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Erik Valeur

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Beschreibung

Da waren's nur noch sechs ...

Sieben Waisenkinder aus Kongslund und ein Geheimnis, das Dänemark erschüttern wird. Als würde ein Fluch auf ihnen liegen, haben sie alle schwere Schuld auf sich geladen. Jahrzehnte nach ihrer Adoption erhalten sechs der sieben Waisen einen anonymen Brief, der sie noch einmal in das Kinderheim Kongslund führt. Doch wer von ihnen ist Das siebte Kind – und was hat es vor?

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Seitenzahl: 1076

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Erik Valeur

Das siebte Kind

Roman

Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Det syvende barn« bei JP/Politiken Forlagshus A/S, Kopenhagen.
Die Übersetzung wurde von Statens Kunstråd, Kopenhagen, gefördert, wofür wir uns herzlich bedanken.
Copyright der Originalausgabe © 2011 Erik Valeur og JP/Politikens Forlagshus A/S Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: Plainpicture/Stefan Rosengren Redaktion: Susann Rehlein Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12464-9 V003
www.blanvalet.de

Vorwort des AutorsMARIES HAUS

Es muss ein Geheimnis bleiben, auf welchem Wege ich die neuen und bislang unbekannten Informationen über den Fall erhalten habe, der später als die Kongslund-Affäre bekannt wurde.

Ich habe das hoch und heilig versprochen – auch wenn es im Grunde absurd ist, weil die Wahrheit ja doch nicht zurückgehalten werden kann, wenn das Schicksal andere Pläne hat. Und das Schicksal hat immer andere Pläne.

Ich werde mein Bestes tun, jene merkwürdigen Begebenheiten, welche die ganze Nation für eine kurze Weile in Atem gehalten haben, so einfach und präzise wie nur möglich wiederzugeben. Ich möchte bei dem, was vorgefallen ist und was nur ein durch und durch gnädiger Gott mit milden Augen zu betrachten vermag, weder für den einen noch für den anderen Partei ergreifen, wobei ich fast schon Kongslunds berühmte Heimleiterin fauchen höre, warum um alles in der Welt ich Gott in die Angelegenheit mit hineinziehen muss.

In ihrer Welt, die über fünfzig Jahre von elternlosen Kindern bevölkert war, gab es keinen barmherzigen Gott – und ganz sicher keinen zerstreuten alten Mann mit silbergrauen Haaren, der nichts lieber tat, als den Menschen am Ende eines Tages all ihre Sünden zu vergeben.

In ihrer Welt gab es nur den unerschütterlichen Willen der Fräuleins und Schwestern, die Folgen des Egoismus vorangegangener Generationen zu reparieren. Ein Projekt, das von Beginn an einem dunklen, unregierbaren Schicksal unterworfen war, das ohne religiösen oder rationalen Einfluss operierte und dessen Lieblingsbeschäftigung im Beinstellen bestand, in Schlägen und plötzlichen Stürzen.

»Das Schicksal ist die einzige Kraft von Bedeutung, es bringt die Menschenkinder zu Fall und fügt ihnen Schmerzen zu«, würde sie mit dem ansteckenden Enthusiasmus sagen, für den sie so bekannt war – um dann zu lachen, dass die Wände erzitterten: »Hier an diesem Ort haben wir weder Gott noch den Teufel gebraucht!«

Ich erinnere mich noch an das Rumoren, das nach solchen Aussagen immer aus ihrem Bauch zu hören war und das uns Kinder ebenso fasziniert wie verängstigt die Luft anhalten ließ. Und noch heute, viele Jahre später, neige ich dazu, ihr recht zu geben.

Zur Erklärung meiner eigenen Rolle in dieser Sache muss die Aussage reichen, dass ich wie die Hauptpersonen des vorliegenden Buches meine ersten Jahre im Adoptions- und Säuglingsheim Kongslund verbracht habe und dass ich im Laufe meines Lebens, getrieben von einer Kraft, die ich nie ganz verstanden habe, immer wieder an diesen Ort zurückgekehrt bin. Das muss schließlich auch der Grund gewesen sein, dass Marie mich zu guter Letzt gefunden hat.

Meine Aufarbeitung der Affäre basiert auf ihren detaillierten Aufzeichnungen, ergänzt durch eigene Untersuchungen der Geschehnisse, die sie nicht im Detail kennen konnte. Das gilt insbesondere für die Porträts der sechs Kinder, mit denen zusammen sie die ersten Monate ihres Lebens in Kongslund verbrachte – und die sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr losgelassen haben.

Das Rätsel um Das siebte Kind ist – wie ich das sehe – am ehesten eine Geschichte über diese Sehnsucht. Vielleicht würden mir da sogar die ehrenwerten Psychologen von Kongslund recht geben – so sie die Geschichte denn kennen würden.

Zu guter Letzt bleibt zu hoffen, dass sich Marie und das Schicksal, wenn der Vorhang fällt, gütlich einigen können.

Geht dieser Wunsch in Erfüllung, war ihre Reise nicht vergebens. Dann sitzt sie irgendwo da oben im Schatten der mächtigen Buchen, die vor langer Zeit Dänemarks letztem absoluten König Schutz boten, und singt das Lied von den blauen Elefanten, das sie schon als Kind gesungen hat. Abend für Abend.

Und ich glaube, dieses Mal wird sie erst aufhören, wenn sie die letzte Strophe gesungen hat.

30. April 2011

Findest du einen Freund, hast du eine Chance.Findest du keinen, gehst du unter.

MAGDALENE, 1969

PrologDIE FRAU AM STRAND

September 2001

Die Frau wurde am Morgen des 11. September 2001 am Strand gefunden, ziemlich genau zwischen dem Badhotel Skodsborg und dem Strandpark Bellevue.

Das war wenige Stunden, bevor die Welt für fast alle Menschen in den unterschiedlichsten Erdteilen nachhaltig verändert wurde. Diese eigenartige Koinzidenz hatte eine entscheidende Bedeutung für den seltsamen Verlauf, den dieser Fall nahm, sodass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann, das Schicksal habe seine Freude daran gehabt, zwei so vollkommen unterschiedliche Geschehnisse auf ein und den gleichen Tag zu legen.

Das unbedeutendere der beiden Ereignisse wurde sofort wieder vergessen, obwohl es in den ersten Stunden von der Polizei prioritär behandelt und protokolliert worden war.

Der Notruf war um 06.32 Uhr eingegangen. Die tote Frau lag fast am Spülsaum, das Gesicht in den grauen Matsch gedrückt; ihre Arme waren nach hinten gedreht und ihre Hände geöffnet. Auf ihren Handflächen zeichneten sich kleine Sandmuster ab, weshalb die Ermittler zunächst an einen Ritualmord mit irgendeinem krankhaften Motiv gedacht hatten. Natürlich war auch denkbar – wie einer von ihnen mutmaßte –, dass der Ostwind den Sand über ihren Körper geweht hatte, bevor die Sonne sich aus dem Sund erhoben hatte.

Ein Hundebesitzer, der in einer der vornehmen Villen am Torbæker Strandvej wohnte, hatte die Polizei verständigt. Die Polizisten waren sich einig gewesen, dass die Frau schon tot war, als sie auf dem Sand aufschlug. Sie hatte einen kegelförmigen Krater in der Stirn, der ein ganzes Stück in ihren Schädel und das Gehirn hineinreichte. Das Blut war aus dem Loch in ihre Haare gelaufen und rechts und links von ihrem Kopf im Sand versickert. Die Techniker fanden Haare auf dem scharfen Stein, auf dem sie aufgeschlagen war, aber der Großteil des Blutes war längst vom Salzwasser des Sunds ins Meer gespült worden. Die Tote hatte keine Papiere bei sich, aber ihre Kleider (und ihre Armbanduhr) verleiteten die Ermittler schließlich zu der Annahme, dass sie aus Neuseeland oder Australien stammte. Allerdings kamen die Analyseergebnisse und Schlussfolgerungen zu spät, zu einem Zeitpunkt nämlich, als der Toten bereits niemand mehr die geringste Aufmerksamkeit schenkte.

Man kann sicher davon ausgehen, dass der Fall weiterverfolgt worden wäre, hätte die Welt in den nächsten Stunden nicht vollkommen kopfgestanden. Ein Zusammentreffen, das niemand der Anwesenden an dem eventuellen Tatort auch nur ahnen konnte. Denn während die Techniker den Sand unter und neben der Toten auf die möglicherweise entscheidenden Spuren untersuchten, flogen zwei entführte Passagiermaschinen in den Luftraum über New York, womit alle anderen Aktivitäten auf Gottes grünem Planeten ihre Bedeutung verloren. In den Tagen darauf gab es nur noch ein Bild, das sich in den Nachrichtensendungen wie in dem Bewusstsein der Dänen festsetzte: der Anblick der rauchenden Wolkenkratzer in New Yorks Skyline und die schwarzen Körper, die in die Tiefe des Ground Zero stürzten.

Hatte der Fall der toten Frau jemals eine Chance gehabt, auf die Titelseiten der dänischen Zeitungen zu kommen, war sie in diesem Augenblick vorbei. Zwei kleinere Blätter brachten ein paar wenige Zeilen, und nur in einer wurde ein paar Wochen später darüber informiert, dass die Polizei den »bedauerlichen Unfall« zu den Akten gelegt hatte, denn trotz wiederholter internationaler Anfragen hatte niemand das etwas makabre Porträt der Toten erkannt, das verschickt worden war. Kein Register und keine Datenbank der Welt hatten Auskunft geben können.

