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Im Linzgau 1903: Auf der Flucht durch finsteren Wald bricht ein junger Mann blutüberströmt auf dem abgelegenen Vrenenhof zusammen. Dort wohnt die heilkundige Elisabeth, die den Schwerverletzten bei sich aufnimmt und ihm das Leben rettet. Ihre Heilkunst beruht auf einem uralten Buch aus dem Kloster der Hildegard von Bingen - dem Konstanzer Kräuterbuch. Elisabeth hat es von ihren Vorfahrinnen geerbt, von denen einige einst als Hexen verfolgt wurden. Sie ahnt nicht, dass sie mit der Rettung des Mannes einen Feind auf den Plan ruft, der sie zum Ziel einer mörderischen Intrige macht.
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Seitenzahl: 414
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Marcel Rothmund
Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs
Historischer Roman
Verhängnisvolles Erbe Elisabeth Freistetter, genannt die Kräuterliesl, besitzt das letzte von fünf Heilbüchern ihrer Vorfahrinnen – das Konstanzer Kräuterbuch. Es enthält einen einzigartigen Wissensschatz an Heilrezepturen und stammt ursprünglich aus dem Kloster der Hildegard von Bingen. Zusammen mit ihrem Mann Adam lebt Elisabeth auf einem abgelegenen Hof im Linzgau am Bodensee. Von den Bewohnern der umliegenden Dörfer wird sie wegen ihrer Heilkunst geschätzt und häufig um Hilfe gebeten. Eines späten Abends findet sie den schwer verletzten Schuhmacher Kilian auf ihrem Hof und rettet ihm das Leben. Elisabeth erfährt, dass er Opfer eines Raubüberfalls geworden ist, und gewährt ihm weiterhin Schutz. Adam und sie gewöhnen sich an den jungen Gast, der ihnen aus Dankbarkeit bei der Arbeit zur Hand geht. Doch plötzlich unterstellt man Elisabeth mit ihren Heilfähigkeiten böse Absichten und sie wird zum Opfer einer fatalen Intrige. Fürchterliche Ereignisse nehmen ihren Lauf …
Marcel Rothmund, 1985 in Friedrichshafen geboren, ist in Salem am Bodensee aufgewachsen. In seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit auf dem landwirtschaftlichen Hof seiner Großeltern. Schon während seiner Jugend interessierte er sich für das Leben in vergangenen Zeiten und lauschte fasziniert den Erzählungen von früher. Nach dem Abitur studierte er Geschichte in Konstanz und Heidelberg. Während des Studiums arbeitete er im Journalismus und entdeckte in den darauffolgenden Jahren seine Passion für das Schreiben. Heute lebt und arbeitet er in der Bodenseeregion.
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© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Illustration_from_Medical_Botany,_digitally_enhanced_from_rawpixel’s_own_original_plates_157.jpg
ISBN 978-3-8392-6894-0
Für Desirée
Mit einer unbeschreiblichen Geschwindigkeit durchstreifte er im Flug die Finsternis. Es schien ihm eine Reise ohne Zeit und Ziel und doch fühlte er sich in dieser fremden Weite hier oben geborgen. Über ihm leuchteten unzählige Sterne schwach in der Ferne wie kleine Wegweiser zu unbekannten Orten. Unter ihm war alles vollkommen schwarz. Er flog einem Vogel gleich und spürte dabei die kühle Zugluft auf seiner Haut. Ein wärmendes Gefühl des Friedens und von großem Glück erfüllte ihn von innen. Gerne wäre er bis in alle Ewigkeit geflogen. Doch in einem Augenblick erloschen die leuchtenden Punkte am Firmament. Es wurde dunkel um ihn herum und mit jedem Atemzug kehrte die gewohnte Schwere seines Körpers zurück.
Er bemerkte, wie er wieder mehr und mehr zu Bewusstsein kam. Die friedliche Sternenwelt war verschwunden und mit ihr das traumhafte Gefühl vom Fliegen. Er lag auf hartem Boden mit dem Gesicht nach unten und spürte, wie in seinem Schädel ein grauenhafter Schmerz unablässig pochte. Er öffnete die Augen, doch um ihn herum blieb alles schwarz. Begleitet von dem Pochen im Kopf atmete er tief ein, wobei ein wohlbekannter Geruch seine Nase durchströmte. Ein Geruch, der Erinnerungen in ihm wach werden ließ. Schöne Erinnerungen an einen Tag, an dem er als kleiner Bub mit seinen größeren Brüdern Paul und Jakob am Waldrand eine Fuchsfalle gebaut hatte. Aus einer alten Holzkiste für Weinflaschen hatten sie damals eine ganz brauchbare Falle zusammengezimmert. Die Kiste hatten sie mit der offenen Seite nach unten gedreht und auf einen passenden Bretterboden genagelt. Eine der Seitenwände sägten sie auf und montierten sie mit einem Scharnier an die Holzkiste, das sie von einer alten Truhe abgetrennt hatten. Die Kiste hatte nun eine Falltür, die nach oben geöffnet werden konnte. Daran befestigten sie eine Schnur, die im Inneren mit einem Haken verbunden war, an dem ein Fleischköder hing. Es waren die Reste eines Schweins, die beim Nachbarhof nach der Schlachtung auf dem Misthaufen gelandet waren. Wenn ein angelockter Fuchs sich den Köder schnappen sollte, würde die geöffnete Tür durch die Bewegung an der Schnur sofort zuklappen. Ein Stein, den die Jungen zusätzlich auf der Falltür festbanden, sollte verhindern, dass der gefangene Fuchs die Tür öffnen konnte.
Zur Herbstzeit stellten er und seine Brüder die Falle gemeinsam am Waldrand neben dem Feld ihres Vaters auf und als Tarnung verteilten sie Laub von Eichen und Buchen auf dem Boden der Kiste. Tagelang legten sie sich damals in der Abenddämmerung in einem Dickicht in nächster Nähe auf die Lauer und warteten gespannt auf einen Vierbeiner. Sie lagen dort mucksmäuschenstill unter den Sträuchern auf alten Rupfensäcken, das gelbbraune Laub direkt unter ihren Nasen, und warteten geduldig. Je weiter die Dämmerung voranschritt und die Feuchte der Luft zunahm, desto intensiver schien der Geruch des Laubs zu werden.
