Das romantische Manifest - Ayn Rand - E-Book

Das romantische Manifest E-Book

Ayn Rand

0,0

Beschreibung

In diesem wunderschön geschriebenen und brillant begründeten Buch wirft Ayn Rand ein neues Licht auf die ewige Frage, was Kunst ist, warum sie eine solche Macht über den menschlichen Geist hat und welchen Zweck sie im Leben der Menschen erfüllt. Einmal mehr stellt Ayn Rand hier die Originalität ihres Denkens unter Beweis. Sie durchbricht den Schleier der Sentimentalität und des Rätselhaften, der das Thema "Kunst" umgibt, und weigert sich wieder einmal, sich von populären Schlagworten und konventionellen Ideen diktieren zu lassen, wie man über ein kontroverses Thema zu denken hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 281

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Einleitung

1. Die Psycho-Epistemologie der Kunst

2. Philosophie und Lebensgefühl

3. Kunst und Lebensgefühl

4. Kunst und Wahrnehmung

5. Grundprinzipien der Literatur

6. Was ist Romantik?

7. Das ästhetische Vakuum unserer Zeit

8. Die Falschmünzer der Romantik

9. Kunst und moralischer Verrat

10. Einleitung zu „

Dreiundneunzig

11. Mein Ziel als Schriftstellerin

12. Die einfachste Sache der Welt

Stichwortverzeichnis

Einleitung

Die Definition von „Manifest“ lautet: „Eine öffentliche Erklärung der Absichten, Meinungen, Ziele oder Motive einer Regierung, eines Herrschers oder einer Organisation.“ (The Random House Dictionary of the English Language, College Edition, 1968.)

Ich muss daher betonen, dass dieses Manifest nicht im Namen einer Organisation oder einer Bewegung herausgegeben wird. Ich spreche nur für mich selbst. Es gibt heute keine romantische Bewegung. Wenn es in der Kunst der Zukunft eine geben sollte, wird dieses Buch dabei geholfen haben, sie zu erschaffen.

Nach meiner Philosophie darf man niemals „Absichten, Meinungen, Ziele oder Motive“ erklären, ohne auch seine Gründe dafür anzugeben, d.h. ohne ihre Grundlage in der Realität zu identifizieren. Daher findet sich das eigentliche Manifest – die Erklärung meiner persönlichen Ziele oder Motive – am Ende des Buches, nach der Darlegung meiner theoretischen Gründe, die mir ein Recht auf diese speziellen Ziele und Motive geben. Die Erklärung findet sich in Kapitel 11, „Mein Ziel als Schriftstellerin“ und teils in Kapitel 10, „Einleitung zu Dreiundneunzig“.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass Kunst nicht in den Zuständigkeitsbereich der Vernunft fällt, sind Sie gut damit beraten, dieses Buch nicht zu lesen: Es ist nichts für Sie. Wer aber weiß, dass nichts außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Vernunft liegt, wird in diesem Buch die Grundlage für eine rationale Ästhetik finden. Eben die Abwesenheit einer solchen Grundlage hat die aktuelle obszöne und groteske Erniedrigung der Kunst möglich gemacht.

Ich zitiere aus Kapitel 6: „Die Zerstörung der Romantik in der Ästhetik wurde – genau wie die Zerstörung von Individualismus in der Ethik oder von Kapitalismus in der Politik – durch philosophische Unterlassung möglich gemacht … In allen drei Fällen wurde das Wesen der jeweiligen fundamentalen Werte nie explizit definiert, alle Fragen wurden nur unter unwesentlichen Gesichtspunkten behandelt, und die Werte wurden von Menschen zerstört, die nicht wussten, was sie verloren und warum.“

In Bezug auf Romantik habe ich oft gedacht, dass ich eine Brücke von der unidentifizierten Vergangenheit in die Zukunft bin. Als Kind konnte ich einen Blick auf die Welt vor dem Ersten Weltkrieg, auf den letzten Nachglanz der strahlendsten kulturellen Atmosphäre der menschlichen Geschichte erhaschen (was keine Errungenschaften der russischen, sondern der westlichen Kultur war). Ein so kraftvolles Feuer stirbt nicht über Nacht: Selbst während meines Studiums unter dem Sowjetregime standen Stücke wie Hugos Ruy Blas und Schillers Don Carlos nicht als historische Neubelebung, sondern als Teil der zeitgenössischen ästhetischen Szene auf dem Spielplan. Auf dieser Stufe befanden sich das intellektuelle Interesse und die Maßstäbe des Publikums. Wenn man diese Art von Kunst – und mehr: die Möglichkeit einer solchen Kultur – gesehen hat, ist es unmöglich, sich mit weniger zufriedenzugeben.

Ich muss betonen, dass ich nicht von Gegenständlichem spreche, nicht von Politik oder journalistischen Trivialitäten, sondern vom „Lebensgefühl“ dieser Zeit. Deren Kunst projizierte ein überwältigendes Gefühl intellektueller Freiheit, von Tiefe, d.h. von Beschäftigung mit fundamentalen Problemen, von anspruchsvollen Maßstäben, von unerschöpflicher Originalität, von grenzenlosen Möglichkeiten und vor allem von tiefem Respekt gegenüber dem Menschen. Die existentielle Atmosphäre (die dann durch die europäischen philosophischen Trends und politischen Systeme zerstört wurde), zeugte von einem so großen Wohlwollen, dass sie für heutige Menschen unglaublich erscheint – ein fröhliches, selbstbewusstes Wohlwollen von Mensch zu Mensch und vom Menschen zum Dasein.