Das Schicksal gewann auf ganzer Linie gegen die Anstrengungen der Sterblichen, vermutlich allein um des Sieges willen. Doch um die Wahrheit zu sagen, hatten auch die Polizisten wenig Skrupel, den Fall so schnell wie möglich zu den Akten zu legen.

Schließlich geschahen weltweit viel wichtigere Dinge.

Und doch.

Ein paar Jahre später wurde der Kriminalkommissar, der die Ermittlungen dieses peripheren Falls geleitet hatte, in einer Morgenzeitschrift zu unaufgeklärten Fällen interviewt.

Etwa in der Mitte des Gesprächs erwähnte er die Frau am Strand zwischen Skodsborg und Bellevue, die zu diesem Zeitpunkt vollkommen in Vergessenheit geraten war. Ein paar Dinge, die an jenem Morgen vorgefallen waren, hatte er nie richtig einordnen können – kleine, aber bemerkenswerte Details –, doch jetzt fand der kurz vor der Pensionierung stehende Polizist plötzlich Worte für sein Unbehagen: »Wenn es sich tatsächlich um Mord gehandelt hat, fürchte ich, dass da eine sehr kranke Person am Werke war«, sagte er. »Wir haben damals nicht ausgeschlossen, es möglicherweise mit dem ersten dänischen Serienmörder zu tun zu haben.« Der Journalist, der vor ihm saß, horchte auf, er erinnerte sich an keinen Mord am Bellevue.

Auf der anderen Seite des Tisches schloss der Polizist die Augen, als stände er in seiner inneren Welt noch immer an dem Strand, während er sich die Indizien in Erinnerung rief, die die Techniker im Sand markiert und fotografiert hatten. Dann sagte er mit dunkler Stimme: »Als Erstes war uns aufgefallen, wie unwahrscheinlich es war, dass sie im Fallen ausgerechnet den einzigen größeren Stein getroffen hatte, der sich an diesem Strandabschnitt befand. Den einzigen. Das wäre wirklich ein ungeheurer Zufall gewesen, aber natürlich möglich …«

Der Journalist hatte genickt und sein Aufnahmegerät eingeschaltet.

Der Polizist nahm keine Notiz von dem Gerät. »Es wunderte uns natürlich auch, dass eines ihrer Augen extrem lädiert war … während das andere unverletzt war und aussah, als schliefe sie friedlich. Das verletzte Auge hing halb aus der Höhle heraus, und wir verstanden nicht wirklich, wie das bei dem Sturz geschehen sein sollte. Es schien keine unmittelbare Folge des Sturzes zu sein. Aber noch einmal … Möglich war das natürlich, andererseits konnte sie sich diese Verletzung aber auch an einem anderen Ort zugezogen haben.« Der Kommissar schlug die Augen auf. »Vielleicht war sie im Laufe der Nacht gestürzt …« Er brachte seine Hypothese mit so skeptischem Blick vor, dass der Journalist kaum zu nicken wagte.

Dann kam der alte Polizist auf die geheimnisvollen Funde zu sprechen, und seine Stimme wurde noch dunkler. »Vielleicht hatten die gar nichts mit dem Vorfall zu tun«, sagte er. »Aber in dem kleinen Bereich rund um die Tote lagen vier Gegenstände, die wir beim besten Willen nicht zuordnen konnten … und die an einem ganz normalen dänischen Strand definitiv nichts zu suchen hatten. Sie lagen in einem so engen Kreis um die Frau herum, dass es da eigentlich einen Zusammenhang geben musste. Das hat uns damals wirklich nervös gemacht. Rechter Hand von ihr – also in Richtung Süden – lag ein kleines Buch, höchstens einen Meter entfernt. Es war kein gewöhnliches Buch, wie man es mit Menschen verbindet, die am Sund in der Sonne baden. Das Buch stammte von einem Astronomen … Fred Hoyle … Die Schwarze Wolke aus dem Jahr 1957, ein Science-Fiction-Roman – man muss schon fast Astrophysiker sein, um den zu verstehen. Ich habe ihn selbst gelesen …«

Er schüttelte beinahe entschuldigend den Kopf.

Der Journalist hatte weder von dem Autor noch von dem Buch je etwas gehört.

»Aber da war noch etwas«, sagte der ehemalige Ermittler. »Westlich der Toten – ein kleines Stückchen weiter den Strand hoch – lag ein Ast von einer Linde. Das Problem war nur, dass da weit und breit keine Linde wuchs. Wie also kam dieser Ast dorthin?« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ein Wunder ausschließen, brachte dann aber erneut den Vorbehalt, den man als verantwortungsvoller Polizist bringen musste: »Vielleicht wurde er ja von einem Jungen dort weggeworfen … Das Ganze wirkte nur so … gestellt.«

Wieder saß er einen Augenblick reglos da, wie in der Vergangenheit gefangen, ehe er fortfuhr: »Was uns aber am meisten gewundert hat, war die Tatsache, dass der Ast mit einer Motorsäge abgesägt worden war, und natürlich …« Der alte Kommissar verfiel erneut in Schweigen und schloss die Augen, während er die innere Landschaft studierte, in der die Leiche auf dem Bauch lag und die Techniker auf allen vieren über den Sand krochen.

Der Journalist schob das Aufnahmegerät demonstrativ näher zu ihm hin, sagte aber nichts, als wollte er ihm zu verstehen geben, dass er sein Unbehagen verstand. Abgesägte Äste dieser Dicke wurden nicht einfach wie ein kleiner Zweig im Schnabel einer Taube transportiert.

»Der Ast war sehr alt«, sagte der Kommissar schließlich düster, »wie sich später bei den Untersuchungen herausstellte. Dieser Ast war nicht an irgendeinem Waldrand gefunden worden, sondern hatte viele Jahre irgendwo in einem Haus gelagert. Aber, verdammt, warum nimmt jemand so einen alten Ast mit, um ihn an einem Strand abzulegen?«

Der Journalist hatte keine Antworten auf die Fragen und wartete ab.

»Im Osten … in Richtung Wasser, fanden wir ein paar Meter von ihrem Kopf entfernt ein Stück Seil. Aber das war kein gewöhnliches Seil. Es war wie eine Galgenschlinge geformt und ziemlich dick. Dieses Fundstück hat uns ziemliches Kopfzerbrechen bereitet, da es mit seiner Platzierung auf eine Hinrichtung hindeuten konnte …«

Der Journalist wagte es nicht, ihn zur Eile anzutreiben, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen.

»Aber das Grausamste …« Der Polizist zögerte wieder. »Das Allerschlimmste war der Vogel.«

Das Letzte kam nur geflüstert über seine Lippen.

»Der Vogel?«

»Ja. Es lag ein kleiner Vogel am Strand, direkt vor ihrer linken Hand. Mit gebrochenem Hals. Wie die Frau lag er auf dem Bauch. Das war echt gruselig. Der Vogel hat uns schließlich bewogen, eine Beschreibung unserer Funde an die Spezialisten des FBI in Washington zu schicken, eine Abteilung, die sich ausschließlich mit Serienmördern beschäftigt. Aber wegen des Terroranschlags auf die Zwillingstürme verging viel Zeit, bis sie uns geantwortet haben. Sie glaubten nicht daran, dass ein Serienmörder bei uns sein Unwesen trieb. Andererseits waren die Funde am Strand wirklich sehr sonderbar und verrückt und entzogen sich jeder systematischen Erklärung. Den FBI-Leuten war nie ein vergleichbares Muster untergekommen, das dem, das wir möglicherweise am Bellevue gefunden hatten, auch nur ähnlich sah. Wenn es denn ein Muster war.«

Der Polizist verstummte wieder.

»Die haben das Ganze also für einen Zufall gehalten?« Die Frage des Journalisten kam mit einem Hauch von Verärgerung.

»Ja … das ist richtig. Wenn man alle Details in Betracht zog, schienen es nur Zufälle zu sein, wenn auch seltsame Zufälle, das gaben sie zu. Don’t worry, schrieben sie. Wir haben uns aber trotzdem Sorgen gemacht. Oder besser gesagt, ich. Und das tue ich noch heute. Ich sehe noch immer diesen kleinen Vogel vor mir.«

Der Journalist legte seinen Finger auf den Stoppknopf des Aufnahmegeräts. »Aber ein toter Vogel an einem Strand ist doch nichts Ungewöhnliches … Eine Katze könnte ihm den Hals gebrochen und ihn an den Strand geschleppt haben, ehe sie verjagt wurde?« Seine Stimme klang jetzt fast herausfordernd.

Der Kommissar sah seinen Gesprächspartner lange an. »Ja, natürlich«, sagte er. »Das ist alles … sehr wohl möglich. Aber es handelte sich nicht um eine junge Möwe oder eine kleine Amsel, nicht mal um einen verfluchten Spatz …« Plötzlich war so etwas wie Wut in seinem Blick. »Es war ein Vogel, der niemals aus freien Stücken mitten in der Nacht an einen dänischen Strand fliegen würde, und genau das war das Problem.«

Der Journalist hob das Aufnahmegerät hoch, um auch die abschließenden Worte des alten Mannes mitzubekommen, der mit geschlossenen Augen vor ihm saß und vor seinem inneren Auge den Strand musterte.