Von einem älteren Schulfreund hatte sein Bruder Paul erfahren, dass man bei einem Händler bis zu sechzig Reichsmark für ein Fuchsfell bekam. Die Hoffnung der Jungen war groß und tatsächlich war ihnen ein paar Tage später ein Fuchs in die Falle gegangen. Doch was dann passierte, hatten sie nicht erwartet. Zum Töten des Tieres stibitzten sie heimlich die Schrotflinte ihres Vaters. Durch einen Spalt in der Kiste wollten sie den Fuchs mit dem Gewehr möglichst am Kopf treffen, damit das Fell nicht durchlöchert wurde. Als sie nach langem Warten tatsächlich einen Fuchs in der Falle lärmen hörten, rannten sie siegessicher und voller Freude dorthin. Aber der Fuchs wehrte sich. In die Enge getrieben, entwickelte das Tier Kräfte, die ihm die Jungen im Leben nicht zugetraut hätten. Der Fuchs tobte wie wild in der Kiste und fauchte in schrillen Tönen. Im Rückblick ging alles in Sekundenschnelle. Jakob hielt die wackelnde Kiste fest, in welcher der Fuchs sich immer heftiger hin und her warf. Paul legte das Gewehr an und er selbst sollte den Fuchs mit Stöcken, die er durch die Ritzen der Kiste schob, in Position bringen. Allerdings war der Stein auf der Falltür nicht schwer genug. Der Fuchs konnte sie einen Spalt aufdrücken und war mit dem Kopf schon beinahe draußen. Paul schrie, Jakob solle die Falltür fester zudrücken. Doch der Fuchs hatte sich, flink, wie er war, bereits zur Hälfte mit seinem Körper durchgezwängt und biss Jakob in den Arm. Er schrie auf und ließ die Falltür los, sodass der Fuchs in den dunklen Wald entwischen konnte. Die Bisswunde an Jakobs Arm blutete stark. Schockiert ließ Paul das Gewehr fallen und kam seinem Bruder zur Hilfe. Mit zitternden Fingern band er sein Halstuch um den Arm des Bruders und knotete es fest zu. Nach kurzem Zögern waren sie zusammen wie geschlagene Krieger nach Hause gegangen. Ihre Mutter war entsetzt gewesen und ihr Vater hatte sie für ihre Torheit bestraft. Als Ältester hatte Paul wegen seiner Verantwortungslosigkeit die meisten Ohrfeigen einstecken müssen.
Das war über zwanzig Jahre her, und genau diese Erinnerung an frisches, herbstlich duftendes Laub, feucht und kühl, war ihm wieder ins Gedächtnis gekommen, als er nun, Jahre später, irgendwo in der Finsternis auf dem Boden lag und mit der Ohnmacht kämpfte.
Langsam stützte er sich auf seine Hände und bemerkte, dass sein Kopf und Oberkörper mit etwas bedeckt waren. Es war sein Mantel, der ihm irgendwie über Rücken und Kopf gefallen sein musste. Der raue Stoff war nicht das Einzige, was er auf seiner Haut verspürte. Seine Haare und vor allem seine rechte Gesichtshälfte schienen ihm mit irgendetwas verklebt. Mit den Fingern tastete er vorsichtig über sein Gesicht, dabei schoss ein Schmerz von tausend Nadelstichen durch seinen Schädel. Er zuckte zusammen und atmete tief durch. Dann ging er langsam auf die Knie und legte den Mantel beiseite, damit er endlich etwas sehen konnte. Um ihn herum war es Nacht, nur der halbvolle Mond spendete ein bisschen Licht in der Dunkelheit. Trotz der lähmenden Schmerzen gelang es ihm aufzustehen. Er betrachtete seine Hand. Im fahlen Mondschein konnte er eine dunkle Substanz erkennen. Zaghaft roch er daran und leckte an einem seiner Finger. Ein seltsam vertrauter Geschmack wanderte über seine Zunge. Ihm wurde klar, dass es Blut war – sein Blut! Aber warum er blutete und wie das alles passiert war, wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Das Pochen im Kopf war zu groß, als dass er hätte nachdenken können. Schwindel überkam ihn und seine Beine begannen nachzugeben. Er brauchte dringend Hilfe. Mit aufkommender Panik sah er sich um und nahm dabei die Landschaft in Augenschein. Er befand sich auf einer großen Lichtung, die von finsterem Wald eingerahmt wurde. Im nahen Unterholz raschelte etwas und der gespenstische Ruf eines Uhus durchdrang die Nacht. Etwa fünfzig Schritt entfernt von ihm stand ein altes Haus. Das Fachwerk war teilweise mit Efeu oder etwas Ähnlichem bewachsen, doch seine Sehkraft war von der Dunkelheit und den starken Schmerzen so getrübt, dass er es nicht recht erkennen konnte. Die Fensterläden waren geschlossen und dennoch entdeckte er an einem der unteren Fenster schwaches Licht. Es drang durch die Spalte der Fensterläden und ließ seine Hoffnung auf Hilfe wachsen. Entschlossen atmete er tief ein und ging auf den verheißungsvollen Schein zu. Wie ein Betrunkener schwankte er über die Lichtung. Als er direkt vor dem Fenster stand, öffnete er schwerfällig einen der beiden Holzläden. Im Inneren des Zimmers schummerte das Licht einer Petroleumlampe. Dort schien jemand an einem Tisch zu stehen. Er konnte es nicht recht erkennen, denn sein Sichtfeld verschwamm immer mehr zu einem Brei aus hellen und dunklen Streifen. Er begann zu schlottern, und von der schrecklichen Angst erfüllt, es könnte mit ihm zu Ende gehen, rief er um Hilfe. Doch seine Stimme versagte, sodass nur ein schwaches »Hiill …« zu hören war. Mit letzter Kraft klammerte er sich am Fensterbrett fest, kratzte mit seinen Fingernägeln über das Holz und sackte schließlich in sich zusammen. Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.
Ernatsreute im Linzgau, September 1903
Georg Back war ein Raubmörder, der stets unentdeckt blieb. Seine Opfer waren ausschließlich Fremde und den Leuten im Dorf war er nur als gewöhnlicher Wegewart und Tagelöhner bekannt. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn den »dürren Georg«, denn er war recht groß und auffällig schmal. Dennoch war Georg kräftig und für seine über fünfzig Jahre äußerst zäh. Sein Gesicht prägten kantige Wangenknochen und eine markante Hakennase, und unter seinen Augen hatte er dunkle Ränder, dass die Leute im Dorf meinten, er leide an der Wurmkrankheit. Zudem hatte er dünnes Haar, das meistens von einem kurzkrempigen Schäferhut verdeckt wurde. Dass ihm seine Beute buchstäblich über den Weg lief, lag daran, dass Georg Back als Wegewart auf den Wegen und Straßen von Ernatsreute tätig war. Auf diese Weise waren ihm so manche Opfer nichts ahnend in die Fänge geraten. Er lockte sie meist in einen Hinterhalt, beraubte sie und entledigte sich ihrer auf brutale Art und Weise. Ob Reisende, fahrende Krämer oder Landstreicher, letztendlich war Georg jedes Opfer recht, solange es ein bisschen Geld bei sich trug und allein unterwegs war.
Als Georg an diesem Nachmittag von der Arbeit auf dem Weg nach Hause war, erspähte er von Weitem den jungen Burschen, der vor ihm allein auf der Landstraße nach Ernatsreute lief. Er trug einen Korb auf dem Rücken, was Georg auf einen fahrenden Händler oder dergleichen schließen ließ. Georg fuhr mit seinem Schäferwagen langsam an ihn heran.
»So wie es aussieht, bist du schon länger unterwegs«, sagte er und lächelte den jungen Kerl freundlich an. »Wohin soll es denn gehen?«
»Nach Owingen«, antwortete der Bursche.
»Ich kann dich gern ein Stückle mitnehmen, denn ich fahr in diese Richtung.«
Der Fremde willigte ein, stieg neben ihm auf den Kutschbock und gemeinsam fuhren sie weiter.
