihr selbst so schlecht geht, hat sie gesagt: »Adunni, du musst für andere Menschen was Gutes tun, sogar dann, wenn es dir schlecht geht, sogar dann, wenn es der ganzen Welt um dich rum schlecht geht.«

Mama hat mir auch beigebracht, wie man zu Gott betet, sich mit Fäden die Haare flicht, Kleider mit Seife wäscht und die Unterhose wechselt, wenn man seinen monatlichen Besuch kriegt.

Mein Hals ist wie zugeschnürt, als ich jetzt in meinem Kopf hör, wie sie Papa mit schwacher Stimme anfleht, mich keinem Mann zur Frau zu geben, wenn sie stirbt. Und ich hör Papas Stimme, die vor Angst zittert, obwohl er sich bemüht, stark zu sein, als er antwortet: »Jetzt lass doch den Unsinn mit dem Sterben. Niemand stirbt. Adunni heiratet niemanden, hörst du? Sie wird zur Schule gehen und tun, was du willst, das schwör ich dir! Und jetzt sieh zu, dass du schnell wieder gesund wirst!«

Aber Mama hat nicht zugesehen, dass sie schnell wieder gesund wird. Zwei Tage nachdem sie Papa das Versprechen abgenommen hat, war sie tot, und jetzt muss ich einen alten Mann heiraten, weil Papa alles vergessen hat, was er Mama versprochen hat; weil er Geld braucht für Essen, Miete und irgendwelches Spielzeug.

Nach der ganzen Erinnerei schmeck ich Salz auf meinen Lippen, und als ich mich auf die Matte leg und die Augen zumach, seh ich Mama wieder als Rose vor mir. Aber diesmal ist sie nicht lila-gelb-rot mit leuchtenden Blättern, sondern braun wie ein nasses Blatt, auf dem jemand mit schmutzigen Füßen rumgetrampelt hat. Jemand, der ein Versprechen vergisst, das er seiner Frau gegeben hat.

Kapitel 3

Vor lauter Sorgen und Erinnern kann ich die ganze Nacht nicht schlafen.

Heute steh ich nicht beim ersten Hahnenschrei auf, um zu fegen, zu waschen und für Papas Morgenessen Bohnen zu mahlen. Ich bleib liegen, lass die Augen zu und lausch den Geräuschen um mich rum. Ich hör irgendwo weit weg einen Hahn krähen, klingt wie ein durchdringender Klageschrei. Hör das fröhliche Lied der Amseln in unserem Mangobaum. Und wie jemand, vielleicht ein Farmer, ganz weit weg – zack, zack, zack – einem Baum die Axt ins Hinterteil haut. Und wie jemand einen Hof fegt und in einem anderen Hof eine Mutter ihren Kindern zuruft, sie sollen aufstehen und zum Waschen das Wasser im Tontopf, nicht das im Eimer benutzen.

Die Geräusche sind jeden Morgen die gleichen, aber heute ist jedes wie ein Stich ins Herz, eine grausame Erinnerung daran, dass meine Hochzeit immer näher kommt.

Ich setz mich hin. Kayus schläft noch auf der Matte. Seine Augen sind zwar noch zu, aber er sieht aus, als ob er sich nicht entscheiden kann, ob er aufwachen soll oder nicht. Seit wir Mama begraben haben, wirft er beim Schlafen immer mit zuckenden Augenlidern den Kopf hin und her. Ich geh zu ihm, leg ihm die Hand auf die Augen und sing ihm leise was ins Ohr, bis er wieder still liegt.

Kayus ist erst elf. Er hört oft nicht auf mich, aber mein Herz gehört ihm. Kayus kommt immer zu mir und weint, wenn die Jungs auf dem Dorfplatz ihn auslachen und Katzenopfer nennen, weil er als Kind mal lange krank war und Papa ihn zu jemand gebracht hat, der ihm mit Rasierklingen die Wangen eingeritzt hat, drei in die eine, drei in die andere Richtung, um den Geist der Krankheit auszutreiben. Sieht aus, als hätt er mit einer großen Katze gekämpft, die ihm das Gesicht zerkratzt hat.

Ich hab Kayus alles beigebracht, was ich noch aus der Schule weiß – Plus-Minus, Naturwissenschaft und vor allem Englisch, weil Papa auch kein Schulgeld für Kayus hatte. Ich hab Kayus gesagt, dass er nur eine gute Zukunft hat, wenn er was lernt.

Wer kümmert sich um Kayus, wenn ich Morufus Frau werd? Born-boy?

Ich guck zu meinem großen Bruder Born-boy rüber, der im Bett liegt und sogar im Schlaf sauer aussieht. Sein echter Name ist Alao, aber keiner nennt ihn so. Born-boy ist der Erstgeborene, und Papa sagt, aus Respekt davor kriegt er das Bett in unserem Zimmer. Aber das macht mir nichts. Auf dem Bett liegt nur eine dünne Schaummatratze voller Löcher, die die Bettwanzen als Küche und Klo benutzen. Manchmal riecht sie wie die Maurer auf dem Marktplatz unter den Achseln, wenn sie den Arm heben, um zu grüßen – der Geruch bringt einen um.

Wie soll sich Born-boy um Kayus kümmern? Der weiß nicht, wie man kocht, putzt oder irgendwas anderes macht als Mechanikerarbeit. Er lacht nicht, lächelt nicht und sieht mit neunzehneinhalb Jahren aus wie ein Boxer, mit Armen und Beinen wie Baumstämme. Manchmal arbeitet er bis spätabends bei Kassim Motors, und wenn er nach Hause kommt, fällt er nur noch ins Bett und schläft. Jetzt schnarcht er völlig fertig, und jeder Atemzug von ihm fühlt sich an wie heißer Wind.

Ich schau kurz zu, wie sich Born-boys Brust in einem Rhythmus ohne Lied hebt und senkt, bevor ich wieder Kayus anseh und ihm sanft zwei Klapse auf die Schulter geb. »Kayus, aufwachen.«

Kayus öffnet zuerst ein Auge, dann das andere. Das macht er immer so, wenn er aufwacht: Erst ein Auge aufmachen, dann das andere, als hätt er Angst, wenn er beide gleichzeitig aufmacht, passiert was Schlimmes.

»Gut geschlafen, Adunni?«, fragt er.

»Ja, gut geschlafen«, lüg ich. »Und du?«

»Nicht gut«, sagt er und setzt sich neben mir auf der Matte auf. »Born-boy sagt, nächste Woche wirst du Morufus Frau. Hat er Witze gemacht?«

Ich nehm seine Hand, die sich klein und kalt anfühlt. »Kein Witz«, sag ich. »Nächste Woche.«

Kayus nickt einmal, beißt sich auf die Lippe, sagt nichts. Nimmt nur meine Hand und drückt sie fest.