Später in der Redaktion waren sie ebenso deutlich zu hören wie während des Interviews. Und es waren diese letzten Worte, die den Redaktionschef dazu verleiteten, die ganze Geschichte mit einem Schnauben ein für alle Mal vom Tisch zu wischen: »So einen Unsinn drucken wir nicht! Die Leser halten uns sonst noch für verrückt!«

»Es war ein kleiner, gelber Kanarienvogel«, hatte der Kommissar ins Mikrofon gesprochen, gefolgt von einem Knistern des Lautsprechers. »Verstehen Sie das?«

Der Journalist war ihm eine Antwort schuldig geblieben.

Der Kommissar hatte eine ganze Weile nachdenklich dagesessen, bis er schließlich gesagt hatte: »Und genau das war unser Problem. Wer hat jemals von einem Kanarienvogel gehört, der in stockdunkler Nacht an einen Strand fliegt, um sich dann unweit des Spülsaums den Hals zu brechen? Das ist verdammt noch mal absurd.«

Nach diesen Worten war der Kommissar aufgestanden.

»Die Frau wurde ermordet. Davon bin ich überzeugt.«

Seine Aussage wurde, wie gesagt, nie veröffentlicht.

TEIL 1DER ANFANG

1DAS FINDELKIND

Mai 1961

Beuge ich mich ein wenig vor, kann ich in den Garten des Kinderheims schauen, und stelle ich mich auf die Zehenspitzen, meine ich, die weiß gekleideten, autoritären Fräuleins vor mir zu sehen, die ein Menschenleben lang über Kongslund und all die Wesen herrschten, die dorthin kamen – und selbst nach so vielen Jahren liegt über der Szenerie ein Duft von gebügeltem Leinen und frischem Brot, der mühelos bis zu mir nach oben unter den Dachfirst reicht und mich schwindeln lässt. Ich muss mich mit der schiefen Schulter am Fensterrahmen abstützen, um nicht zusammenzusacken.

Da sitzt Fräulein Ladegaard, und dort sitzen die Fräulein Nielsen und Jensen, und ein wenig abseits stehe ich selbst, unten am Wasser, mit meinem japanischen Elefanten an der rostigen Kette, und betrachte die fernen Umrisse der Insel Hven, wo der Wissenschaftler und Abenteurer Tycho Brahe vor Jahrhunderten seine Sternwarte errichtete. Die wissenschaftliche Perspektive interessierte mich damals selbstredend noch nicht – in dem Alter und mit einem Elefanten auf Rädern als einzigem Freund –, aber der kurze Landstreifen stellte damals schon das heimliche Ziel meiner immer drängenderen Fluchtgedanken dar.

In diesen Jahren nahm Kongslund einen nahezu unendlichen Strom von Kindern auf, die in Schande von einsamen, unverheirateten Frauen in die Welt gesetzt und zur Adoption freigegeben worden waren. Sie wurden von starken, ranken Fräulein in den hiesigen hohen Räumen in Empfang genommen, mit dem Versprechen, so schnell wie überhaupt möglich ein neues Heim und eine neue Familie für sie zu finden.

In meinem zweiten Jahr musste ich aus der Elefantenstube ausziehen – und als Fräulein Ladegaard meine Pflegemutter wurde, brachte sie mich in dem Zimmer unter, das sie als das hübscheste von Kongslund betrachtete. »Sieh dich um, Marie«, sagte sie. »Dieser Raum wurde vom Bürgerkönig entworfen und eingerichtet.«

Ich drehte mich folgsam im Kreis – ganze drei Mal – und war allein.

Ich setzte mich ans Fenster und richtete den Blick auf den Sund und die ferne Insel dort draußen. Mindestens einmal am Tag formte ich meine Hände zu Röhren und hielt sie so vor mein Auge, dass es aussah, als betrachtete ich das Ziel meiner Träume durch ein langes, unendlich starkes Fernrohr.

Der Schrei rollte zwischen den Wänden des Rigshospitals hin und her, und es lag ein solcher Zorn darin, dass niemand, der damals Ohrenzeuge war, ihn jemals wieder vergaß. Nach einer Zeitspanne, die einem wie Minuten vorkam, ebbte er langsam ab und hinterließ am Ende nur ein leises Summen im Unterbewusstsein derer, die sich an diesem Tag im Hospital befanden.

Das Merkwürdige war, dass der Schrei drei Tage nach der Entbindung kam, während der die junge Mutter eine erstaunliche und ganz unnatürliche Stummheit an den Tag gelegt hatte. Das Kind kam unter so merkwürdigen Umständen auf die Welt, dass jeder, der an diesem Abend auf der Entbindungsstation B gewesen war, sich noch ein halbes Jahrhundert später an jedes Detail erinnern konnte.

Niemand hatte die blasseste Ahnung, wohin die Frau nach der Geburt verschwunden war, und keiner konnte Auskunft über das Kind geben, noch nicht einmal über dessen Geschlecht, weil es in aller Hast aus dem Kreißsaal gebracht worden war.

Die drei Personen, die Licht in das Mysterium dieses Abends 1961 hätten bringen können, waren allesamt tot. Es handelte sich um eine Oberhebamme, die die Frau entband, eine Krankenschwester, die in den ersten Stunden über das Kind wachte, und den Oberarzt, der absolute Schweigepflicht über den gesamten Vorfall angeordnet hatte. Eine junge Hebammenschülerin, die sich zu dieser Zeit auf der Station aufhielt, erzählte viele Jahre später einem Journalisten, dass das Kind am dritten Tag auf Anordnung des Oberarztes abgeholt worden und aller Wahrscheinlichkeit nach in das berühmte Adoptions- und Säuglingsheim Kongslund in Skodsborg gebracht worden war.

Das erste außergewöhnliche Ereignis im Zusammenhang mit der Entbindung war der Anruf, den der Oberarzt erhielt, während im Radio die Wasserstandsmeldungen liefen, knapp eine Stunde vor Eintreffen der jungen Frau.

Es war ein kurzes, betont formelles Gespräch, das von der jungen Hebammenschülerin mit angehört wurde, während sie mit der diensthabenden Oberschwester am Tisch saß und Tee trank, sodass sie später detailliert wiedergeben konnte, was angeordnet worden war. Der Oberarzt hatte ausdrücklich betont, dass es sich um eine ganz besondere Ankunft handelte – eine spezielle Lieferung, wie er es ausdrückte.

»Sie wird mit dem Auto an den Entbindungstrakt B gefahren. Sie wird allein sein, ohne Angehörige oder Verwandte«, hatte er gesagt. »Es ist unter allen Umständen untersagt, ihr das Kind zu zeigen, auch nicht auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, da es in jedem Fall zur Adoption freigegeben wird.«

Es kam immer wieder vor, dass eine junge Frau ihre Entscheidung bereute, dann wurde der Adoptionsprozess gestoppt. Nicht so in diesem Fall.

»Die Frau wird in drei Tagen um die gleiche Zeit wieder abgeholt. Das Kind wiederum wird von der Vorsteherin von Kongslund geholt, Fräulein Ladegaard.«

Die Frau kam in einem privaten Wagen ins Hospital, was zu der Zeit eher ungewöhnlich war. Mindestens drei der Anwesenden erinnerten sich später daran, wie der dunkle, große Wagen mit laufendem Motor gehalten hatte, während ein schwarz gekleideter Chauffeur der jungen Frau vom Rücksitz geholfen hatte.

Zwei Hebammenschülerinnen, die das Schauspiel hinter halb heruntergerollten Jalousien beobachteten, machten einen Scherz: »Da kommt Cruella de Vil«, sagte die Ältere von beiden.

Die neu Eingetroffene trug einen langen schwarzen Mantel und einen breitkrempigen schwarzen Hut. Damit hörte die Ähnlichkeit aber auch schon auf.

Die Geburt wurde durchgeführt wie zu der Zeit üblich – diskret und nahezu unter peinlicher Stille, mit großzügigen Mengen an Lachgas. Im eigentlichen Augenblick der Geburt wurde ein Ritual vollzogen, das auf zukünftige, im Geiste sehr viel freiere Frauen befremdlich wirken müsste, weil es etwas vom Heraufbeschwören eines Fluches hatte: Die Hebamme legte eine zusammengefaltete Stoffwindel über das Gesicht der Frau, um zu verhindern, dass sie auch nur einen kurzen Blick auf das Kind erhaschte, dem in diesem Moment auf die Welt geholfen wurde. Das war die übliche Praxis, um die Trennung des Wesens von seiner Mutter zu erleichtern. Die Mutter würde nicht sehen, wie die Nabelschnur des Kindes durchtrennt wurde, sie würde nicht die ausgestreckten Ärmchen sehen, die nach dem Körper suchten, den es hatte verlassen müssen. Danach brachte die Hebamme das Kind aus dem Kreißsaal zu der bereitgestellten Wiege.

Als die ältere Hebammenschülerin an diesem Abend die junge Frau um ihre Akte bat, wies die Oberschwester sie errötend zurecht, dass es keine Akte gäbe.

Die jüngere Schülerin hatte die werdende Mutter neugierig gemustert und sie nach ihrem Namen gefragt. Das Mädchen hatte nicht geantwortet. Sie hatte ihren Mantel über einen Stuhl gelegt und sich schwer darauf gestützt. Ihre Lungen gaben ein leises Pfeifen von sich, als unterdrückte sie ein Husten oder Zittern in ihrem zierlichen Körper.

