Das Theater am Park – Zeilen voller Liebe - Valentina May - E-Book

Das Theater am Park – Zeilen voller Liebe E-Book

Valentina May

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Beschreibung

London 1959: Die junge Flötistin Constanze eilt an das Sterbebett ihrer Großmutter Lady Margret, die ihr die Schuld am Zerwürfnis ihrer Eltern gesteht. Als Wiedergutmachung vererbt sie Constanze ihr gesamtes Vermögen. Daraufhin reist die junge Frau nach Hannover, um ihre Eltern beim Wiederaufbau des Theaters zu unterstützen. Doch der Zustand des einst glanzvollen Gebäudes ist ernüchternd, denn es ist bis auf die Grundmauern zerstört, und die Aufführungen finden in einer Industriehalle statt. Constanze engagiert den berühmten und ebenso attraktiven Architekten Johannes Heining für die Rekonstruktion. Bald knistert es zwischen den beiden. Doch dann bekommt Constanze Besuch von einer Freundin aus England, die eine alte Schuld einfordert ...

Der finale Band der Familiensaga um das Theater am Park ist eine fesselnde Geschichte über Liebe, Leidenschaft und die Sehnsucht nach einer friedvollen, glücklichen Zukunft.

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Seitenzahl: 522

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

6. Juni 1958, London

30. Juni 1959, Wilcox Manor, England

Am Abend in Frankfurt Main

2. Juli 1959, Wilcox Manor

2. Juli 1959, Frankfurt am Main

London am selben Abend

8. Juli 1959, Frankfurt am Main

17. Juli 1959, London

20. Juli 1959, Frankfurt am Main

In der folgenden Nacht in London

25. Juli 1959, London

7. August 1959, Frankfurt am Main

9. August 1959, London

11. August 1959, Frankfurt am Main

16. August 1959, Wilcox Manor

17. August 1959 Frankfurt am Main

19. August 1959 Dover

Am selben Tag in Frankfurt am Main

20. August 1959 Hannover

Am selben Abend in Frankfurt am Main

25. August 1959 Hannover

28. August 1959 Hannover

Zur gleichen Zeit in Hannover

29. August, Frankfurt am Main

30. August 1959

6. September 1959

Am nächsten Tag in Hannover

13. September 1959 Hannover

Hannover, 8. Januar 1817

Am selben Abend in Frankfurt am Main

15. September 1959 Hannover

16. September 1959 Hannover

2. Oktober 1959

8. Oktober 1959

23. Oktober 1959

12. November 1959

19. November 1959

Am selben Tag in Frankfurt am Main

3. Dezember 1959

Zur gleichen Zeit

6. Dezember 1959

10. Dezember 1959

21. Dezember 1959

Epilog – 3. Mai 1964

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

London 1959: Die junge Flötistin Constanze eilt an das Sterbebett ihrer Großmutter Lady Margret, die ihr die Schuld am Zerwürfnis ihrer Eltern gesteht. Als Wiedergutmachung vererbt sie Constanze ihr gesamtes Vermögen. Daraufhin reist die junge Frau nach Hannover, um ihre Eltern beim Wiederaufbau des Theaters zu unterstützen. Doch der Zustand des einst glanzvollen Gebäudes ist ernüchternd, denn es ist bis auf die Grundmauern zerstört, und die Aufführungen finden in einer Industriehalle statt. Constanze engagiert den berühmten und ebenso attraktiven Architekten Johannes Heining für die Rekonstruktion. Bald knistert es zwischen den beiden. Doch dann bekommt Constanze Besuch von einer Freundin aus England, die eine alte Schuld einfordert ...

Die Musik spricht nicht die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht dieses oder jenes Individuums in dieser oder jener Lage aus, sondern die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht selbst.

Richard Wagner

6. Juni 1958, London

Wie von Furien gehetzt rannte sie durch den Flur zum Bühneneingang der Queen Victoria Hall und riss die Tür auf. Ihre Absätze klackerten auf dem steinernen Boden. Die Luft draußen war angenehm kühl und mild. Constanze blieb einen Moment stehen und wischte mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

»Wollen wir es ihr nicht endlich sagen, Violetta?«, hallte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf nach. Ihres Adoptivvaters, verbesserte sie sich. Sie war keine Wilcox? Wie vom Donner gerührt hatte Constanze reglos hinter der Garderobentür das Gespräch der Eltern belauscht. Der Abend, der so gut verlaufen war, endete in einem Desaster. Weil sie die Wahrheit erfahren hatte. Ungebremst rollten die Tränen über ihre erhitzten Wangen. Schritte erklangen auf dem Bürgersteig. Die letzten Zuschauer verließen nach dem Konzert die Halle. Constanze wollte mit ihrem tränenverschmierten Gesicht nicht gesehen werden und verbarg sich im Schatten eines Mauervorsprungs. Sicher war ihre Schminke verlaufen. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. In ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos.

Im Geist erlebte sie noch einmal die letzten beiden Stunden.

Glücklich, nicht einmal gepatzt zu haben, hatte sich Constanze nach ihrer Darbietung vor dem Publikum verneigt und den tosenden Applaus genossen. Sie hatte das Studium beendet und strebte eine Karriere als Konzertflötistin an. Nach dem Erfolg von heute würden ihr alle Türen offenstehen. So wünschte sich ihr Vater das. Das genügte ihr nicht. Sie wollte ein eigenes Werk komponieren. Die Eltern hatten sich seltsame Blicke zugeworfen, als sie das einmal beiläufig erwähnt hatte.

Ihrem Adoptivvater war es zu verdanken, dass das Studentenorchester sein Abschlusskonzert in der Queen Victoria Hall geben durfte. Er hatte seine Beziehungen zur Musikgesellschaft für diese Gelegenheit genutzt. Eine Ehre für sie und die Kommilitonen, denn sie waren der erste Jahrgang, der sich dort präsentieren durfte. Sie war so stolz auf ihn gewesen. Jetzt spürte sie nur noch Bitterkeit in sich. All die Jahre hatten die Eltern ihr die Wahrheit verschwiegen. Das traf sie besonders. Schließlich war sie mit neunzehn doch kein Kind mehr!

Freudestrahlend war sie nach dem Konzert zu den Garderoben geeilt, wo die Eltern auf sie warteten. Während der Adoptivvater sie lobte, hatte die Mutter sie wie immer kritisiert. Constanze hatte das Gefühl, es ihr nie rechtmachen zu können. Vielleicht lag es daran, dass sie als bekannte Operndiva stets gehofft hatte, ihre Töchter würden in ihre Fußstapfen treten.

»Ich wünschte, Hans hätte seine Tochter erleben können«, hatte ihre Mutter gesagt, nachdem sie die Garderobe verlassen hatte. Constanze hatte gestutzt, nicht begriffen, wovon auf einmal die Rede war, bis sie das Gespräch weiterverfolgt hatte.

Ihr leiblicher Vater hieß Hans und nicht Brian Lord of Wilcox. Constanze war schockiert, traurig und wütend zugleich, vor allem, weil die Eltern ihr das all die Jahre über verschwiegen hatten.

»Warum habt ihr mich die ganze Zeit über angelogen?«, hatte sie die beiden unter Tränen angeschrien, nachdem sie noch einmal in die Garderobe gestürmt war. Weil sie deren Erklärungen nicht hatte hören wollen, war sie davongelaufen. Sie war keine Wilcox, Carmen und Alan nur ihre Halbgeschwister. Constanze fühlte sich entwurzelt und verwirrt. Ihr Leben basierte auf einer einzigen Lüge! Ihr Herz klopfte schwer in der Brust. Sie konnte nicht mehr nach Hause zurückkehren, weil es das nicht mehr war.

Verborgen hinter dem Vorsprung wartete sie, bis alle Konzertbesucher einschließlich ihrer Eltern die Hall verlassen haben würden. Sie wollte und konnte ihnen jetzt nicht entgegentreten. Wut und Enttäuschung strömten wie Säure durch ihren Körper. Unzählige Fragen schossen durch ihren Kopf. Sie wusste nichts über ihren richtigen Vater, besaß nicht mal ein Bild von ihm. Warum hatten sich ihre Eltern getrennt? Was war mit ihrem Vater geschehen?

Sie musste in Ruhe nachdenken. Doch wo könnte sie hin? Auf Wilcox Manor würde sie jede Kleinigkeit schmerzlich daran erinnern, dass sie nicht dort hingehörte.

Ihre Freundin June hatte ihr gesagt, dass sie jederzeit zu ihr kommen dürfte. Sie hatten sowieso beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu mieten. Während des Studiums hatten sie geplant, einen Laden für Instrumente zu eröffnen, mit viel Glück im Herzen Londons. June besaß ein Zimmer in einem Stadthaus in Camden, fußläufig von der Konzerthalle aus erreichbar. Auf deren Klappliege hatte Constanze schon genächtigt.

Sie wusste nicht, wie lange sie auf der Stelle gestanden hatte. Die Orchestermitglieder waren längst fröhlich schwatzend in die Nacht entschwunden, aber ihre Eltern schienen noch immer im Theater zu sein. Constanze fröstelte und verschränkte die Arme vor der Brust. In all der Aufregung hatte sie vergessen, ihre Jacke mitzunehmen, die sie über dem grünen Abendkleid getragen hatte. Die hing am Haken in der Garderobe, in der sich ihre Eltern vermutlich noch aufhielten. Sie konnte also nicht zurückgehen.

Mittlerweile überwog die Wut in ihrem Innern. Von ihren Eltern hätte sie etwas anderes erwartet. Wie konnten sie ihr nur ihr ganzes Leben lang die Wahrheit verschweigen? Constanze ballte die Hände zu Fäusten.

