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Das wirst du bereuen E-Book

Amanda Maciel

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Beschreibung

Emma ist tot, und alle sind überzeugt, dass Sara schuld daran ist. Zusammen mit ihrer besten Freundin Brielle wird sie angeklagt, ihre Mitschülerin Emma gemobbt und in den Tod getrieben zu haben. Dabei war es doch Emma, die sich an Saras Freund Dylan rangemacht hat, kaum dass sie neu in der Klasse war! Sara und Brielle finden: Emma ist selber schuld, dass daraufhin auf Facebook fiese Gerüchte über sie verbreitet wurden. Und es ist nicht ihr Problem, dass sich die Dinge dann irgendwie verselbstständigt haben. Doch nach Emmas Tod ändert sich alles: Nun ist es Sara, die von allen Seiten angegriffen wird... Ein provozierender und unvergesslicher Roman über Opfer und Täter - und darüber, dass die Wahrheit oft viel komplizierter ist, als man auf den ersten Blick denkt.

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Seitenzahl: 445

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INHALT

CoverTitelImpressumWidmungJULIJANUARJULIJANUARAUGUSTFEBRUARAUGUSTFEBRUARSEPTEMBERFEBRUARSEPTEMBERFEBRUARSEPTEMBERMÄRZSEPTEMBERMÄRZSEPTEMBERMÄRZOKTOBERMÄRZOKTOBERMÄRZOKTOBERNOVEMBERDANKSAGUNGEN

AMANDA MACIEL

Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Prummer-Lehmair und Katharina Förs

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischsprachigen Originalausgabe: »Tease«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2014 by Amanda Maciel

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Boje-Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Katharina Jacobi, Leipzig Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München Umschlagmotiv: © Nenov Brothers Images/shutterstock E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-5987-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Becky, in Liebe

JULI

»Hatten Sie je eine körperliche Konfrontation mit Miss Putnam?«

»Ob ich was hatte?«

»Hatten Sie je eine …«

»Oh. Ja. Ähm, ja, ich glaube, da war dieses eine Mal im Umkleideraum.«

Die Anwältin schreibt es auf, obwohl die ganze Zeit das Aufnahmegerät mitläuft. Und obwohl sie meine Antwort bereits kennt. Auch der Praktikant macht sich Notizen. Er ist echt süß. Darauf sollte ich jetzt eigentlich nicht achten, nur ist er der einzige erfreuliche Anblick in diesem Raum. Außerdem ist er als Einziger ungefähr in meinem Alter – die Anwälte dürften um die vierzig sein und die Stenografin mindestens hundertfünf –, und er ist neu hier. Wahrscheinlich hat er gerade Semesterferien oder so. Muss das schön sein. Wegen dieser … Sache habe ich in der Schule eine Menge verpasst, deswegen gehe ich jetzt in die Sommerschule.

Und komme hierher.

»Das war der Vorfall vom dreiundzwanzigsten Januar?«

Diese Anwältin ist vollkommen kühl und sachlich und stiehlt allen die Zeit. Sie ist wohl die Chefin der Kanzlei, ich weiß es nicht genau. Normalerweise treffe ich mich nur mit Natalie. Die ist zwar nicht viel besser, aber sie sieht mich wenigstens an, wenn sie mit mir spricht. Nur heute macht sie sich ebenfalls Notizen, und trotzdem wirkt sie irgendwie unaufmerksam. Vielleicht schreiben auch alle nur ihre Einkaufslisten.

Plötzlich hebt Natalie den Kopf und sieht mich an, als wollte sie sagen: Antworten Sie auf die Frage.

»Ja, ich denke schon. War das ein Dienstag? Wir haben nämlich dienstags und donnerstags Sport, deshalb war es wohl ein Dienstag.«

Die Blickkontakt vermeidende Anwältin notiert das natürlich. Oder vielleicht notiert sie auch Rucola, Klopapier, Orangensaft. Ich weiß es nicht. Mann, ist das öde.