Mehr als fünfundvierzig Jahre später erinnerten sich zwei der damals Anwesenden an ebendieses Detail: ein Geräusch, das sie damals der Angst der jungen Frau zugeschrieben hatten, das die inzwischen pensionierte Hebamme allerdings im Rückblick als etwas ganz anderes interpretierte.

Die kräftigen Wehen setzten eine knappe halbe Stunde später ein, als wollte das Mädchen das Unumgehbare so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die inzwischen pensionierte Hebamme war damals mit einer Metallschale voller steriler Tampons in den Kreißsaal gekommen und hatte sich, da es gerade eine Pause zwischen den Wehen gab, dem Bett der jungen Frau genähert und versucht, Kontakt zu ihr zu bekommen. »Sie machen das sehr gut«, sagte sie.

Sie wollte der jungen Frau ihr Mitgefühl zeigen, nach den Wehen fragen, vielleicht ihre Hand halten, schließlich waren sie ungefähr im gleichen Alter. Die Schülerin hieß Carla und hatte sich in ihren ersten Monaten auf der Station die Mühe gemacht, den leidenden Mädchen mehr als nur professionelle Hilfe angedeihen zu lassen. »Carla ist außerordentlich aufmerksam für die Signale der jungen Frauen«, hatte die Oberhebamme gesagt – aber bevor Carla das Bett der jungen Gebärenden erreicht hatte, drehte diese sich plötzlich auf die Seite, schlug die Augen auf und sah sie mit einem Blick an, den Carla niemals vergessen sollte.

Ihre Pupillen waren tiefgrün und verschwommen gewesen, zuerst blank vor Schmerz und Angst und dann plötzlich klar und kalt, als starrten sie ihr aus einem Schacht aus dem Innern der Erde entgegen. Einen Augenblick später funkelten sie vor einer Wut, die die Hebammenschülerin nicht deuten konnte und so noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Diese erschreckende Reaktion war der Grund dafür, dass sie sich so gut an ausgerechnet dieses Mädchen und diese Entbindung erinnern konnte, als sie ein halbes Menschenalter später zu deren Verlauf befragt wurde.

Die Geburt war danach rasch vorangegangen; nach nur einer Stunde war das Gesicht des Mädchens ebenso weiß wie das Laken unter ihr, und trotzdem unterdrückte sie jede Art von Schmerzensschrei. Sie schloss die Augen und schlug sie wieder auf, und das Blut in ihren Adern schien zu gefrieren, während der Schweiß aus ihren Poren drang, bis das Laken unter ihr ganz nass und zerknüllt war. Die weißen, schmalen Schultern zitterten, wenn eine neue Wehe sie überrollte, und die jüngste Schülerin erinnerte sich an die feuchte Hitze in dem Raum, das blonde Haar, das auf dem Kissen klebte, und an den Duft der Schande und Demütigung, der den Frauen der mit einem A gekennzeichneten Akten anhaftete.

Dass sie selbst trotz all ihres Mitgefühls Teil dieser Schande war, begriff Carla erst viel später, als sie selbst eine erwachsene Frau war und Mutter und auf ein langes Leben zurückblicken konnte. Es war eine schockierende Erkenntnis, die sie mit niemandem teilte, bis sie als Rentnerin zum ersten Mal von der mysteriösen Entbindung erzählte. Sie hatte Mitgefühl immer als eine der größten Tugenden im Leben eines Menschen erachtet, aber an diesem Abend auf der Entbindungsstation B hatte dieses Gefühl eine Zwillingsschwester bekommen, Missbilligung.

Der Oberarzt erschien wenige Minuten vor der Geburt und bat die Schülerin, den Raum zu verlassen. Um den Fluch zu vollenden – so dachte Carla heute darüber –, gebar das Mädchen mit der weißen Stoffwindel über dem Gesicht ihr Kind, ohne ein einziges Mal zu schreien. In den Minuten danach wurde das Baby weggebracht, und das Ganze schien überstanden.

Die junge Frau wurde in den Kindbetttrakt gefahren, weit entfernt von dem Raum, in dem das Baby schlief, damit sie es nicht weinen hörte, wenn es aufwachte (die verlassenen Säuglinge wachten häufiger auf und weinten mehr als die Säuglinge, die bei ihren Müttern schliefen). Man wollte vermeiden, dass die A-Mütter in einem Zustand von Depression und Schuldgefühlen aufstanden und nach ihren Kleinen suchten.

Am dritten Tag, kurz bevor sie abreisen sollte, hob die junge Frau ihren Kopf vom Kissen und bat darum, die Oberhebamme zu holen. Sie wollte von ihrem Recht Gebrauch machen, den Adoptionsbeschluss rückgängig zu machen und ihr Kind sehen …

Die Oberhebamme informierte eine Krankenschwester, die die Oberschwester anrief, die es wiederum einem Arzt mitteilte, der den Oberarzt alarmierte, der aber nur die Order bestätigte, die er schon vorher ausgegeben hatte: Das Mädchen durfte das Kind unter keinen Umständen sehen.

Als die Order eine Stunde später bei der Oberhebamme ankam, begab sie sich direkt ans Bett des Mädchens und sagte ihr, dass dies leider nicht möglich sei. »Dazu ist es leider schon zu spät, das Kind wurde bereits weggebracht«, sagte sie.

In den Sekunden nach dieser Mitteilung hallte der Schrei der Frau bis in die Gänge der Entbindungsstationen auf der anderen Seite des Gebäudes, und in diesem Schrei, der in Orkanstärke gegen die Wände prallte, schwang eine Mischung aus Trauer, Furcht und zügellosem Zorn mit.

Alle duckten sich und kniffen die Augen zu, als könnte die Dunkelheit die Bilder vertreiben, die der Ton wachrief.

Als die nachfolgende Stille wieder Bewegungen in den Gängen des Hospitals zuließ, rief die Oberhebamme ihre junge Schülerin zu sich und bot ihr eine Tasse Jasmintee an. »Ich kann mir denken, dass es dir nahegegangen ist, die junge Frau zu erleben, die am … Dienstag ihr Kind bekommen hat«, sagte sie und legte tröstend die Hand auf ihren Arm.

Carla lauschte ihrer Chefin, die, wie sie wusste, kinderlos war und alleine lebte, mit gebeugtem Kopf.

»Ich weiß, wie furchtbar es für eine Frau ist, mit anzusehen, wie eine andere Frau ihr Kind auf diese Weise von sich stößt – ebenso furchtbar ist es aber auch für das Kind …« Die Oberhebamme dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Man fühlt das Bedürfnis nach Nähe so deutlich – es ist das gleiche Bedürfnis wie bei jedem von uns, wenn nicht noch stärker. Ein Verlangen nach Körperwärme …«

Das letzte Wort blieb ohne eine weitere Erklärung in der Luft hängen, und Carla erinnerte sich noch heute an das leichte Zittern der Finger auf ihrem Unterarm.

Dann verhärtete sich der Griff der Oberhebamme, als wollte sie die bösen Gedanken vertreiben, die eben durch ihre ansonsten so lebensbejahende Welt gezogen waren. »Aber wir können nichts daran ändern, Carla. Wenn das Schicksal es so bestimmt hat, ist es das Beste, dass die Mutter das Kind überhaupt nicht zu Gesicht bekommt. Darum tun wir das.«

Carla hatte genickt und geschwiegen.

Nach Feierabend am nächsten Tag ging sie in den Kindbetttrakt und ließ sich von ein paar stillenden Müttern das Zimmer zeigen.

Aber das Bett war leer, die junge Frau war weg. Als wäre alles nur ein Traum gewesen.

Dann hatte sie energische Schritte hinter sich gehört und eine tiefe Altstimme, die »Guten Tag« sagte.

Auch dies war eines der Details, die sie noch viele Jahre später wiedergeben konnte. Mitten im Zimmer stand eine große Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Carla reichte der Frau gerade einmal bis zum Kinn und machte eingeschüchtert einen Knicks.

»Dich habe ich hier noch nie gesehen«, sagte die große Frau. »Wie heißt du?«

Carla sah ein kleines Gesicht mit fest geschlossenen Augen in der kräftigen Armbeuge der Frau.

»Ich bin nur Hebammenschülerin in der Entbindungsstation B …«, antwortete Carla.

»Was heißt hier nur, meine Liebe? Keine Frau ist einfach nur … und schon gar nicht Hebammen. Ihr seid schließlich das Empfangskomitee des Lebens!« Die Frau lachte kollernd, was das Baby auf ihrem Arm wie bei einem mittleren Erdbeben wackeln ließ.

Carla errötete. »Nein, ich meinte auch nur …« Den Rest der Antwort hatte sie vergessen.

»Du wolltest nachschauen, ob das Kind, dem du auf die Welt geholfen hast, noch hier ist«, sagte die hochgewachsene Frau ernst. »Jetzt wollen wir ein gutes Zuhause für das Kind finden. Das Beste, das es kriegen kann, das verspreche ich dir. Ich bin übrigens Fräulein Ladegaard, die Vorsteherin des Heims der Mutterhilfe in Skodsborg … Kongslund.«

Und dann fügte die große Frau noch etwas hinzu, fast als würde sie mit dem Säugling reden: »Die Kinder nennen mich Magna.«

Carla erinnerte sich an einen schwachen, süßen Blumenduft, gemischt mit einem schärferen Geruch nach Zigarren oder Zigarillos.