Sie konnte nicht länger hier stehen, weil sie entsetzlich fror. Irgendwann würden auch ihre Eltern die Hall verlassen. Wenn sie ihnen nicht begegnen wollte, musste sie sich beeilen.

Sie beugte sich vor und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Noch einmal wischte sie über ihre Wangen und wollte gerade ihren Platz verlassen, da ging die Tür neben ihr, und sie hörte die Stimmen der Eltern, die aus dem Bühneneingang traten.

»Wo mag sie nur hingegangen sein?«, hörte sie ihre Mutter besorgt fragen, während sie sich erneut in ihre Nische drückte. Was ihr Adoptivvater darauf antwortete, ging im Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Wagens unter. Als ihre Eltern um eine Ecke verschwanden, schlug sie die entgegengesetzte Richtung ein. In der nächsten Straße war eine der Straßenlaternen ausgefallen, Constanze sah in ihrer Eile im Dunkeln nicht, wohin sie trat, und geriet ins Stolpern. Hart prallte sie gegen jemanden. In der Dunkelheit konnte sie nur dessen Kontur erkennen. Der Statur nach musste es ein Mann sein.

»Hoppla! Sie haben es aber eilig!« Der Fremde sprach mit deutschem Akzent.

Noch immer aufgebracht und jetzt auch noch wütend über ihr eigenes Missgeschick fuhr sie ihn an: »Haben Sie keine Augen im Kopf?«

Es ärgerte sie, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Doch schon, aber hier ist es recht dunkel. Ich habe Sie wirklich nicht gesehen. Haben Sie sich etwa verletzt?«

Seine Stimme klang sympathisch.

»Nein.«

»Dann ist ja Gott sei Dank noch mal alles gut gegangen. Sind in London alle Frauen so stürmisch wie Sie?«

Sein amüsierter Tonfall ärgerte sie. Als sie dann noch seine Hände auf ihren Oberarmen spürte, musste sie ihrem Ärger Luft machen.

»Würden Sie mich jetzt bitte loslassen!« Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen und blieb mit dem Absatz hängen. Dabei knickte sie mit dem Knöchel um. Ein stechender Schmerz schoss durch ihr Bein. Sie stöhnte auf. Sofort stützte er sie. Unter anderen Umständen hätte sie das galant gefunden, aber heute war sie zu aufgewühlt.

»Sind Sie umgeknickt?«, fragte er.

»Ja, verdammt. Das wäre nicht passiert, wenn Sie mich nicht festgehalten hätten!« Constanze wollte auftreten, aber der Schmerz in ihrem Knöchel ließ es kaum zu. Jetzt musste sie also den ganzen Weg zu June humpeln, denn um diese Zeit noch ein Taxi zu bekommen, war schwer.

»Warten Sie, ich schaue mir das einmal an.« Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte.

»Nicht nötig.« Sie drehte sich um und humpelte weiter. Er lief hinter ihr her.

»Nun seien Sie doch vernünftig. Ich möchte Ihnen nur helfen und mir den Knöchel anschauen. Ich kenne mich ein wenig aus.«

Constanze stöhnte innerlich auf. Warum konnte sie der Fremde nicht in Ruhe lassen? Ihre Nerven lagen blank.

»Ich komme schon allein zurecht.« Mühsam schleppte sie sich weiter. Nach wenigen Schritten musste sie anhalten. Der Schmerz war so heftig, dass Schweiß auf ihrer Stirn perlte. Der Fremde folgte ihr hartnäckig weiter.

An der nächsten Straßenlaterne hatte er sie eingeholt. Constanze blieb stehen und wandte sich zu ihm um.

»Sie geben wohl niemals auf?«

»Das Wort aufgeben existiert nicht in meinem Vokabular.« Vokabular. Wie gestelzt er sprach, und dann sein Lächeln. Bestimmt hielt er sie für eine hilflose Frau. Dieses Lächeln nervte sie.

Als der Lichtschein sein Gesicht erhellte, musste sie jedoch widerwillig zugeben, dass ihr Gegenüber mit der Forward-Brush-Frisur, den ebenmäßigen Zügen und dem sinnlichen Mund überaus attraktiv war. Doch in seinem Blick lag eine lässige Arroganz wie bei solchen Männern, die sich ihrer Wirkung auf Frauen durchaus bewusst waren.

»Solche Kerle brechen dir nur das Herz«, hörte sie June im Geist sagen.

Ehe sie etwas antworten konnte, hockte er sich vor sie hin und betastete sanft ihren schmerzenden Fußknöchel. Sie bereute, auf ihre Seidenstrümpfe verzichtet zu haben. Dort, wo er sie am Bein berührte, begann es auf der Haut zu kribbeln. Bevor sie ihren Fuß zurückziehen konnte, hob er ihn an und bewegte ihn. Constanze sog geräuschvoll den Atem ein, denn selbst die passive Bewegung schmerzte.

»Gebrochen scheint nichts zu sein. Vermutlich gezerrt. Ich rufe Ihnen ein Taxi«, bestimmte er.

»Das brauchen Sie nicht. Ich habe es nicht mehr weit.« Sie deutete mit gestrecktem Arm die Straße hinunter.

»So können Sie doch nicht weiterlaufen. Wo wohnen Sie denn?«

»Nächste Straße rechts«, log sie, denn sie wollte ihn schnell loswerden. »Sie können mich also getrost alleinlassen.«

Sie biss die Zähne zusammen und humpelte weiter.

»Aber um diese Zeit in Londons Straßen kann es für eine Frau allein gefährlich werden. Ich bestehe darauf, Sie zu begleiten.«

Das war Constanze zu viel. Sie wollte jetzt für sich sein. Wütend funkelte sie ihn an.

»Danke, aber ich sagte, ich schaffe das allein.« Tapfer humpelte sie weiter.

»Wie kann man nur so schön und gleichzeitig so kratzbürstig sein?«, hörte sie ihn auf Deutsch murmeln.

»Das habe ich verstanden!«, rief sie auf Englisch und war erleichtert, dass er ihr nicht mehr folgte.

Der Fremde hatte sie als schön bezeichnet. Das schmeichelte ihr.

Der Weg bis zur Wohnung ihrer Freundin war eine Tortur. Constanze war erleichtert, als sie vor der Eingangstür des Hauses stand. In Junes Zimmer im ersten Stock brannte Licht. Constanze wollte nicht den Türklopfer betätigen, sondern bückte sich im Vorgarten nach einem Steinchen und warf es vorsichtig gegen die Fensterscheibe von Junes Zimmer.

»Natürlich kannst du hier schlafen.«

Constanze war erleichtert. Dankbar lächelte sie ihre Freundin an und wischte erneut mit dem Handrücken Tränen fort.

June reichte ihr ein Taschentuch.

»Was ist denn nur geschehen?«, fragte sie.

Die Freundin hatte ihr immer zugehört, das schätzte Constanze an ihr.

Ausführlich erzählte sie June, was sie heute durch Zufall erfahren hatte. In deren schmalem Gesicht wechselten sich Erstaunen und Mitgefühl ab.

»Das ist ja ein Ding. Aber es ist doch alles gar nicht schlimm. Du hast es doch wunderbar getroffen. Du bist die Tochter eines begüterten Lords ...«

»Adoptivtochter«, fiel Constanze ihr ins Wort.

»Na und? Brian liebt dich wie seine eigene Tochter. Das kann jeder sehen. Das ist doch das Wichtigste.«

Junes Worte stimmten sie nachdenklich.

Ja, ihr Adoptivvater hatte sie nie anders behandelt als Carmen oder Alan. Er hatte ihr eher mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihren Geschwistern und sie immer gegenüber ihrer Mutter in Schutz genommen.

»Warum haben sie mir das nur die ganze Zeit verschwiegen?«

»Bestimmt wollten sie es dir immer sagen. Aber es gehört viel Mut dazu. Du kennst das doch selbst. Man grübelt und grübelt, bis man die Gelegenheit verpasst. Geh nicht zu hart mit ihnen ins Gericht.«

Constanze fragte sich, wie sie das anstelle der Eltern erklärt hätte, und musste zugeben, dass es ihr vermutlich ebenso schwergefallen wäre, den geeigneten Zeitpunkt zu finden.

June schaffte es immer wieder, sie zu beschwichtigen und sie die Dinge mit anderen Augen sehen zu lassen. Sie war der Mensch, der sie ganz und gar verstand.

»Danke, dass du mir zugehört hast.« Constanze drückte die Freundin und schnäuzte sich dann.

»Weißt du denn, wer dein leiblicher Vater ist?«

»Nicht wirklich.« Ihre Mutter hatte vorhin den Namen Hans in den Raum geworfen. Constanze wusste nichts über ihn. Tröstend legte June den Arm um ihre Schultern und lehnte den Kopf an ihren.

»Du willst jetzt bestimmt alles über ihn erfahren. Ich bin mir sicher, dass deine Mutter es dir erzählen wird, wenn sich die Wogen wieder geglättet haben.«

Constanze nickte.