Der ganze Ablauf ist überhaupt nicht so wie im Fernsehen. Immerhin sitze ich hier in Jeans-Shorts. Es gibt keine dramatische Szene vor Gericht, so à la Im sanften Licht der Nachmittagssonne, die durch das riesige Fenster hereinfällt, lege ich im Zeugenstand unter Tränen ein Geständnis ab. Offenbar geht es darum, einen Prozess nach Möglichkeit zu vermeiden, obwohl das bestimmt allemal besser wäre als das hier. Auch wenn es keinen schönen, kinoartigen Gerichtssaal gäbe. Hier jedenfalls sitzen wir in einem fensterlosen Raum mit einem abgeschabten Tisch aus Holzimitat (das ist wahrscheinlich total unwichtig, nur starre ich schon seit drei Stunden drauf), und das Licht ist zu grell und die Klimaanlage so kalt eingestellt, dass ich nicht einmal mehr friere, sondern mich richtig taub fühle.

Ich glaube, ich fühle mich schon seit einer ganzen Weile richtig taub.

Aber ich habe niemanden umgebracht.

Ich werfe noch einen verstohlenen Blick auf den Praktikanten. Er ist schwarz, hat kurze Haare und eine wahnsinnig glatte Haut, die wirklich sehr dunkel ist – was zusammen mit seinem leuchtend lila Hemd echt gut aussieht. Dieses Lila erinnert mich an den Nagellack, den ich mir immer für meine Zehennägel ausgesucht habe, früher, als es noch kein Problem war, ins Nagelstudio zu gehen. Bevor ständig irgendwas über uns in der Zeitung stand und die Leute im Supermarkt angefangen haben, mir Schimpfnamen hinterherzurufen. Was jetzt andauernd geschieht, auch wenn ich nur durch die Gänge laufe und blöde Chips und Salsa für meine kleinen Brüder kaufe. Dann schreien die mich an und werfen mir die schlimmsten Sachen an den Kopf.

Als Mrs Thale uns damals im Englischunterricht beibringen wollte, was Ironie ist, hatte ich es nicht so richtig kapiert. Aber jetzt schon. Jetzt, wo ich gemobbt werde, weil ich eine Mobberin bin. Ich habe allerdings gar nicht erst versucht, es den Leuten im Supermarkt zu erklären. Mom sagt, das sind Vollidioten, und ich soll nicht auf sie achten, und ausnahmsweise einmal bin ich ihrer Meinung.

»Erzählen Sie uns, was an dem Tag passiert ist.«

Na super. Den ganzen Sommer hindurch musste ich mit Natalie alles haarklein durchkauen, aber das macht es nicht angenehmer. Der süße Praktikant sieht mich an, ganz professionell und mit steinerner Miene, trotzdem gehe ich jede Wette ein, dass er mich im Supermarkt auch beschimpfen würde.

Du wertloses Stück Müll. Es hätte dich und deine Freundinnen treffen sollen.

»Ähm, okay.«

Alle legen einen Augenblick ihre Stifte weg, und mein Mund wird ganz trocken. Ich blicke auf meine Füße in meinen roten Lieblingsflipflops und mit dem doofen silbernen Nagellack auf den Zehennägeln und denke daran, wie alles angefangen hat, damals in der Mittelstufe. In der achten Klasse, als Brielle Greggs und ich Freundinnen wurden, war ich ein hoffnungsloser Fall. Wir mussten im Rhetorikunterricht ein Paar bilden, und ich war mir sicher, sie würde mich hassen, wenn sie sah, wie nervös ich bei Präsentationen war. Ich stehe nicht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Brielle hingegen war – ist es immer noch – vollkommen angstfrei. Sie stellte sich grinsend vor die Klasse hin und fing an, über die Todesstrafe oder die Anleinpflicht für Hunde oder irgendein anderes Thema, das uns aufgegeben wurde, zu plappern, während ich stumm danebenstand. Mr Needy (so hieß der wirklich) sagte dann so was wie: »Und, Sara, was meinst du dazu?« Ich öffnete meinen ausgedörrten Mund, aber es kam nichts heraus, und Brielle flötete: »Sie pflichtet mir natürlich bei. Sie hat die ganze Recherche erledigt.« Und dann bekamen wir eine Eins.

Jedenfalls herrscht jetzt wieder Trockener-Mund-Alarm bei mir. Und Brielle ist nicht da. Ich nehme an, sie wird irgendwo anders ebenfalls befragt. Von ihren eigenen Anwälten. Wir sollen nicht miteinander reden. Und das haben wir auch seit über zwei Monaten nicht mehr getan.

