Das Schweigen im Rössental - Carlo Fehn - E-Book

Das Schweigen im Rössental E-Book

Carlo Fehn

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Es ist ein Frühlingsmorgen wie aus dem Bilderbuch, als Hauptkommissar Pytlik und sein Kollege Cajo Hermann nach Birnbaum gerufen werden. Auf einem abgelegenen Hof im Rössental finden sie im Haus die Leichen des Bauern Schubert und seiner Tochter. Die beiden Ermittler haben schnell den Eindruck, dass die Opfer ihren Mörder kannten. Auch stellt sich bald heraus, dass Georg und Helga Schubert aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen waren und deswegen von Mitleid und Bestürzung wegen der Tat auch nichts zu spüren ist. Die Bevölkerung schweigt. Der Bürgermeister hat ein unsichtbares Netz über seine Schäfchen ausgeworfen und für Pytlik und Hermann ist es schwierig, in den Ermittlungen voranzukommen. Als auch noch der Pfarrer Opfer eines brutalen Überfalls wird, scheint eine jahrzehntelange Fehde außer Kontrolle zu geraten.

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Carlo Fehn

Das Schweigen im Rössental

Es ist ein Frühlingsmorgen wie aus dem Bilderbuch, als Hauptkommissar Pytlik und sein Kollege Cajo Hermann nach Birnbaum gerufen werden. Auf einem abgelegenen Hof im Rössental finden sie im Haus die Leichen des Bauern Schubert und seiner Tochter. Die beiden Ermittler haben schnell den Eindruck, dass die Opfer ihren Mörder kannten. Auch stellt sich bald heraus, dass Georg und Helga Schubert aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen waren und deswegen von Mitleid und Bestürzung wegen der Tat auch nichts zu spüren ist.

Die Bevölkerung schweigt. Der Bürgermeister hat ein unsichtbares Netz über seine Schäfchen ausgeworfen und für Pytlik und Hermann ist es schwierig, in den Ermittlungen voranzukommen. Als auch noch der Pfarrer Opfer eines brutalen Überfalls wird, scheint eine jahrzehntelange Fehde außer Kontrolle zu geraten.

Das Schweigen im Rössental – Hauptkommissar Pytliks siebter Fall

Carlo Fehn

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2014 Verlag Carlo Fehn

ISBN 978-3-7375-2819-1

Sonntag, 1. April 2007

Es war ein ungewöhnlich warmer und sehr sonniger Frühlingstag. Pytlik hatte sich von seiner besten Seite zeigen wollen und nachdem das erste Beschnuppern vorbei war, hatte sich eine lockere Gesprächsrunde mit Cajo Hermann, seinem Assistenten und dessen Freundin Bernadette entwickelt. Ihren Nachnamen hatte er bereits wieder vergessen. So scharfsinnig und erinnerungsstark er sonst auch immer war, schaffte er es nur selten, sich Namen von Personen, die sich ihm am Telefon oder auch persönlich vorstellten, zu merken. Egal, hatte er sich gedacht – Bernadette Dingens dann eben. Mal schauen, wie lange Hermann mit ihr überhaupt zusammen sein würde. Andererseits hatte sein Assistent bisher noch nie eine neue Freundin persönlich vorgestellt. Schien sich da diesmal wirklich etwas Ernstes anzubahnen?

Pytlik hatte sich nicht lumpen lassen. Er war an diesem Sonntag sehr früh aufgestanden und hatte das Haus einmal von oben bis unten gesaugt, Staub gewischt und am Tag zuvor sogar einen kleinen Blumenstrauß für den Esszimmertisch besorgt. Schließlich sollte Hermanns neue Freundin mit einem guten Eindruck von seinem Chef nach Hause gehen.

»Nehmen Sie doch noch ein Stück, Bernadette!«

Pytlik hatte den Tortenschieber bereits in der Hand und wollte der kurzhaarigen Blonden, die er auf Anfang 30 schätzte, noch einen Kuchen auf den Teller laden. Die aber wiegelte freundlich ab und verwies mit aufgeplusterten Backen darauf, dass sie doch schon hiervon und davon was gehabt hätte und sie doch schon ziemlich satt sei.