Viele Kommentatoren haben bereits gesagt und geschrieben, dass die Atmosphäre der westlichen Welt vor dem 1. Weltkrieg jedem, der nicht in dieser Periode gelebt hat, unvermittelbar ist. Ich habe mich früher gefragt, wie man so etwas sagen, wissen und es doch aufgeben konnte – bis ich mir die Menschen meiner und nachfolgender Generationen genauer ansah. Sie hatten es aufgegeben, und gleichzeitig auch alles, was das Leben lebenswert macht: Überzeugung, Zielstrebigkeit, Werte und die Zukunft. Sie waren erschöpfte, verbitterte Riesen, die über die Hoffnungslosigkeit des Lebens klagten.

Welchen geistigen Verrat sie auch begangen haben mögen, sie konnten die kulturelle Gosse der Gegenwart nicht hinnehmen und nicht vergessen, dass sie einst eine bessere, edlere Alternative gesehen hatten. Unfähig oder unwillig zu begreifen, was diese Kultur zerstört hatte, verfluchten sie die Welt oder riefen dazu auf, zu sinnlosen Dogmen wie der Religion und der Tradition zurückzukehren, oder hielten den Mund. Unfähig, ihre Vision auszulöschen oder dafür zu kämpfen, nahmen sie den „leichten“ Ausweg: Sie verzichteten darauf, irgendetwas wertzuschätzen. „Zu kämpfen“ bedeutet in diesem Kontext: zu denken. Heute wundere ich mich darüber, wie hartnäckig Menschen an ihren Lastern festhalten und wie leicht sie das aufgeben, was sie für gut halten.

Verzicht ist keine meiner Prämissen. Wenn ich sehe, dass das Gute möglich ist und doch verschwindet, halte ich Erklärungen wie „So ist die Welt nun mal“ nicht für ausreichend. Ich stelle Fragen wie „Warum? Woher kommt das? Was oder wer bestimmt, wie die Welt ist?“ (Die Antwort lautet: die Philosophie.)

Der Fortschritt der Menschheit verläuft nicht in einer geraden automatischen Linie; er ist ein langsamer Kampf mit langen Umwegen oder Rückfällen in die träge Nacht des Irrationalen. Die Menschheit schreitet dank jener menschlichen Brücken vorwärts, die über Jahre oder Jahrhunderte die menschlichen Leistungen begreifen und übermitteln können und sie weitertragen.

Thomas von Aquin ist dafür ein illustres Beispiel: Er war die Brücke zwischen Aristoteles und der Renaissance und überspannte den grauenhaften Irrweg des Mittelalters.

Nur hinsichtlich des Musters und ohne jeglichen anmaßenden Vergleich mit seiner Größe möchte ich sagen, dass ich so eine Brücke bin – zwischen den ästhetischen Leistungen des 19. Jahrhunderts und den Köpfen, die sie entdecken wollen, wo und wann immer es solche Köpfe geben mag.

Junge Menschen können heute unmöglich begreifen, dass ein höheres menschliches Potential Wirklichkeit sein könnte und welch große Leistungen es in einer rationalen (oder halbrationalen) Kultur gegeben hat. Aber ich habe sie gesehen. Ich weiß, dass sie real war, dass sie existiert hat, dass sie möglich ist.

Genau dieses Wissen möchte ich in Sichtweite der Menschen bringen, bevor sich nach einer kurzen Spanne von nicht einmal hundert Jahren der barbarische Vorhang vollständig senkt (wenn das passieren sollte) und die letzte Erinnerung an die Größe des Menschen in der Dunkelheit verschwindet.

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, wodurch die Romantik, die größte Leistung in der Kunstgeschichte, möglich wurde und wodurch sie zerstört wurde. Ich habe gelernt – wie in anderen, ähnlichen Fällen, an denen Philosophie beteiligt ist –, dass die Romantik von ihren eigenen Vorkämpfern besiegt wurde und dass sie nicht einmal in ihrer eigenen Zeit ordentlich anerkannt oder identifiziert worden war. Und ebendiese Identität möchte ich in die Zukunft übertragen.

Und in der Gegenwart bin ich nicht bereit, diesen hohläugigen, hirnlosen Kreaturen, die in stinkenden Kellern uralte Dschungelrituale gegen ihre Ängste ausüben, und den Hexenmeistern, die das „Kunst“ nennen, die Welt zu überlassen.

Unsere Zeit hat keine Kunst und keine Zukunft. Die Zukunft ist nur für jene eine offene Tür, die ihr Begriffsvermögen nicht aufgeben; nicht für Mystiker, Hippies, Drogenabhängige, Schamanen und jene, die sich selbst auf die nicht einmal tierische, sinnliche Bewusstseinsstufe herabsetzen.

Werden wir in unserer Zeit eine ästhetische Renaissance sehen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß Folgendes: Wer für die Zukunft kämpft, lebt bereits heute in ihr.

***

Alle Aufsätze in diesem Buch sind (mit einer Ausnahme) ursprünglich in meiner Zeitschrift The Objectivist erschienen. Das Datum am Ende der Essays benennt die jeweilige Ausgabe. Die Ausnahme ist „Einleitung zu Dreiundneunzig“, eine gekürzte Version der Einleitung, die ich für eine Neuauflage von Victor Hugos Dreiundneunzig geschrieben habe.

The Objectivist ist eine Zeitschrift, die sich mit der Anwendung meiner Philosophie auf die Probleme und Fragen unserer heutigen Kultur befasst. Weitere Informationen darüber erhalten Sie unter OBJECTIVISM, PO Box 51808, Irvine, California 92619.

Ayn Rand New York City Juni 1969

1. Die Psycho-Epistemologie der Kunst

Die Stellung der Kunst in der Gesamtheit des menschlichen Wissens ist vielleicht das deutlichste Symptom für den Fortschritt in den Naturwissenschaften und dessen Stagnation (oder sogar Rückentwicklung) in den Humanwissenschaften.