Ich bin also hier, um den Anwälten noch mehr schlechte Sachen über Brielle zu erzählen, denn um nichts anderes geht es. Dieser blöde Vorfall im Umkleideraum, das war eben typisch Brielle. Nichts von dem, was mit Emma passiert ist, geschah wegen mir. Ich meine, niemand von uns hatte was damit zu tun. Das war Emma selbst. Niemand hat das Seil für sie aufgehängt. Und es ist ja nicht so, dass Emma ein Unschuldslämmchen gewesen wäre. Ganz und gar nicht. Sie war doch diejenige, die …

»Miss Wharton?«

Ich bin wohl nicht ganz bei der Sache. Die Klimaanlage sollte uns eigentlich wach halten, aber ich habe meine Diätcola von Dr Pepper schon vor einer Stunde ausgetrunken und bin einfach total platt. Ich spiele mit der leeren Flasche, das Etikett ist schon ganz lose, und ich fange an, es abzuziehen, als würde ich die Flasche schälen oder so. Ich möchte mich zusammenrollen und eine Million Jahre lang schlafen. Im Augenblick schlafe ich ziemlich viel. Es ist die einfachste Art, mir meine Mom vom Leib zu halten, und wenn ich schlafe, muss ich das alles auch nicht meinen Brüdern erklären. Als könnte man es überhaupt jemandem erklären.

Ich hole tief Luft. »Okay. Ja, es war also ein Donnerstag. Emma zog sich gerade um. Ich meine, wir haben uns alle umgezogen. Wir waren in der Umkleide und mussten uns für den Sportunterricht fertig machen.«

Alle haben wieder zu kritzeln angefangen. Es juckt mich überall, als wäre mir meine Haut zu eng geworden. Ich hocke schon seit einer Ewigkeit auf diesem billigen Bürostuhl und versuche es mir ein bisschen bequemer zu machen, indem ich mein Gewicht auf eine Seite verlagere. Keine Chance. Ich frage mich, ob der Praktikant mich hübsch findet, aber dann denke ich daran, dass mich niemand mehr hübsch findet, jetzt nicht mehr. Er hält mich für ein Monster, genauso wie alle anderen. Außerdem bin ich bestimmt nicht gerade ein bezaubernder Anblick in meinen bescheuerten abgeschnittenen Jeans, mit den unordentlich zurückgebundenen Haaren und dem bisschen Mascara. Ich habe in letzter Zeit nicht viel hinuntergebracht, deshalb fühle ich mich dünn, aber auf eine ungute Art.

Nach einem kurzen Blick auf Natalie fahre ich fort. »Brielle hat Emma gefragt, warum sie … na ja, warum sie sich so oft mit Dylan unterhält.«

»Mr Howe?«

Ich verdrehe bewusst nicht die Augen. »Ja. Dylan Howe. Mein damaliger Freund.«

Und jetzt mein Exfreund. Mehr oder weniger. Oder etwas in der Art.

»Und was hat Miss Putnam darauf gesagt?«

Ich verlagere mein Gewicht auf die andere Seite. »Sie hat nichts gesagt. Sie wusste ja inzwischen, dass Brielle stinksauer auf sie war.«

»Und was bringt Sie zu dieser Annahme?« Diese Anwältin, die ich kaum kenne, blickt nicht einmal auf, als sie mich das fragt. Ich beäuge ihre Haare; sie haben dieses gewisse Blond, das ältere Frauen für jugendlich halten, mit dem sie dann aber noch altbackener wirken als mit grauen Haaren.

»Jeder war stinksauer auf sie. Jeder wusste, dass sie den ganzen Jungs ständig SMS schickte und dass sie total versessen auf Dylan war. Brielle hielt sie für gaga, und alle anderen auch.«

Meine Stimme wird piepsig, und der süße Praktikant sieht mich streng an. Ich habe es schon lange niemand Neuem mehr erzählt und ganz vergessen, dass mich dann alle immer total hassen. Sogar Natalie entfährt ein kleiner Seufzer, als könnte sie meinen Mist nicht mehr hören.