»Sonst passe ich ja morgen nicht mehr in meine Jeans«, gab sie mit einem aufgesetzten Lächeln zum Besten.

Hermann schaute hinüber zu ihr mit einem Blick, den Pytlik ganz schnell dahingehend interpretierte, dass sein Assistent wohl gerade dachte, dass es ihm ohnehin lieber wäre, sie hätte ihre Jeans erst gar nicht an. Der Hauptkommissar musste durchaus zugeben, dass ihm die Frau, die bereits erzählt hatte, dass sie im Bereich Veranstaltungsmanagement tätig war, optisch sehr gefiel und auch sonst hatte er von ihr einen ganz passablen Eindruck gewonnen.

»Na gut«, akzeptierte Pytlik mit einem leichten Schulterzucken die Entscheidung. Nachdem er sich dann selbst noch einmal bedient hatte, schenkte er Hermann und seiner Begleitung Kaffee nach. Dabei merkte er plötzlich, wie sein Assistent den Kopf leicht senkte, die Ellenbogen auf den Tisch stützte, die Hände nach oben nahm und die Fingerspitzen zusammenführte. Als Hermann auch noch kurz – Bestätigung verlangend – zu Bernadette geschaut hatte, wusste Pytlik, ohne dass er sich dies in dem Moment hätte anmerken lassen, dass irgendetwas wohl nicht stimmen würde. Nachdem Hermann sich für das Einschenken bedankt hatte, räusperte er sich kurz und begann dann, sich mit ernster Miene und einem deutlichen Unwohlsein an seinen Chef zu wenden.

»Du, Franz, ähm…«

Pytlik wusste, dass jetzt irgendetwas kommen würde, mit dem er erstens nicht gerechnet hatte und das ihn möglicherweise wohl nicht erfreuen würde. Er wollte sich seine Vermutung aber nicht anmerken lassen und ließ sich mit der Kaffeetasse in der Hand locker im Stuhl auf der Terrasse nach hinten fallen. Den rechten Unterschenkel schlug er über das linke Knie und schaute Hermann erwartungsvoll in die Augen. Der Hauptkommissar hatte nicht die leiseste Ahnung. Aber was hätte ihn schon erschüttern können?

»Ja, Cajo! Was liegt dir am Herzen?«

Hermann schaute noch einmal – diesmal deutlicher und mit erkennbarer Hektik – zu Bernadette.

»Also, es ist so...«

»Mein Gott, wie lange kennen wir uns jetzt schon?«, wollte Pytlik seinem Assistenten die sichtbare Aufregung nehmen. Bernadette schaute ernst, erst zu Pytlik, dann zu Hermann. Für einige Sekunden sagte niemand mehr etwas.

»Gut, Franz! Es hat ohnehin keinen Sinn, es ist beschlossen und irgendwann muss ich es dir sagen. Also, ich habe in den letzten Wochen viel nachgedacht. Weißt du, es gibt wahrscheinlich im Leben eines jeden Menschen einen Punkt, wo man bewusst oder unbewusst eine Inventur seines Lebens macht und dann unter dem Strich ein Ergebnis hat, mit dem man entweder zufrieden ist oder sich fragt, ob es das schon gewesen sein kann.«

Pytlik wurde nervös, ohne zu wissen, warum genau. Was redete Cajo da, dachte er? Der war Anfang 40, hatte einen guten Job, gerade eine neue Freundin, die sich durchaus sehen lassen konnte, und jetzt stotterte er herum, als hätte man ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Für einen kurzen Augenblick hatte sich Pytliks Meinung über Bernadette grundlegend geändert. Egal, was sein Assistent jetzt verkünden würde, sie wäre schuld daran.

»Was redest du da?«, unterbrach er Hermann. »Oder anders formuliert: Was willst du mir eigentlich sagen?«

»Also gut!«

Hermann ließ die Hände auf den Tisch fallen und machte es kurz.