Die Naturwissenschaften werden immer noch von einigen Überbleibseln einer rationalen Erkenntnistheorie beherrscht (die dabei sind, zerstört zu werden), aber die Humanwissenschaften sind nahezu vollständig der primitiven Erkenntnistheorie des Mystizismus überlassen worden. Während die Physik nun subatomare Partikel und den interplanetaren Raum studieren kann, ist ein Phänomen wie Kunst immer noch ein dunkles Mysterium, über dessen Wesen, dessen Funktion im menschlichen Leben oder die Ursache ihrer erstaunlichen psychologischen Macht man nichts oder nur wenig weiß. Und doch ist Kunst von überragender Wichtigkeit und beschäftigt die meisten Menschen zutiefst auf persönlicher Ebene, denn es hat sie in jeder bekannten Zivilisation gegeben und sie hat den Menschen von seinen ersten Schritten aus der prähistorischen Dämmerung begleitet, weit länger als geschriebene Sprache.

Während man sich in anderen Wissenszweigen nicht mehr auf mystische Orakel verlässt, deren Qualifikation aus Unverständlichkeit besteht, wird dies auf dem Gebiet der Ästhetik nach wie vor praktiziert und ist heute noch offensichtlicher denn je. So wie Wilde die Phänomene der Natur für das exklusive Herrschaftsgebiet unerkennbarer Dämonen und einen unreduzierbaren Grundsatz hielten, den man weder hinterfragen noch analysieren könne, so halten die erkenntnistheoretischen Wilden von heute Kunst ebenso für einen unreduzierbaren Grundsatz, den man weder hinterfragen noch analysieren dürfe, und für das exklusive Herrschaftsgebiet anderer unerkennbarer Dämonen: ihrer Gefühle. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Irrtum der urzeitlichen Wilden unschuldig war.

Eines der scheußlichsten Denkmäler des Altruismus ist eine kulturell induzierte Selbstlosigkeit: die Bereitschaft der Menschen, sich selbst für unerkennbar zu halten, die persönlichen (nicht-gesellschaftlichen) Bedürfnisse ihrer Seelen zu ignorieren, zu verdrängen und zu unterdrücken, am wenigsten über die Dinge zu wissen, die am wichtigsten sind und somit ihre tiefsten Werte dem ohnmächtigen Untergrund der Subjektivität und ihr Leben der öden Wüste chronischer Schuldgefühle zu überlassen.

Die kognitive Vernachlässigung der Kunst dauert genau deswegen an, weil die Funktion der Kunst nicht-gesellschaftlich ist. (Dies ist ein weiteres Beispiel für die Unmenschlichkeit des Altruismus, für seine brutale Gleichgültigkeit gegenüber den tiefsten Bedürfnissen des Menschen – eines wirklichen, individuellen Menschen. Dies ist ein Beispiel für die Unmenschlichkeit jeder Moraltheorie, die moralische Werte als rein gesellschaftliche Angelegenheit betrachtet.) Kunst gehört zu einem nicht-vergesellschaftungsfähigen Aspekt der Realität, der universell ist (d.h. für alle Menschen gilt), aber nicht-kollektiv ist: zum Wesen des menschlichen Bewusstseins.

Eines der unterscheidenden Merkmale eines Kunstwerks (einschließlich Literatur) besteht darin, dass es keinem praktischen, materiellen Ziel dient, sondern ein Selbstzweck ist; es erfüllt keinen anderen Zweck als Kontemplation – und das Vergnügen dieser Kontemplation ist so intensiv, so zutiefst persönlich, dass man es als selbstgenügsames, selbstrechtfertigendes Primat erfährt und man sich oft jeder Forderung nach Analyse widersetzt: Diese Forderung ist ein Angriff auf die eigene Identität, auf das tiefste, wesentliche Selbst eines Menschen.

Kein menschliches Gefühl kann grundlos sein, und ein solch intensives Gefühl kann nicht ohne Ursache, unreduzierbar und ohne Beziehung zur Quelle der Gefühle (und Werte) und zu den Bedürfnissen des Überlebens einer lebenden Entität sein. Kunst hat einen Zweck und erfüllt ein menschliches Bedürfnis; nur ist es kein materielles Bedürfnis, sondern ein Bedürfnis seines Bewusstseins. Kunst ist unentwirrbar mit dem menschlichen Überleben verstrickt – nicht mit seinem physischen Überleben, sondern mit dem, wovon sein physisches Überleben abhängt: mit der Bewahrung und dem Überleben seines Bewusstseins.

Der Ursprung der Kunst liegt in der Tatsache, dass das Erkenntnisvermögen des Menschen begrifflich ist, d.h. dass der Mensch sein Wissen und seine Handlungen nicht durch einzelne, isolierte Wahrnehmungen erwirbt und leitet, sondern durch Abstraktionen.

Um das Wesen und die Funktion von Kunst zu verstehen, muss man das Wesen und die Funktion von Begriffen verstehen.

Ein Begriff ist eine mentale Integration von zwei oder mehr Einheiten, die durch einen Prozess der Abstraktion isoliert und durch eine spezifische Definition vereint werden. Indem der Mensch sein Sinnesmaterial in Begriffe und diese Begriffe in umfassendere und noch umfassendere Begriffe organisiert, kann er eine unbegrenzte Menge von Wissen begreifen, abspeichern, identifizieren und integrieren – ein Wissen, das sich über die unmittelbaren Einzeldinge eines einzelnen Momentes erstreckt.

In jedem Moment versetzen Begriffe den Menschen in die Lage, mehr Dinge im Kopf zu behalten, als es ihm sein Wahrnehmungsvermögen erlauben würde. Der Umfang des sinnlichen Bewusstseins – die Anzahl der Wahrnehmungen, die man gleichzeitig verarbeiten kann – ist begrenzt. Der Mensch mag vier oder fünf Einheiten visualisieren können, z.B. fünf Bäume. Er kann nicht hundert Bäume oder eine Entfernung von zehn Lichtjahren visualisieren. Nur sein Begriffsvermögen macht es ihm möglich, mit solchem Wissen umzugehen.