Die Vorsteherin lächelte und drehte sich zur Tür.

Der Säugling lag sicher in ihrer Armbeuge und spitzte die Lippen. Ein kleiner, fast unsichtbarer rosenroter Strich in dem weißen, schlafenden Gesicht. Dann waren sie weg.

Eine Woche später, ein paar Kilometer weiter nördlich, erwacht die Stadt. Die Frau hat eine einzelne Lampe angeschaltet, die den Raum nur spärlich erleuchtet. Sie ist etwas älter als das Mädchen im Rigshospital, und ihr Kind wurde nur wenige Tage vorher am gleichen Ort geboren.

Sie hat der Besucherin einen Platz auf dem Sofa angeboten, aber diese ist am Fenster stehen geblieben, als wäre der eigentliche Anlass des Besuches das Studium der Østerbrogade zwischen dem Grundstück und dem Bahnhof Svanemøllen.

Noch ist keine Straßenbahn auf den Schienen unterwegs, dazu ist es zu früh.

Die Frau dreht sich um. »Ich habe was zum Anziehen mitgebracht«, sagt sie. Die autoritäre Stimme lässt keinen Raum für Diskussionen. Die Frau ist schmächtig und hat ein schmales, blasses Gesicht, das keine Gefühlsregung verrät. Sie stellt eine weiße Papiertasche auf den Esstisch.

Die andere Frau nickt. Eigentlich sollte sie froh sein. Es gibt eine Abmachung, und sie bekommt, was sie sich gewünscht hat. Alle Spuren ihres Fehltrittes werden beseitigt sein. Das Leben kann weitergehen, und niemand wird jemals davon erfahren.

Das ist ihr größter Wunsch.

»Also dann«, sagt sie zögernd. Immerhin ist es ihr Kind, um das es geht, jedenfalls noch ein paar Minuten, andererseits ist sie nach den härtesten Tagen ihres bisherigen Lebens noch immer sehr erschöpft.

Die Besucherin geht zu ihr und reicht ihr eine kleine Mütze und einen feuerwehrroten, nicht sehr dicken Strampler. Die Frau hilft der Besucherin, die Ärmchen des Säuglings in die Ärmel einer kurzen Windjacke zu stecken, wobei sie kein Wort miteinander wechseln.

Die Frau überdenkt ihre Entscheidung noch ein letztes Mal. Seit dem ersten Kontakt sind zwei Wochen vergangen, und sie hat die eigentümliche Vorgehensweise – und das Risiko, falls es eins gibt – wieder und wieder abgewogen. Irgendetwas ist falsch. Aber wie lange sie auch darüber nachdenkt, gelingt es ihr nicht, den Finger auf den entscheidenden Punkt zu setzen.

Aber nun ist das nicht mehr ihre Verantwortung. Sie hat sich entschieden, und so muss es sein.

Am Ende hebt sie das Kind in die hellblaue Tragetasche und steckt die Bettdecke mit der hellroten Wolldecke gut an den Seiten fest, ohne das Kleine anzusehen.

Die Besucherin trägt die Tasche in den Flur. »Ich gehe.« Sie öffnet die Wohnungstür mit der freien Hand.

Die Frau nickt. »Dann bedanke ich mich«, sagt sie, als hätte jemand ihr einen Dienst erwiesen, was absurd ist, denn schon die ganze Zeit über plagt sie das Gefühl, dass es genau umgekehrt ist.

Sie steht eine Weile am Fenster und blickt zum Bahnhof Svanemøllen hinüber, um zu sehen, ob ihr Gast mit der Kindertragetasche auftaucht. Aber es ist niemand zu sehen. Die beiden scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben.

Ein paar Kilometer weiter nördlich, in den Häusern am Strandvej, schlafen Grossisten und Direktoren, Oberärzte und Oberstaatsanwälte ihren wohlverdienten Schlaf. Ihre Betten sind so weich, dass nur ein Erdbeben ihre Träume stören könnte.

Niemand ist auf der Straße, außer der schmächtigen Frau mit der hellblauen Tragetasche. Sie kommt den Hang bei Skodsborg Bakke heruntergelaufen. Es ist noch nicht hell, und sie wird von Büschen und den tiefen Schatten der hohen Bäume abgeschirmt. Ganz nah am Wasser liegt eine große braune Villa.

Am Fuß des Hangs lichtet sich das Gebüsch; die Frau läuft geduckt und mit kurzen, hastigen Schritten über den Rasen. Schließlich überquert sie die Auffahrt des Hauses, wo die dicke Kiesschicht unter den Sohlen ihrer Schnürschuhe knirscht, ehe sie ganz vorsichtig an der Hausmauer entlangschleicht, das Tragekörbchen ein Stück vom Körper weghaltend.

Sie bückt sich, sieht sich nach dem Nachbarhaus mit der weißen Fassade um, als ahnte sie dort am Fenster ein Augenpaar, und stellt das Körbchen auf dem Treppenabsatz unter dem Südgiebel ab. Dann richtet sie sich auf und steht reglos sicher eine Minute da. Ganz langsam dreht sie sich im Kreis und blickt in alle Himmelsrichtungen, ehe sie sich lautlos in den Schatten der Buchen zurückzieht.

Das Ganze dauert etwa drei Minuten.

Teil IIDIE JAGD

2DER BRIEF

5. Mai 2008

Für meine Pflegemutter gab es nur eine Aufgabe: die in Not geratenen Existenzen, die nach Kongslund kamen, zu schützen, bis die zehnköpfige Adoptionskommission in der Kampmannsgade in Vesterbro eine neue, passende Familie für sie gefunden hatte.

»Kongslund ist euer Zuhause, Marie«, sagte sie und fügte dann wie eine Beschwörungsformel hinzu: »Und denk daran, die besten Zuhause liegen am Wasser.«

Wenn die Kinder gingen, sang sie das alte Lied mit dem sich endlos wiederholenden Refrain: Elefant, -fant, -fant, kommt gerannt, -rannt, -rannt, mit dem langen, langen, langen, langen Rüssel. Wollte raus, raus, raus, aus dem Haus, Haus, Haus …

Irgendwann schlief ich ein, während die Elefanten noch immer rannten.

Danach herrschte wieder Stille in dem Raum, den sie verlassen hatten, bis es neue Aktivitäten gab, gefolgt von einer neuen Stille. So vergingen die Jahreszeiten, und alle Kinder um mich herum verschwanden – eines nach dem anderen –, bis mir irgendwann klar wurde, dass ich die Einzige war, die bleiben sollte.

Der dänische Ministerpräsident hustete. Sein Gesicht war im Laufe nur weniger Monate gegen alle Erwartungen noch kantiger und blasser geworden.

Einen Augenblick lang saß er vornübergebeugt da – ein Mensch, heimgesucht von einer tödlichen Krankheit.

Die zweite Person, die sich mit ihm im wichtigsten Büro des Landes aufhielt, räusperte sich – vielleicht um den Ernst des Anfalls zu überspielen.

Der Ministerpräsident blickte auf und versuchte sich an einem Lächeln für den einzigen Minister, dem er in seinem schon lange amtierenden Kabinett vertraute. Nicht bedingungslos, nicht naiv – denn in einer Welt, in der die Illusion von Idealen und Prinzipien eine Karriere schneller beenden konnte als die Medien, war kein Platz für Naivität. Sein Vertrauen fußte auf dem Wissen, dass der Tod ihm seine knochigen Finger um den Hals gelegt hatte und ihn nicht mehr loslassen würde. Der Regierungschef hielt sich ein hellblaues Taschentuch vor den Mund, und der Minister wartete förmlich auf den Blutfleck auf dem Stoff, aber das Taschentuch blieb hellblau.

Langsam verebbte der Husten, sodass sie ihr Gespräch wieder aufnehmen konnten.

»Sie sagen, dass ich noch gut ein Jahr habe«, sagte der Ministerpräsident mit überraschend kräftiger Stimme. Der Schreibtisch, an dem er saß, imponierte nicht durch seine Größe. Es war ein Kleinod aus seinem Elternhaus, aus geräucherter deutscher Eiche und überreich dekoriert mit dunklen, geschwungenen Intarsien. Vor ihm lag eine Ausgabe der Zeitschrift Fri Weekend, und der Ministerpräsident hatte Teile des Leitartikels auf der Titelseite gerade mit lauter Stimme vorgetragen: »Im Büro des Ministerpräsidenten geht man davon aus, heißt es, dass sich der Regierungschef im Laufe des nächsten Jahres zurückziehen wird. Möglicherweise gibt er seinen Rücktritt bereits auf dem Parteitreffen im Herbst bekannt. Seine angeschlagene Gesundheit zwingt den Ministerpräsidenten und seine Berater, sich Gedanken über einen Nachfolger zu machen.«

Der Landesvater akzeptierte die Nachricht über seinen nahen Tod, ohne eine Miene zu verziehen. Er versuchte sogar zu lachen – worauf er erneut von einer Hustenattacke übermannt wurde. Schließlich verebbte auch dieser Anfall, und er las weiter: »Parteiintern wird kein Machtkampf erwartet, da seine Nachfolge bereits geklärt zu sein scheint. Trotz fortgeschrittenen Alters wird zweifellos der erfahrene Nationalminister und treue Weggefährte des Ministerpräsidenten, Ole Almind-Enevold, seine Nachfolge antreten. Er genießt weit über seine eigene Partei hinaus hohe Anerkennung und wird auch von der Bevölkerung geschätzt.«

Er sah zu seinem langjährigen Freund und Kollegen. »Du bist bereits gewählt«, sagte er.