»Schlaf gut. Morgen sieht es bestimmt schon ganz anders aus.«

Lange danach lag Constanze noch wach, während June tief und fest schlief. Der Mond schien zum Fenster herein. Sie hatte sich auf Wilcox Manor immer geliebt und behütet gefühlt. Sie liebte ihre Eltern von ganzem Herzen. Als sie die Augen schloss, sah sie das Herrenhaus vor sich, der prachtvolle viktorianische Bau mit den vielen Kaminen und dem schmiedeeisernen Tor am Anfang der Auffahrt. Sie sah sich wieder auf den Knien ihres Adoptivvaters sitzen mit dem Märchenbuch in den Händen, aus dem er ihr vorlas. Unten im Musikzimmer übte ihre Mutter eine Arie, und im Kinderzimmer nebenan rauften lautstark ihre jüngeren Geschwister. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

30. Juni 1959, Wilcox Manor, England

Rasch steckte Constanze den Brief unter ihren Rockbund und zog den Pullover darüber, als Schritte auf dem Flur erklangen.

»Kein Wort zu niemandem. Hast du mich verstanden?«, flüsterte sie Zofe Janet zu, die den Brief vom Postamt mitgebracht hatte. Eigentlich sollte jegliche Post von Hausdame Ernestine gesammelt den Eltern übergeben werden, bevor ein anderer sie durchsehen durfte. Eine Anordnung, die Constanze widerstrebte. Dass die Eltern ihr scheinbar nicht vertrauten, schmerzte sie.

Wenn sie von dem Brief wüssten, wären sie sicher verärgert. Sie hasste es, ihre Eltern anzulügen, aber es war nicht einfach, mit ihnen zu reden. Zu tief waren die Gräben zur Absenderin.

Später würde sie den Brief in Ruhe auf ihrem Zimmer lesen, auch wenn es sie noch so sehr in den Fingerspitzen juckte, ihn jetzt schon zu öffnen.

Janet nickte, obwohl ihr anzumerken war, dass ihr die Anweisung nicht gefiel. Constanze eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schob den Brief in die Nachttischschublade. Nur noch einen Moment allein sein mit ihren Gedanken, wie an jedem ihrer Geburtstage.

Sie zog ein zerknittertes Foto aus der Kommode, auf dem ihr verstorbener Vater abgelichtet war. Das einzige, das sie von ihm besaß. Voller Liebe betrachtete sie sein Bild. Lächelnd stand er vor dem Familientheater in Hannover, einem prachtvollen eklektizistischen Bau mit Bronzedach und Kuppel, vielen Bögen, Simsen und Pilastern. Constanze kannte das Theater am Park mit seinen glanzvollen Zeiten aus den schwärmerischen Erzählungen der Eltern. Bei ihren Besuchen bei der Familie ihrer Mutter hatten sie es vermieden, das Theater zu betrachten, das nur noch eine Ruine war. Zu schmerzhaft wäre der Anblick für alle gewesen. Das Theater war der ganze Stolz der Familie gewesen, bis es im letzten Krieg von den Alliierten bis auf die Grundmauern niedergebombt worden war. Ihre Eltern träumten davon, es wiederaufzubauen, in der Hoffnung, die alten Zeiten erneut aufleben zu lassen. Auch ihr leiblicher Vater hatte einst große Hoffnungen gehegt, durch das Theater als Komponist berühmt zu werden. Es war ihm nicht vergönnt gewesen. Constanze wurde schwer ums Herz.

»Damit du ihn nie vergisst und unsere gemeinsame Leidenschaft, die Oper«, waren die Worte ihrer Mutter gewesen, als sie ihr das Foto vom Vater überreicht hatte. Immer wieder hatte Constanze die Mutter im letzten Jahr mit ihren Fragen nach ihm bedrängt. Und sie hatte erzählt und erzählt und ihr irgendwann gestanden, dass sie ihrer Tochter schon viel eher von ihrem Vater erzählt hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie auch in ihrem eigenen Herzen eine Leerstelle damit füllen würde. Constanze wollte wissen, was für ein Mensch er gewesen war und wie sehr sie sich ähnelten. Ob sie die gleichen Eigenarten besaßen, denselben Geschmack.

Oft hatte sie sich gefragt, wie ihr Leben mit ihrem leiblichen Vater verlaufen wäre. Constanze drückte ihren Mund auf das Foto, legte es wieder zurück und verließ das Zimmer.

Sie hätte ihn gern kennengelernt, aber das Schicksal hatte anders entschieden. Die Stufen der breiten Treppe knarrten, als sie hinunter in die Eingangshalle schritt, vorbei an den zahlreichen Gemälden der Wilcox-Vorfahren, zu denen sie nicht wirklich gehörte. Doch sie fühlte sich sehr wohl und geborgen auf Wilcox Manor, wenngleich das Haus mit den dunklen Holzdecken und -wänden auf manchen Gast düster und bedrückend wirkte.

Von der Treppe aus sah sie bereits die bunte Girlande mit den Worten Happy Birthday, die über der Tür des Salons hing. Ihre Eltern legten großen Wert auf Stil und Traditionen.

Zu besonderen Anlässen frühstückten sie nicht im kleinen Wintergarten auf der Südseite des Herrenhauses, sondern im feudalen Salon. Einen Moment blieb sie vor der Tür stehen, bevor sie diese entschlossen aufzog. Der Duft frisch gebrühten Kaffees und gebratenen Specks mit Eiern stieg ihr in die Nase. Zur Bestätigung knurrte ihr Magen. Der Frühstückstisch war liebevoll gedeckt, mit weißer Damasttischdecke und Silberleuchtern. Gestecke aus ihren Lieblingsblumen, gelben Teerosen, holten den Sonnenschein in das dunkle Gemäuer des alten Herrenhauses. Auf einem der Beistelltische lag ein kleiner Stapel Geschenke, sorgsam eingepackt und mit Samtschleifen versehen. Ihre Eltern hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Die Mutter trug ihr schwarzes Haar, das mit feinen Silberfäden durchzogen war, stets hochgesteckt. Obwohl sie schon über vierzig war, wirkte sie zehn Jahre jünger. Das lag sicher an ihrer glatten, rosig schimmernden Haut und an ihrem wachen Blick. Auch Brian, ihr Adoptivvater, den sie liebevoll Dad nannte, sah jünger aus, als er war. In dem dunkelgrauen Maßanzug und dem weißen Hemd war er der perfekte Gentleman.

»Happy Birthday, Liebes.« Ihre Mutter kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen, zog sie an sich und gab ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Ich kann gar nicht glauben, dass du schon zwanzig bist. Erst gestern warst du noch mein Baby.« In ihren Augen schimmerte es feucht.

»Happy Birthday, Constance«, gratulierte ihr Dad und umarmte sie liebevoll.

»Danke, ihr beiden.« Constanze strahlte ihre Eltern an.

»Glückwunsch, Miss«, sagte Janet und stellte frische Scones und Brioches auf den Tisch. Verlegen blickte sie zu Boden. Sicher war es ihr peinlich, vorhin vergessen zu haben, der Tochter des Hauses zu gratulieren. Constanze nahm das der Bediensteten nicht übel. Sie würde noch viele Geburtstage erleben, da kam es auf einen nicht an.

»Danke, Janet. Das riecht so verführerisch ...« Constanze schnupperte. »Ich habe einen Mordshunger«, verkündete sie und setzte sich an den Tisch.

»Und deine Geschenke?«, fragte ihre Mutter. Constanze tat so, als hätte sie deren tadelnden Blick nicht bemerkt. Alles musste immer der Tradition und festgelegten Ritualen folgen. Aber nicht heute!

»Später. Erst muss ich was essen.« Sie hätte gern auf die schön verpackten Geschenke verzichtet und dafür mehr über ihren leiblichen Vater erfahren.

Janet nahm ihren Teller und füllte ihn mit Rührei, bevor sie ihr Kaffee eingoss. Auch ihre Mutter trank Kaffee. Nur ihr Dad bestand auf seinem Morgentee. Constanze musste an sich halten, um sich nicht gleich über das Essen herzumachen. Im Hause der noblen Familie Wilcox läuft alles gesittet ab!

Sie war froh darüber, dass sie nur zu Besuch hier war und sich sonst eine kleine Wohnung mit ihrer Freundin in London teilte, in der es nicht so steif zuging.

»Ich kann es kaum erwarten, deine Grandma und deinen Grandpa wiederzusehen«, sagte ihre Mutter mit dem verträumten Blick, der immer in ihren Augen erschien, wenn sie von ihrer Heimat sprach. Constanze wäre fast die Gabel aus der Hand geglitten.

Großer Gott! Das habe ich in all der Aufregung um die Eröffnung unseres Ladens ganz vergessen.

Sie presste die Serviette auf den Mund, als sie sich verschluckte.

Ihr Dad fasste die Hand ihrer Mutter und drückte sie liebevoll.

»Ich freue mich auch.« Noch immer blickten sich ihre Eltern an, als wären sie frisch verliebt.

»Ich hoffe so sehr, dass wir endlich jemanden finden, der unser Theater wieder aufbaut, wie es einst gewesen ist. Es ist der Herzenswunsch meiner Eltern«, fuhr ihre Mutter seufzend fort.

»Und der unsrige«, ergänzte ihr Adoptivvater.

Seit zwei Jahren waren ihre Eltern erfolglos auf der Suche nach einem Architekten, der Erfahrung im Wiederaufbau alter Gebäude besaß und auf ihre Wünsche einging. Wegen der vielen kunstvollen Details vergangener Epochen wagte sich kaum ein Architekt an den Wiederaufbau, und wenn, dann für eine horrende Summe. Ihre Mutter träumte davon, das Familientheater in Hannover, das sie einst zusammen mit den Eltern geleitet hatte, wieder in neuem Glanz auferstehen zu lassen.