»Woher kommst du denn?«, fragte Georg wissbegierig.
»Von Ravensburg«, antwortete der Kerl.
»Bist du ein fahrender Händler?«
»Ein fahrender Schuhmacher, um genau zu sein. Ich habe einen langen Tagesmarsch hinter mir und bin dir sehr dankbar, dass du mich mitnimmst. Ich weiß nicht, wie lange meine Füße mich noch getragen hätten.«
»Dann hast du bestimmt Durst und einen rechten Hunger?«, fragte Georg vielversprechend.
»Das kann man sagen, ja«, entgegnete der Bursche eifrig nickend.
Georg spielte den Mitleidsvollen. »Herrje, ich kenne so arme Kerle wie dich, die die längste Zeit auf der Straße unterwegs sind und fast nix zu essen dabeihaben. Von denen habe ich schon viele gesehen. Darum lade ich dich zum Vesper ein. Mein Hof liegt auf dem Weg. Und danach fahre ich dich weiter nach Owingen. Was meinst du?«
Der Schuster stimmte dankend zu und kurze Zeit später saßen sie gemeinsam in Georgs Küche am gedeckten Tisch.
Georg Back lebte seit Jahren allein in seinem Tagelöhnerhaus, dem sogenannten Schäfergütle. Das kleine Haus lag auf der großen Wiese unterhalb der Burghöfe, dort wo die Landstraße von Ernatsreute nach Owingen führte. Die Wiese hatte in alten Zeiten den Flurnamen Wolfsgalgen bekommen, denn um der zunehmenden Wolfsplage Herr zu werden, hatten die Schäfer früher dort Fleischköder an kleinen Sicheln aufgehängt. Die gefräßigen Wölfe schnappten nach dem Fleisch in der Höhe und hängten sich dadurch selbst am Wolfsgalgen auf. Doch Wölfe waren im Linzgau seit fast hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Unterhalb der Wiese floss der Geißbach den Hang hinunter. Der Bach entsprang im Wald Fronholz auf der Anhöhe schräg gegenüber, durchquerte die Felder hinter Ernatsreute und floss an der Landstraße unterhalb vom Schäfergütle unter einer Brücke hindurch. Kurz danach wurde der Geißbach zu einem kleinen Weiher angestaut. Dieser speiste weiter unten den Zufluss zu einer Sägemühle, der Hangmühle von Gerhard Frommel. Durch die Mühle geleitet, gab der Geißbach dem oberschlächtigen Wasserrad den nötigen Antrieb für die Säge und floss danach weiter in den Aachtobel hinab. Gegenüber dem Schäfergütle, auf der anderen Seite der Landstraße, stand auf dem Gewann Öschle ein weiteres Tagelöhnerhaus, das ähnlich aussah wie das von Georg. Dort wohnte die alte Witwe Rechle.
Georg Backs Vater Johannes war Schäfer gewesen sowie auch dessen Vater. Mit Georg sollte die Tradition des Schäferdaseins der Familie Back jedoch enden, denn er konnte der Arbeit mit den Viechern nichts abgewinnen. Deshalb hatte er nach einer anderen Tätigkeit gesucht und war zum Wegewart von Ernatsreute geworden, zuständig für alle Straßen, Wege und Brücken, die zum Dorf und seiner Gemarkung gehörten. Die Gemarkungsgrenze von Ernatsreute reichte im Norden bis hinauf zu den Burghöfen, im Osten bis kurz vor Wackenhausen, im Süden bis zum Schönbuchhof und im Westen bis zum Fronholz. Als sein Vater verstorben war, erbte der junge Georg Haus und Hof. Wobei das Schäfergütle der Backs schon damals in einem schlechten Zustand gewesen war. Seine Mutter war kurz nach dem Vater gestorben und seine beiden Schwestern hatten später auf andere Höfe eingeheiratet. Der junge Georg verkaufte die Schafe und konnte so einen Teil der Schulden bezahlen, die auf dem Grundbesitz lasteten. Weniger aus Liebe, sondern vielmehr aus der Not heraus hatte er Antonia Gerster aus Lippertsreute geheiratet, denn er hatte schließlich ein Weibsbild für seinen Haushalt gebraucht. Ihr Gesicht hatte nicht die Reize einer jungen Frau gehabt, stattdessen hatte es ihn mit den groben Zügen mehr an ein Mannsbild erinnert. Antonia stammte ebenfalls aus einer kleinen Tagelöhnerfamilie, dementsprechend gering war ihre Mitgift bei der Heirat ausgefallen.
Das ebenerdige Haus der Backs war aus einfachem Fachwerk gebaut, mit einem strohbedeckten Dach. Im rechten Teil des Hauses war eine kleine Tenne mit dem Stall für die Ziegen und Hühner. Hinten führte von dort eine Tür in das Außengatter. In der linken Haushälfte hauste Georg allein, seit Antonia vor acht Jahren an einem Hirnschlag gestorben war. Kinder hatte er keine, schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er und Antonia für sich selbst nicht immer ausreichend zu essen gehabt hatten. Dazu kam, dass Georg Kinder schlichtweg hasste. In den vergangenen Jahren war das Haus ohne Antonia immer mehr verkommen, aber der Dreck und die Unordnung störten Georg nicht. Er war die meiste Zeit mit dem alten Schäferwagen seines Vaters unterwegs, in dem er tagelang hausen konnte. Das Schäfergütle war so die meiste Zeit verwaist.
Während sie aßen, schenkte Georg seinem Gast reichlich Most ein und ließ dessen Glas nicht leer werden. Nach ein paar Gläsern schien ihm der ideale Zeitpunkt für einen Angriff, denn dann würde der junge Kerl sich nicht mehr so gut wehren können, dachte er sich. Anders als sein Opfer hielt Georg sich beim Most zurück, gerade so, dass es nicht auffiel. Während des Vespers unterhielten sie sich die ganze Zeit über das Handwerk des Schuhmachers und dessen Verlobte, die er bald heiraten wollte. Nach dem vierten Glas sah Georg den passenden Moment gekommen. Er wollte sein Opfer niederschlagen, es ausrauben und letztendlich töten. Als fahrender Schuhmacher führte der Bursche sicher einiges an Geld in seinen Taschen mit sich, vermutete er.
»Ich danke Gott, dass ich meine Anna gefunden habe«, faselte der Kerl schon leicht betrunken. »Ich werde sie bald heiraten und dann ist sie endlich mein Weibsbild. Und um Geld für eine Familie brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Mindestens zehn Kinder soll sie mir schenken. Schließlich habe ich ja einen reichen Großonkel«, protzte er und lachte angeheitert.
Bei diesen Worten wurde Georg hellhörig. Der Bursche war von dem vielen Most inzwischen so redselig geworden, dass er nicht mehr aufhören wollte. »Und ich weiß auch ganz genau, wo der Onkel das Geld versteckt hat, nämlich in einer Milchkanne auf dem Dachboden«, erzählte er.
Ab diesem Moment konnte sich Georg nicht mehr zurückhalten.