Der Mensch speichert seine Begriffe mittels Sprache. Mit der Ausnahme von Eigennamen ist jedes Wort, das wir benutzen, ein Begriff, der für eine unbegrenzte Anzahl von Gegenständen einer bestimmten Art steht. Ein Begriff ist wie eine mathematische Serie spezifisch definierter Einheiten, die in beide Richtungen gehen, nach beiden Enden offen sind und alle Einheiten dieser spezifischen Art einschließen. Der Begriff „Mensch“ enthält z.B. alle Menschen, die gegenwärtig leben, die je gelebt haben und je leben werden – eine so große Anzahl, dass man sie nicht visuell wahrnehmen, geschweige denn studieren oder irgendetwas über sie herausfinden könnte.

Sprache ist ein Kode von visuell-auditiven Symbolen, der der psycho-epistemologischen Funktion dient, Abstraktionen in Gegenständliches zu verwandeln – genauer gesagt in das psycho-epistemologische Äquivalent von Gegenständlichem, in eine verwaltbare Anzahl von spezifischen Einheiten.

(Psycho-Epistemologie ist das Studium der kognitiven Prozesse vom Aspekt der Interaktion zwischen dem bewussten Verstand und den automatischen Funktionen des Unterbewusstseins.)

Bedenken Sie die in jeder Aussage enthaltene, enorme begriffliche Integration, angefangen bei einer kindlichen Konversation bis hin zu einer wissenschaftlichen Abhandlung. Bedenken Sie die lange begriffliche Kette, die mit einfachen, ostensiven Definitionen beginnt und sich zu immer höheren Begriffen ausbaut und eine so komplexe hierarchische Wissensstruktur bildet, an die kein Computer heranreicht. Durch solche Ketten muss der Mensch sein Wissen über die Realität erwerben und abspeichern.

Und doch ist dies der einfachere Teil seiner psycho-epistemologischen Aufgabe. Es gibt noch einen weiteren, viel komplexeren Teil.

Dieser Teil besteht aus der Anwendung seines Wissens, d.h. der Einschätzung der Tatsachen der Realität, der Auswahl seiner Ziele und der dazugehörigen Handlungen. Um das zu tun, braucht der Mensch eine weitere Reihe von Begriffen, die sich von der ersten ableitet und von ihr abhängt, aber gewissermaßen noch komplexer ist: eine Kette von normativen Abstraktionen.

Während kognitive Abstraktionen die Tatsachen der Realität identifizieren, werden diese Tatsachen durch normative Abstraktionen bewertet, und diktieren somit eine Werteauswahl und eine Vorgehensweise. Kognitive Abstraktionen behandeln das, was ist; normative Abstraktionen behandeln das, was sein sollte (jedenfalls dort, wo man eine Wahlmöglichkeit hat).

Ethik, die normative Wissenschaft, basiert auf zwei kognitiven Zweigen der Philosophie: der Metaphysik und der Erkenntnistheorie. Um vorzuschreiben, was der Mensch tun sollte, muss man zuerst wissen, was und wo er ist, d.h. wie sein Wesen (einschließlich seiner kognitiven Mittel) beschaffen ist, und wie das Wesen des Universums beschaffen ist, in dem er handelt. (Es ist in diesem Kontext irrelevant, ob die metaphysische Basis eines bestimmten ethischen Systems wahr oder falsch ist; wenn sie falsch ist, macht dieser Irrtum die Ethik unpraktizierbar. Was uns hier beschäftigt, ist nur die Abhängigkeit der Ethik von der Metaphysik.)

Ist das Universum für den Menschen verständlich, oder sinnlos und unerkennbar? Kann der Mensch auf der Erde Glück finden oder ist er verurteilt zu Enttäuschung und Verzweiflung? Hat der Mensch die Macht der Entscheidung, kann er seine Ziele auswählen und erreichen? Hat er die Macht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen – oder ist er das hilflose Spielzeug von Kräften jenseits seiner Kontrolle, die sein Schicksal bestimmen? Soll man die menschliche Natur für gut halten oder soll man sie verabscheuen? Dies sind metaphysische Fragen, aber die Antworten darauf bestimmen die Art von Ethik, die man übernehmen und praktizieren wird; die Antworten sind das Glied zwischen Metaphysik und Ethik. Und obwohl Metaphysik an sich keine normative Wissenschaft ist, nehmen die Antworten auf diese Fragen im Kopf des Menschen die Funktion von metaphysischen Werturteilen an, da sie das Fundament all seiner moralischen Werte bilden.

Bewusst oder unterbewusst, explizit oder implizit weiß der Mensch, dass er ein umfassendes Weltbild braucht, um seine Werte zu integrieren, seine Ziele auszuwählen, seine Zukunft zu planen und die Einheit und den Zusammenhalt seines Lebens zu bewahren – und dass seine metaphysischen Werturteile in jedem Moment seines Lebens, in jeder seiner Entscheidungen und Handlungen enthalten sind.

Die Metaphysik – die Wissenschaft, die sich mit der fundamentalen Natur der Realität beschäftigt – enthält die umfassendsten Abstraktionen. Sie umfasst alles, was der Mensch je gesehen hat; sie umfasst eine unglaubliche Summe aus Wissen und eine so lange Kette von Begriffen, dass niemand sie alle in seiner unmittelbaren bewussten Wahrnehmung behalten könnte. Und doch benötigt der Mensch diese Summe und dieses Bewusstsein – er braucht die Macht, sich all das in seine volle, bewusste Aufmerksamkeit zu rufen.