»Wir müssen Geduld haben, Darling«, tröstete der Vater sie. »Irgendwann werden wir den passenden Architekten finden.«

Während ihre Eltern über die geplante Abreise nach Deutschland plauderten, zerpflückte Constanze ihr Brötchen auf dem Teller und schwieg. Es drückte sie das schlechte Gewissen. Sie hätte es den Eltern längst sagen müssen, aber es war nie der geeignete Zeitpunkt dafür da gewesen. Die beiden freuten sich sehr darauf, die Großeltern wiederzusehen und Orte der Erinnerung zu besuchen. Vor einem guten Jahr hatten sie die alte Villa Uhlenberg ersteigert. Constanze kannte die Villa nur vom Hörensagen. Verdammt! Immer überschnitten sich wichtige Ereignisse. Auch Constanzes jüngere Geschwister waren Feuer und Flamme für den Besuch in Deutschland gewesen und hatten in den letzten Ferien über nichts anderes mehr geredet. Alle brannten darauf, die von ihrem berühmten Vorfahren erbaute Villa zu sehen.

Eigentlich hatte auch sie selbst fest vorgehabt mitzureisen. Doch dann hatte June Ladenräume gefunden, die perfekt zu ihren Plänen passten. Da der Laden wegen der Lage sehr gefragt war, hatten sie schnell zusagen müssen und aus finanziellen Gründen beschlossen, das Geschäft in vier Wochen zu eröffnen. Das kollidierte mit den Reiseplänen. Constanze bedauerte es sehr, die Eltern nicht begleiten zu können. Die beiden würden sehr enttäuscht sein, von den Großeltern ganz zu schweigen. Wie soll ich ihnen das nur beibringen? Sie starrte auf ihren Teller.

»So schweigsam? Hast du was auf dem Herzen?«, fragte ihr Dad besorgt. Constanze schaute auf. Sie fühlte sich plötzlich schlecht. Jetzt war es an der Zeit, ihre Pläne zu gestehen.

»Du brauchst doch nicht schon wieder neue Noten?«, fragte er lächelnd.

Constanze schüttelte den Kopf.

»Nein.« Sie räusperte sich und nahm all ihren Mut zusammen. »Ich ... ich werde ... nicht mit euch reisen«, sagte sie. So, jetzt war es endlich ausgesprochen, was sie seit Tagen quälte.

Schlagartig war es still im Raum. Ihre Mutter ließ die Gabel sinken und sah sie empört an.

Ihr Adoptivvater wirkte enttäuscht. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag hatte sie für eine angespannte Atmosphäre gesorgt.

»Kommt gar nicht infrage. Was sage ich denn dann deinen Großeltern?«, rief ihre Mutter verärgert. In Constanzes Hals steckte ein Kloß.

»Das tut mir ja auch leid, aber ...«

Die Eltern würden ihre Gründe nicht verstehen.

»Ich wollte dir doch so gern alles zeigen, das Elternhaus deines leiblichen Vaters, unsere Familienvilla ... Interessiert dich das denn nicht mehr?«

Ihre Mutter verstand es, ihr schlechtes Gewissen zu verstärken.

Constanze hob die Hände.

»Das kannst du doch immer noch, später, Mutti.«

Sie wollte den Eltern gerade ihre Gründe erklären. Aber als sie den wütenden und enttäuschten Blick ihrer Mutter auffing, blieben ihr die Worte im Hals stecken.

Auch wenn es sie noch so sehr reizte, in Hannover alles zu sehen, war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt dafür. Hier ging es um ihre Zukunft, ihre Existenz. Sie wollte nicht mehr von den Eltern abhängig sein, sondern auf eigenen Füßen stehen. Der Laden war ihre Chance. Das musste sie ihnen erklären.

»Tante Florentina und Onkel Matteo hätten sich sicher auch gefreut, dich wiederzusehen«, startete ihre Mutter einen weiteren Überredungsversuch.

Gerade als Constanze etwas erwidern wollte, mischte sich ihr Adoptivvater ein.

»Violetta, Darling, du musst Constance selbst entscheiden lassen. Sie ist alt genug.«

Constanze warf ihm einen dankbaren Blick zu, auch wenn sie es nicht mochte, wenn er ihren Namen englisch aussprach. Doch sie nahm es ihm nicht übel. Brian verzieh ihr immer, auch einen musikalischen Fehler. Bei ihrer Mutter musste alles immer perfekt sein.

»Aber noch nicht volljährig!«, erwiderte ihre Mutter.

Constanze stöhnte innerlich auf. Bis zu ihrer Volljährigkeit, die ihr freie Entscheidung erlaubte, musste sie noch ein volles Jahr warten. Flehend sah sie ihren Adoptivvater an, in der Hoffnung, dass er ihr beistand. Der zog die Stirn kraus.

Das Gesicht des Endvierzigers mit den klassischen Zügen und den hohen Wangenknochen war markant. In seinen meerblauen Augen lag ein Ausdruck, der an kraftvolle Brandung erinnerte. Das schmälerten auch nicht die Silberfäden an seinen Schläfen.

»Bitte, Violetta, sicher hat Constance triftige Gründe, die sie uns erklären wird«, wandte er ein. Sein Wort besaß bei ihrer Mutter Gewicht. Doch die wollte sich diesmal nicht zufriedengeben.

Constanze konnte June nicht die alleinige Verantwortung für den Laden aufbürden.

Sie fasste sich ein Herz und erklärte den Eltern, weshalb sie nicht mit ihnen reisen konnte, und legte all ihre Begeisterung in ihre Worte.

»Ein Laden für Musikinstrumente und mehr. Mitten in London. Das ist unsere Chance! Die bekommen wir nicht so schnell wieder.«

Vater nickte, und ihre Mutter sagte kein einziges Wort. Ihr Schweigen war schlimmer, als wenn sie Constanze zurechtgewiesen hätte. Es lag Constanze viel daran, dass auch die Mutter ihre Entscheidung verstand.

»Ich hätte die Familie so gern wieder vereint gesehen«, sagte ihre Mutter enttäuscht. »Aber von mir aus ... Wenn dir der Laden wichtiger ist.«

Constanze fiel ein Stein vom Herzen. Stürmisch umarmte sie ihre Mutter mit den Worten: »Du bist die Beste.«

Sanft lösten sie sich voneinander. »Ich habe noch eine Bedingung.«

»Eine Bedingung?«, fragte Constanze.

»Ich möchte, dass du für ein paar Tage nach Deutschland reist.«

Constanze war sich dessen bewusst, dass sie einen Spagat ausführen musste. June und sie würden sicher besonders am Anfang mit dem neueröffneten Laden alle Hände voll zu tun haben. Die Freundin hatte das Handwerk des Geigenbaus bei ihrem Vater erlernt. So konnten sie neben Blasinstrumenten auch Streichinstrumenten verkaufen.

Irgendwie muss das doch zu organisieren sein, dass ein oder zwei Wochen für eine Reise nach Deutschland dabei heraussprangen! Aber wird June im Laden allein klarkommen, so chaotisch, wie sie ist?

»Das kann ich euch nicht versprechen. Ich möchte und kann June nicht die ganze Arbeit überlassen. Sie und ich ...«

Constanze biss sich auf die Zunge. Verflixt! Sie hätte ihre Freundin nicht erwähnen sollen, denn ihre Mutter war nicht gut auf sie zu sprechen.

»June, June, immer wieder June!«, fiel sie ihr auch prompt ins Wort. »Bestimmt sie dein Leben?«

»Natürlich nicht. Wir beide planen zusammen. Du würdest doch deine besten Freundinnen Sally und Heather auch nicht einfach hängen lassen«, konterte Constanze.

»Meine besten Freundinnen würden mich nicht so vereinnahmen, dass ich keine Zeit mit meiner Familie verbringen kann.«

Der Vorwurf traf Constanze. Sie wusste, worauf ihre Mutter anspielte. Im letzten Jahr hatte June für sie beide einen Ausflug in den Exmoor-Nationalpark geplant. Leider hatte das mit der elterlichen Einladung zum Osterfest auf Wilcox Manor nicht gepasst. Zwischen Constanze und ihrer Mutter war es zu einem heftigen Streit gekommen, bis sie schließlich nachgegeben und den Ausflug verschoben hatte.

Sie konnte die Abneigung nicht verstehen, schließlich waren beide Elternpaare miteinander befreundet. Oft hatte ihre Mutter erzählt, wie Gideon ihr in der Zeit des Krieges geholfen hatte. Auch heute ärgerte sich Constanze über die Reaktion der Mutter.

»Was hast du nur immer gegen June? Sie ist doch die Tochter von Gideon und Heather.«

»Sie hat so eine bestimmende Art an sich, vor allem dir gegenüber, die ich nicht mag«, echauffierte sich ihre Mutter. »Sie versteht sich nicht mit ihren Eltern. Das hat sicher seinen Grund. Ich lasse keinen Keil zwischen uns treiben!«

»June würde das niemals wollen!«, verteidigte sie die Freundin.

Brian schwieg wie immer bei diesem Thema. Manchmal glaubte Constanze, dass auch er Vorbehalte gegen die Freundin besaß. Dabei war June strebsam und stets verlässlich. Allerdings hatte sie sich geweigert, das Geigenbauunternehmen ihres Vaters zu übernehmen. Sie wollte wie Constanze auf eigenen Füßen stehen. Es war zu einem Streit zwischen der Freundin und ihren Eltern gekommen. Seitdem hatte June die beiden nicht mehr besucht.

Constanze nahm die Hand der Mutter. »Mum, June und ich verstehen uns blendend. Wie du und Tante Florentina«, sagte sie sanft. Sie wünschte sich so sehr, dass ihre Mutter die Freundin mochte.