Der andere Mann wusste nicht recht, wie er den Tonfall deuten sollte. Alle kannten den Ministerpräsidenten als außergewöhnlich harten Chef, der seinen Kollegen in der Politik keinen Fehler verzieh. Viele hatten sich von seinem freundlichen Lächeln und der vermeintlichen Vertraulichkeit täuschen lassen, um dann entsetzt feststellen zu müssen, in welch hohem Maße dieser Schein trog. Und er war noch immer ein Machtmensch, trotz seines kläglichen Zustandes.

»Es kann eigentlich nur noch schiefgehen, falls du einen Fehler machst.« Ein Augenblick des Schweigens folgte. »Aber du machst keine Fehler, oder?«

Ein beruhigendes Lächeln musste Antwort genug sein.

»Du hast ja nie Kinder bekommen …?« Der Satz klang wie eine Frage, die er nicht zum ersten Mal gestellt hatte, und bedeutete nichts anderes als: Sind aus dieser Richtung irgendwelche Skandale zu erwarten …?

Stummes Lächeln.

Der Ministerpräsident wischte die Zeitschrift vom Schreibtisch und unterdrückte ein neuerliches Husten. »Du musst alles daransetzen, unseren eigentlichen Nachfolger aufzubauen … Die nächste Generation. Du musst unsere Partei in die nächste, große Epoche führen.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Die beiden Männer gaben sich die Hand und wussten beide, dass dieser Handschlag ein Versprechen bis in den Tod war.

Am gleichen Morgen nahm nur wenige Meter vom Büro des todgeweihten Ministerpräsidenten entfernt etwas seinen Anfang, das in ganz Dänemark als die Kongslund-Affäre bekannt werden sollte, obwohl es in den Medien viel mehr um Menschen ging (allen voran berühmte Politiker, hochstehende Amtspersonen und Medienvertreter), als um das Haus, das als Brutstätte des Skandals angesehen wurde.

Der Brief, mit dem das Ganze losgetreten wurde, erreichte seinen Bestimmungsort am 5. Mai 2008, dem dreiundsechzigsten Jahrestag der Befreiung.

Er landete mit der normalen Post im Nationalministerium. Das längliche, blaue Kuvert lag auf dem Poststapel in dem riesigen Empfangsraum, der schon seit jeher (bereits zu Zeiten, als das Nationalministerium noch Innenministerium hieß) als Palast bezeichnet wurde – und hier lag er auch noch um halb acht, als die leitende Sekretärin hereinkam und ihm einen skeptischen Blick widmete.

Sie hatte nicht viel Zeit, um sich über das bemerkenswerte Äußere des Briefes Gedanken zu machen, da ihr Chef bereits mit wilder Frisur in seinem Büro saß und den Computer eingeschaltet hatte.

Unmittelbar nach dem unerwarteten und legendären Wahlsieg 2001 hatte der neu eingestellte PR-Stratege (dem die Amtsträger den Namen Hexenmeister gegeben hatten) einen Strich unter die langweilige Bezeichnung Ministerialsekretariat gezogen und sie durch den schlagkräftigeren und offensiveren Ausdruck Stabsverwaltung ersetzt. Der Chef der Stabsverwaltung, Orla Berntsen, saß morgens für gewöhnlich eine Weile an seinem Schreibtisch und genoss die Ruhe des langsam erwachenden Ministeriums, vielleicht um nach der anstrengenden Fahrradtour durch den Kopenhagener Morgenverkehr wieder zu Atem zu kommen – wenn er nicht dasaß und sich Gedanken über seine Frau und seine beiden Töchter machte, die er jetzt seit bald zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte; was niemand wusste, da Orla Berntsen nicht über sein Privatleben redete.

Bereits an der Pforte war ihm mitgeteilt worden, dass der Minister für Nationale Angelegenheiten zurzeit im Staatsministerium sei, aber zur Morgenbesprechung um neun Uhr zurückerwartet wurde. Der Stabschef hatte seine Hosenklammern wie üblich in den runden Aschenbecher mit dem Monogramm des Ministeriums gelegt, seine Finger mit Spucke befeuchtet und die Bügelfalten seiner Hose nachgezogen.

In Wirklichkeit war er weder Frühaufsteher noch sportlich; das Fahrradfahren war eine Folge des umweltorientierten Imageprogramms der Regierung, das der Hexenmeister bis ins letzte Detail ausgearbeitet hatte. »Wir müssen deutlich demonstrieren, wie sehr wir uns um das Weltklima sorgen – und um die Umwelt hier in unserem Land!«, hatte er gesagt. Das Umweltfieber hatte im Laufe nur weniger Monate alle Spitzenpolitiker und ihre Mitarbeiter ergriffen, freiwillig oder nicht. Über der ganzen Regierung lag im Frühjahr 2008 der schwache Duft von Schweiß und Deodorant.

Von seinem Fenster aus blickte er auf einen schön angelegten Garten, in dem der Gärtner des Ministeriums einen niedrigen Brunnen mit einem hübsch modellierten Schlangenkörper gebaut hatte – geformt wie ein riesiges S –, der unablässig einen blauen Wasserstrahl in den Himmel ejakulierte. Bei ruhigem Wetter spritzte das Wasser so hoch, dass es die Sonnenstrahlen einfing und einen Regenbogen erzeugte, der von Dach zu Dach reichte und die verschiedenen Flügel des Ministeriums mit einer farbigen Luftbrücke zu verbinden schien.

Der Stabschef sah weg. Der Anblick erinnerte ihn an Tage, an die er nicht denken wollte. Tage unter tropfnassen Laubbäumen im verhassten Viertel seiner Kindheit.

Stattdessen drehte er sich zu dem Poststapel um, streckte seine Finger und ließ seine Gelenke der Reihe nach leise knacken, schüttelte die überschüssige Energie seines Körpers ab und griff nach den Briefen.

Zuoberst lag das längliche, blaue Kuvert, die Ursache des Übels, das nun seinen Lauf nehmen sollte, und als seine Finger den Umschlag berührten, schnaubte er unwillkürlich.

Nach Jahren voller Terrorangst und Aktionen in New York, Madrid und London hätte der Brief eigentlich erst dem Bombenkommando ausgehändigt werden müssen – andererseits gehörte es zum Image des Ministeriums, vor nichts und niemandem Angst zu haben, trotz all der terroristischen und fundamentalistischen Kräfte, die Dänemark bedrohten.

Das Nationalministerium verwaltete seit sieben Jahren effektiv den Bereich der Flüchtlings- und Integrationspolitik – immer darauf bedacht, die nationale Eigenheit und die dänische Identität der Gesellschaft zu bewahren und zu stärken.

Die Sekretärin des Stabschefs hatte wie er einen Moment bei dem Umschlag gezögert, ihn gegen das Licht gehalten, dann aber jeden Verdacht fallen lassen, er könne Sprengstoff oder die sterblichen Überreste einer Ratte enthalten, wie sie tatsächlich einmal einem früheren Minister geschickt worden waren. Sie hatte entschieden, diesen Brief – der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das erste Ärgernis des Tages enthielt – ganz oben auf den Stapel zu legen, damit sie die mögliche Krise schnell hinter sich bringen konnten.

Der Umschlag trug keine Erkennungszeichen oder Schlagworte irgendwelcher politischen Gegner. Er war am 2. Mai 2008 in der Poststelle Østerbro abgestempelt worden und in der Mitte etwas ausgebeult, als beinhaltete er ein Stück Stoff oder einen kleinen kaputten Ball. Er drehte den Briefumschlag mit dem Brieföffner um – er trug keinen Absender – und wendete ihn noch einmal.

Dann drückte er vorsichtig auf die Beule. Sie war weich und gab nach.

Er goss sich einen Kaffee in den Becher, den seine Töchter ihm zu seinem 46. Geburtstag geschenkt hatten, der auch ihr letztes gemeinsames Fest gewesen war. Links vom Henkel stand mit blauer, schräg gestellter Schrift: BESTER PAPA DER WELT. Er benutzte diesen Becher nur, wenn er allein war.

Am wahrscheinlichsten war es, dass der Briefumschlag ein empörtes Statement enthielt, wie sie ihm immer wieder von guten Dänen geschickt wurden, die sich Sorgen um die vielen fremden Kulturen machten, die ins Land strömten. Schließlich hatte das Nationalministerium nach den überraschenden Wahlsiegen 2001 und 2005 vollmundig versichert, sich um dieses Problem nachhaltig zu kümmern.

Es hätte durchaus so ein Brief sein können. Wäre da nicht dieses eine, seltsame Detail gewesen: die Anschrift.

Sie stammte weder von einem Stift noch von einem Drucker. Der Absender hatte sich die Mühe gemacht, alle Buchstaben der Adresse einzeln und in verschiedenen Größen – aber alle auf dem gleichen, alten Zeitungspapier gedruckt – auszuschneiden und dann auf den Umschlag zu kleben. Er war so sorgsam vorgegangen, dass nicht an einer Stelle Klebstoff zu erkennen war.