»Da hast du aber ein Glück«, sagte er. »Wo wohnt denn dein Onkel?«
»In Owingen. Deswegen will ich dorthin«, antwortete der Schuhmacher. Dann nahm er einen großen Schluck Most und redete wieder über seine Anna. Aber Georg, der das Vermögen des Großonkels schon zum Greifen nah vor sich sah, ließ nicht locker. Wie ein Raubtier biss er sich an der Erzählung über das viele Geld fest und kam wieder darauf zu sprechen. »Wie ist denn dein Großonkel an so viel Geld gekommen?«
»Der alte Mann hat ein Leben lang gespart. Das wäre nichts für mich«, antwortete der Bursche und schüttelte den Kopf. »Das muss schon ein eintöniges Leben sein. Aber wenigstens hat er dabei an mich und meine Anna gedacht.« Er lachte freudig.
Wieder ging das Gespräch in eine andere Richtung, als Georg es wollte, weshalb er langsam ungeduldig wurde. Schließlich musste er wissen, wo genau der Großonkel wohnte. In Owingen gab es viele Häuser und Höfe und ohne den Namen konnte die Suche schwierig werden. Bereitwillig ließ Georg seinen Gast noch ein paar Sätze zu seinem dummen Weib erzählen, dann riss ihm der Geduldsfaden. »Wo zum Teufel wohnt er denn?«, schrie er laut.
In diesem Moment wirkte der junge Schuhmacher wie aus einem Traum gerissen. Er sah Georg skeptisch an. »Warum willst du das wissen?«
»Nun ja, als Wegewart komme ich viel rum«, gab sich Georg unbedarft. »Vielleicht kenne ich ja deinen Onkel.«
Der Schuhmacher schwieg und Georg konnte ihm das Misstrauen im Gesicht ansehen. »Ich glaube nicht, dass du ihn kennst. Er lebt sehr zurückgezogen.«
Georg hätte vor Wut auf den Tisch hauen können. Aber er versuchte, sich den Zorn nicht anmerken zu lassen. Er leerte sein Glas, stand auf und murmelte vor sich hin, dass es nicht so wichtig sei. Unter dem Vorwand, dass er noch einen Krug Most holen wolle, ging er hinaus. Draußen in der kleinen Tenne nahm er einen Dreschflegel zur Hand und kam damit in die Küche zurück. Er würde den Schuhmacher gefügig prügeln, und sobald dieser den Namen des Großonkels preisgegeben hatte, würde er ihn beiseiteschaffen.
Zwar war das Überraschungsmoment auf Georgs Seite, allerdings war der junge Bursche durch sein Misstrauen wachsam geworden. Trotz des vielen Mosts, den er getrunken hatte, war er immer noch sehr flink. Beim Anblick des Dreschflegels sprang er sofort auf und konnte Georgs Schlag um Haaresbreite ausweichen. Beim zweiten Schlag gelang es ihm ebenso, doch langsam nahm seine Reaktionsfähigkeit ab. Mit dem dritten Schlag traf Georg den Schuhmacher mit dem Dreschflegel direkt am Kopf. Für einen Augenblick konnte er das Blut sehen, das dem Kerl aus einer klaffenden Wunde seitlich herunterlief. Doch vom Schlag getroffen, schien der Schuhmacher neue Kräfte in sich zu entdecken. Wie ein tollwütiger Hund stürzte er sich auf Georg und riss ihm den Dreschflegel aus der Hand. Georg verpasste ihm einen ordentlichen Hieb mit der Faust in die Seite, aber der Schuhmacher ließ sich dadurch kaum beeindrucken. Wieder wollte Georg ihm die Faust in die Seite schlagen, doch erstaunlicherweise konnte ihm der wendige Bursche erneut ausweichen. Schließlich packte ihn der Schuhmacher und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen den Küchenschrank. Er stürzte zu Boden, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als Georg wieder zu sich kam, war es bereits mitten in der Nacht. Er lag auf dem Boden und ein stechender Schmerz am Hinterkopf ließ seinen Körper zusammenzucken. Im ersten Moment musste er sich sortieren, denn er besaß keine Erinnerung mehr daran, was geschehen war. Er lag auf dem Fußboden in der Küche, hinter ihm der Küchenschrank, dessen hölzerne Schubladenknöpfe er zum ersten Mal von unten betrachtete. Im schummrigen Licht weiter oben entdeckte er die Balken der Zimmerdecke, zwischen denen Spinnen in den vergangenen Jahren ihre Netze gewoben hatten. Leicht benommen zog Georg den Arm unter seinem Körper hervor, auf welchem er längere Zeit gelegen haben musste. Danach richtete er sich auf und tastete mit der rechten Hand vorsichtig den Hinterkopf ab. Er grübelte nach und sah sich währenddessen in der Küche um. Auf dem Küchenboden herrschte ein großes Durcheinander: kaputte Gläser, Messer, Vesperbretter und Essensreste. Neben den aufgestapelten Holzscheiten am Herd entdeckte er den Dreschflegel. Und bei dessen Anblick kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie alles passiert war.
Georg setzte sich für einen Moment auf die Bank am Küchentisch. Er musste sich sammeln, sein Kopf schmerzte immer noch. Die Ellenbogen stützte er auf den Tisch und legte sein Gesicht in die offenen Handflächen. Mit den Fingern rieb er sich langsam über die Stirn, als würden die Kopfschmerzen dadurch besser werden. Dann nahm er seine Hände vom Gesicht und schaute sich um. Die Sachen des Schuhmachers waren nicht mehr da. Der Bursche hatte doch den Tragekorb in der Küche abgelegt – dessen war Georg sich ganz sicher. Weit konnte der Kerl jedenfalls nicht gekommen sein, schon gar nicht mit der Verletzung am Kopf. Vermutlich lag er irgendwo in einem Straßengraben und Georg brauchte ihn nur einzusammeln. Dann würde er aus ihm herauspressen, was er wissen wollte. Entschlossen ging er nach draußen und fuhr wenige Minuten später mit seinem Schäferwagen vom Hof. Im Dunkel der Nacht war von ihm nur die schwach leuchtende Petroleumlaterne zu sehen, die am Dach seines Gefährts unruhig hin und her schwankte.