Diese Macht verleiht ihm die Kunst.

Kunst ist eine selektive Neuerschaffung der Realität nach den metaphysischen Werturteilen des Künstlers.

Durch eine selektive Neuerschaffung isoliert und integriert Kunst jene Aspekte der Realität, die die fundamentalen Ansichten des Menschen über sich und das Dasein repräsentieren. Aus den zahllosen Einzeldingen – aus einzelnen, chaotischen und (anscheinend) widersprüchlichen Merkmalen, Handlungen und Entitäten – isoliert ein Künstler die Dinge, die er für metaphysisch bedeutsam hält und integriert sie in einen einzelnen neuen Gegenstand, der eine Abstraktion verkörpert.

Nehmen wir zwei Statuen als Beispiel: Die eine stellt einen griechischen Gott dar, die andere eine deformierte mittelalterliche Monstrosität. Beides sind metaphysische Einschätzungen des Menschen; beide repräsentieren das Menschenbild des Künstlers; beide sind konkretisierte Darstellungen der Philosophie der jeweiligen Kulturen.

Kunst ist eine Konkretisierung der Metaphysik. Kunst bringt die Begriffe des Menschen auf die wahrnehmende Stufe seines Bewusstseins und erlaubt ihm, sie direkt zu begreifen, als wären sie Wahrnehmungen.

Das ist die psycho-epistemologische Funktion von Kunst und der Grund für ihre Wichtigkeit im menschlichen Leben (und der Kernpunkt der objektivistischen Ästhetik).

So wie Sprache Abstraktionen in das psycho-epistemologische Äquivalent von Einzeldingen übersetzt, in eine verwaltbare Anzahl von spezifischen Einheiten, so übersetzt Kunst metaphysische Abstraktionen in das Äquivalent von Einzeldingen – in spezifische Entitäten, die der Mensch direkt wahrnehmen kann. Die Behauptung, „Kunst ist eine universelle Sprache“ ist keine leere Metapher, sondern ist buchstäblich wahr – im Sinne der von der Kunst ausgeübten psycho-epistemologischen Funktion.

Bedenken Sie, dass die Geschichte der Kunst als Anhängsel (und meistens als Monopol) der Religion begann. Religion ist die primitive Form der Philosophie: Sie versorgte den Menschen mit einem umfassenden Weltbild. Die Kunst dieser primitiven Kulturen war die Konkretisierung der metaphysischen und ethischen Abstraktionen ihrer Religion.

Die beste Illustration des in der Kunst enthaltenen psycho-epistemologischen Prozesses sieht man in einem Aspekt einer bestimmten Kunst: durch die Charakterisierung in der Literatur. Der menschliche Charakter mit all seinen unzähligen Potentialen, Tugenden, Lastern, Brüchen und Widersprüchen ist so komplex, dass der Mensch sein eigenes größtes Rätsel ist. Es ist selbst in rein kognitiven Abstraktionen sehr schwierig, menschliche Charakterzüge zu isolieren und zu integrieren und sie alle im Kopf zu behalten, wenn man die Menschen verstehen will, die man trifft.

Sehen Sie sich z.B. die Figur des Babbitt aus Sinclair Lewis’ Roman an. Er ist die Konkretisierung einer Abstraktion, die eine unerrechenbare Summe von Beobachtungen und Einschätzungen einer unerrechenbaren Anzahl von Eigenschaften abdeckt, die eine unerrechenbare Anzahl Menschen einer bestimmten Sorte besitzt. Lewis hat ihre wesentlichen Charakterzüge isoliert und sie in die konkrete Form einer einzigen Figur integriert – und wenn Sie über jemanden sagen: „Er ist ein Babbitt“, dann enthält Ihre Einschätzung in einem einzigen Wort die enorme Gesamtsumme, die diese Figur darstellt.

Wenn wir zu normativen Abstraktionen kommen – zur Aufgabe, Moralprinzipien zu definieren, und darzustellen, wie der Mensch sein sollte –, ist der erforderliche psycho-epistemologische Prozess noch schwieriger. Diese Aufgabe erfordert ein jahrelanges Studium – und die Ergebnisse sind ohne die Hilfe der Kunst fast unmöglich zu vermitteln. Eine umfassende philosophische Abhandlung, die moralische Werte definiert und eine lange Liste von Tugenden aufzählt, reicht dazu nicht aus; sie würde nicht vermitteln, wie ein idealer Mensch sein und wie er handeln würde: Kein Geist kann mit einer so immensen Summe von Abstraktionen umgehen. Wenn ich „umgehen“ sage, meine ich die Rückübersetzung all der Abstraktionen in die wahrnehmbaren Gegenstände, für die sie stehen, d.h. sie wieder mit der Realität in Bezug zu setzen – und sie alle in der bewussten Wahrnehmung zu halten. Man kann eine solche Summe nicht ohne eine tatsächliche menschliche Figur integrieren – ohne eine integrierte Konkretisierung, die die Theorie erhellt und verständlich macht.

Daher kommt die sterile und dröge Atmosphäre vieler theoretischer Diskussionen über Ethik, und die Verachtung, die viele Menschen für solche Diskussionen empfinden: Moralische Prinzipien bleiben für sie schwebende Abstraktionen, die ihnen ein für sie unbegreifliches Ziel anbieten; die von ihnen verlangen, dass sie ihre Seele nach deren Abbild formen und ihnen die Bürde einer undefinierten moralischen Schuld auflädt. Kunst ist ein unverzichtbares Medium für die Vermittlung eines moralischen Ideals.

Beachten Sie, dass jede Religion eine Mythologie hat – eine durch Figuren verkörperte dramatische Konkretisierung ihres Moralkodexes, deren Endprodukt sie sind. (Die Tatsache, dass einige dieser Figuren überzeugender sind als andere hängt von der Rationalität oder Irrationalität der Moraltheorie ab, die sie verkörpern.)