Lange starrte er auf das beeindruckende Werk. Dann drückte er auf einen Knopf und rief Fliege, die diesen Spitznamen bekommen hatte, weil sie immer und überall herumschwirrte und nichts liegenlassen konnte. Als Privatsekretärin war sie aber unübertroffen.

Gleich darauf spürte er hinter sich einen leisen Luftzug. Sie hatte sich auf den Stuhl mit der hohen Lehne gesetzt. Er reichte ihr den blauen Umschlag, und der Bewegung ihrer Lippen entnahm er, dass sie wie er die Buchstaben zählte, alles in allem sechzig, einige wenige davon rot, die meisten schwarz, manche davon mit weißem Rand.

Orla Pil Berntsen

Slotsholmen

Christiansborg Slotsplads, København K.

Drei Zeilen, in ihrer Farbgebung recht melodramatisch.

»Ich weiß nicht, was da drin ist …«, sagte er zögernd. Die Verwendung seines zweiten Vornamens irritierte ihn. Offiziell nutzte er ihn schon seit Jahren nicht mehr.

Die Fliege schüttelte den Umschlag vorsichtig, als wollte sie die schlimmsten Befürchtungen verscheuchen. »Vielleicht eine tote Maus«, bemerkte sie flüsternd.

»Eine tote Maus …?«, erwiderte Orla Berntsen.

»Oder die …Exkremente … eines Tieres?« Ihre spitze Nase zitterte bei dem Versuch, der seltsamen Briefsendung irgendeinen Geruch zu entlocken.

Ihr Chef schwitzte und duftete süßlich, und die Fliege schwirrte zum Fenster und öffnete es weit.

Das Kribbeln seiner Nasenflügel zeigte ihm, dass er Angst hatte, er kannte das aus der Welt, in der er aufgewachsen war. Er wusste, dass er im Laufe weniger Minuten heftige Kopfschmerzen bekommen würde.

»Vielleicht sollten wir den Umschlag vorsichtshalber vom Sicherheitsdienst öffnen lassen«, flüsterte die Fliege.

Im gleichen Moment sah er die Schlagzeile in der Fri Weekend vor sich: Hoher Staatsbeamter opfert seine Sekretärin. Er nahm den Brieföffner und antwortete: »Wird schon nicht gefährlich sein.«

Die Fliege stieß einen erschrockenen Schrei aus und wich ein ganzes Stück zurück.

»Bestimmt nur eine Attrappe«, schnaubte er und öffnete den Brief mit dem elegant gebogenen Brieföffner aus Havanna, den Lucilla ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, als sie 2001 endlich Ja gesagt hatte. Er zögerte eine Sekunde und ließ den Inhalt auf die Schreibtischplatte rutschen. Er hatte keine Ahnung, von wem der Brief war. Er blinzelte verwirrt, dann hob er die weiße Stoffkugel an und musterte sie neugierig durch seine Brille. »Was … ist denn das?«

Die Fliege wiederholte loyal seine Frage, gehaucht hinter seinem Rücken. Er spürte ihren ängstlichen Atem in seinem Nacken, als sie einen Schritt näher trat.

Es handelte sich – zu seiner großen Überraschung – um ein Paar adrett gehäkelter Säuglingsschühchen.

Lange saß er da, starrte verständnislos auf die merkwürdige Requisite und schnaubte noch zweimal. Seine Mutter und seine geschiedene Frau hätten sofort verstanden, was in dem Mann vor sich ging, der Stabschef des wichtigsten Ministeriums des Landes geworden war.

Er drehte sich halb um und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Fliege gut einen Meter Abstand hielt und deshalb die Details des seltsamen Briefinhalts nicht erkennen konnte. Ein Paar Babysocken? Für einen Moment stand sein Hirn still, dann registrierte es den restlichen Inhalt des Briefes. Mit Fingern, die zu seiner eigenen Verärgerung zitterten, nahm er das eine der beiden Blätter vom Tisch und drehte es so, dass die neugierigen Augen der Fliege es nicht einsehen konnten, während er die Seite überflog.

Das Blatt war eine Fotokopie von zwei Zeitungsseiten. Die linke Seite war mit einem Kreis dekoriert, der an einen altmodischen Bilderrahmen erinnerte. In dem Rahmen schwebte eine alte Villa mit rostbraunen Mauern, umgeben von grauem Dunst, der sowohl den Himmel als auch das Fundament des Hauses verbarg, als hätte das imposante Haus keine Verankerung in festem Boden.

Über dem Efeu, der an den Mauern bis zu dem steilen Dach emporkletterte, ragten sieben weiße Schornsteine in die Höhe – drei auf jeder Seite und einer in der Mitte –, die das Märchenhafte der Szenerie unterstrichen. Die Dachbalken glänzten, als wäre das Bild am frühen Morgen aufgenommen worden, bevor der Tau der Sonne weichen musste.

Auf der rechten Seite war ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Unter einem zimmerhohen Weihnachtsbaum saß eine Gruppe Kinder auf einem Teppich und blickte zu dem Fotografen auf. Sie trugen alle Wichtelmützen, einige von ihnen lächelten, während die anderen ernste, fast erschrockene Gesichter machten.

Über dem Bild standen drei fettgedruckte Worte: Die sieben Zwerge.

Unter der alten Fotografie stand: Die sieben Zwerge – fünf Jungen und zwei Mädchen – wohnen in der Elefantenstube und freuen sich alle darauf, im neuen Jahr ein schönes neues Zuhause zu finden!

Der Stabschef runzelte die Stirn und las weiter: Die garantierte Geheimhaltung der Identität der biologischen Eltern trägt dazu bei, dass heutzutage Adoption einer illegalen Abtreibung vorgezogen wird. Er spürte die Neugier der Fliege hinter seiner rechten Schulter.

»Es ist nichts«, antwortete er, ohne dass ihm eine Frage gestellt worden wäre – und verdeckte die beiden Fotos mit seinem Arm. »Ich komme jetzt allein zurecht.«

Ihre Enttäuschung war beinahe physisch zu spüren. Sie ging dicht an der Wand entlang zur Tür, wo sie trotzig stehen blieb.

»Es ist nichts«, wiederholte er etwas lauter. »Ich komme jetzt allein zurecht.«

Die Fliege – oder Fanny, wie sie wirklich hieß – blieb noch einen Augenblick am Türrahmen hängen, ehe sie widerstrebend von der Schwelle abhob und mit einem leisen Luftzug die Tür schloss.

Er atmete tief durch und starrte wieder auf den Brief. Lucilla hätte ihn vor der Furcht beschützt, die sich in seinem Inneren festheftete, wäre sie noch da gewesen.

Auch wenn die Bilder nicht mehr verrieten als das, was man in dem kurzen Text lesen konnte, wusste er gleich, woher sie stammten. Er wusste, was sie zeigten und wo sie aufgenommen worden waren. Die große braune Villa hatte er ohne jede Schwierigkeit wiedererkannt.

Er nahm sich nun das etwas dickere, weiße Blatt Papier vor. Es knisterte steif, als er es auseinanderfaltete. Was er in den Händen hielt, war die Kopie eines Formulars oder Datenblattes.

Die schwarzen Kreise auf der linken Seite zeigten ihm, dass das Original, bevor es im Kopierer vervielfältigt wurde, in einem Ordner abgeheftet gewesen war.

Er beugte sich über das Blatt. In der oberen linken Ecke stand die Jahreszahl 1961 – sonst nichts –, aber schon die Zahl reichte, dass ihm der Atem stockte.

Sein Blick glitt über ein halbes Dutzend länglicher, schmaler Spalten, die alle zum Ziel hatten, die Identität eines Menschen festzulegen: Name, Geburtsdatum, Geburtsort, aktuelle Adresse. Darauf folgten eine Reihe von Feldern mit eher ungewöhnlichen Informationen: Biologische Mutter. Name. Aktuelle Adresse – und darunter wiederum: Biologischer Vater. Name. Aktuelle Adresse.

Auf der untersten Zeile des Formulars hatte die Behörde eine großzügige Rubrik mit dem Wortlaut: Name und Wohnort der Adoptiveltern eingerichtet.

Es war das Adoptionsformular für kinderlose Familien, die sich um die Erlaubnis bewarben, eines der unerwünschten Kinder jener Zeit aufnehmen zu dürfen. Er hatte diese Formulare schon gesehen. Natürlich hatte er das.

Nur eines der Felder des Originaldokuments war ausgefüllt – das allererste. Mit Bleistift oder Kugelschreiber hatte jemand, vermutlich vor langer Zeit, einen einzelnen Namen geschrieben. Sorgsam mit geschwungenen Buchstaben. John Bjergstrand.

Der Name sagte Orla Berntsen, dem Stabschef des Nationalministeriums, nichts. Da war eine kleine Lücke zwischen Vor- und Nachnamen, und vielleicht war der Schreiber ins Grübeln gekommen und hatte noch mit dem gleichen Stift hinzugefügt: Säuglingsstube.

Er spürte ein paar Schweißtropfen am unteren Rand seiner Brillengläser, drehte aber trotzdem das Papier um und warf einen Blick auf die Rückseite: Sie war leer.