»Ich werde aufhören! Aus, Schluss, fertig! Ich pack das einfach nicht mehr!«

Es mag eine Art Schock gewesen sein, dass Pytlik seine Kaffeetasse trotz dieser unglaublichen Äußerung langsam und sicher auf dem Tisch abstellen konnte. Dann kniff er die Augen zusammen und wusste nicht recht, was er sagen sollte.

»Was meinst du damit, du hörst auf? Ich meine, womit willst du aufhören?«

Hermann schaute wieder zu Bernadette, sie ermunterte ihn mit einem kurzen Nicken, weiterzureden.

»Ich hänge den Job an den Nagel! Er macht mich einfach kaputt!«

Pytlik richtete sich in seinem Stuhl auf, legte die Hände auf seinen fast kahlen Schädel und schüttelte den Kopf ganz schnell ein paar Mal hin und her, so als wolle er in seinem Gehirn wieder für Ordnung sorgen. Dann stand er auf und ging kommentarlos durch die Terrassentür nach innen, um wenige Augenblicke später mit einer Schachtel Zigaretten und einem Feuerzeug wieder nach draußen zu kommen.

»Sie sind Raucher?«

Bernadettes Frage war in diesem Moment das Tüpfelchen auf dem i, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, der Funke, der das Pulverfass Pytlik explodieren ließ.

»Ob ich rauche?«

Pytlik war für einen Moment sehr ruhig, dann redete er sich in Rage.

»Wenn Sie wissen möchten, ob ich Raucher bin, dann würde ich eigentlich sagen: nein! Aber wenn man eine Zigarette in der Hand hat und raucht, dann ist man ja de facto Raucher. Das ist eine Frage der Definition, glaube ich. Verstehen Sie?«

Bernadette lächelte süffisant und schüttelte den Kopf.

»Verstehen Sie nicht? Okay, lassen Sie es mich anders erklären. Wenn man etwas Blödes macht, ist man dann automatisch ein Blödmann?«

»Hm, nur wenn man immer etwas Blödes macht, dann ist man vielleicht ein Blödmann«, konterte Hermanns Freundin selbstsicher.

»Aha«, frohlockte Pytlik zynisch. Dann zeigte er mit dem Finger auf Hermann, ohne ihn allerdings anzuschauen.

»Der da, Ihr lieber Freund, der macht eigentlich nie was Blödes und deswegen mag ich ihn auch so gerne. Einen besseren Kollegen kann ich mir gar nicht vorstellen und jetzt taucht der mit Ihnen hier auf, um mir zu erzählen, dass er seinen Job hinschmeißen will. Da kann ich nur sagen: Deswegen ist er noch lange kein Blödmann, aber Vollidiot würde es in diesem Fall ganz gut treffen!«

Pytlik knallte die rechte Faust auf den Tisch und ging dann die paar Schritte hinüber zu seinem kleinen Gartenteich. Er stand mit dem Rücken zu seinen Gästen und zündete sich zitternd vor Aufregung eine Zigarette an. Er schämte sich. Wie konnte er sich vor Hermanns neuer Freundin und nach einem bisher sehr angenehmen Nachmittag nur so gehen lassen? Er spielte seinen eigenen Anwalt. Immerhin waren sie auf seiner Terrasse. Immerhin hatte ihm Hermann etwas erzählt, dass für beide von weitreichender Bedeutung war. Und immerhin hatte Pytlik den Eindruck gewonnen, dass Hermanns Ankündigung etwas mit dieser Bernadette zu tun hatte. Und immerhin musste er sich nicht rechtfertigen, wenn er deswegen ausrastete. Fertig, basta!

***

Es hatte die ersten beiden Biere gedauert, bis Pytlik sich einigermaßen beruhigt und Hermann und seiner Freundin den Spaß nachgesehen hatte. Dass er vor Scham über die Szene, die er den Beiden gemacht hatte, fast im Boden versunken wäre, spielte mittlerweile keine Rolle mehr. Aus dem nachmittäglichen Kaffeetrinken war ein lustiger Abend geworden, der so zwar nicht geplant war, der allen aber in Erinnerung bleiben würde.