Dies bedeutet nicht, dass Kunst ein Ersatz für philosophisches Denken ist: Ohne eine begriffliche Ethik wäre ein Künstler nicht in der Lage, erfolgreich ein Bild des Ideals zu schaffen. Aber ohne die Hilfe der Kunst bleibt Ethik auf der Stufe der theoretischen Ingenieurswissenschaft: Die Kunst ist der Modellbauer.

Viele Leser von Der Ursprung haben mir gesagt, dass die Person von Howard Roark ihnen bei einer Entscheidung geholfen hat, wenn sie vor einem moralischen Dilemma standen. Sie fragten sich: „Was würde Howard Roark in solch einer Lage tun?“ – und das Bild von Roark gab ihnen die Antwort, schneller als ihr Verstand die richtige Anwendung all der beteiligten komplexen Prinzipien hätte identifizieren können. Sie spürten fast sofort, was er tun oder nicht tun würde – und dies half ihnen, die Gründe, die moralischen Prinzipien, die ihn geleitet hätten, zu isolieren und zu identifizieren. Dies ist die psycho-epistemologische Funktion eines personifizierten (konkretisierten) menschlichen Ideals.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass obwohl moralische Werte untrennbar mit der Kunst verwoben sind, sie nur als Konsequenz und nicht als kausale Determinante beteiligt sind: Der primäre Fokus von Kunst ist metaphysisch, nicht ethisch. Kunst ist nicht „das Stubenmädchen“ der Moral. Ihr grundlegendes Ziel besteht nicht darin, irgendetwas zu reformieren, zu vertreten oder jemanden zu bilden. Die Konkretisierung des moralischen Ideals ist kein Lehrbuch darüber, wie man dazu wird. Das grundlegende Ziel von Kunst ist nicht Lehren, sondern Zeigen – dem Menschen ein konkretisiertes Bild seiner Natur und seiner Stellung im Universum zu zeigen.

Jede metaphysische Frage wird zwangsläufig einen enormen Einfluss auf das menschliche Verhalten und daher auf seine Ethik haben; und, da jedes Kunstwerk ein Thema hat, wird es seinem Publikum zwangsläufig eine Schlussfolgerung – eine „Botschaft“ – vermitteln. Aber dieser Einfluss und diese „Botschaft“ sind nur sekundäre Konsequenzen. Kunst ist nicht das Mittel zu einem didaktischen Zweck. Das ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Moralstück oder einem Propagandaplakat. Je größer ein Kunstwerk ist, umso universeller ist sein Thema. Kunst ist nicht das Mittel zu buchstäblicher Übertragung. Dies ist der Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einer Nachrichtenmeldung oder einer Photographie.

Der Platz der Ethik in einem Kunstwerk hängt von den metaphysischen Ansichten des Künstlers ab. Wenn der Künstler bewusst oder unterbewusst die Prämisse vertritt, dass der Mensch die Macht des freien Willens hat, wird sie sein Werk zu einer Werteorientierung führen (zu Romantik). Wenn er die Prämisse vertritt, dass das Schicksal von Kräften jenseits seiner Kontrolle bestimmt wird, wird es sein Werk zu einer wertefeindlichen Orientierung führen (zu Naturalismus). Die philosophischen und ästhetischen Widersprüche des Determinismus sind in diesem Kontext irrelevant, so wie die Wahrheit oder Unwahrheit der metaphysischen Ansichten eines Künstlers irrelevant für das Wesen der Kunst an sich sind. Ein Kunstwerk kann die Werte darstellen, die der Mensch suchen sollte, und ihm das konkretisierte Bild des Lebens, das er erreichen sollte, vor Augen führen. Oder es kann behaupten, dass seine Anstrengungen nutzlos sind und ihm das konkretisierte Bild von Scheitern und Verzweiflung als letztendliches Schicksal vor Augen führen. In beiden Fällen bleiben die ästhetischen Mittel – der beteiligte psycho-epistemologische Prozess – dieselben.

Die existentiellen Konsequenzen werden natürlich unterschiedlich ausfallen. Unter der unerrechenbaren Anzahl und der Komplexität von Entscheidungen, die einen Menschen in seinem täglichen Leben konfrontieren, mit dem oft verwirrenden Strom der Ereignisse, mit dem Wechsel von Erfolgen und Fehlschlägen, von Freuden, die zu selten sind, und Leiden, das zu lange dauert, ist er oft in Gefahr, seine Perspektive und die Wirklichkeit seiner eigenen Überzeugungen zu verlieren. Denken Sie daran, dass Abstraktionen an sich nicht existieren: Sie sind für den Menschen die erkenntnistheoretische Methode, das wahrzunehmen, was existiert – und was existiert, sind Einzeldinge. Um die volle, überzeugende, unwiderstehliche Macht des Wirklichen zu erhalten, müssen metaphysische Abstraktionen dem Menschen in konkreter Form begegnen, d.h. in Form von Kunst.

Sehen Sie sich an, welchen Unterschied es machen würde, wenn der Mensch sich aus seinem Bedürfnis nach philosophischer Anleitung, Bestätigung oder Inspiration der Kunst des antiken Griechenland oder der Kunst des Mittelalters zuwendet. Mit dem kombinierten Auftreffen von abstraktem Denken und unmittelbarer Realität erreicht das Kunstwerk gleichzeitig seinen Geist und seine Emotionen. Die eine Art von Kunst sagt ihm, dass Katastrophen nur vorübergehend sind und dass Größe, Schönheit, Stärke und Selbstvertrauen sein natürlicher Zustand sind. Die andere Art sagt ihm, dass Glück vorübergehend und böse ist, dass er ein missgebildeter, ohnmächtiger, elender kleiner Sünder ist, der am Rande der Hölle in ewiger Angst lebt.