»Kommst du nach der Hochzeit mal zurück?«, fragt er. »Um mir Sachen beizubringen? Oder mir Palmöl-Reis zu kochen?«

Ich zuck mit den Schultern. »Palmöl-Reis kochen ist nicht schwer. Du musst den Reis dreimal waschen und ihn in einer Schüssel einweichen. Dann nimmst du frische Paprika und …« Tränen schneiden mir die Worte ab. »Ich will Morufu nicht heiraten«, sage ich. »Du musst Papa für mich anflehen.«

»Nicht weinen«, sagt Kayus. »Wenn du weinst, muss ich auch weinen.«

Kayus und ich halten uns an den Händen und weinen leise.

»Lauf weg, Adunni«, sagt Kayus, wischt sich die Tränen ab, und seine Augen werden vor lauter Hoffnung und Angst ganz groß. »Lauf weg und versteck dich.«

»Nein«, sag ich und schüttel den Kopf. »Was, wenn der Dorf-Chief mich erwischt? Hast du vergessen, was mit Asabi passiert ist?«

Asabi ist ein Mädchen aus Ikati, das einen alten Mann nicht heiraten wollte, weil sie in Tafa verliebt war, einen Jungen, der wie Born-boy bei Kassim Motors gearbeitet hat. Am Tag nach ihrer Hochzeit ist sie mit Tafa weggelaufen, aber sie sind nicht weit gekommen. Asabi haben sie noch vor der Grenze erwischt und sie grün und blau geschlagen. Und Tafa? Sie haben den armen Kerl auf dem Dorfplatz aufgehängt wie ein Huhn und seine Leiche in den Ikati-Wald geworfen. Der Dorf-Chief hat gesagt, Tafa hat einem anderen Mann die Frau gestohlen und muss sterben, weil in Ikati müssen alle Diebe grausam sterben. Der Dorf-Chief hat gesagt, Asabi muss für hundertunddrei Tage in einem Raum eingesperrt werden, damit sie lernt, dass sie im Haus ihres Mannes bleiben muss und nicht weglaufen darf.

Aber Asabi hat nichts gelernt. Nach den hundertunddrei Tagen, die sie in dem Raum eingesperrt war, hat sie gesagt, sie kommt nie wieder raus. Und jetzt ist sie immer noch da, starrt die Wände an, reißt sich die Haare aus, steckt sie in ihren BH, spricht mit sich selbst und dem Geist von Tafa.

»Vielleicht kannst du zu Morufu zum Spielen kommen«, sag ich. »Und wir können uns am Fluss sehen, auf dem Markt, überall.«

»Glaubst du?«, fragt Kayus. »Was, wenn Morufu mich nicht zum Spielen kommen lässt?«

Bevor mir eine Antwort einfällt, dreht Born-boy sich im Schlaf um, macht die Beine breit und lässt laut einen fahren, sodass es im ganzen Zimmer nach toter Ratte riecht.

Kayus lacht schniefend und hält sich die Nase zu. »Vielleicht ist es besser, Morufu zu heiraten, als mit Born-boy und seinem Mief in einem Haus zu wohnen.«

Ich drück seine Hand und zwing meine Lippen, zu lächeln.

Ich warte, bis Kayus wieder eingeschlafen ist, bevor ich rausgeh.

Ich find Papa draußen auf der Küchenbank beim Brunnen. Es wird langsam hell, die Sonne wacht grad erst auf; sieht aus wie eine halbe Orange, die unterm dunklen Himmelstuch rauslugt. Papa trägt nur eine Hose, kein Hemd und keine Schuhe. Er hat einen Zweig im Mundwinkel, sein schwarzes Radio in einer Hand und in der anderen einen Stein, mit dem er das Radio aufweckt. Das macht er jeden Morgen, schon seit bevor Kayus geboren wurde, und ich lass mich auf den Sand sinken, stütz mir mit der Hand den Rücken und warte drauf, dass das Radio aufwacht.

Papa klopft dreimal mit dem Stein drauf – ko, ko, ko –, und das Radio fängt an zu knistern. Dann sagt eine Männerstimme: »Guuuten Morgen! Sie hören OGFM 89,9. Die Station der Nation!«

Papa spuckt den Zweig in den Sand und schaut mich an, als wollte er mir eine verpassen, damit ich den Kopf senk. »Was ist, Adunni? Ich will die Sechs-Uhr-Nachrichten hören.«

»Guten Morgen, Papa«, sag ich. »Es sind keine Bohnen da. Kann ich welche von Enitans Mama borgen gehen?«

Eigentlich hab ich schon Bohnen, die in einer Büchse mit Wasser einweichen, aber ich muss mit irgendwem über diese Hochzeitssache reden, und Enitan und ich sind beste Freundinnen, seit wir das Abc und das 123 können. Ihre Mama hat eine kleine Farm, gibt uns oft Bohnen, Yams und Egusi ab und sagt, wir können bezahlen, wenn wir Geld haben.

Ich bin geschockt, als er lacht und »warte« sagt.

Er stellt das Radio vorsichtig auf die Bank, aber das Radio knackt nur, dann ist es plötzlich tot. Gibt den Geist auf. Keine OGFM-89,9-Stimme mehr. Keine Station der Nation. Papa starrt den stummen schwarzen Kasten an, dann zischt er und fegt ihn von der Bank, sodass er kaputtgeht.

»Papa!«, ruf ich und fasse mir an den Kopf. »Warum hast du dein Radio kaputtgemacht, Papa? Warum?« Das Fernseh hat noch nie funktioniert, und jetzt ist auch das Radio nur noch ein Haufen Plastikschrott, aus dem gelbe, rote und braune Drähte rausgucken.

Papa zischt wieder, hebt die linke Pobacke an, nimmt zwei Fünfzig-Naira-Scheine aus der Hosentasche und gibt sie mir. Ich mach große Augen, guck die Scheine an, die schmutzig und aufgeweicht sind und nach Siga stinken. Wo hat Papa die her? Von Morufu? Mein Herz verkrampft sich, als ich die Scheine unter mein Umschlagtuch steck.

Ich sag nicht: Danke, Sah.

»Hör gut zu, Adunni«, sagt Papa. »Mit dem Geld bezahlst du die Bohnen. Dann sagst du zu Enitans Mama, nach deiner Hochzeit werd ich, dein Papa …« – er schlägt sich fest auf die Brust, als wollte er sich selbst verprügeln – »… alles bezahlen, was sie uns je gegeben hat. Absolut alles. Selbst wenns Tausende kostet, ich werds bezahlen. Bis auf den letzten Naira. Das sagst du ihr, verstanden?«

»Ja, Sah.«

Er schaut auf den Radioschrott runter und lächelt grimmig. »Und ich kauf mir ein neues Radio. Ein richtiges. Vielleicht sogar ein neues Fernseh. Ein Sofa mit Polster. Ein neues – Adunni?« Er schaut mich streng an. »Was starrst du mich so an? Los! Mach, dass du wegkommst!«

Ich dreh mich ohne ein Wort um und geh.