Er kniff die Augen zusammen. Was sollte er mit einem alten Formular, das nicht einmal zur Hälfte ausgefüllt war? Er fürchtete, die Antwort kennen zu sollen, aber das tat er nicht.

Er stand von seinem Stuhl auf, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und betrachtete wie so oft den Regenbogen in dem Wasserstrahl der Schlange. Er fühlte die Panik in seiner Brust, als hätte ein Urtier in seinem Inneren Zuflucht gesucht, so wie er selbst vor Jahren im Unterholz am See Zuflucht gesucht hatte, als die scharfen Lichtstrahlen seiner Verfolger hinter ihm durch das Dunkel zuckten.

Hätte jemand seine Gedanken lesen können, hätte er bemerkt, dass sich der aufgewühlte Stabschef nicht die naheliegendste aller Fragen stellte …

… warum ausgerechnet er diesen Brief bekommen hatte.

Das Büro des Nationalministers war nach dem Wahlsieg 2005 zu doppelter Größe ausgebaut worden, denn der zweitwichtigste Mann der Regierung hatte als Lohn für seinen unschätzbaren Einsatz während des hektischen Wahlkampfs beinahe einen Thronsaal verlangt.

In dieses Büro wurde nur ein von Ole Almind-Enevold selbst handverlesener innerer Kreis vorgelassen, durchweg Mitglieder der Vereinigung RAL, die der Nationalminister zu Beginn seiner Karriere gegründet, zu der er sich aber erst in den letzten Jahren öffentlich bekannt hatte.

Die Abkürzung stand für Recht auf Leben.

Bei der Parlamentswahl 2005 war die Bewegung ein wahres Zugpferd gewesen, da die RAL sich uneingeschränkt für die Rechte der ungeborenen dänischen Kinder einsetzte – und damit erneut dafür eintrat, dass eine Abtreibung nur in jenen Fällen eine Lösung war, in denen tatsächlich eine Gefahr für das Leben der Mutter bestand oder es von vornherein klar war, dass das Kind sterben würde. Die Geburtenrate war schon lange rückläufig, und dem Land fehlten gesunde dänische Kinder, was die Alterspyramide in eine bedrohliche Schieflage brachte. Auf dem Arbeitsmarkt wurden die jungen Arbeitskräfte mehr und mehr von Menschen aus entfernten Teilen der Welt ersetzt, und viele Dänen unterstützten deshalb die logische Kombination des praktisch-ökonomischen und christlich-moralischen Ansatzes – nicht zuletzt, weil sie der Meinung waren, ein Zuwachs der urdänischen Bevölkerung könnte die Nation vor der steigenden Zahl an Fremden schützen. Die Dänen riskierten, im eigenen Land zur Minderheit zu werden. Das hatte sowohl die Partei als auch die Opposition als Horrorszenarium während des letzten Wahlkampfs an die Wand gemalt – wobei die Partei in dieser Diskussion den Nationalminister als Trumpfkarte ins Spiel gebracht hatte.

Ole Almind-Enevold hatte ganz gegen seine Gewohnheit zu einem entspannten Treffen eingeladen. »Setzt euch – und Glückwunsch zur Befreiung!«, sagte er.

In der gleichen Sekunde tauchte der Hexenmeister leicht atemlos in der Tür auf und schob sich an der Wand entlang bis zu einem freien Stuhl. Das hektische Zuspätkommen war sein Markenzeichen.

»Was hat es mit diesem Tamilenjungen auf sich?«, fragte Ole Almind-Enevold und wedelte mit einer zentimeterdicken Mappe herum, ehe er sie mit verärgerter Präzision zu seinem Minister hinüberschob, der von den Sachbearbeitern des Ministeriums den Spitznamen Grauballemann bekommen hatte, weil seine blaugraue Haut an die berühmte Moorleiche erinnerte, die in der Gegend von Silkeborg entdeckt worden war. »Worüber sollte ich informiert werden?«

Orla Berntsen duckte sich auf seinem Stuhl, froh darüber, dass er den Fall nicht selbst vorgelegt, sondern an den Minister delegiert hatte. Die Befürchtung, dass diese Angelegenheit plötzlich einen Steppenbrand auslöste, war nicht unbegründet. Der Nationalminister hasste komplizierte Sachverhalte, und seine Einstellung dazu war immer überraschend einfach gewesen: Schafft sie aus der Welt, oder begrabt sie so tief, dass niemand sie finden kann.

Der Grauballemann breitete bedauernd die Arme aus: »Das ist nur zu Ihrer Information gedacht. Nur für den Fall, dass Sie im Laufe des Tages einem Reporter von Fri Weekend begegnen sollten. Bis jetzt interessieren sich nur die für diese Sache.«

Er hatte das Wort »nur« jetzt dreimal benutzt, bemerkte Orla.

»Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass ein elf Jahre alter Tamile tatsächlich zu einem größeren Problem werden könnte?«, fragte der Alleinherrscher des Nationalministeriums.

»Möglicherweise schon«, sagte der Grauballemann vorsichtig. »Er ist der Testfall für die Umsetzung des Ministerialbeschlusses, auch ganz junge, elternlose Asylbewerber auszuweisen. Deshalb sitzt er jetzt ganz allein in einer Zelle im Asylzentrum Nord …« Er geriet ins Stocken, was für ihn ungewöhnlich war.

Ole Almind-Enevold schüttelte kräftig den Kopf: »Jetzt machen Sie aber mal halblang.«

Damit war die Sache bis auf Weiteres ausdiskutiert. Orla Berntsen warf einen Blick auf das Foto, das einer der Betreuer des Asylzentrums ans Ministerium geschickt hatte. Es zeigte einen kleinen Jungen mit einem unschuldigen Gesicht, dicken schwarzen Haaren und zwei klaren, braunen Augen, die fragend in die Kamera blickten. Er nickte dem Grauballemann einvernehmlich zu. Diese Sache konnte jeden Moment explodieren. Teilen der dänischen Bevölkerung war noch immer unwohl, wenn sie weinende Kinder sahen.

»Es ist der fünfte Mai.« Der Ministerpräsident klang jetzt wieder ganz aufgeräumt, denn das Kriegsende war der natürliche Anlass für den Monolog von Ole Almind-Enevold über die Wichtigkeit des Nationalministeriums gerade in diesen Zeiten und über seinen persönlichen, uneigennützigen Einsatz für das Vaterland während des Zweiten Weltkrieges.

Diese Geschichte hatte über die Jahre nichts an Kraft verloren, und keiner seiner politischen Widersacher hatte je versucht, sie in Frage zu stellen. Der Mythos besagte, dass der Minister sich 1943 in den Krieg gestürzt hatte, als er fast noch ein Junge war. Er hatte damals kaum die Taschen mit dem Sprengstoff tragen können, die er zwischen den älteren Freiheitskämpfern hin und her transportieren sollte. Sein enormer Aktionsradius und seine gigantische Radel- und Laufenergie hatten ihm den Decknamen der Läufer eingebracht, und wenn die Geschichte stimmte, war er als Dreizehnjähriger an der Liquidierung eines Verräters auf den Gleisen des Bahnhofs Svanemøllen beteiligt gewesen. Der Verräter hatte einen älteren Widerstandskämpfer mit einer Pistole bedroht, aber sein junger Helfer hatte sich zwischen sie geworfen, den Pistolenlauf gepackt und festgehalten. Bei dem nachfolgenden Ringkampf hatte sich ein Schuss gelöst, und der Verräter hatte anschließend tot auf dem Boden gelegen, eine Kugel genau zwischen den Augen.

Es zeigte sich, dass dies eine Geschichte fürs Volk war. Im Dienst der Nation läuft er sich noch immer die Hacken ab, lautete der effektvolle Slogan des Hexenmeisters, der während des nervenaufreibenden Wahlkampfs 2001 – unmittelbar nach dem Terrorangriff in den USA – auf allen möglichen Zeitungsseiten und Litfasssäulen zu lesen war. 2005 hatte der Hexenmeister dann noch triumphal hinzugefügt: Im Dienst der Demokratie.

In Orla Berntsens Welt war Patriotismus keine speziell kategorisierte Tugend; die Feinde, die er im Laufe seines Lebens gehabt hatte, waren alle urdänisch gewesen, und seine Mutter hatte keine Gelegenheit ausgelassen, mit ihm über die typisch dänische Heuchelei zu reden, unter der sie in seiner Kindheit in den sechziger Jahren in dem Reihenhausviertel in Frydens Vænge gelitten hatten. In diesen Jahren gaben Tausende von alleinstehenden Müttern ihre Neugeborenen weg und überließen sie wildfremden Familien – um der persönlichen Schande und Verdammnis zu entgehen. Und die wenigen, die sich gegen Adoption entschieden, wurden in ihrer Umgebung kaum mehr geduldet. Ein Junge wie Orla, der ohne Vater aufwuchs, war ein uneheliches Kind, ein falsches Kind, ein Bastard – bei dem nationale Tugenden wie Gemeinsinn und Zusammenhalt (Solidarität, wie es noch immer etwas altklug im Parteiprogramm stand) keine Rolle spielten. Aus dem gleichen Grund hielt er die Heuchelei für den einzigen wirklich durchgängigen Wesenszug des dänischen Nationalcharakters. Aber das zeigte er niemandem und sicher nicht in dem Ministerium, das er im Auftrag von Ole Almind-Enevold verwaltete.