»Echt lecker!«, schmatzte Hermann.

»Darf ich dir noch Wein einschenken, Bernadette?«, war Pytlik ganz Gentleman, obwohl seine Zunge schon etwas schwerfällig wirkte.

»Gerne, Franz!«

Das Klirren der Weingläser wurde vom lauten Lachen vollständig übertönt. Pytlik und Hermanns Freundin hatten kurzerhand irgendwann Brüderschaft getrunken, ebenso spontan entschlossen wurden Pizza und Salat bestellt und der Hauptkommissar war die ganze Zeit damit beschäftigt, seinen Assistenten eindringlich zu bitten, diese peinliche Geschichte für sich zu behalten und nicht am Montag früh im Büro allen Anderen zu erzählen.

»Kein Problem, Franz. Ich werde schweigen wie ein Grab«, versicherte Hermann, der mit glasigem Blick schon längst nicht mehr den nüchternsten Eindruck machte.

»Aber mal ganz ehrlich«, wollte Bernadette dann von Pytlik wissen, trank aber zunächst einmal aus dem gut eingeschenkten Weinglas. »Hast du denn in keiner Sekunde daran gedacht, dass heute der 1. April ist und das Ganze ein übler Scherz sein könnte?«

Pytlik schüttelte langsam den Kopf und nachdem er gerade von seiner Pizza abgebissen hatte, kämpfte er wie ein tapsiger Bär mit einem Käsefaden, bevor er um Aufmerksamkeit bittend den Zeigefinger der rechten Hand hob und Hermann und Bernadette ernst anschaute.

»Eines weiß ich jetzt auf jeden Fall: Der 1. April ist ein Blödmann!«

Aus dem Lachen wurde Gegröle und der Abend nahm einen vorhersehbaren Verlauf.

***

Montag, 2. April 2007

»Guten Morgen! Wie geht’s dir?«

Hermanns Stimme klang dunkel, seine körperliche Verfassung und die Gemütslage waren schon besser gewesen. Pytlik, der ohne ein Wort zu ihm ins Auto gestiegen war, blickte düster und stur geradeaus. Es war kurz nach halb sieben in der Früh.

»So ein Mist!«, kam es dem Hauptkommissar dann über die Lippen.

»Ich wusste es. Ich wusste das einfach. Als ich die letzte Flasche Rotwein aufgemacht habe, war mir klar, dass genau dies passieren würde.«

Pytlik hustete ein paar Mal in seine Hand und Hermann hatte schnell begriffen, dass es seinem Chef nicht viel besser ging als ihm selbst.

»Also«, strengte sich Pytlik dann aber an, »was ist passiert?«

Sein Assistent erzählte ihm, was ihm der Kollege vom Kriminaldauerdienst berichtet hatte. Als sie die Stadt nördlich in Richtung Friesen hinter sich gelassen hatten, legte Pytlik die Stirn in Falten und stützte seinen Kopf mit einer Hand, während er den Ellenbogen auf der Beifahrertür fixiert hatte.

»Birnbaum!«

Pytlik sprach den Namen mit seltsamer Andacht aus, so als würde er damit Erinnerungen verbinden, die ihn gerade wieder einholten. Hermann schaute kurz zu seinem Chef hinüber, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Fahrt. In Steinberg bog er rechts ab hinauf nach Eibenberg.

»Soll ich dir was sagen?«, meldete sich Pytlik plötzlich wieder zu Wort.

»Was?«

»Ich war noch nie in Birnbaum! Du?«

Hermann musste lachen.

»Was ist?«, wollte Pytlik wissen.

»Ach nichts! In Birnbaum war ich immer nur, wenn wir dort Fußball gespielt haben. Der Platz war schief, einige Zuschauer schräg und es ging immer heiß her. Wirklich ein Highlight! Aber dass wir dort mal einen Mord aufklären müssen, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.«

»Wer sagt denn, dass es Mord war?«, äußerte Pytlik wohl mehr einen Wunsch.