Der Hof, auf dem Elisabeth Freistetter und Adam Krämer lebten, lag mitten im Fronholz auf einer großen Lichtung. Der Waldweg von Ernatsreute nach Owingen führte direkt am Hof vorbei. Vom Weg aus gesehen, erstreckte sich die Lichtung auf der linken Seite als große Wiese bergab bis zum südlichen Rand des Waldes in Richtung Bambergen. Auf der rechten Seite des Weges stand der alte Vrenenhof, der seinen Namen von der heiligen Verena bekommen hatte. Das Haupthaus war aus braunem Fachwerk gebaut mit grünen Fensterläden, die mit Blumen und weißen Ornamenten bemalt waren. Über die Jahrzehnte war die Farbe der Fensterläden rissig geworden und an der Nordseite begann sie schon, in kleinen Teilen abzuplatzen. Elisabeth hatte das Haus von ihrer Tante Ottilie geerbt, die in den letzten Jahren nach dem Tod ihres Mannes ein Einsiedlerleben geführt hatte. Das Haus mochte etwa dreihundert Jahre alt sein. Früher hatte an dessen Stelle ein größeres Bauernhaus gestanden, doch der Dreißigjährige Krieg hatte wie in Bambergen und den umliegenden Dörfern auch vor dem Vrenenhof keinen Halt gemacht, wie Tante Ottilie erzählt hatte. Schwedische Soldaten hatten damals den Hof um sein ganzes Vieh und alle Nahrungsmittel geplündert. Den Bauer und seine Familie hatten sie kaltblütig erschlagen und das Haupthaus in Brand gesetzt, um die Leichen darin zu vernichten. Den Kornspeicher hatten sie allerdings unversehrt gelassen, denn während das Haupthaus in Flammen stand, beraubten sie den Speicher all der Vorräte, die darin lagerten. Wie manch andere Gehöfte im Umkreis hatte der Vrenenhof einst der Johanniterkommende in Überlingen gehört, die den Hof an Bauern belehnte. Da es nach dem Dreißigjährigen Krieg an Geld fehlte, ließ die Ordensgemeinschaft anstelle des abgebrannten Haupthauses ein kleineres Wohnhaus mit Tenne errichten und belehnte den Vrenenhof fortan wieder an Bauern. Tante Ottilies Schwiegervater war der letzte Lehensbauer des Vrenenhofs gewesen. Gegen Zahlung einer Ablösesumme hatte er das Gut an sich gebracht und so wurde der Vrenenhof von ihm an Tante Ottilies Mann, und von ihr wiederum an Elisabeth vererbt. Sie und Adam lebten nun schon seit über dreißig Jahren allein hier. Kinder hatte das alte Paar keine, aber dafür viele Tiere, um die sich die beiden genauso sorgsam kümmerten.
Es war ein warmer Herbsttag und die Sonne strahlte am leicht bewölkten Himmel über der Lichtung. An diesem Morgen lag ein junger Mann auf dem rubinroten Biedermeiersofa in der Stube und schlief. Er war am Vorabend hinter dem Haus zusammengebrochen. Von seinem Ächzen alarmiert, hatten Adam und Elisabeth den schwer verletzten jungen Mann hinter ihrem Hof entdeckt. Sofort hatten sie ihn ins Haus gebracht und auf das Sofa gelegt. Noch am Abend hatte Elisabeth mit warmem Wasser die angetrockneten Blutreste aus dem Gesicht des Fremden gewaschen und ihm eine besondere Kräutermixtur zur Beruhigung verabreicht. Dann war er erschöpft eingeschlafen.
Zaghaft öffnete Elisabeth die Tür zur Stube und ging hinein, sie wollte den jungen Mann auf keinen Fall wecken. Aus Gewohnheit blickte sie zuerst zu dem langen Vorhang, der den Zugang zum Hinterzimmer verdeckte. Sie musste sich vergewissern, dass das Zimmer vor neugierigen Blicken verborgen blieb. Gegenüber dem Vorhang lag der junge Mann auf dem Sofa. In der Mitte der Stube stand ein kleiner quadratischer Tisch auf einem großen runden Teppich. Um den Tisch herum waren vier Stühle angeordnet. Mit den Leuten, die Elisabeth um Hilfe aufsuchten, saß sie gewöhnlich dort. Ihr angestammter Platz befand sich vor dem Vorhang, sodass sie das Hinterzimmer stets in ihrem Rücken hatte. Der Besuch saß ihr meist gegenüber oder durfte sich sogar auf das bequem gepolsterte Sofa legen, damit Elisabeth sich die Person für die Behandlung genauer ansehen konnte.
Seit gestern Abend waren die dunkelgrünen Vorhänge zugezogen, sodass die Morgensonne nur gedämpft durch die Fenster schien. Eine Fliege kreiste im schwachen Tageslicht über dem Sofa umher, doch das surrende Geräusch ihrer Flügel schien den jungen Mann in seinem tiefen Schlaf nicht zu stören. Langsam trat Elisabeth an das Sofa heran und betrachtete ihren fremden Gast, dessen Namen sie nicht kannte. Er mochte etwa um die dreißig Jahre alt sein. Seine Kleidung war die eines Handwerksburschen. Er war von mittlerer Statur, der Länge nach passte er noch gut auf das Sofa. Für einen Burschen in seinem Alter war er zudem anständig genährt, aber nicht fett. Sein Gesicht war rundlich und auf dem Kopf trug er braune Locken, die vom Schweiß teilweise an seiner Stirn klebten. Elisabeth wusste nicht, woher er gekommen war, aber eines war sicher: Wäre er in seinem angeschlagenen Zustand noch einige Zeit im Wald umhergeirrt, dann hätte er bei Gott ein schnelles Ende gefunden. Am Kopf hatte er eine schwere Verletzung auf der rechten Schädelseite. Dazu kam jetzt das Fieber, das von der Wunde herrührte, die sich entzündet haben musste. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er atmete sehr kurz und stoßartig, während er schlief. Elisabeth wischte ihm mit einem Tuch vorsichtig über das Gesicht. Eine Weile betrachtete sie ihn und fragte sich, wer er wohl sein mochte. Was um alles in der Welt war dem armen Kerl passiert? In der Gewissheit, dass diese Fragen bald beantwortet würden, ging sie hinaus auf den Gang und schloss leise die Stubentür hinter sich.
An diesem Morgen wollte Elisabeth ihre Weintrauben ernten. Sie ging in die Küche am Ende des Hausgangs. Von einem der drei Stühle am Küchentisch nahm sie ihre Schürze und zog sie über ihre helle Bluse und das dunkelgrüne Trägerkleid. Darüber zog sie eine feine Strickjacke. Ihre langen schwarz-grauen Haare band sie wie immer zu einem Zopf, über den sie für die Arbeit ein Kopftuch knotete. Zwischen einem Wandregal, auf dem sie Geschirr und Krüge aufbewahrten, und der Hintertür zur Wiese, über die sich der junge Mann gestern gequält haben musste, führte eine weitere Tür über zwei Stufen in die Tenne hinunter. Fertig angekleidet nahm Elisabeth ein Messer aus der Tischschublade, holte einen Weidenkorb aus der Tenne und ging nach draußen. Die ganze Südwand des Hauses zum Waldweg hin und ein Teil der Westwand waren von oben bis unten mit Weinreben bewachsen. Zufrieden begutachtete Elisabeth die vollbehangenen Rebstöcke. Für die Weintrauben war die Hauswand ein idealer Platz, um den ganzen Tag das Sonnenlicht des Sommers einzufangen. Nun war es Ende September und die Trauben waren reif. Wie jedes Jahr verarbeitete Elisabeth einen Teil davon zu Wein, den sie für ihre Mixturen brauchte, während sie den Rest in der Vorratskammer an die Decke hängte. So gelagert, hielten die Trauben gut drei bis vier Wochen, auch wenn die Beeren mit der Zeit schrumpelig wurden. Ihre Süße verloren sie dabei nicht. Im Gegenteil – die Trauben schienen sogar noch ein bisschen süßer zu werden. Elisabeth und Adam hatten dadurch genügend Zeit, die Früchte ihrer Traubenernte zu genießen. Und wenn sie sich dann doch irgendwann davon satt gegessen hatten, trocknete Elisabeth den Rest zu Rosinen, die in einem ihrer Hefezopfbrote landeten. Dass die Weintrauben nun reif waren, hatte allerdings auch die Tierwelt auf dem Vrenenhof bemerkt. Schon frühmorgens hüpften Spatzen munter in den Reben an der Hauswand umher und pickten an den süßen Beeren. Ihnen folgten die Wespen und Hornissen, welche sich an den aufgepickten Stellen weiter zu schaffen machten. An diesem Morgen arbeitete Elisabeth sich an der Südwand von der Haustür langsam zur Westwand vor. Die Weinreben waren über die Jahre hinweg an der Wand emporgewachsen und hatten über dem Tennentor ihren Weg zur Abendsonne an der Westwand gefunden. Auf dieser Seite des Hauses war auch das Schweinegatter, wo tagsüber die beiden Schweine in ihren Erdmulden dösten. Das Gatter schloss einen Teil der Hauswand ein und von dort gelangten die Schweine über eine kleine Tür direkt in ihren Stall in der Tenne. Adam musste die trägen Schweine abends gar nicht erst eintreiben, es genügte, wenn er ihnen im Stall Rüben, Äpfel oder Essensreste in den Trog warf. Von diesem verheißungsvollen Geräusch angelockt, gingen die Schweine freiwillig hinein.