Der Pfad zu Enitan ist eine schmale schnurgerade Linie aus kaltem, nassem Sand am Fluss; rechts und links davon wachsen Büsche, die so hoch sind wie ich. Es ist da immer kalt, auch wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Ich sing beim Gehen, aber ich senk den Kopf und die Stimme, weil hinter den Büschen waschen sich die Kinder aus dem Dorf im Fluss, lachen und planschen. Ich will nicht, dass mich jemand sieht und mich nach den blöden Plänen für die blöde Hochzeit fragt, also geh ich schnell an ihnen vorbei und bieg am Ende des Pfades, wo der Boden wieder trocken ist, links ab zu Enitans Haus.

Enitans Haus ist nicht wie unseres. Die Farm ihrer Mama läuft gut, und sie haben letztes Jahr angefangen, die roten Lehmmauern mit Zement zu verstärken und das Haus hübsch einzurichten, sodass sie jetzt ein Sofa mit Polster, ein Bett mit einer guten Matratze und einen stehenden Ventilator haben, der kaum Krach macht. Ihr Fernseh funktioniert. Manchmal kriegen sie sogar Filme aus dem Außenland rein.

Ich find Enitan hinter dem Haus, wo sie mit einem dicken Seil einen schweren Eimer Wasser aus dem Brunnen zieht. Ich warte, bis sie ihn abgesetzt hat, dann ruf ich ihren Namen.

»Ah! Da sieh mal einer an, wer mich heute schon so früh besuchen kommt!«, sagt sie und hebt die Hand, wie um mir zu salutieren. »Adunni, die junge Ehefrau!«

Als sie sich auch noch verbeugen will, geb ich ihr eins auf den Kopf. »Lass das!«, sag ich. »Ich bin keine Ehefrau. Noch nicht.«

»Aber bald«, sagt sie und wischt sich mit dem Saum von ihrem Umschlagtuch die Stirn ab. »Ich hab dich doch nur so begrüßt, weil du was Besonderes bist. Du kannst aber auch manchmal sauer werden, Adunni. Was macht dir heute Morgen Sorgen?«

»Wo ist deine Mama?«, frag ich. Wenn ihre Mama zu Hause ist, kann ich nicht mit Enitan über die Hochzeit sprechen, weil ihre Mama nicht versteht, warum ich keinen alten Mann heiraten will. Als sie das letzte Mal mitgekriegt hat, wie ich Enitan von meiner Angst erzählt hab, hat sie mir die Ohren langgezogen und mir gesagt, ich soll meine ängstlichen Worte runterschlucken und Gott dafür danken, dass ich einen Mann haben kann, der für mich sorgt.

»Auf den Feldern«, sagt Enitan. »Ah, ich glaub, ich weiß, warum du so bedrückt bist. Ich hab Bohnen in der …«

»Ich brauch keine Bohnen«, sag ich.

»Warum machst du dann so ein Gesicht?«

Ich senk den Kopf. »Ich denk drüber nach … meinen Papa anzuflehen, dass ich Morufu nicht heiraten muss.« Meine Stimme ist so leise, dass ich mich selbst kaum hör. »Kannst du nicht mitkommen? Wenn du mitkommst, können wir ihn vielleicht umstimmen.«

»Deinen Papa anflehen?« Ich hör was Empörtes in ihrer Stimme, was Verwirrtes und Wütendes. »Warum? Weil du ein bessres Leben kriegst?«

Ich grab meine Zehen in den Sand und spür, wie ein scharfer Stein sich in meinen Fuß bohrt. Wieso versteht keiner, warum ich nicht heiraten will? Als ich noch in der Schule und immer die Älteste war, hat Jimoh, ein dummer Junge aus meiner Klasse, mich immer ausgelacht. Einmal, als ich zu meinem Tisch gegangen bin, hat Jimoh zu mir gesagt: »Aunty Adunni, warum bist du noch in der Grundschule, obwohl deine Klassenkameraden schon alle auf der höheren Schule sind?« Ich weiß, Jimoh wollte, dass ich traurig bin und wein, weil ich nicht zur gleichen Zeit wie die anderen Kinder mit der Schule anfangen konnte. Ich hab dem kleinen Teufel in die Augen geguckt, und er hat zurückgeguckt. Da ist mir aufgefallen, dass sein Kopf aussieht wie eine Triangel, die auf dem Kopf steht, und hab ihm die Zunge rausgestreckt und an meinen Ohren gezogen und gesagt: »Und warum bist du nicht im Fahrradladen, obwohl dein Kopf aussieht wie ein Fahrradsattel?« Die ganze Klasse hat gebrüllt vor Lachen, und ich kam mir unheimlich schlau vor, bis die Lehrerin dreimal mit dem Lineal auf den Tisch geschlagen und »Ruhe!« gerufen hat.

In den Jahren, in denen ich in der Schule war, hatte ich für die Leute, die mich ausgelacht haben, immer eine Antwort. Hab immer für mich gekämpft, immer den Kopf hoch gehalten, weil ich gewusst hab, ich bin in der Schule, um was zu lernen. Lernen hat kein Alter. Jeder kann lernen, und so hab ich weitergelernt und immer gute Noten gekriegt, aber als ich in Plus-Minus und Englisch immer besser wurde, hat Papa gesagt, ich muss aufhören, weil er kein Geld mehr für die Schule hat. Seitdem versuch ich, nicht zu vergessen, was ich gelernt hab. An Markttagen hab ich sogar den kleinen Kindern im Dorf das Abc und 123 beigebracht. Ich hab nicht viel Geld dafür gekriegt, aber manche Mamas haben mir zwanzig Naira, einen Sack Mais oder eine Dose Sardinen gegeben.

Und alles, was sie mir gegeben haben, hab ich angenommen. Und mir hat gefallen, wie ihre Augen geleuchtet haben und wie begeistert sie mitgemacht haben, wenn ich gerufen hab: »A ist wofür?«, und sie haben mit hoher lauter Stimme geantwortet: »A ist für AH-AH-APPLE«, obwohl keiner von uns je einen Apfel gesehen hat, außer im Fernseh.