»Nachdem, was mir erzählt wurde«, erwiderte Hermann, »müssen wir davon ausgehen. Oder meinst du, das lässt auf einen natürlichen Tod schließen? Im Leben nicht!«

Als die beiden Kronacher Ermittler auf dem Höhenkamm Birnbaum schon fast erreicht hatten, rechter Hand – vom morgendlichen Nebel zart umhüllt – Neufang zu sehen war und der Sonnenaufgang den Ort als dunkle Silhouette erscheinen ließ, geriet Pytlik ins Schwärmen.

»Schau dir das mal an! Ist das nicht wunderschön hier? Diese Ruhe, nichts bewegt sich. Und irgendwo da drüben im Tal liegen zwei Menschen. Tot. Können all das nicht mehr erleben. Einfach Schluss! Fernbedienung, roter Knopf, vorbei! Macht das Sinn? Wer bestimmt das? Wer gestaltet das Programm unseres Lebens? Ich weiß nicht! Ich weiß es einfach nicht!«

Die Kommissare hatten das Ortsschild von Birnbaum passiert. Für einen Moment herrschte nahezu Stille im Auto. Dann, so, als ob er vorher gerade in einer Art Hypnose oder Dämmerzustand gesprochen hatte, zeigte sich Pytlik plötzlich hellwach.

»Also gut, hilft ja nichts. Weißt du, wo das genau ist?«

»Der Kollege hat mir das gut beschrieben, dürfte kein Problem sein«, antwortete Hermann.

***

Keine zwei Minuten später zog Hermann den Schlüssel aus dem Zündschloss, nachdem er auf dem schlecht befestigten Schotterweg am Ortsende hinunter in Richtung Rössental gefahren war und den Dienstwagen vor einem alten Bauernhaus abgestellt hatte. Hermann und Pytlik stiegen aus und ließen ihre Blicke zunächst in das hinter dem Hof liegende Tal schweifen.

»Schau dir das an!«, konnte Pytlik seine Begeisterung für einen Moment nicht für sich behalten. Als würde feine Zuckerwatte über den weiten Feldern liegen, präsentierte sich die Landschaft, die sich über einige Hektar erstreckte und von drei Seiten von Wald eingezäunt war. Ein Bussard glitt majestätisch durch das Bild. Sein kurzes Kreischen verstand Pytlik als Guten-Morgen-Gruß. Die Luft war klar, Hermann rieb die Hände schnell aneinander und schob den Kragen seiner Jacke über den Hals. Es war frisch. Auch der Hauptkommissar zog den Reißverschluss bis unters Kinn und lief dann gemeinsam mit seinem Assistenten hinüber zu einem Gatter, in dem eine Schar Gänse hungrig Körner pickte.

»Morgen!«

Ralf Wich, der Schutzpolizist, der auch Hermann informiert hatte, begrüßte seine Kollegen und stellte ihnen gleichzeitig den Mann vor, der die Entdeckung gemacht und angerufen hatte.

»Das ist Karl Beitzinger, er hat die Beiden gefunden.«

Der etwas untersetzte Mann, der um die 60 gewesen sein dürfte, war unschwer als Jäger zu erkennen. Lodenmantel und Hut in Olivgrün, ein Gewehr geschultert und ein aufmerksam beobachtender Wachhund an der Leine. Nachdem er den Korb mit dem Gänsefutter auf den Boden gestellt hatte, gab er Pytlik und Hermann die Hand.

»Beitzinger, Karl. Aus Steinwiesen. Ich bin Jäger und habe heute eine meiner üblichen Touren gemacht. Wir kriegen die Sau kaum noch in den Griff, ich und meine Kollegen. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll.«

Pytlik und Hermann schauten sich an, der Jäger bemerkte aber sofort, dass sie ihn wohl nicht ganz verstanden hatten.

»Ach so, ich meine die Wildschweine. Nachdem die sich nun fast schon zu einer Plage entwickelt haben, sagen wir unter uns einfach immer nur ›die Sau‹.«

Pytlik und Hermann hoben die Köpfe und signalisierten somit, dass sie es jetzt verstanden hatten. Der Hauptkommissar stellte seine erste Frage.