Als der erste Korb voll mit Trauben war, trug Elisabeth ihn durch das große Tor in die Tenne, wo sie ihn abstellte. Die angefressenen Traubenzweige warf sie den Schweinen und Hühnern in den Trog. Der Schweinestall war gleich hinter dem linken Torflügel. Weiter hinten in der Ecke gelangte sie über eine Holztreppe in den angebauten Hühnerstall. Im hinteren Teil des Hühnerstalls stand Pankraz in seiner Stallung, ein braunes Schwarzwälder Kaltblut. Der gutmütige Pankraz hatte am Hang direkt unterhalb des Hühnerstalls seinen eigenen eingezäunten Weidebereich. Die Hühner liefen auf dem Vrenenhof tagsüber frei umher und so kam es öfters vor, dass ein paar von ihnen dem großen Kaltblüter einen Besuch auf seiner Weide abstatteten. Seinem ruhigen Gemüt entsprechend, ließ sich der schon etwas ältere Pankraz von den scharrenden Hennen jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Elisabeth und Adam hatten manchmal sogar das Gefühl, dass er die Gesellschaft seiner gackernden Stallnachbarn genoss.
Elisabeth ging zur Rückwand der Tenne, wo jede Menge Arbeitsgeräte und der Einspänner für Pankraz standen. Hinten in der Ecke, wo die steinernen Stufen in die Küche hinaufführten, suchte sie vergeblich nach den Körben. Daneben war der Treppenabgang in den Keller, doch auch dort waren keine Körbe zu finden.
»Wo hat er sie bloß wieder versteckt«, murmelte Elisabeth vor sich hin und ging wieder hinaus. Draußen im Hof, umgeben von Wohnhaus und Speicher, lag zum Waldweg hin ihr großer Garten. Dort pflanzte sie nicht nur Gemüse, sondern auch alle möglichen Kräuter an. Der Garten war von einem Zaun mit dünnen angespitzten Holzpalisaden umgeben, damit keine wilden Tiere darin fressen oder im Boden umherwühlen konnten. Elisabeth lief am Garten vorbei und suchte im alten Speicher nach den Körben. Komplett aus Holz gebaut, war er zweistöckig angelegt. In seinem unteren Stock lagerten Sensen, Rechen und allerlei Gerätschaften für den Garten. In der Raummitte stand ein Hackstock, auf dem Adam gelegentlich das Holz spaltete, das er an der Wand nebenan aufstapelte. Der obere Stock des Speichers wurde fast nicht mehr genutzt. Hier hatte man früher das Getreide aufbewahrt. Links und rechts waren große kastenförmige Fächer, in denen das Korn einst gelagert worden war, denn hier oben war es vor Feuchtigkeit und Mäusen gut geschützt. Doch die Getreidekästen waren seit Jahrzehnten leer und dienten nur noch als Abstellraum für alte Krüge, Flaschen und anderes Gerümpel. Einen Teil der Kästen hatte Adam mit Brennholz gefüllt. Im Giebel über den Getreidekästen war früher der Speck zum Lagern aufgehängt worden. Jetzt hingen dort verschiedene Kräuterbüschel, die Elisabeth trocknete. Von ihrer Tante Ottilie hatte Elisabeth schon als Kind von der kleinen geheimen Kammer im Inneren des alten Speichers erfahren. Die Kammer verbarg sich in der doppelten Rückwand des Speichers im oberen Stock. Zwischen den beiden Wänden befand sich ein Hohlraum von etwa einem Meter Tiefe. Den Zugang zu diesem nicht sichtbaren Raum bildete ein kleines Türchen im hintersten Getreidekasten auf der linken Seite. Wenn der Kasten mit Getreide gefüllt war, konnte man das kleine Türchen nicht mehr erkennen. Derart gut verborgen, war der Geheimraum im Speicher früher ein ideales Versteck für die Barschaft und für wichtige Schriftstücke der Hofbesitzer gewesen. Ob die schwedischen Soldaten bei der Brandschatzung während des Dreißigjährigen Krieges den geheimen Raum entdeckt hatten, konnte Tante Ottilie aus den Erzählungen der Vorbesitzer nicht mehr sagen. Möglicherweise hatten die Schweden das Geheimfach entdeckt und alles darin Befindliche geraubt, andererseits war es genauso möglich, dass sie es in der Dunkelheit des Speichers übersehen hatten und die Verwalter der Ordensgemeinschaft nach der Ermordung des Pächters die Wertsachen an sich nahmen. Jedenfalls war der Geheimraum leer gewesen, als Ottilies Schwiegervater den Vrenenhof übernommen hatte. In den ersten Jahren, nachdem Elisabeth und Adam den Hof von Tante Ottilie weitergeführt hatten, war Elisabeth der Geheimraum wieder in Erinnerung gekommen. Sie hatte Adam davon erzählt und eine Zeit lang übte der geheime Raum eine Faszination auf sie beide aus. Sie überlegten ebenfalls, dort ihr wertvolles Hab und Gut zu verstecken. Doch aus Angst, der Speicher könnte eines Tages vom Blitz getroffen werden und in Flammen aufgehen, verwarfen sie den Gedanken. Das Haupthaus schien ihnen für ihre Wertsachen sicherer. In einem der Getreidekästen entdeckte Elisabeth schließlich die gesuchten Körbe.
»Natürlich im hintersten Eck. Dort, wo niemand sie sucht. Oh, du, mein Eselpeter!«, redete sie vor sich hin und schüttelte den Kopf.