»Wer soll jetzt auf dem Markt die kleinen Kinder unterrichten?«

»Die haben ihre Mamas und ihre Papas.« Enitan verschränkt die Hände über der Brust und rollt mit den Augen. »Und wenn du selbst Kinder kriegst, kannst du die unterrichten!«

Ich beiß mir auf die Lippen, damit die Tränen in meinen Augen bleiben. In unserem Dorf ist Heiraten was Gutes. Viele Mädchen wollen heiraten, die Frau von jemand, irgendjemand, sein; aber nicht ich, nicht Adunni. Seit Papa mir das mit der Hochzeit erzählt hat, hab ich gegrübelt, hab hin und her überlegt, ob es nicht eine bessere Möglichkeit gibt, als die Frau eines alten Mannes zu werden, aber mein Kopf hat sich geweigert, mitzuarbeiten und Ideen auszuspucken. Ich hab sogar dran gedacht, wegzulaufen, weit, weit weg, aber wo soll ich hin, wo mein Vater mich nicht findet? Und wie kann ich einfach meine Brüder und mein Dorf verlassen? Und jetzt versteht nicht mal Enitan, wie es mir geht.

Ich heb den Kopf, schau ihr ins Gesicht. Sie will selbst gern heiraten, seit sie dreizehn ist, aber ich glaub, weil sie eine schiefe Falte in der Oberlippe hat, seit sie als Kind einen Unfall hatte, spricht niemand mit ihrem Vater über Hochzeit. Enitan konnte mit Schule, Büchern und Lernen nie was anfangen. Sie mag gern Zöpfe flechten und überlegt, ob sie einen Make-ups-Salon aufmachen soll, während sie auf einen Mann wartet, der sie heiratet.

»Kannst du nicht mitkommen und meinen Vater anflehen?«, frag ich.

»Worum denn anflehen?«, zischt Enitan und schüttelt den Kopf. »Adunni, du weißt, dass das was Gutes für deine Familie ist. Denk dran, wie schwer ihr es hattet, seit deine Mama …« Sie seufzt. »Ich weiß, du willst das nicht. Ich weiß, du magst die Schule, aber denk noch mal drüber nach, Adunni. Vergiss nicht, dass es deiner Familie dann besser geht. Und selbst wenn ich deinen Papa anfleh, du weißt, dass er nicht auf mich hören wird. Ich schwör dir, wenn ich einen wie Morufu find, der mich heiraten will, bin ich überglücklich!« Sie lacht und hält sich verschämt die Hand vor den Mund. »Und so würd ich an meinem Hochzeitstag tanzen.« Sie zieht ihren Rock bis zu den Knien hoch und setzt einen Fuß vor den anderen, links, rechts, rechts, links, zu einem Lied, das nur sie hört. »Und, wie gefällt dir mein Tanz?«

Ich denk dran, wie Papa heute Morgen sein Radio kaputtgemacht hat und wie er plant, von Morufus Geld ein neues zu kaufen.

»Gefällt er dir?«, wiederholt Enitan.

»Du tanzt, als hättest du zwei lahme Beine«, sag ich mit einem Lachen, das sich zu schwer, zu groß für meinen Mund anfühlt.

Sie lässt ihren Rock fallen, presst sich einen Finger ans Kinn und guckt in den Himmel. »Was kann ich tun, um Adunni wieder froh zu machen, eh? Was kann ich … Ah, ich weiß, was dich froh machen wird.« Sie nimmt meine Hand und zieht mich zum Haus. »Komm, ich zeig dir das schöne Make-ups, das ich dir an deinem Hochzeitstag mach. Wusstest du, dass es grüne Augenstifte gibt? Grün! Komm mit. Wenn du das siehst, bist du wieder glücklich! Danach gehen wir zum Fluss und …«

»Nicht heute«, sag ich, zieh meine Hand aus ihrer und dreh ihr den Rücken zu, damit sie meine Tränen nicht sieht. »Ich hab noch viel zu tun. Viele … Hochzeitsvorbereitungen.«

»Glaub ich dir«, sagt sie. »Soll ich heute Nachmittag kommen, und wir probieren dein Make-ups aus?«

Ich schüttel den Kopf und geh weg.

»Warte, Adunni!«, ruft sie. »Was für einen Lippenstift soll ich mitbringen? Rot für eine erwachsene Frau oder Rosa für ein Mädchen …«

»Bring einen schwarzen Lippenstift mit«, sag ich zu mir, als ich um die Ecke geh. »Einen schwarzen für eine Trauernde!«

Kapitel 4

Zwei Jahre bevor Mama uns gestorben ist, hat ein Wagen vor dem Mangobaum auf unserem Hof gehalten.

Ich hab unterm Baum gesessen und Papas Unterhemd gewaschen, und als das Auto gehalten hat, hab ich mir den Schaum von den Händen gewischt und es mir genauer angeguckt. Es war das Auto eines reichen Mannes, schwarz, glänzend, mit dicken Reifen und Lichtern vornedran wie die Augen von einem schlafenden Fisch. Die Tür ging auf, und ein Mann ist ausgestiegen, der nach Klimaanlage, Siga und Parfüm gerochen hat. Der größte Mann, den ich je gesehen hab, mit einer Haut in der Farbe von gerösteten Erdnüssen und einem langen Gesicht, wie ein gutaussehendes Pferd. Er hatte eine teure Hose aus grünem Stoff an und eine grüne Kappe auf dem schmalen Kopf.

»Guten Morgen, ich suche nach Idowu«, hat er gesagt. Er hat schnell gesprochen, mit wohlklingender Stimme. »Ist sie da?«

Idowu ist der Name meiner Mutter. Sie hat, bis auf die fünf Frauen aus der Church Community of Praying Wife an jedem dritten Sonntag im Monat, noch nie Besuch gekriegt.

Ich hab die Hand über die Augen gelegt, um sie vor der Sonne zu schützen. »Guten Morgen, Sah«, hab ich gesagt. »Wer sind Sie?«

»Ist sie da? Mein Name ist Ade.«

»Sie ist nicht da«, sagte ich. »Möchten Sie sitzen beim Warten?«

»Das geht leider nicht«, sagt er. »Ich bin nur nach Ikati gekommen, um das Grab meiner Großmutter zu besuchen. Sie, äh, ist verstorben, als ich im Ausland war. Ich dachte mir, auf dem Rückweg zum Flughafen sage ich deiner Mutter Hallo. Ich fliege heute Abend zurück.«

»Fliegen? In einem Aeloplane? Ins Außenland?« Ich hab schon vom Außenland gehört, von Am-rika und London. Und ich habs mal im Fernseh gesehen, Frauen und Männer mit gelber Haut, Bleistiftnasen und Haaren wie Flachs, aber ich hab noch keinen von ihnen in echt getroffen. Ich hab sie auch mal im Radio reden hören; sie sprechen schnell, schnell Englisch, als wärs eine besondere Kraft, um Leute zu verwirren.

Ich hab diesen großen, gutaussehenden Mann angeschaut, mit seiner Haut wie geröstete Erdnüsse und den kurzen schwarzen Haaren wie ein Badeschwamm. Er sah anders aus als die Außenland-Leute im Fernseh. »Woher sind Sie?«, hab ich gefragt.