Doch anstatt einer Antwort presste sie die Lippen fest zusammen und schwieg. Was ihre Freundin anbetraf, würde Constanze mit ihrer Mutter nie einer Meinung sein. Flehend sah sie ihren Adoptivvater an, der den Blick senkte. Constanze wollte allen den Tag nicht noch mehr vergällen und wechselte das Thema.

»Wann reist ihr nach Hannover?«

Die enttäuschten Gesichter der Eltern versetzten ihr einen Stich.

»Vielleicht schon übermorgen.«

Mit einer solch schnellen Abreise hatte sie nicht gerechnet.

»Und wann kehrt ihr zurück?«

»Eine Woche vor Ferienende.«

Ihre Eltern würden also mehrere Wochen in Hannover weilen. Constanze wurde das Gefühl nicht los, dass sie damit liebäugelten, längere Zeit in Deutschland zu bleiben.

Ihre jüngere Halbgeschwister Carmen und Alan verbrachten ihre Ferien bei Tante Gianna und deren Mann Adolfo in Florenz, um ihre italienischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Carmen träumte davon, wie die Mutter eine gefeierte Operndiva zu werden. Alan war kein Musiker, sondern widmete sich der Malerei.

»Du hast noch gar nicht deine Geschenke ausgepackt.« Brian deutete auf die liebevoll eingepackten Pakete, die auf dem Beistelltisch lagen.

»Ja, ja, natürlich.« Constanze lief zum Tisch hinüber und befreite vorsichtig eines nach dem anderen vom Geschenkpapier. Zuerst öffnete sie einen rechteckigen Karton, aus dem ein taillenbetontes Cocktailkleid mit schwarzem, langärmeligem Oberteil und einem weitschwingenden, weißen Rock mit schwarzen Punkten zum Vorschein kam.

»Genau das habe ich mir immer gewünscht.« Sie rannte hinaus zur Garderobe, hielt es an und betrachtete sich im Spiegel. Mit einer Hochsteckfrisur würde sie sich wie Audrey Hepburn fühlen.

Sie drehte sich mehrmals im Kreis, bevor sie zu den Eltern zurücklief und sie umarmte.

Anschließend öffnete sie die anderen Geschenke, in denen sich ein Buch, ein Paar Handschuhe und ein Album befanden.

»Deine Oma hat es geschickt«, erklärte ihre Mutter und deutete auf das in Leder gebundene Album. Constanze erahnte den Inhalt. Ihre Finger zitterten, als sie es aufschlug.

Tränen stiegen in ihre Augen, als sie auf dem ersten Foto ihren leiblichen Vater erkannte, der in die Kamera lächelte.

Hans Brünn, Juni 1938 Hannover hatte jemand daneben mit schwungvoller Handschrift notiert.

Lange betrachtete Constanze das Foto.

Ein schüchternes, aber sympathisches Lächeln hatte er besessen, dazu ein gut geschnittenes Gesicht mit weichen Zügen. Sie konnte ihre Mutter verstehen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Constanze besaß zwar das schwarze Haar ihrer Mutter, aber es war eine Flut ungebändigter Locken. Die braunen Augen und das Grübchen am Kinn hatte sie von ihrem Vater geerbt.

»Du bist ihm sehr ähnlich«, sagte ihre Mutter leise.

Die Aufnahmen bedeuteten Constanze viel. Mehr als alle anderen Geschenke. Im Album waren auch Kinderfotos von ihm und aus seiner Studienzeit eingeklebt, auf denen er an einem Flügel saß. Die letzten Fotos stammten aus der Zeit, als er mit ihrer Mutter am Theater gearbeitet hatte.

»Er war ein sehr guter Komponist. Wir waren alle begeistert von seinem ersten Werk«, warf ihre Mutter ein. »Der Goldene Drache hieß es«, fuhr sie fort.

In diesem Moment bereute Constanze, ihre Eltern nicht nach Deutschland begleiten zu können. Wie gern hätte sie ihren Großeltern über ihren Vater Löcher in den Bauch gefragt. Unwillkürlich glitt ihr Blick zu ihrem Adoptivvater hinüber.

Ob ihre Mutter genauso glücklich mit ihrem leiblichen Vater geworden wäre wie mit Brian?

Die Tür zum Salon öffnete sich und weckte Constanzes Aufmerksamkeit.

Hausdame Ernestine stand mit finsterer Miene auf der Schwelle. Etwas schien ihr auf der Seele zu brennen. Sie wartete auf ein Zeichen der Eltern, ihr Anliegen vorzutragen.

Brians Augenbrauen ruckten nach oben. Er mochte keine Störung beim Essen. Aber er ahnte sicher auch, dass die Hausdame keine Ruhe geben würde, bis sie nicht ihr Anliegen vorgetragen hätte. Hastig wischte er sich mit der Serviette den Mund ab.

»Ja, Ernestine?« Seine Stimme klang ein wenig gereizt.

»Verzeihung, Mylord. Ich störe nur ungern. Aber ich muss Ihnen dringend etwas melden. Es geht mal wieder um Janet.« Ernestines Lippen zitterten, und ihre Stimme überschlug sich fast vor unterdrücktem Ärger.

Constanze stöhnte innerlich auf. Die junge Zofe konnte es der Hausdame nie rechtmachen. Als aufgedrehtes Ding hatte Ernestine sie neulich bezeichnet. Constanze hingegen mochte die lebensfrohe, junge Frau, die immer ein Lied summend ihre Arbeit verrichtete. Sie war eine Freundin, der sie vertraute.

Ihr Adoptivvater seufzte. »Was hat sie denn angestellt, Ernestine?«

»Sie ist heute wieder zu spät zur Arbeit erschienen. Angeblich ist sie vorher beim Postamt gewesen. Von mir hat sie keinen Auftrag erhalten, und sie hat mir keinen Brief übergeben! Ich vermute, dass sie sich wieder mit diesem Burschen getroffen hat. Der von der Brauerei. Es ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass sie mich angelogen hat. Von den Verspätungen ganz zu schweigen«, beschwerte sich Ernestine. Im Licht des Kronleuchters wirkte die ganz in Weiß gekleidete Hausdame fast wie eine Heilige.

Beim Erwähnen des Postamts wurde Constanze ganz flau zumute. Sie hatte irgendwann gemerkt, dass die Post von Granny Margret, Brians Mutter, nicht willkommen und stets ungeöffnet zurückgesandt worden war. Niemand hatte über die Gründe gesprochen. Dann hatte sie eine Unterhaltung zwischen Ernestine und Köchin Gretchen belauscht, in der es darum gegangen war, dass sich Brians Mutter gegen seine Ehe gestellt hatte. Es war reine Neugier gewesen, die Constanze dazu getrieben hatten, die alte Lady Wilcox zu besuchen. Vom ersten Augenblick an hatte sie Brians Mutter gemocht und später heimlich besucht. Die alte Dame lebte seit vielen Jahren im Haus einer Freundin.

»Wirklich unerhört«, pflichtete Brian der Hausdame bei und verkniff sich ein Schmunzeln.

»Ganz genau, Mylord. So etwas kann man einem jungen Ding nicht durchgehen lassen.«

»Ich werde gleich mit Janet reden. Schicken Sie sie doch bitte herein, Ernestine«, versprach er der Hausdame.

Ein Ausdruck von Genugtuung lag in ihrem Blick. »Sehr wohl, Mylord.« Hoch erhobenen Hauptes drehte Ernestine sich um und eilte aus dem Salon.

»Janet ist doch sonst immer sehr ehrlich und zuverlässig«, warf ihre Mutter ein.

»Vielleicht sieht sie sich gezwungen, es zu verbergen, sich mit einem Mann zu treffen. Denn das würde einer Heiligen wie Ernestine natürlich nie passieren«, sagte er schmunzelnd.

»Brian!«, rief ihre Mutter empört. »Ernestine ist zwar manchmal in ihren Ansichten recht altmodisch, aber sie erledigt alle aufgetragenen Arbeiten tadellos«, verteidigte sie die Hausdame. Bevor Brian antworten konnte, betrat Janet mit geröteten Wangen den Salon und knickste.

»Sie wollten mich sprechen, Mylord.« Mit gesenktem Kopf stand sie vor ihnen. Constanze wurde noch flauer im Magen, denn sie fühlte sich schuldig.

Ihr Adoptivvater trug Janet Ernestines Vorwürfe vor. Die Zofe senkte schuldbewusst den Kopf.

»Nun, was sagst du dazu, Janet? Hast du dich mit einem Burschen getroffen?«

Constanze kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Stimme zwar streng klang, er aber der Zofe einen Fehler verzeihen würde.

Janet schüttelte den Kopf. »Oh nein, Mylord. Ich habe mich mit keinem getroffen. War nur etwas zu spät.«

Constanze hoffte, dass Brian aufhören würde, Janet weiter auszufragen.

»Beim nächsten Mal bitte ich dich, pünktlich zu sein und dich unserer Hausdame ordentlich zu erklären.«

Constanze atmete auf, denn es schien, dass das Thema für ihren Vater erledigt war.

»Warum bist du denn zu spät gekommen?«

Sie hatte nicht mit ihrer Mutter gerechnet, die das Thema nicht auf sich beruhen lassen wollte.

Constanzes Herz klopfte heftiger. Ihr Blick hing an Janets Lippen. Was würde sie antworten?

»Ich ... ich war ... auf dem Postamt«, gestand Janet. Constanze hielt die Luft an. Ihretwegen würde die Zofe Ärger bekommen. Das hatte sie nicht gewollt.