Es waren bereits zwei Stunden vergangen, als Elisabeth drei Körbe mit Trauben gefüllt hatte. Ein Großteil der südlichen Hauswand war abgeerntet. Während sie die Holzleiter nach rechts rückte und wieder nach oben stieg, lief Adam unten auf den Hof. Er war am frühen Morgen in den Wald gegangen, um für sie eine Fledermaus zu fangen. Sofie Villinger aus dem Dorf war vor ein paar Tagen bei Elisabeth vorstellig geworden und hatte über starke Kopfschmerzen geklagt, die sie schon längere Zeit plagten, meistens gegen Abend. Elisabeth hatte der recht korpulenten Sofie gesagt, sie solle sich in der Stube auf das Sofa legen. Dann hatte sie ihre rechte Hand auf Sofies Kopf gelegt und die linke auf ihren Bauch. In dieser Haltung hielt Elisabeth inne und horchte durch das Auflegen in den Körper der Frau. Anschließend verschwand sie hinter dem Vorhang im Nebenzimmer. Nach kurzer Zeit kehrte sie wieder zurück und schickte Sofie Villinger nach Hause. Am späteren Abend desselben Tages hatte Elisabeth Adam erzählt, dass sie ein passendes Rezept für ein Mittel gegen die starken Kopfschmerzen gefunden hatte. Da Sofie im mittleren Lebensalter war und von gesunder Physis, hatte Elisabeth eine besonders starke Mixtur gewählt, welche die Bäuerin sicher vertragen würde. Sie hatte fast alle notwendigen Zutaten dafür beieinandergehabt, doch eine ganz spezielle Ingredienz hatte ihr noch gefehlt: die Asche einer Fledermaus, genauer gesagt die Asche eines Abendseglers. Da Elisabeth nicht wusste, wie sie eine Fledermaus hätte fangen sollen, musste Adam das für sie erledigen. Deshalb hatte er in den vergangenen Tagen kleine Holzkästen als Unterschlupf für die Fledermäuse in den Wäldern aufgehängt. Wenn ein paar Abendsegler tagsüber darin ruhten, konnte er ohne großen Aufwand eines der Tiere herausholen.
Oben auf der Leiter wandte sich Elisabeth zu Adam um. »Und? Waren welche im Kasten drin?«, fragte sie ihn erwartungsvoll.
»Eben nicht! Die Viecher wissen wohl, was ihnen blüht, wenn sie hineingehen«, antwortete Adam launisch.
Über seiner rechten Schulter trug er einen leeren Leinensack, in dem er seinen Fang nach Hause transportiert hätte, wenn er erfolgreich gewesen wäre.
Für sein Alter war Adam Krämer noch recht rüstig und von kräftiger Statur. Im vergangenen Jahr war er sechzig Jahre alt geworden. Seine Haare wurden in letzter Zeit immer grauer und die Länge seines Bartes nahm beträchtlich zu. Er trug meist seine alte Zimmermannsweste und darüber seine braune Waldjacke. Auf seine Mitmenschen wirkte er in seiner Art zurückgezogen und nicht besonders gesprächig. Die Dorfbewohner nannten ihn deshalb den »komischen Adam«, doch das störte ihn nicht weiter. Adam konnte stundenlang im Wald unterwegs sein. Er genoss die Ruhe in der Natur und fühlte sich in diesen Momenten dem Schöpfer besonders nahe, und Elisabeth war das gewohnt. Sie schätzte an ihm seine Ausgeglichenheit. Adam war in Ostrach als Sohn eines Zimmermanns geboren worden. Nach der Lehrzeit bei seinem Vater war er jahrelang auf der Walz gewesen. Als junger Zimmermann hatte er die Freiheit genossen und dort gelebt, wohin die Arbeit ihn geführt hatte. An Orten, an denen es ihm besonders gefiel, blieb er länger. In den über zehn Jahren auf der Walz lernte er Orte wie Ulm, Regensburg, Eisenach und sogar Weimar kennen. Nach den Jahren der Ungebundenheit zog es Adam wieder in seine alte Heimat um Ostrach zurück. Als er auf dem großen Wangenhof in der Nähe von Pfullendorf beim Bau der neuen Scheune tätig war, lernte er Elisabeth kennen. Sie lebte damals auf dem Hof ihrer jüngeren Schwester bei Otterswang und kam auf den Wangenhof, um der Bäuerin zu helfen, die sich seit längerer Zeit mit einer schweren Hautkrankheit herumplagte. Elisabeth war damals bei den Leuten bekannt für ihr Wissen in der Kräuterheilkunde. Adam hatte sich während der Walz nicht viel aus Frauen gemacht und oft nur flüchtige Liebschaften geführt. Doch Elisabeth mit ihrer ruhigen und liebevollen Art hatte ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen. Etwa zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen war Elisabeths Tante Ottilie verstorben. Die kinderlose Witwe hatte ihrer Nichte den Vrenenhof vererbt und so kam es, dass Elisabeth und Adam zusammen dort hinzogen. Geheiratet hatten sie einander nicht, denn der kirchliche Segen war den beiden für ihr Zusammenleben nicht wichtig. Bei den Dorfbewohnern war diese Tatsache allerdings immer wieder ein Stein des Anstoßes. Doch Elisabeth und Adam kümmerten sich nicht weiter um das Geschwätz der Leute. Sie lebten zufrieden und abgeschieden auf ihrem Vrenenhof und das war ihnen am wichtigsten.
»Wie geht es ihm?«, fragte Adam und deutete mit dem Kopf Richtung Stubenfenster.
»Er schläft immer noch«, antwortete sie. »Meine Kräutermischung hat ihm wohl gutgetan.«
Adam nickte zufrieden und griff in den gefüllten Korb vor seinen Füßen. Er nahm sich ein Büschel der geernteten Traubenzweige heraus und aß genüsslich von den Beeren.
Elisabeth stieg währenddessen von der Leiter herab und steckte das Messer in die Tasche ihrer Schürze.
»Aber mittlerweile hat er sehr hohes Fieber. Wenn es in den nächsten Stunden nicht runtergeht, werde ich ihm wohl kalte Wadenwickel machen müssen.«
»Hat er irgendetwas gesagt?«
»Nein. Wenn, dann murmelt er nur vor sich hin. Kein Wunder, bei seinem Zustand. Die Wunde an seinem Kopf ist groß. Ich frage mich, was er gemacht hat.«
»Vielleicht ist er unterwegs gestürzt?«, mutmaßte Adam.
»Glaube ich nicht. Jemand muss ihn mit etwas Hartem geschlagen haben, so wie er aussieht.«
Adam hatte die letzte Beere von seinem Traubenzweig abgezupft. »Aber warum kommt er dann zu uns? Warum läuft er mit dieser Verletzung so weit durch den Wald und nicht ins Dorf?«
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht hat er jemanden gesucht? Oder er hat sich verlaufen? Was denkst du, wo er herkommt?«
»Na ja, es muss auf jeden Fall ein Fremder sein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Vielleicht ein Handwerksbursche, so wie er angezogen ist?«
»Aber er hat ja gar keine Sachen bei sich. Kein Bündel, nichts«, überlegte Elisabeth laut.