»Aus dem Vereinigten Königreich«, hat er gesagt. »London.«

»Warum sind Sie dann nicht so gelb wie die?«

Er hat das Gesicht verzogen und gelacht, haha. »Du musst Idowus Tochter sein«, hat er gesagt. »Wie heißt du?«

»Adunni heiß ich, Sah.«

»Du bist genauso hübsch wie sie, als sie in deinem Alter war.«

»Danke, Sah«, hab ich gesagt. »Meine Mama ist zu ihrer alten Freundin Iya ins Nachbardorf gefahren. Sie kommt erst morgen wieder. Aber ich kann ihr was ausrichten.«

»Das ist ja schade«, sagte er. »Kannst du ihr sagen, dass Ade da war und nach ihr gesucht hat? Sag ihr, dass ich sie nie vergessen habe.«

Nachdem er wieder ins Auto gestiegen und weggefahren ist, hab ich die ganze Zeit gedacht, was ist das für ein Mann, und woher kennt er meine Mutter? Als Mama wieder da war und ich ihr erzählt hab, dass Mr Ade aus dem Vereinigten Königreich im Außenland da war, um sie zu sehen, war sie geschockt. »Mr Ade?«, hat sie ständig wiederholt, als wär sie schwerhörig. »Mr Ade?«

Dann fing sie an zu weinen, leise, damit Papa sie nicht hört. Erst drei Wochen später hab ich mich getraut, sie zu fragen, warum sie so erschrocken war und geweint hat. Sie hat mir erzählt, dass Mr Ade aus einer reichen Familie kommt. Vor vielen Jahren, als er noch in Lagos gewohnt hat, ist er nach Ikati gekommen, um die Ferien bei seiner Oma zu verbringen. Eines Tages hat Mama Puff-Puffs verkauft, und Mr Ade wollte welche bei ihr kaufen und hat sich in sie verliebt. Hals über Kopf. Sie hat gesagt, er war ihr erster Freund, der erste Mann, den sie je geliebt hat. Dass sie heiraten wollten. Aber meine Mutter war nicht auf der Schule, darum hat Mr Ades Familie die Hochzeit verboten. Als Mr Ade gesagt hat, er bringt sich um, wenn er Mama nicht heiraten darf, hat seine Familie ihn in ein Aeloplane gesperrt und ins Außenland geschickt. Mama hat geweint und immer nur geweint, und ihre Familie hat sie gezwungen, Papa zu heiraten, einen Mann, den sie nie geliebt hat. Und jetzt will er dasselbe mit mir machen.

Und da hat Mama zu mir gesagt: »Adunni, weil ich nicht zur Schule gegangen bin, hab ich die Liebe meines Lebens nicht heiraten können. Ich wollt aus dem Dorf raus, viel Geld verdienen, viele Bücher lesen, aber es ging nicht.« Dann hat sie meine Hand genommen. »Adunni, Gott weiß, ich werd bis zum letzten Schweißtropfen arbeiten, um dich zur Schule zu schicken, weil ich will, dass du im Leben eine Chance hast. Ich will, dass du gut Englisch sprichst, weil in Nigeria verstehen alle Englisch, und je besser du Englisch kannst, desto leichter ist es für dich, einen guten Job zu kriegen.«

Dann hat sie ein bisschen gehustet, sich bequemer hingelegt und gesagt: »Wenn du zur Schule gehst, wird dich keiner in diesem Dorf zwingen, irgendeinen Mann zu heiraten. Aber wenn du nicht zur Schule gehst, verheiraten sie dich mit dem erstbesten Mann, sobald du fünfzehn bist. Deine Schulbildung ist deine Stimme, Kind. Sie spricht für dich, auch wenn du gar nicht den Mund aufmachst. Sie spricht für dich bis zu dem Tag, an dem Gott dich zu sich ruft.«

An dem Tag hab ich zu mir gesagt, wenn ich auch sonst nichts in diesem Leben hinkrieg, ich schaff die Grundschule, die weiterführende Schule und auch die Uni, und ich werd Lehrerin, weil ich nicht nur irgendeine Art von Stimme haben will …

Ich will eine lauterne Stimme.

»Papa?«

Er sitzt auf dem Sofa und starrt das Fernseh an, als würd der graue Kasten wie durch Zauberei zum Leben erwachen, damit er die Wahlnachrichten gucken kann.

»Papa?« Ich stell mich vor ihn hin. Es ist jetzt Abend, und das Wohnzimmer wird vom schwachen Licht einer Kerze auf dem Boden erhellt; das weiße Wachs schmilzt und macht eine Schweinerei neben dem Sofa.

»Ich bins, Adunni«, sag ich.

»Meine Augen sind nicht blind«, sagt er. »Wenn das Essen fertig ist, bring mir einen Teller.«

»Ich muss was sagen, Sah.« Ich knie mich hin und umarm seine Beine. Ich erschreck, als ich merk, wie dünn sie geworden sind, seit Mama uns gestorben ist. Fühlt sich an, als würd ich leere Hosenbeine umfassen.

»Bitte, Papa.«

Papa ist ein harter Mann, sein Gesicht immer grimmig, er schimpft immer mit allen, darum wollte ich, dass Enitan dabei ist. Wenn mein Vater im Haus ist, müssen sich alle tot stellen. Nicht reden. Nicht lachen. Nicht bewegen. Als Mama noch nicht tot war, hat Papa sie auch immer angeschrien. Ganz früher hat er sie auch mal geschlagen. Nur ein Mal. Er hat ihr eine Ohrfeige gegeben, und ihre Backe ist ganz dick geworden. Er hat gesagt, das war dafür, dass sie ihm widersprochen hat, als er sie angeschrien hat. Dass Frauen den Mund nicht aufmachen sollen, wenn Männer reden. Er hat sie danach nie wieder geschlagen, aber sie waren nicht glücklich zusammen.

Jetzt schaut er auf mich runter, seine Stirn glänzt vor Schweiß. »Was?«

»Ich will Morufu nicht heiraten«, sag ich. »Wer wird sich um dich kümmern? Kayus und Born-boy sind Jungs. Die können nicht kochen, keine Wäsche waschen und auch nicht den Hof fegen.«

»Morufu bringt mir morgen vier Ziegenböcke mit.« Papa hält vier dünne Finger hoch. »Eins, zwei, drei, vier.« Spucke fliegt aus seinem Mund und landet auf meiner Oberlippe. »Er bringt mir auch Hühner mit. Zuchtgeflügel. Sehr teuer. Und zwei Sack Reis. Und Geld. Das hab ich dir noch gar nicht erzählt. Fünftausend Naira, Adunni. Fünftausend. Ich hab ein hübsches Mädchen zu Hause. In deinem Alter sollte man nicht mehr zu Hause sein. Du solltest schon mindestens zwei Kinder haben.«