»Und was hast du auf dem Postamt gemacht? Hat Ernestine dich geschickt?«, bohrte ihre Mutter weiter.

Janet biss auf ihre Unterlippe und schüttelte erneut den Kopf.

»Nein, Ernestine hat ... mich nicht geschickt.«

»Wer dann?« Ihre Mutter ließ nicht locker.

Auf keinen Fall wollte Constanze, dass Janet aus Loyalität ihr gegenüber, ihre Stelle aufs Spiel setzte. Es war an der Zeit, die Wahrheit zu gestehen. Sie nahm all ihren Mut zusammen.

»Ich ... ich habe sie geschickt.« Constanze wunderte sich, wie fest ihre Stimme klang, obwohl sie aufgeregt war. Abwechselnd blickte sie in die überraschten Gesichter der Eltern.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Janet. Sie schien erleichtert zu sein.

»Constance, du weißt doch genau, dass es Ernestines Aufgabe ist, sich um die Post zu kümmern.«

Sie fing den warnenden Blick ihres Adoptivvaters auf. Ihre Mutter kniff die Lippen zusammen und schwieg. Doch Constanze spürte, dass sie etwas ahnte.

»Danke, Janet. Du kannst jetzt gehen. Ich werde gleich mit Ernestine sprechen«, fuhr Brian fort.

»Danke, Mylord.« Janet knickste und eilte aus dem Salon.

Constanze hatte keine Lust an ihrem Geburtstag auf eine Auseinandersetzung mit den Eltern und wollte aus dem Salon flüchten.

»Ich bin spät dran. Das Orchester hat bestimmt schon mit der Probe begonnen.« Das war nicht gelogen, allerdings hatte ihr der Dirigent an ihrem Geburtstag freigegeben. Hastig nahm sie ein Toast im Vorbeigehen mit.

»Halt, junge Dame! Erst möchten wir eine Erklärung von dir, warum du Janet beauftragt hast, zum Postamt zu gehen.«

Sie hätte wissen müssen, dass ihre Mutter sie ohne Rechtfertigung nicht gehen ließe. Jetzt musste sie die ganze Wahrheit gestehen.

»Auch wenn es mein Geburtstag ist, möchte ich nicht zu spät zur Probe kommen«, startete sie einen letzten Versuch, sich mit der Ausrede zu verabschieden.

»Mr Sanders wird sicher dafür Verständnis haben, wenn du dich heute an deinem Geburtstag ein paar Minuten verspätest.«

Constanze stöhnte innerlich auf.

Am Abend in Frankfurt Main

Die Cocktailparty war bereits in vollem Gang, als Johannes in der Schubert-Villa eintraf. Er hasste Partys. Früher hatten sie eine solche Festivität schlicht Feier genannt. Die Besatzer hatten viel Neues eingeführt, Arbeitshosen, die sie Jeans nannten, Swing, Jazz und Rock'n'Roll. Für die älteren Generationen waren die schnellen Rhythmen sehr gewöhnungsbedürftig. Vieles hatte sich nach dem Krieg in Deutschland verändert. Sein Heimatland war in Ost und West geteilt worden. Nachdem unter der Aufsicht der Besatzer die Städte Stück für Stück wiederaufgebaut worden waren, ging es im Westen wirtschaftlich bergauf. Die Deutschen schienen nach der Schreckenszeit und Kriegsniederlage wieder Zukunftsperspektiven zu haben. Über den Osten wusste er wenig, nur vom Hörensagen, denn er besaß keine Verwandten in diesem Teil Deutschlands.

Er dachte an seine Kindheit, die voller Entbehrungen verlaufen war. Seine Heimatstadt Hannover war von den Bombardements der Alliierten arg betroffen gewesen. Die kleine Wohnung, in der er mit seiner Familie gewohnt hatte, war in einer einzigen Nacht vernichtet worden.

»Herzlich Willkommen in der Schubert-Villa, Herr Heining«, wurde er von dem Hausmädchen fröhlich begrüßt.

Eine Mischung aus Musik, Stimmengewirr und Gelächter schlug ihm entgegen. Johannes war der Einladung nur gefolgt, weil der Gastgeber Wolfgang Schubert sein Chef und zukünftiger Schwiegervater war. Der Anlass der Feier war ein besonders lukrativer Auftrag von Wolfgangs Architekturbüro gewesen. Eingeladen waren Geschäftsfreunde. Johannes grauste es vor den Gesprächen, die nur das Thema Bauprojekte kannten. Hätte er abgesagt, wäre Karin sicher sehr enttäuscht von ihm gewesen. Seine einzige Freude war, sie heute wiederzusehen. Karin war wie ein Sonnenstrahl in seinem Alltag. Sie bremste seinen Ehrgeiz. Johannes neigte dazu, sich in der Arbeit zu vergraben, denn er hatte sich zum Ziel gesetzt, ein in Deutschland angesehener Architekt zu werden.

Vor einem Jahr hatten Karin und er sich ineinander verliebt, und vor einem Monat hatte er der lebenslustigen und selbstbewussten Architektin einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte Ja gesagt.

Er stand noch immer in der Tür, als seine Verlobte auf ihn zukam. Das rote, ärmellose Sommerkleid mit dem weißen Gürtel um die schmale Taille stand ihr sehr gut. Ihre schlanken, langen Beine steckten in Pumps der gleichen Farbe. Ihm entging nicht, wie ihr die männlichen Gäste nachsahen, wenn sie mit schwingenden Hüften selbstbewusst durch den Raum schritt. Sie war sich ihrer körperlichen Reize durchaus bewusst. Ob sie den Hüftschwung stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte? Alle Männer begehrten sie. Karin war nicht nur die Tochter seines Chefs, sondern dessen Assistentin. Sie gehörte zu den wenigen Frauen in Deutschland, die an der Technischen Universität in Berlin Architektur studiert hatten. Dass sie obendrein kompetent und zukunftsorientiert war, gefiel Johannes. So ergänzten sie sich beruflich, was eine gute Basis für ihre Beziehung war.

Ihre kirschrot geschminkten Lippen glänzten, als sie ihn anlächelte. Ihr blondes, toupiertes Haar reichte bis zum Kinn. Eine Welle vorn im Haar zog sich kunstvoll nach der neuesten Mode in ihre Stirn.

»Jo, endlich. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, begrüßte sie ihn und reichte ihm die Wange zum Kuss. »Mein Lippenstift verschmiert sonst.«

»Du solltest mich besser kennen, Liebste. Ich halte mein Versprechen.«

Strahlend hakte sie sich bei ihm ein. Der blumig-schwere Duft ihres exklusiven Parfüms drang in seine Nase. Er neigte den Kopf und schnupperte an ihrer Halsbeuge.

»Du riechst ... verführerisch«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie lächelte kokett.

»Papa ist schon ganz ungeduldig und hat die ganze Zeit nach dir gefragt.«

Johannes stöhnte innerlich auf. Sicher wollte sein Schwiegervater in spe mit ihm über die Häuserzeile sprechen, mit deren Wiederaufbau er ihn beauftragt hatte. Widerwillig ließ er sich von seiner Verlobten mitziehen.

Die Bomben der Alliierten hatten Frankfurt fast dem Erdboden gleich gemacht. Es war ein Wunder, dass das Viertel, in dem die Villa der Schuberts stand, verschont geblieben war. An den weißen Wänden hingen in Öl gemalte Porträts von Wolfgangs erfolgreichem Vater und Großvater. Sie waren bereits unter Kaiser Wilhelm I. und dem Führer bekannte Architekten gewesen. Ihre Projekte standen auf einem Kärtchen neben den Gemälden.

Wolfgang war einer der erfolgreichsten Architekten in Frankfurt am Main und pflegte seit Jahren den Kontakt zu Walter Gropius, dem Gründer des Bauhauses. Johannes war Gropius als Pennäler bei einer Vorstellung im Theater am Park begegnet. Er hatte seinen Wunsch, Architektur zu studieren, maßgeblich beeinflusst. Gropius teilte mit ihm die Leidenschaft für klassische Musik.

Beim Wiederaufbau alter Gebäude wurde Wolfgang oft um Rat gefragt und nahm Johannes stets zu den Gesprächen mit. Dadurch hatte er sich viel Wissen angeeignet. Er bewunderte die eiserne Disziplin und akribische Recherche seines Chefs. Selbst wenn ein historischer Bau bis auf die Grundmauern von Bomben zerstört worden war, gelang es Wolfgang, ihn zu rekonstruieren. Am Wiederaufbau der Paulskirche war er maßgeblich beteiligt gewesen.

»Jo, schön, dass du zu unserer kleinen Cocktailparty gekommen bist«, wurde er von Wolfgang Schubert begrüßt, der mit zwei unbekannten Männern zusammenstand. Der Mittfünfziger verdankte seine drahtige Figur täglichem Schwimmtraining. Sein hellgraues Haar war bis auf Geheimratsecken voll. Er hatte sich den Vollbart vor ein paar Tagen abrasiert. Seine blanken Wangen glänzten im Licht. Wolfgang legte großen Wert auf gepflegtes Äußeres und verlangte von seinen Angestellten, dass sie täglich wie er Anzug und Krawatte trugen, auch auf der Baustelle.

»Meine Herren, darf ich Ihnen meinen zukünftigen Schwiegersohn vorstellen?« Er klopfte Johannes auf die Schulter. »Er wird einmal mein Nachfolger.«

Johannes glaubte, sich verhört zu haben. Bisher hatte Wolfgang nie ein Wort darüber verloren. Es missfiel ihm, dass sein Gegenüber das nicht vorher mit ihm besprochen hatte. Jetzt war jedoch nicht der passende Moment, ihn zur Rede zu stellen. Karin trat neben ihn und hakte sich bei ihm unter.