»Und Ihre Route führt Sie dann allem Anschein nach auch hier am Hof vorbei. Richtig?«

Vom Hauseingang herüber war ein Geräusch zu hören. Der Notarzt kam mit seinem Koffer auf die Männer zu und streifte sich noch einen Gummihandschuh ab. Nach einem kurzen Gespräch mit Pytlik und Hermann verabschiedete er sich sogleich wieder und machte sich auf den Weg.

»Entschuldigung! Also, Sie kommen dann auch oft hier vorbei, wenn ich das richtig verstehe.«

Karl Beitzinger nickte ein paar Mal heftig, dann erzählte er.

»Dieses Jahr bin ich erst das zweite Mal hier, weil wir ja so lange Schnee hatten. Aber normalerweise komme ich zwei bis drei Mal im Monat hier vorbei. Das eine oder andere Mal hat mich der Schuberts-Bauer dann auch auf einen Kaffee hinein gebeten und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Seine Tochter war meistens schon im Stall oder hat irgendwie die Viecher versorgt. Der Schorsch konnte ja schon lange nicht mehr so gut.«

»Und weiter?«

Pytlik war ungeduldig. Der Jäger sollte ihm möglichst schnell alles erzählen, damit er und Hermann sich ein Bild verschaffen konnten.

»Erzählen Sie mir einfach nur, wie das dann vorhin war, als Sie hier vorbeikamen.«

»Naja, da oben«, machte Karl Beitzinger eine Handbewegung in Richtung des am Horizont zu sehenden Wasserturms, »rechts am Waldrand. Sehen Sie? Da ist ein Jägerstand. Von dort bin ich heruntergelaufen und hab mir dann irgendwie schon gedacht, dass etwas anders war als sonst.«

»Nämlich?«, fragte Hermann nach.

»Es war so gegen sechs Uhr und es hat leicht gedämmert, war aber fast noch dunkel. Im Haus waren keine Lichter zu sehen. Außerdem haben die Kühe viel Lärm gemacht. Das heißt eigentlich, dass es Zeit wird, sie zu melken. Irgendwie war es auf jeden Fall komisch und mir war ehrlich gesagt auch etwas unwohl und meine Vermutung, dass irgendwas nicht stimmen würde, sollte sich dann ja auch bestätigen.«

Der Jagdhund hatte sich mittlerweile brav neben sein Herrchen hingelegt und Karl Beitzinger stockte für einen kurzen Augenblick der Atem. Er schaute hinüber zur Eingangstür und seine Miene wurde ernster.

»Die Haustüre stand offen, ein Spalt, mehr nicht. Ich habe mein Gewehr entsichert und die Taschenlampe herausgeholt. Dann habe ich mehrmals gerufen, nach dem Schorsch und auch nach seiner Tochter, der Helga. Aber nichts, keine Antwort! Mit dem Lauf meines Gewehrs habe ich die Tür aufgestoßen und mit der Taschenlampe hineingeleuchtet, aber nichts war zu sehen. Ich hatte ehrlich gesagt ganz schön viel Angst und jeden Moment damit gerechnet, dass mich jemand von hinten packt. Aber dann habe ich mir gesagt: Reiß dich zusammen! Ich bin dann vorsichtig hineingegangen, der Flur ist ja nicht sehr lang. Gleich rechts geht es ins Esszimmer. Die Tür stand offen und als ich mit meiner Taschenlampe hineinhielt, traf mich fast der Schlag.«

Nachdem Karl Beitzinger seine detaillierten Schilderungen beendet hatte, gab Pytlik ihm eine Visitenkarte von sich mit und Ralf Wich klärte die letzten Formalitäten mit dem Jäger. Dann machten sich die beiden Ermittler auf den Weg, den Tatort anzuschauen.

***

Während die zwei Schutzpolizisten sich daran gemacht hatten, den Hof nach möglichen Spuren oder Hinweisen abzusuchen, hatten Pytlik und Hermann bereits eine gute Stunde in der Küche verbracht und versucht, den Tathergang zu rekonstruieren. Beim Inspizieren der Schubladen und Schränke hatte Pytlik zwei Personalausweise gefunden, die er nun in der Hand hielt.