»Wenn ich Morufus Frau werd, wirfst du meine ganze Zukunft weg. Ich hab einen guten Kopf auf den Schultern, Papa. Du weißt das, die Lehrerin weiß es. Wenn ich wieder zur Schule geh, kann ich mir eine gute Arbeit suchen und dir helfen. Macht mir nichts aus, die Älteste in der Klasse zu sein, ich weiß, ich kann schnell lernen. Ich kann bald mit der Schule fertig sein, Lehrerin werden, und dann spar ich mein Geld, um dir ein Haus zu bauen und dir ein schönes Auto zu kaufen, einen schwarzen Benz.«

Papa schnieft und reibt sich die Nase. »Die Schule gibt einem kein Geld für Essen, keine dreißigtausend Naira für die Miete. Was gibt dir die Schule? Nichts. Einen aufsässigen Charakter, sonst nichts. Und ein freches Mundwerk, als wär das, das du schon hast, nicht schlimm genug, eh? Willst du enden wie Tola?«

Tola ist die Tochter von Mr Bada. Sie ist fünfundzwanzig und sieht aus wie eine Eidechse mit langen Haaren. Mr Bada hat sie in Indanre auf die Schule geschickt, und jetzt arbeitet sie in einer Bank, hat ein Auto und Geld, aber keinen Mann. Es heißt, sie sucht händeringend nach einem Ehemann, aber niemand will sie, vielleicht weil sie aussieht wie eine Eidechse mit langen Haaren oder weil sie eine Menge Geld hat wie ein Mann.

»Sie hat eine Menge Geld«, sage ich. »Sorgt für Mr Bada.«

»Ohne Ehemann?« Papa schüttelt den Kopf und klatscht zweimal in die Hände. »Gott bewahre. Meine Söhne sorgen für mich. Born-boy lernt bei Kassim Motors Mechanikerarbeit. Kayus kann auch bald arbeiten gehen. Was soll ich mit dir anfangen? Nichts. Vierzehn, fast fünfzehn ist ein gutes Alter, um zu heiraten.«

Papa schnieft wieder, kratzt sich am Hals. »Gestern hat Morufu mir erzählt, wenn dein Erstgeborenes ein Junge ist, gibt er mir zehntausend Naira.«

Ich hab das Gefühl, was Schweres lastet auf meiner Brust, so wie der Klumpen nach Mamas Tod.

»Aber du hast es Mama versprochen«, sag ich. »Und jetzt vergisst du dein Versprechen.«

»Adunni«, sagt Papa und schüttelt den Kopf. »Versprechen kann man nicht essen. Versprechen bezahlen nicht die Miete. Morufu ist ein guter Mann. Es ist eine gute Sache. Eine schöne Sache.«

Ich fleh Papa weiter an, umklammere seine Beine, wein ihm die Füße nass, aber er hört nicht auf mich. Schüttelt nur den Kopf und sagt: »Es ist eine gute Sache, eine schöne Sache. Idowu ist froh. Alle sind froh.«

*

Als Morufu am nächsten Morgen kommt und Papa mich ruft, damit ich mich für die Hühner und die Ziegenböcke bedank, geb ich keine Antwort. Ich sag Kayus, er soll Papa ausrichten, dass ich meinen monatlichen Besuch hab. Krämpfe im Bauch. Ich lieg auf meiner Matte, hab mir Mamas Umschlagtuch aufs Gesicht gelegt und hör, wie Papa und Morufu im Wohnzimmer die Ginflasche öffnen und Erdnüsse knacken.

Ich hör Morufus Lachen, das laut ist wie sein Sprechen, als er auf Yoruba von seiner Taxifirma erzählt, von den Wahlen nächstes Jahr und von den vielen Mädchen, die Boko Haram letzten Monat aus der Schule entführt hat.

Ich lieg da und wein in das Umschlagtuch meiner Mutter, bis es Abend wird und der Himmel schwarz wie nasse Erde.

Kapitel 5

Enitan und ich sind bei mir zu Hause, im Hof hinter der Küche.

Sie probiert das Make-ups für die Hochzeit morgen aus, klatscht mir weißen Puder ins Gesicht und presst mir den schwarzen Augenstift auf die Lider.

Unsere Küche ist nicht wie die, die ich im Fernseh gesehen hab, mit einem Gasherd und Elektroapparaten. Unsere ist nur ein Raum mit einer Feuerstelle aus drei Holzscheiten, einem Eisentopf drauf und mit einer weißen Plastikschüssel, die wir zum Spülen benutzen. Es gibt auch eine kurze Holzbank, auf der ich jetzt sitz, eine wirklich schöne Bank, die unser Dorfschreiner Kendo aus dem Holz unseres Mangobaums gemacht hat.

»Adunni, jetzt siehst du wie eine echte Olori, die Frau eines Königs, aus«, sagt Enitan zu mir und drückt mir den Stift noch fester auf die Lider, als wollte sie mir die Augen ausstechen.

Ich hör sie lachen, die Freude einer Freundin, die stolz drauf ist, dass sie das Hochzeit-Make-ups machen darf. Sie hebt mein Kinn an und presst den Stift auf die Mitte meiner Stirn, wie bei den Indern, die wir manchmal im Dorfzentrum im Fernseh sehen. Dann zieht sie mir, links, rechts, Augenbrauen nach und bemalt mir die Lippen mit rotem Lippenstift.

»Adunni«, sagt Enitan. »Ich zähl bis eins … zwei … drei, und jetzt schnell! Augen auf!«

Ich öffne die Augen, blinzel. Anfangs seh ich den Spiegel, den sich Enitan vor die Brust hält, vor lauter Tränen gar nicht.

»Guck mal«, sagt Enitan. »Ist das nicht schön?«

Ich berühre mein Gesicht hier und da, sage, »ah, ah«, als wär ich ganz glücklich darüber, wie sie mich geschminkt hat. Aber das Schwarz um meine Augen sieht aus, als hätt mir jemand den Ellbogen ins Gesicht gerammt.

»Warum siehst du so traurig aus?«, fragt Enitan. »Bist du immer noch unglücklich, dass du Morufu heiratest?«

Ich will ihr antworten, aber wahrscheinlich würd ich nur weinen, Blödsinn reden und das Make-ups ruinieren.

»Morufu ist ein reicher Mann«, sagt Enitan und seufzt, als hätte sie mich und meine Probleme satt. »Er sorgt für dich und deine Familie. Was willst du noch mehr im Leben, wenn du einen guten Mann gefunden hast?«

»Du weißt, dass er schon zwei Frauen hat«, bring ich raus. »Und vier Kinder.«

»Na und? Guck dich doch an«, sagt Enitan und lacht. »Du hast Glück, zu heiraten! Dank Gott dafür und hör auf mit der dummen Heulerei.«

»Morufu lässt mich die Schule nicht zu Ende machen«, sag ich, das Herz so voll, dass meine Augen überlaufen. »Er ist nie in der Schule gewesen. Und wenn ich nicht zur Schule geh, wie soll ich einen Job finden und Geld verdienen?« Und meine lauterne Stimme kriegen?