»Niemand anderem würde mein Vater sein Geschäft überlassen«, erklärte sie. Johannes fragte sich, ob seine Verlobte von diesen Plänen ihres Vaters gewusst haben könnte.

»Guten Tag, Herr Heining.« Der Akzent der beiden Männer verriet ihre Herkunft.

»Das sind Mr Miller und Mr Whittley vom gleichnamigen Immobilienunternehmen in New Jersey«, stellte Wolfgang ihm die beiden Männer vor.

»Herzlichen Glückwunsch.« Sie reichten ihm die Hand. Johannes wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Ich ... ja, danke ...«, stammelte er.

»Ich habe den Herren eben erklärt, dass du es bist, der in meine Fußstapfen treten und irgendwann das Büro leiten wird. Mein Freund Walter Gropius hält große Stücke auf ihn, nachdem er das Mietshausprojekt gesehen hat«, fiel ihm Wolfgang ins Wort.

Wolfgangs Schwiegersohn zu werden, war eine Sache, aber das große Architekturbüro zu leiten, stand auf einem anderen Blatt. Das kollidierte mit seinen Plänen. Johannes träumte davon, irgendwann ein eigenes, kleineres Büro zu eröffnen.

»Guten Tag«, grüßte Johannes steif zurück, während er die Hände der Gäste schüttelte.

»Mein Verlobter leitet ein größeres Bauprojekt im Norden der Stadt«, verkündete Karin stolz. Johannes gefiel es nicht, dass sie ihn den beiden Amerikanern anpries, auch wenn sie es gut meinte. Die nickten anerkennend. »Das klingt sehr interessant. Sure.«

Die dunklen Augen der Immobilienhändler taxierten ihn. Johannes fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und winkte ab.

»Ich habe nur die Planung gemacht.«

»Seine Grundrisse sind ausgefeilt und auf die Bedürfnisse von Familien zugeschnitten. Aber seine Kreativität vermag viel mehr. Sie suchen doch in Frankfurt innovative Ideen, um moderne Akzente zu setzen, nicht wahr?«

Johannes warf Karin einen warnenden Seitenblick zu.

»Meine Tochter hat recht. Mein zukünftiger Schwiegersohn spricht fließend Englisch. Hat auch vier Semester in Oxford viktorianische Architektur studiert«, ergänzte Wolfgang. Hätte Johannes auch nur geahnt, was seine Verlobte und sein zukünftiger Schwiegervater mit ihm geplant hatten, wäre er der Party ferngeblieben. Er fühlte sich wie ein Zirkusäffchen, das den anderen vorgeführt wurde.

Johannes zupfte Wolfgang am Ärmel. Doch der ignorierte ihn.

»Das Büffet ist eröffnet. Meine Herren, wenn Sie mich dorthin begleiten möchten.« Lächelnd hakte Karin die beiden Amerikaner unter und dirigierte sie zu der langen Tafel, auf der die Speisen angerichtet waren. Johannes folgte ihnen. Dabei belauschte er seine Verlobte, wie sie die beiden Geschäftsleute nach deren Vorhaben ausfragte. Sie besaß diese besondere Gabe, ihre Gesprächspartner mit ihrem Charme einzuwickeln, um alles über sie zu erfahren, was sie wollte.

Johannes musste seinen Plan, mit Wolfgang und ihr unter vier Augen zu sprechen, auf später verschieben. Ihm entging nicht, wie Karin mit den beiden Immobilienmaklern tuschelte. Auch Wolfgang schien die drei intensiv zu beobachten. Johannes hätte zu gern gewusst, worüber sie sprachen. Sicher nicht über die Partystimmung oder das bevorstehende Essen, denn Karin wirkte sehr konzentriert. Das Büffet war üppig, die Hungersnot im Krieg schien vergessen. Nicht für Johannes, dem noch gegenwärtig war, als Kind jeden Abend mit knurrendem Magen ins Bett gegangen zu sein.

Verschiedene Salate und Brotsorten, ein Käseigel, belegte Schnittchen mit Gurken garniert und mit Fleischsalat gefüllte Tomaten. Für jeden Geschmack war etwas dabei. Die Gäste füllten ihre Teller bis an den Rand, als würde es morgen nichts mehr geben.

Einen Moment lang tauchte er wieder in die Vergangenheit ein, hörte das Geheul der Sirenen, das sie in die Luftschutzbunker rief. Jeden Tag hatte ihn die Angst beherrscht. Nach dem Krieg war er von Albträumen gequält worden. Wie sein Vater, der aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und das Zittern seines Körpers nicht kontrollieren konnte. Jeden Tag hatte seine Mutter für alle eine wässrige Kartoffelsuppe gekocht, von der Johannes nie satt geworden war.

Sie hatten in einer winzigen Wohnung in einem vierstöckigen Mietshaus in Hannover gewohnt, seine Eltern, seine drei Geschwister und die Großmutter.

Hannover ... Im Geist sah er die zerbombten Häuser vor sich. Mit Geschwistern und Freunden hatte er in den Trümmern gespielt, bis sie den toten Soldaten gefunden hatten. Noch heute lief ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Unsanft wurde er aus den Erinnerungen gerissen, als Wolfgang ihn mit dem Ellbogen anstieß und sich zu ihm herüberbeugte.

»Ich glaube, dass wir einen Auftrag von den Amis bekommen werden«, raunte er Johannes zu. »Sie waren sehr angetan von deinen Arbeiten.«

Vor ein paar Tagen hatte Johannes zwei Modelle angefertigt, wie er sich das Wohnen vieler Familien vorstellte. Die beiden standen im Büro.

Wütend sah Johannes Wolfgang an. »Du hast sie ihnen, ohne mich zu fragen, gezeigt? Das war doch noch nicht ausgereift genug.« Das ging jetzt wirklich zu weit.

Auch als zukünftiger Schwiegervater besaß Wolfgang nicht das Recht, seine Modelle Dritten zu zeigen.

»Es geschah in deinem Interesse.« Sein Gegenüber klopfte ihm erneut auf die Schulter.

»Du hättest mich vorher fragen sollen.« Johannes konnte seinen Ärger nicht verbergen.

Wolfgangs Augen verengten sich zu Schlitzen. »Darf ich dich daran erinnern, dass du für mein Architekturbüro arbeitest und es mein Recht ist, die Arbeiten meiner Angestellten anderen zu präsentieren?«

Wut wallte in Johannes auf.

»Arbeiten ja, aber keine Rohlinge.«

»Beruhige dich, Jo. Alles nur zu deinem Besten«, versuchte ihn sein Chef zu beschwichtigen.

»Zu meinem Besten?«

»Sie schreiben gerade einen Wettbewerb aus. Ein hochmoderner Bau mit Büros und Apartments hier in Frankfurt. Wenn du den Wettbewerb gewinnst, könnte meine Firma mit einer ausländischen Referenz werben. Die Chance für dich.«

Moderne Wolkenkratzer in Frankfurt? Das passte gar nicht in Johannes' Konzept. Lieber wollte er sich auf historische Bauwerke fokussieren, die mit viel Liebe, Schweiß und Blut gebaut worden waren. Er liebte traditionelles Kunsthandwerk, das in dieser Zeit rar geworden war. Niemand nahm sich mehr Zeit für den Hausbau. Geld und Geschick zur Umsetzung fehlten auch. Viele moderne Gebäude waren in seinen Augen lieblos gestaltet. Ihnen fehlte die Seele. Es ärgerte ihn, dass Wolfgang Entscheidungen über seinen Kopf hinweg traf. Ein solches Großprojekt bedeutete auch, weniger Zeit mit Karin verbringen zu können.

Ihm genügten seine gegenwärtigen Bauvorhaben, in denen er Erfahrungen sammeln konnte. Da blieb keine Zeit, etwas Neues für einen Wettbewerb zu entwerfen.

»Zögere nicht zu lange.«

»Ich muss in Ruhe darüber nachdenken.« Auf keinen Fall wollte er seinen zukünftigen Schwiegervater vor den Kopf stoßen. Warum war es ihm plötzlich so wichtig, mit den Amerikanern ein Bauprojekt zu planen, wo er doch nie gut auf sie zu sprechen war?

»Eine solche Chance bekommt man nicht alle Tage.« Wolfgangs Miene verdüsterte sich. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihm Johannes' Zögern missfiel.

Sie kamen beim Büffet an die Reihe, sodass Johannes seinem Chef eine Antwort schuldig blieb.

Während er sich auftat, trat Karin neben ihn.

»Ist das nicht toll? Ein Großauftrag hier in Frankfurt! Papa sagt, dass die Amis sehr großzügig bezahlen. Vielleicht können wir zusammenarbeiten«, raunte sie ihm zu und sprühte geradezu vor Begeisterung.

»Ich möchte aber so ein modernes Projekt nicht.«

Karin zog eine Grimasse. »Du immer mit deinen alten Häusern. Modern ist angesagt! Ich dachte, Gropius wäre dein Vorbild.«

»Ja, nein ...«

»Dann nutze die Chance. Du könntest dir dann auch ein Abo für die Oper leisten.«

»Nein, Karin. Das ist nicht das, was ich will.«

Seine Verlobte zog einen Schmollmund. »Du bist manchmal richtig spießig«, sagte sie schnippisch. Dann drehte sie sich um und begrüßte überschwänglich neu eingetroffene Gäste. Ihr Vorwurf hatte ihn verletzt. Johannes liebte Karin, auch wenn ihre Meinungen über alte Gebäude auseinandergingen.