»Georg Heinrich Schubert, geboren am 20. März 1937. Hm, vor zwei Wochen 70 geworden«, stellte Pytlik fest und schaute danach auf den anderen Ausweis.

»Und Helga Agnes Schubert, geboren am 9. April 1962, wäre in ein paar Tagen 45 geworden.«

Pytlik schaute zu Ralf Wich hinüber, der mittlerweile hereingekommen war und im Türrahmen stand.

»Gibt es denn auch eine Mutter Schubert? Ralf, weißt du da etwas?«

Wich blätterte in seinem Notizblock.

»Ja, Moment mal. Der Beitzinger hat mir erzählt, dass… Warte, wo hab ich das denn? Ach hier! Die Frau ist vor 20 Jahren gestorben, seitdem lebten der Bauer und seine Tochter allein auf dem Hof.«

»Und die Tochter?«, wollte Pytlik wissen. »Kein Mann? Keine Kinder?«

»Anscheinend nicht. Wenn der Bauer wirklich nicht mehr so gut zu Fuß war, dann hatte die wohl genug mit dem Hof zu tun. Andererseits: Zwei helfende männliche Hände mehr wären da bestimmt nicht schlecht gewesen. Aber die wohnen hier auch total weg vom Schuss. Egal, keine Ahnung!«

»In Ordnung, danke Ralf! Wir werden das sicherlich noch herausfinden.«

»Ach übrigens«, meldete sich Pytliks Kollege noch einmal zu Wort. »Die Kollegen von der Spurensicherung habe ich schon mal verständigt. Die haben sich sofort auf den Weg gemacht.«

»Alles klar.«

***

Pytlik ging in die Knie und sah eine Frau vor sich liegen, wie er sich eine typische Bäuerin auf so einem Hof vorstellen würde. Die hellblaue Latzhose über einer karierten Bluse steckte ab dem Knie in grauen Gummistiefeln, an deren Sohle Spuren von Kuhmist und Stroh eine feste Kruste gebildet hatten. Ein Kopftuch hatte sie sich über die Haare gebunden. Hätte Pytlik nicht gewusst, dass sie tot war, hätte er meinen können, sie würde nur schlafen. Dr. Fiedler, der Notarzt, hatte bei Helga Schubert den Tod festgestellt und war sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sicher, dass sich die Frau durch den Sturz auf eine scharfe Kante das Genick gebrochen hatte. Rein äußerlich war sie ansonsten unversehrt, außer dass eine kleine Blutkruste an ihrem Mund zu sehen war, die von der aufgeschlagenen Lippe herrührte. Keine Frau, in die er sich hätte verlieben können, dachte Pytlik spontan und schämte sich gleichzeitig dafür. Direkt zu ihren Füßen, mit dem Oberkörper auf einem ihrer Gummistiefel, lag ihr Vater. Die rechte Hand hatte er nach oben gestreckt, sie war auf dem Oberschenkel seiner Tochter platziert. Mit seinem Körper verdeckte der Bauer, der sehr robust wirkte, eine große Blutlache, die aus einer Stichwunde an seinem Hals resultierte. Außerdem waren massive Gewalteinwirkungen – Dr. Fiedler sprach von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand – in der rechten Kopfhälfte zu sehen. Das gesamte Gesicht war von getrocknetem Blut bedeckt, das Toupet, das der Mann allem Anschein nach getragen hatte, war ihm etwas über die Augen gerutscht. Es war ein scheußlicher Anblick. Pytlik schaute abwechselnd in die beiden leblosen Gesichter und tippte sich dabei immer wieder mit dem Zeigefinger auf seinen Mund. Hermann durchbrach die Ruhe.