»Eh, du hast Sorgen«, sagt Enitan. »Schule ist hier im Dorf unwichtig. Wir sind nicht in Lagos. Vergiss dein Schule hier, Schule da, heirate Morufu und krieg ein paar hübsche Jungs für ihn. Morufus Haus ist nicht weit weg. Ich komm vorbei, spiel mit dir und geh mit dir zum Fluss, wenn ich bei der ganzen Make-ups-Arbeit noch Zeit hab.« Sie nimmt einen Holzkamm aus der Tasche ihres sonnengelben Kleids und fängt an, mir die Haare zu kämmen. »Ich frisier dich im Shuku-Stil«, sagt sie. »Dann flechte ich Perlen rein, da, da und da.« Sie berührt meinen Kopf in der Mitte, über dem linken und dem rechten Ohr. »Willst du es so haben?«

»Mach, was du willst«, sag ich.

»Adunni, die junge Ehefrau«, sagt Enitan mit Singsang-Stimme. »Schenk mir ein schönes Lächeln.« Sie bohrt mir den Finger in die Seite, bis sich meine Mundwinkel heben und ich ein Lachen huste.

Ein Stück weit weg auf unserem Grundstück, neben dem Mangobaum, lässt Born-boy an einem langen Seil den Eimer in den Brunnen. Der Brunnen ist von meinem Großvater-Vater. Er hat ihn mit Lehm, Stahl und Schweiß gebaut, und als meine Mama noch nicht tot war, hat sie mir die Geschichte erzählt, wie mein Großvater-Vater im Brunnen ertrunken ist. Er ist eines Tages einfach reingefallen, als er Wasser geholt hat. Drei Tage lang wusste niemand, wo er war. Alle haben nach ihm gesucht, im Wald, auf der Farm, auf dem Dorfplatz, sogar in der Leichenhalle, bis der Brunnen anfing, nach verfaulten Eiern und Kacka zu riechen. Als sie meinen Großvater-Vater gefunden haben, war er so aufgedunsen, als wären seine Beine, seine Nase, sein Bauch, sein Mund und seine Pobacken gleichzeitig schwanger. Das ganze Dorf hat drei Tage lang um ihn getrauert, geklagt und sich auf die Brust geschlagen. Als ich Born-boy zuschaue, wünscht sich ein kleiner Teil von mir, er würde auch in den Brunnen fallen, damit die Hochzeit abgesagt werden muss.

Born-boy zieht den Eimer hoch, stellt ihn auf den Boden und wischt sich Schweiß von der Stirn. Papa kommt, schiebt mit einer Hand sein Fahrrad, in der anderen hält er einen grünen Lumpen. Er hat seine beste Hose an, die blaue mit dem Muster aus kleinen roten Schiffen, als wollte er einen König besuchen. Born-boy legt sich hin und berührt mit der Stirn den Boden, um Papa zu begrüßen, dann nimmt er Papa den Lumpen aus der Hand und fängt an, das Fahrrad zu polieren. Enitan teilt mit dem Kamm meine Haare ab, kämmt die Strähnen mit schnellen, festen Bewegungen.

»Ye«, sag ich, weil ich spür das Ziepen bis ins Gehirn. »Vorsichtig, jo.«

»’tschuldigung«, sagt Enitan, drückt meinen Kopf runter und fängt an, mir die Haare zu flechten. Nach dem ersten Zopf heb ich den Kopf. Born-boy hat das Fahrrad fertig poliert. Papa spuckt auf den Boden und verwischt die Spucke mit dem Zeh, bevor er auf das Fahrrad springt und wegfährt.

Als Enitan mit dem Make-ups und den Haaren fertig ist, wasch ich mir das Zeug aus dem Gesicht, setz mich wieder auf die Bank, reiß die grünen Blätter von einem Maiskolben und werf die Körner in einen Eimer.

So geht es den ganzen Nachmittag, bis der Mond hoch am Himmel steht; die Nacht ist schwül und stickig. Mein Rücken fühlt sich an wie eine Eierschale kurz vorm Brechen, meine Finger sind maisgelb und wund, und ich will endlich aufhören mit dem Schälen, aber es bewahrt meine Gedanken davor, sich ständig im Kreis zu drehen.

Als der Eimer fast voll ist, steh ich auf und streck mich, bis es in meinem Rücken knackt, dann schütt ich eine Schüssel Wasser in den Eimer und deck ihn mit einem Tuch ab.

Morgen kommt Aunty Sisi, die für die Leute im Dorf kocht, in unser Haus, vermischt den eingeweichten Mais mit Yams, Zucker und Ingwer und macht daraus Kunu für die Hochzeit.

Ich schieb die restlichen zehn Maiskolben mit dem Fuß beiseite, ohne darauf zu achten, dass der Boden voll mit rotem Sand ist. Wenn sie morgen mehr Mais braucht, kann sie ihn selbst schälen. Meine Finger tun weh, und mein ganzer Körper juckt von den feinen, weißen Mais-Härchen. Fühlt sich an wie kleine Schlangen, die auf mir rumkriechen.

Papa schnarcht im Wohnzimmer, die Kappe bis auf die Nase runtergezogen. Drei Kartons mit kleinen Starkbierflaschen, Geschenke für die Hochzeit, stehen zu seinen Füßen. Aus einem der Kartons fehlt eine Flasche; sie liegt, leer und dunkel, neben einer brennenden Kerze auf dem Boden. Ich überleg kurz, ob ich noch mal mit Papa sprechen soll, damit er noch Vernunft annimmt, aber dann denk ich an den Mais, der draußen einweicht, an die großen Yams in der Küche, an den Sack Reis, die roten Paprika, die beiden Hühner und die vier Ziegenböcke hinterm Haus.

Ich denk an Aunty Sisi, an Enitan und an all die anderen Leute, die morgen früh kommen, mit teuren Kleidern, Schuhen und Taschen, alles wegen mir. Ich seh die Bierflasche zu Papas Füßen, knie mich hin und puste die Kerze aus.

Ich lass Papa im Dunkeln zurück, und in unserem Zimmer zieh ich mein Kleid aus, schüttel die restlichen Mais-Haare raus und hängs zum Trocknen ans Fenster.

Ich wickel mir ein Umschlagtuch um die Brust und leg mich neben Kayus auf die Matte. Mein Kopf fühlt sich an wie aufgepumpt, als hätte Enitan mir heiße Luft reingepustet, als sie mich frisiert hat. Er pulsiert und tut weh. Ich setz mich auf, lehn mich mit dem Rücken an die Wand und lausch dem leisen Pfeifen des Windes. Manchmal wär ich gern wie Kayus, dann bräucht ich keine Angst davor zu haben, einen Mann heiraten zu müssen, hätte keine Sorgen im Leben. Alles, was Kayus interessiert, ist, was es zu essen gibt und wann er Fußball spielen kann. Er grübelt nie über Hochzeiten, Brautgelder oder über die Schule nach, weil ich ihn die ganze Zeit unterrichtet hab.