An diesem Abend gab sie die perfekte Gastgeberin. Besonders bemühte sie sich um die Gunst der beiden amerikanischen Immobilienunternehmer. Johannes staunte über Karins Fragen. Auf ihre unnachahmlich charmante Weise gelang es ihr, den beiden Männern Informationen zu deren zukünftigen Vorhaben zu entlocken. Zwischendurch tauschte sie Blicke mit ihrem Vater. Handelte sie etwa in dessen Auftrag? Schließlich war sie seine Assistentin. Karin plauderte die ganze Zeit mit den beiden Amerikanern, was Johannes zu seinem Bedauern keine Gelegenheit gab, mit ihr allein zu sprechen.

Als sie später nach dem Essen nach draußen in den Garten eilte, folgte Johannes ihr. Endlich mit ihr allein sein und in Ruhe reden.

Karin überquerte den Rasen in Richtung Gästehaus, das am anderen Ende des großzügigen Gartens stand. Die Schuberts gehörten zu den wenigen Familien Frankfurts, die ein solch feudales und großzügiges Anwesen besaßen. Sie wirkte seltsam aufgebracht. Er hatte kurz zuvor beobachtet, wie sie in einer Ecke leise, aber ungehalten mit ihrem Vater gesprochen hatte. Was hatte seine Verlobte so erregt? Karin träumte davon, aus dem Schatten ihres Vaters zu treten. Doch zunächst hatte sie sich den Wünschen ihres Vaters zu beugen.

Gerade als Johannes sie rufen wollte, verschwand sie im Gästehaus. Was wollte sie dort, noch dazu im Dunkeln? Hinter der Eingangstür vernahm er Geflüster. Wer war bei ihr? Die beiden amerikanischen Immobilienunternehmer standen im Haus am Büffet. Ihr Vater sprach mit einem Ehepaar.

Johannes schaute durch die Scheibe des Gartenhauses, aber es war zu dunkel, um drinnen etwas erkennen zu können. Im Innern klappte eine Tür. Er drückte die Klinke hinunter. Doch sie war abgeschlossen, was ihm noch merkwürdiger vorkam. Johannes entschied, auf seine Verlobte zu warten. Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür des Gästehauses öffnete und Karin heraustrat. Sie zuckte zusammen.

»Herrgott, Johannes, hast du mich erschreckt! Was machst du hier? Spionierst du mir nach?« Ihre Stimme zitterte. Er war sich sicher, dass sie etwas vor ihm verbarg.

»Ist etwas nicht in Ordnung? Mit wem hast du denn da drinnen gesprochen?«

»Mit niemandem. Nur ein Selbstgespräch.« Sie winkte ab. Johannes spürte, dass sie log.

»Seit wann führst du Selbstgespräche?«

»Ab und zu.« Sie wirkte nervös. Das war untypisch für Karin, die in jeder noch so unangenehmen Situation stets souverän agierte.

»Was hast du denn da drinnen im Dunkeln gemacht?«

»Ich musste dringend was für Papa erledigen.«

Schon wieder eine Lüge! Johannes war felsenfest davon überzeugt, dass sie sich mit jemandem im Gästehaus getroffen hatte und es ihm verschweigen wollte.

»Im Gästehaus?«

»Ja ... ja. Er ... er hat mich gebeten, etwas für ihn zu suchen. Seine Brille, die er dort neulich vergessen hat.«

»Seine Brille? Im Dunkeln?«

Er spürte, wie sie sich versteifte.

»Mit einer Taschenlampe.«

Dann hätte er den Schein sehen müssen.

»Hast du die Brille gefunden?«

»Nein.«

Weshalb log sie ihn an?

»Das klingt alles sehr seltsam, Karin. Bist du die Dienerin deines Vaters? Warum sieht er nicht selbst nach?«

»Weil ... weil er sich um die Gäste kümmern muss. Und ich mache das gern für ihn.«

Wie oft hatte er das schon von ihr gehört. Sie war stets eifrig bemüht, ihrem Vater alles rechtzumachen.

»Sobald dein Vater Piep sagt, rennst du gleich los.« Plötzlich stutzte Johannes. Hatte er nicht vorher aus der Brusttasche Wolfgangs eine Brille herauslugen sehen?

»Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?«

»Das ist die Wahrheit!«, rief sie empört. »Du willst mir nicht glauben, Jo. Warum bist du mir nachgegangen?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Weil ich mit dir reden wollte, Karin. Allein. Wegen vorhin.«

»Später, Jo. Ich habe jetzt keinen Kopf dafür.«

Vielleicht sehe ich nur Gespenster, wo keine sind? Andererseits war er sich sicher, dass er sich das Geflüster nicht eingebildet hatte.

»Gut. Morgen beim Essen?«

»Ja,. Lass uns jetzt zur Party zurückkehren.«

Er bemerkte die Gänsehaut auf ihren bloßen Armen.

»Du frierst ja.«

Rasch zog er sein Jackett aus und hängte es ihr um.

Im Licht auf der Terrasse erschien sie ihm trotz ihres Make-ups ungewöhnlich blass.

»Es ist schon spät. Morgen um sieben müssen wir wieder im Büro sein. Du solltest dich zurückziehen, Karin«, raunte Johannes ihr zu.

»Ich bin nicht müde. Jetzt wird der Abend doch erst interessant«, wehrte sie ab und nahm einem vorbeigehenden Kellner ein Tablett mit drei Sektflöten ab. »Möchtest du vielleicht auch noch einen?« Sie hielt ihm ein Glas hin.

»Nein danke.«

Karin zuckte mit den Achseln, bevor sie sich umdrehte und zu den beiden Amerikanern zurückkehrte.

Johannes mied Alkohol, behielt lieber einen klaren Kopf. Sein Vater war nach der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft jeden Tag betrunken gewesen. Seine in diesem Zustand gezeigte Aggressivität hatte Johannes erschüttert. Der Vater hatte ihn nur als Taugenichts und Versager bezeichnet. Johannes hatte die Beschimpfungen nicht mehr ertragen und sein Zuhause verlassen. Danach war der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen. Später hatte sich Johannes wieder mit ihm versöhnen wollen, war aber stets abgewiesen worden. Er blickte erstaunt auf, als zwei amerikanische Soldaten Wolfgang begrüßten. Sein Chef hatte für die Besatzer eigentlich nicht viel übrig. Nur wenn er ein lukratives Geschäft witterte, war er bereit mit ihnen zu verhandeln.

Der Kleinere von beiden war den Abzeichen nach Leutnant.

In dem zweiten, einem hochgewachsenen, blonden Major erkannte Johannes überraschenderweise seinen Freund Trevor Caplan wieder.

Karin steuerte auf ihn zu. »Jetzt wird es interessant. Komm mit«, raunte sie und zog ihn mit sich zu ihrem Vater und den beiden Soldaten.

»Guten Abend, die Herren«, begrüßte Karin seinen Freund und dessen Begleiter überschwänglich.

Sie schnipste mit den Fingern, woraufhin einer der Kellner mit einem Tablett kam.

Lächelnd schenkte sie seinem Freund einen langen Augenaufschlag.

Zugegeben, sein Freund Trevor war attraktiv, gebildet, dazu sehr charmant und humorvoll, was beim weiblichen Geschlecht gut ankam. Dass aber Karin für den Charme des Freundes empfänglich war, ärgerte Johannes.

»Mensch, Trevor, was machst du hier? Schön, dich zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass du Wolfgang Schubert kennst!«, begrüßte er seinen Freund.

Trevor kratzte sich verlegen am Kinn.

»I don't know them. Lieutenant Williams war eingeladen und hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Auf dem Hinweg hat er mir erzählt, dass Mr Schubert die Renovierung eines Gebäudes für unser Bataillon plant. Hier in Frankfurt.« Der unverkennbare Akzent seines Freundes verriet seine Herkunft. Seine Großmutter war Deutsche und vor vielen Jahren in die Staaten emigriert.

Trevors Antwort und Karins beharrliche Fragen bestätigten Johannes in seiner Vermutung, dass Wolfgang sich Aufträge von den Besatzern versprach. Seine Verlobte kümmerte sich eifrig um die Amerikaner. In ihrer Branche war es üblich, neue Geschäftsfelder zu entdecken und Kunden zu akquirieren. Dennoch war Johannes darüber verwundert, denn die Ausrichtung von Wolfgangs Architekturbüro war nicht modern, wie es in den Staaten üblich war, sondern eher konventionell. Als konservativ deutsch hätte manch einer es bezeichnet.

Johannes' Grübeleien wurden durch den Kellner unterbrochen, der sich erneut mit dem Tablett und einem halben Dutzend Gläser näherte.

»Danke, Helmut.« Karin nahm zwei Gläser herunter und reichte zuerst eines dem Leutnant und anschließend Trevor. Johannes entging nicht das Aufblitzen in den Augen seines Freundes, als er Karin musterte.

»Darf ich dir meine Verlobte vorstellen?« Besitzergreifend legte Johannes seinen Arm um ihre Schultern.

»So viel Geschmack hätte ich dir gar nicht zugetraut«, sagte Trevor augenzwinkernd zu ihm.

»Ihr kennt euch?«, wandte sich Karin erstaunt an Johannes und sah von einem zum anderen.

»Ja, das ist Major Trevor Caplan, ein guter Freund von mir. Ich habe dir schon öfter von ihm erzählt. Wir haben uns vor ein paar Jahren zufällig in der Oper in Hannover kennengelernt«, sagte Johannes.