Die Konsequenzen dieser jeweiligen Erfahrungen sind offensichtlich – und die Geschichte ist ihre praktische Demonstration. Die Kunst ist nicht allein verantwortlich für die Größe oder die Gräuel dieser beiden Zeiten, aber die Kunst ist die Stimme der Philosophie – der Philosophie, die diese beiden Kulturen beherrscht hat.

Was die Rolle der Gefühle in der Kunst und die unterbewussten Mechanismen angeht, die als integrierender Faktor sowohl im künstlerischen Schaffen als auch in der Reaktion auf Kunst dienen, enthalten sie ein psychologisches Phänomen, das wir ein Lebensgefühl nennen. Ein Lebensgefühl ist ein vorbegriffliches Äquivalent von Metaphysik, eine emotionale, unterbewusst integrierte Einschätzung des Menschen und des Daseins. Aber das ist ein anderes, wenngleich verwandtes Thema (das ich in Kapitel 2 und 3 behandeln werde). Hier geht es nur um die psycho-epistemologische Rolle der Kunst.

Eine am Anfang aufgeworfene Frage sollte nun klar sein. Der Grund, warum Kunst eine zutiefst persönliche Bedeutung für den Menschen hat, besteht darin, dass Kunst die Wirksamkeit des menschlichen Bewusstseins bestätigt oder bestreitet, je nachdem, ob ein Kunstwerk sein eigenes fundamentales Weltbild bestätigt oder bestreitet.

Dies ist die Bedeutung und die Macht eines Mediums, das heute vorwiegend in den Händen von Menschen liegt, die als Qualifikation prahlerisch die Tatsache anführen, dass sie nicht wissen, was sie tun.

Wir sollten sie beim Wort nehmen: Sie wissen es nicht – wir schon.

(April 1965)

2. Philosophie und Lebensgefühl

Da Religion eine primitive Form der Philosophie ist – ein Versuch, ein umfassendes Weltbild darzubieten –, sind viele ihrer Mythen verzerrte, dramatisierte Allegorien, die ein Quäntchen Wahrheit, einen wirklichen, wenn auch schwer zu fassenden Aspekt des menschlichen Daseins enthalten. Eine dieser Allegorien, die die Menschen besonders verstörend finden, ist der Mythos eines übernatürlichen Beobachters, vor dem man nichts verstecken kann und der die guten wie die schlechten, die edlen und die verkommenen Taten aufzeichnet und den Menschen beim Jüngsten Gericht mit dieser Aufstellung konfrontiert.

Dieser Mythos ist wahr – nicht existenziell, sondern psychologisch gesehen. Der gnadenlose Beobachter, der alles aufzeichnet, ist der integrierende Mechanismus des menschlichen Unterbewusstseins; die Aufzeichnung ist sein Lebensgefühl.

Ein Lebensgefühl ist ein vor-begriffliches Äquivalent von Metaphysik, eine emotionale, unterbewusst integrierte Einschätzung des Menschen und des Daseins. Es bestimmt das Wesen der emotionalen Reaktionen und den Charakter des Menschen.

Lange bevor ein Mensch alt genug ist, einen Begriff wie „Metaphysik“ zu verstehen, trifft er Entscheidungen, bildet Werturteile, empfindet Gefühle und erwirbt sich ein bestimmtes implizites Weltbild. Jede Entscheidung und jedes Werturteil impliziert eine Einschätzung seiner selbst und seiner Umwelt – besonders seiner Fähigkeit, mit dieser Welt fertigzuwerden. Er mag bewusste Schlüsse ziehen, die wahr oder falsch sein können; er mag mental passiv bleiben und auf Ereignisse bloß reagieren (d.h. lediglich fühlen). Wie auch immer – sein unterbewusster Mechanismus zählt seine psychologischen Aktivitäten zusammen, integriert seine Schlüsse, Reaktionen oder Auslassungen in eine emotionale Summe, die ein Gewohnheitsmuster formt und zu seiner automatischen Reaktion auf seine Umwelt wird. Was als Serie einzelner, abgetrennter Schlussfolgerungen (oder Unterlassungen) in Bezug auf seine jeweiligen Probleme begann, wird zu einem generalisierten Gefühl über das Dasein, zu einer impliziten Metaphysik mit der unwiderstehlichen Motivationskraft einer ständigen, grundlegenden Emotion – einer Emotion, die Teil all seiner anderen Emotionen ist und allen Erfahrungen zugrunde liegt. Das ist ein Lebensgefühl.

Zu dem Ausmaß, zu dem jemand mental aktiv ist, d.h. angetrieben wird von dem Wunsch, zu wissen und zu verstehen, arbeitet sein Verstand als Programmierer seines emotionalen Computers – und sein Lebensgefühl entwickelt sich zu einem strahlenden Gegenstück einer rationalen Philosophie. Zu dem Ausmaß, zu dem jemand das unterlässt, wird die Programmierung seines emotionalen Computers durch zufällige Einflüsse vorgenommen; durch zufällige Eindrücke, Assoziationen, Imitationen, durch unverdaute Bruchstücke abgedroschener Plattitüden, durch kulturelle Osmose. Wenn Unterlassung oder Lethargie die vorherrschende mentale Funktionsweise ist, ist das Resultat ein Lebensgefühl, das von Angst beherrscht wird – eine Seele, die aussieht wie ein umgeformtes Stück Ton mit Fußspuren, die in alle Richtungen gehen. (Wenn er älter wird, jammert so jemand, dass er seine Identität verloren hat; Tatsache ist aber, dass er sie nie erworben hat.)