»Vielleicht hat er irgendwo im Wald sein Lager aufgeschlagen und die Sachen liegen immer noch dort?«
»Oder man hat ihn vertrieben?«, meinte sie. »Es ist jedenfalls sehr seltsam, findest du nicht?« Sie blickte ihm fragend in die Augen. In die Augen, in die sie sich vor Jahrzehnten so schnell verliebt hatte. Adams Gesicht war mittlerweile um Jahre gealtert, dennoch liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag. Bei seinem Anblick durchfuhr ein warmes Gefühl ihren Bauch. Zufrieden lächelte sie ihn an, obwohl das Gesprächsthema keinen Anlass dazu gab.
»Ja, seltsam ist es auf jeden Fall«, antwortete er. »Aber unser Gast wird uns sicherlich erzählen, wem er die Verletzung zu verdanken hat. Darauf bin ich jetzt schon gespannt, das kannst du mir glauben!«
»Der alte Hund, der elende! Vorgestern hat er mir zugesagt und jetzt kommt er einfach nicht!« Es war Andreas Biehle, der auf dem Haldenhof wutentbrannt schimpfte. Seine Stimme entsprach seinem kräftigen Bau und seine Flüche ließen seinen feinen Oberlippenbart, dunkelblond wie seine Haare, erzittern. Neben ihm spannte der alte Knecht Vinzenz in aller Ruhe die Pferde vor den großen Heuwagen und ließ sich von seinem Fluchen nicht beirren. Die Miene unter dem abgetragenen Filzhut des Knechts blieb teilnahmslos. Sein Schweigen machte Andreas noch wütender, denn er brauchte jetzt jemanden, um seinen Ärger auszulassen, zumindest mit Worten. Der Bauer ging mit energischen Schritten ins Haus zu seiner Frau, um dort ausgiebig weiterzufluchen, seine Lederstiefel knirschten auf dem trockenen Boden des Hofs.
»Heilandsakrament noch mal!«, wütete er in der Küche. »Jetzt kann ich den Ernst schon wieder anbetteln, wenn der überhaupt Zeit hat!«
Johanna saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln. Ihre weiße Bluse und ihr langer blauer Trägerrock spannten unter dem Bauch, der sich wegen der Schwangerschaft nach außen wölbte. Erschrocken schaute sie von der Arbeit auf und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Andreas, bitte hör auf zu fluchen.«
»Ja, ist doch wahr!«, entgegnete er. »Auf den kann man sich einfach nie verlassen!«
»Wen meinst du denn?«
»Wen schon?!«, schnaubte er. »Den dürren Georg! Ich frag mich nur, wie mein Vater es mit ihm ausgehalten hat!«
»Nun ja, du weißt ja nicht, warum der Georg keine Zeit hat. Vielleicht muss er eine dringende Arbeit erledigen.«
Andreas wollte sich immer noch nicht recht beruhigen. »Aber er hat es mir versprochen! Soll er doch wenigstens vorbeikommen und sagen, dass er keine Zeit hat, dann kann ich jemanden anderen suchen!«
Wieder versuchte Johanna, ihn zu besänftigen. »Womöglich hatte der Georg keine Zeit, dir abzusagen. Bestimmt ist ihm etwas dazwischengekommen.«
Johannas Stimme wirkte tatsächlich beruhigend auf ihn. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und redete in normalem Tonfall weiter. »Irgendwas wird es sein«, grummelte er. »Am besten ist es wahrscheinlich, wenn wir den Grund gar nicht kennen. Die Leute erzählen am Stammtisch genug komische Geschichten über ihn, das willst du gar nicht wissen. Es würde mich ja nicht wundern, wenn der einen auf dem Gewissen hat.«
»Andreas!«, fuhr Johanna ihn vorwurfsvoll an. »Hör bitte sofort damit auf! Ich habe schon genug Angst um die Mädchen, wenn er bei uns auf dem Hof ist!«
»Da musst du dir keine Sorgen machen«, erwiderte er. »Manche haben erzählt, dass er ab und zu Fremde auf seinem Schäferwagen mitgenommen hat. Scheinbar hat man die nie wieder gesehen, aber Kinder waren keine dabei.«
»Trotzdem will ich es nicht hören«, sagte Johanna. »Warum arbeitet er überhaupt bei uns auf dem Hof, wenn die Leute solche Schauergeschichten über ihn erzählen?«
»Weil er ein guter Arbeiter ist«, antwortete Andreas. »Und von uns hat er noch nie jemandem etwas zuleide getan.«
»Bei so einem unheimlichen Menschen kann man sich ja nie sicher sein«, hielt Johanna anklagend dagegen.
»Der wird uns nichts tun«, tat Andreas selbstsicher ab. »Dafür werde ich sorgen.« Er stand auf und begann erneut zu schimpfen. »Aber die nächste Zeit braucht der sich auf meinem Hof jedenfalls nicht blicken zu lassen! Und zum Vesper braucht er grad auch nicht mehr kommen! Der kriegt kein einziges Stückle Speck von mir, der elende Hund!«
Johanna sah ihn fragend an. »Und wer hilft euch jetzt auf dem Feld?«
Andreas schenkte sich aus dem steinernen Krug ein Glas Most ein. »In dem Fall bleibt wohl doch niemand anderes übrig als dein Bruder«, sagte er resigniert. »Aber der wird heut und morgen sowieso keine Zeit haben.«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Fragen kannst du ihn ja«, meinte sie und schälte weiter Kartoffeln.
Andreas trank das Glas aus, zog sein blaues Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. »Tja, wenn ich endlich einen Bub hätte! Dann könnte der mir jetzt wenigstens ein bisschen helfen.«
An Johannas traurigem Blick konnte Andreas erkennen, dass sie seine Bemerkung als Vorwurf auffasste. Sie schluckte und grübelte nach einer Lösung. »Ludovica kann doch ins Dorf fahren und den alten Stumpfer fragen?«, schlug sie vor. »Der hilft auch auf den anderen Höfen.«
Abgeneigt verzog Andreas das Gesicht. »Der Stumpfer?! Der ist ja noch viel älter als unser Vinzenz!«
»Ja, aber ihr braucht doch jemanden, der euch zweien hilft.«
Andreas schwieg für einen Moment. Es kostete ihn jedes Mal Überwindung, Johannas Bruder Ernst zu fragen, weil dieser immer alles besser wusste. Da wäre es wohl das kleinere Übel, den alten Stumpfer zu fragen, dachte er sich. Als er nach einer Weile immer noch nicht antwortete, schaute Johanna von ihren Händen auf und blickte ihn mit ihrem gutmütigen Lächeln an. Ihre feinen Züge waren so sanft und unter dem dunkelblauen Kopftuch spitzelte ihr braunes Haar hervor. Bei diesem Anblick konnte er nicht anders und stimmte ihrem Vorschlag zu. »Von mir aus. Aber dann soll Mutter den alten Stumpfer am besten gleich holen!« Mit diesen Worten ging er hinaus, zog die Küchentür hinter sich zu und rief draußen nach Ludovica. Eine Stunde später kehrte diese mit dem Fuhrwerk auf den Haldenhof zurück, auf der Sitzbank neben ihr saß Gottfried Stumpfer.