»Und? Was denkst du?«

Pytlik erhob sich und ging zwei Schritte zurück. Er blickte durch das Fenster nach draußen, um noch einmal in das weite Tal hinunter zu schauen. Zwei Rehe streckten ihre Köpfe aus dem Nebelteppich und drehten sich neugierig in Richtung des Bauernhofs. Pytlik schmunzelte. Dann führte er die Hände hinter dem Rücken zusammen und erklärte seinem Assistenten eine mögliche Theorie, was passiert sein konnte.

»So wie es aussieht, haben der Bauer und seine Tochter jemanden erwartet. Auf dem Tisch stehen zwei Teller jeweils mit Besteck und drei Gläser. Ein Teller ist auf den Boden gefallen und zerbrochen. Anscheinend hatte die Tochter gerade den Tisch gedeckt – für sich, ihren Vater und den Gast.«

Pytlik drehte sich um und schaute auf den Tisch. Dann fuhr er fort.

»Wenn meine Vermutung stimmt, müssten die von der Spurensicherung an der Tischkante Hautpartikel von Helga Schubert finden – und zwar hier.«

Er kreiste mit dem Zeigefinger um eine Stelle an dem massiven Holztisch, ohne diesen allerdings zu berühren.

»Verstehst du, Cajo?«

Hermann nickte langsam.

»Ach so. Du meinst, warum auch immer hat möglicherweise unser Mörder die Tochter geschlagen, daher auch die aufgeplatzte Lippe und von der Wucht ist diese nach hinten umgefallen und auf den… okay, durchaus möglich.«

Pytliks Assistent schien nachzudenken, der Hauptkommissar fragte nach.

»Aber? Durchaus möglich, aber…?«

»Naja, könnte auch sein, dass der Vater vielleicht zugeschlagen hat. Die dritte Person merkt dann, dass die Tochter tot ist…«

»... und gerät darüber dermaßen in Wut, dass sie den Vater erst schlägt und ihm dann ein Messer in die Halsschlagader rammt.«

Pytlik schürzte die Lippen und machte eine anerkennende Geste.

»Auch möglich! Durchaus auch möglich! Meine Variante wäre, dass unser Unbekannter aus irgendeinem Grund zugeschlagen hat und der Vater seiner Tochter zu Hilfe kommen wollte. Vielleicht hat der Bauer zuerst mit dem Vierkantholz auf seinen späteren Mörder eingeschlagen oder das zumindest versucht, der hat den Angriff abgewehrt und dem Alten dann den Schädel zertrümmert.«

»Er gerät in Panik und um sicherzugehen, nimmt er ein Messer und…«

»Ja, so könnte es auch gewesen sein«, schloss Pytlik die Rekonstruktion ab. Von draußen drang das Wehklagen der Kühe ins Haus.

»Weiß man denn, ob die Verwandtschaft haben und wer kümmert sich eigentlich um das ganze Vieh und die anderen Tiere«, wandte sich Pytlik wieder an Ralf Wich, von dem er vermutete, dass er die Fragen beantworten konnte.

»Ach ja, das hat der Jäger auch noch erzählt, dass die wohl keine Verwandtschaft hätten. Die müssen hier so eine Art Einsiedlerleben geführt haben. Anscheinend gab es da auch irgendwas mit dem Dorf oben. Aber was genau, das wusste der Beitzinger auch nicht wirklich.«

Pytlik schaute auf seine Uhr. Es war mittlerweile kurz nach halb neun.

***

Hermann ließ den Dienstwagen langsam und ruhig bis zur Ortsmitte rollen.

»Stell dich doch da drüben hin!«, wies Pytlik ihn an.

Nachdem sie ihr Auto neben einer Bushaltestelle abgestellt hatten, ließen sie die Blicke zunächst einmal ringsherum schweifen, bevor sie ausstiegen.

»Was hast du erwartet?«, sagte Hermann, ohne dass Pytlik ihn etwas gefragt hatte. »Montagfrüh in Birnbaum – da kann man nicht davon ausgehen, dass Menschenmassen auf der Straße unterwegs sind und das Bimmeln der S-Bahn die Ruhe stört.«

»Da drüben«, zeigte Pytlik mit einer Handbewegung fast geradeaus. »Das könnte es doch sein.«

»Meinst du?«