Der Mensch kann aufgrund seiner Natur nicht auf Generalisierungen verzichten; er kann nicht von Moment zu Moment, ohne Kontext, Vergangenheit oder Zukunft leben; er kann sein Integrationsvermögen – sein Begriffsvermögen – nicht eliminieren und sein Bewusstsein nicht auf die wahrnehmende Stufe eines Tieres beschränken. Genau wie das Bewusstsein eines Tieres nicht mit Abstraktionen umgehen kann, so kann das menschliche Bewusstsein nicht so weit schrumpfen, dass es sich nur noch mit unmittelbar Gegenständlichem befasst. Der enorm mächtige integrierende Mechanismus seines Bewusstseins ist von Geburt an da; seine einzige Entscheidung besteht darin, ihn zu betreiben oder von ihm betrieben zu werden. Da ein willentlicher Akt – ein Denkprozess – für die Verwendung dieses Mechanismus erforderlich ist, kann der Mensch dieser Anstrengung ausweichen. Wenn er dies aber tut, übernimmt der Zufall: Der Mechanismus funktioniert selbsttätig, wie eine Maschine ohne Fahrer; er integriert weiter, aber blind, unzusammenhängend und zufällig – nicht als Instrument der Wahrnehmung, sondern als Instrument der Verzerrung, der Täuschung und der Angst, das es darauf abgesehen hat, das Bewusstsein seines Besitzers zu zerstören.

Ein Lebensgefühl wird durch einen Prozess emotionaler Generalisierung gebildet, den man als unterbewusstes Gegenstück eines Abstraktionsprozesses bezeichnen kann, da es eine Methode von Klassifizierung und Integration ist. Aber es ist ein Prozess emotionaler Abstraktion: Er besteht aus der Klassifizierung von Dingen nach den Gefühlen, die sie hervorbringen – d.h. alle Dinge zu verbinden, die die Macht haben, in einem Individuum durch Assoziation oder Konnotation das gleiche (oder ein ähnliches) Gefühl hervorzubringen. Beispielsweise: eine neue Umgebung, eine Entdeckung, Abenteuer, Anstrengung, Triumph – oder: die Nachbarn, ein auswendig gelernter Vortrag, ein Familienpicknick, eine bekannte Routine, Gemächlichkeit. Oder auf einer höheren Stufe: ein heldenhafter Mensch, die Skyline von New York, eine sonnendurchflutete Landschaft, klare Farben, ekstatische Musik – oder: ein einfacher Mensch, ein altes Dorf, eine neblige Landschaft, trübe Farben, Volksmusik.

Welche jeweiligen Gefühle von den Dingen in diesen Beispielen als gemeinsamer Nenner hervorgerufen werden, hängt davon ab, welche Dinge zu dem Bild passen, das jemand von sich selbst hat. Für jemanden, der Selbstachtung hat, besteht das Gefühl, das die Dinge aus dem ersten Teil dieser Beispiele vereint, aus Bewunderung, Begeisterung und einem Gefühl der Herausforderung; das Gefühl, das die Dinge im zweiten Teil vereint, ist Ekel oder Langeweile. Für jemanden, dem es an Selbstachtung mangelt, ist das vereinende Element für die ersten Beispiele Angst, Schuld, Verachtung; das Gefühl, das die Dinge im zweiten Teil vereint, ist Linderung von Angst, Beruhigung und die anspruchslose Sicherheit der Passivität.

Obwohl solche emotionalen Abstraktionen sich zu einem metaphysischen Menschenbild auswachsen, liegt ihr Ursprung in dem Bild, das ein Individuum von sich selbst und von seinem Dasein hat. Das subverbale, unterbewusste Auswahlkriterium, das seine emotionale Abstraktion bildet, lautet: „Das, was wichtig für mich ist“ oder: „Die Art von Universum, das für mich richtig ist, in dem ich mich zu Hause fühlen würde.“ Es ist offensichtlich, welche immensen psychologischen Konsequenzen daraus folgen, je nachdem, ob die unterbewusste Metaphysik mit den Tatsachen der Realität übereinstimmt oder ihnen widerspricht.

Der Schlüsselbegriff in der Bildung eines Lebensgefühls lautet „wichtig“. Er gehört in den Bereich von Werten, da er eine Antwort auf die Frage „Wichtig für wen?“ impliziert. Aber ihre Bedeutung unterscheidet sich von der moralischer Werte. „Wichtig“ bedeutet nicht zwangsläufig „gut“. Es bedeutet „beachtenswert“. Was ist fundamental gesehen beachtenswert? Die Realität.

„Wichtig“ ist in seiner Kernaussage, anders als in begrenzteren oder oberflächlicheren Verwendungen, ein metaphysischer Begriff. Er gilt für jenen Aspekt der Metaphysik, der als Brücke zwischen Metaphysik und Ethik fungiert: für ein fundamentales Bild der menschlichen Natur. Dieses Bild enthält die Antworten auf Fragen, ob das Universum erkennbar ist oder nicht, ob der Mensch freien Willen hat oder nicht, ob er seine Ziele im Leben erreichen kann oder nicht. Die Antworten auf solche Fragen sind „metaphysische Werturteile“, da sie die Grundlage für die Ethik sind.

Nur jene Werte, die der Mensch für „wichtig“ hält und die sein implizites Weltbild repräsentieren, bleiben in seinem Unterbewusstsein haften und bilden sein Lebensgefühl.

„Es ist wichtig, zu verstehen“ – „Es ist wichtig, meinen Eltern zu gehorchen“ – „Es ist wichtig, eigenständig zu handeln“ – „Es ist wichtig, anderen zu gefallen“ – „Es ist wichtig, für das zu kämpfen, was ich will“ – „Es ist wichtig, sich keine Feinde zu machen“ – „Mein Leben ist wichtig“ – „Wer bin ich schon?“