Enitan hat gesagt, dass Morufu ein Haus hat. Ein richtiges, funktionierendes Auto. Jede Menge zu essen, Geld, das er Papa, Kayus und sogar Born-boy geben kann. Geld für Kayus ist was Gutes. Ich kann versuchen, glücklich zu sein, wie Enitan sagt.

Ich zwing meine Lippen, zu lächeln. Aber meine Brust fühlt sich an, als würden Vögel drin rumflattern, die picken und kratzen, und am liebsten würd ich laut schreien, sie sollen endlich damit aufhören, die Nacht soll nicht zum Morgen werden, aber Kayus schläft wie ein Baby, und ich will ihn nicht wecken, und so steck ich mir einen Zipfel von meinem Umschlagtuch in den Mund, beiß fest drauf, schmeck den Mais von heute Nachmittag und das Salz meiner Tränen.

Als ich mich ausgeweint hab, spuck ich den Stoff aus und zieh die Nase hoch. Es wird Morgen. Ich kann nichts dagegen tun. Ich leg mich hin und schließ die Augen. Mach sie wieder auf. Mach sie zu. Und wieder auf. Neben mir bewegt sich etwas. Kayus zuckt.

Ich setz mich auf, berühre ihn sanft, frag: »Kayus, alles in Ordnung?«

Aber mein kleiner Bruder schlägt meine Hand weg, als hätt ich ihn gekniffen. Er rappelt sich auf, tritt nach seinen Schlappen auf dem Boden und rennt nach draußen in die Dunkelheit, bevor ich ihn fragen kann, wer hinter ihm her ist.

Und so sitz ich da und hör, wie er von draußen gegen unsere Zimmertür tritt.

Kick. Kick. Kick.

Ich hör seine Stimme, traurig und wütend, als er wieder und wieder meinen Namen schreit. Und ich hör Papa, der fluchend aufwacht und Kayus sagt, er kann sich was aussuchen, entweder sein vorlautes Maul halten oder herkommen und sich eine gesalzene Tracht Prügel abholen. Also raff ich mich auf und geh zu Kayus nach draußen; er sitzt auf dem Boden, den Rücken an die Mauer vor unserem Schlafzimmer gelehnt. Er reibt sich den linken Fuß mit den Händen, reibt und weint und weint und reibt.

Ich lass mich neben ihn auf den Boden sinken, nehm seine Hand in meine und halt sie fest. Dann zieh ich ihn an mich, und so bleiben wir sitzen und schweigen, bis sein Kopf gegen meine Schulter sinkt und er tief und fest schläft.

Kapitel 6

Meine Hochzeit ist wie ein Film im Fernseh.

Ich seh mir selbst zu, wie ich vor meinem Vater niederknie, als der ein Gebet spricht, das mich ins Haus meines Mannes begleiten soll, seh, wie meine Lippen sich öffnen, und hör, wie meine Stimme »Amen« sagt, obwohl mein Verstand gar nicht begreift, was mit mir passiert.

Ich seh alles durch das weiße Spitzentuch vor meinem Gesicht: die Frauen und Männer, die auf unserem Hof unter dem Mangobaum stehen, alle in blauem Stoff und ohne Schuhe; den alten Trommler, der eine Sprechtrommel unter dem Arm hat, an den Seilen an der Seite zieht und mit einem Stock auf das Trommelfell schlägt: Gon! Gon! Gon! Meine Freundinnen Enitan und Ruka, die lachen, tanzen und singen. Ich seh das ganze Essen: den Palmöl-Reis, den Fisch, die Yams, Dodo, Coca-Cola, Kunu und Zobo, das die Frauen trinken, Palmwein, Gin, Starkbier und starkes Ogogoro für die Männer und Schalen mit Kokosnusssüßigkeiten für die kleinen Kinder.

Ich seh, wie Morufu den Finger in einen kleinen Tontopf mit Honig steckt und das Tuch auf meinem Kopf anhebt, um mir den Honigfinger drei Mal auf die Stirn zu pressen. Er sagt: »Von heute an wird dein Leben so süß sein wie dieser Honig.«

Ich schau zu, wie Morufu sich vor Papa auf den Boden wirft, sieben Mal die Stirn auf den Boden presst und Papa meine kalte, tote Hand in Morufus legt. »Sie ist jetzt deine Frau«, sagt er. »Von heute an bis in alle Ewigkeit, sie gehört dir. Tu mit ihr, was du willst. Benutz sie, bis sie zu nichts mehr nutze ist! Möge sie nie wieder im Haus ihres Vaters schlafen!«, und alle lachen und sagen: »Congra-lations! Amen! Congra-lations!«

Und ich seh zu, wie das Bild von der Schule, das ich in meinem Herzen aufbewahr, in winzig kleine Scherben zerbricht.

Als Morufu mit dem Taxi vom Hof fährt, streckt er die Hand aus dem offenen Fenster und ruft den Leuten am Straßenrand »Thank you! Thank you!« zu, die uns zum Abschied winken und uns eine gute Heimfahrt wünschen.

Ich sitz neben ihm im Wagen, guck meine Hände an, die Enitan heute Morgen mit Henna bemalt hat, und denk, wie gut das Muster dazu passt, wie ich mich grad fühl: wie eine schmale schwarze Straße voller Drehungen und Wendungen, die von Weitem hübsch aussieht, aber wenn man sie aus der Nähe anguckt, sieht man, wie verworren sie ist.

»Gehts dir gut?«, fragt Morufu, als zu beiden Seiten der Straße nur noch Bäume und Büsche stehen statt Leute; draußen dreht sich die Welt weiter, die Dunkelheit verdrängt die Sonne, und der Himmel ist wie ein großes dunkelblaues Tuch mit lauter glänzend-glitzerigen Löchern drin. Der Wind bläst mir ins Gesicht, und vielleicht schaut in genau diesem Moment eine andere Ehefrau, eine glückliche, strahlende Ehefrau, lächelnd zu den Sternen hoch und denkt, was sie für ein Glück hat, verheiratet zu sein. Aber ich halt den Kopf weiter gesenkt, versuch, die Tränen hinter meinen Augenlidern einzusperren. Ich will nicht vor diesem Mann weinen. Ich will ihm nie, nie zeigen, was ich fühl.

»Du antwortest nicht?«, sagt er, biegt nach links ab, und wir nähern uns der Dorfgrenze. »Komm schon! Guck mich an!«

Ich heb den Kopf.