Es ist aber kein Mist. Alle hielten Emma Putnam für eine Nervensäge. Wir haben sie zwar nicht umgebracht, trotzdem heißt das noch lange nicht, dass wir sie gemocht haben. Und jetzt, wo alle denken, dass wir sie umgebracht haben oder wenigstens irgendwie dafür verantwortlich sind, kann ich sie noch weniger leiden.

»Und was haben Sie und Miss Greggs dann gemacht?«

Obwohl ich mir mit der Antwort ein bisschen Zeit lasse, sieht sie mich nicht an. »Brielle hat sie Miststück genannt«, sage ich. »Und ich glaube, ich habe sie geschubst. Ein bisschen.«

»Sie haben sie gegen die Spinde geschubst, ist das richtig?«

»Ich glaube schon.«

»Und was hat Miss Putnam dann gemacht?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Ich glaube, sie hat geweint.« Sie hat ständig geweint, würde ich am liebsten hinzufügen, aber Natalie hat mir eingeschärft, nichts auszuschmücken, sondern die Antworten so einfach wie möglich zu halten.

»Sie glauben es?«

»Sie hat geweint, okay?«

»Und was haben Sie dann zu ihr gesagt?«

Ich seufze. »Ich habe ihr gesagt, sie soll meinen Freund in Ruhe lassen.«

»Haben Sie sonst noch etwas gesagt?«

»Wie bitte?«

»Wir haben eine Zeugenaussage, dass Sie …« Der kackblonde Haarschopf der Anwältin dreht sich zu dem süßen Praktikanten, und er reicht ihr ein dicht beschriebenes Blatt Papier. »Ja, hier ist es. Dass Sie sie Schlampe genannt haben.«

»Ach so.«

»Haben Sie Miss Putnam Schlampe genannt?«

»Ähm, ich denke schon.«

»Erinnern Sie sich nicht daran?«

»Ich erinnere mich nicht daran, dass ich sie an diesem Tag Schlampe genannt habe.« Ich weiß allerdings noch, dass ich Emma gegen die Spinde geschubst habe. Sie hatte sich ihr tiefrotes Haar noch nicht zusammengebunden, und es fiel ihr so verdammt hübsch und lockig auf die Schultern, als sie zusammenzuckte, sich schützend zusammenkrümmte und zu weinen anfing wie ein hilfloses kleines Mädchen – was mich nur noch wütender machte. Ich weiß noch, dass sie ein bisschen wimmerte. Sie hob leicht die Hände, als würde sie sich entweder ergeben oder endlich anfangen, sich zu wehren. Keine Ahnung, was es war. Oder vielleicht doch. Ich glaube, sie ergab sich.

Aber das alles sage ich nicht. Ich soll ja nichts ausschmücken.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie Miss Putnam bei einer anderen Gelegenheit Schlampe genannt haben?«

»Ich will damit sagen, dass sie für mich eine Schlampe war. Ich habe sie bestimmt auch so genannt. Ob ich sie am dreiundzwanzigsten Januar Schlampe genannt habe, weiß ich allerdings nicht.«

Alle hören auf zu schreiben und sehen mich bestürzt und schweigend an. Ich habe Herzklopfen und kann keinem in die Augen schauen. Ich starre nur auf die Tischplatte und wünschte, ich könnte mich in Luft auflösen.

»Wir brauchen eine Pause«, befindet Natalie. Der erste hilfreiche Satz, den sie den ganzen Vormittag von sich gegeben hat. »Sagen wir zehn Minuten.«

Die blonde Anwältin nickt und wirkt dabei, als wäre sie überall lieber als mit mir zusammen in einem scheußlichen Besprechungszimmer. Vielleicht kommt sie ja nicht aus der Pause zurück, und ich kann nach Hause fahren.

Jetzt stakse ich erst einmal mit steifen Beinen in den nicht ganz so kalten Flur und warte darauf, meine Zehen wieder zu spüren. Im Flur gibt es einen Wartebereich mit Stühlen, aber es wartet niemand auf mich. Ich bin mit meinem eigenen Auto hierhergekommen.

»Sara«, zischt mir Natalie zu. »Reißen Sie sich zusammen. Es sind nur noch ein paar Fragen, und es ist wichtig.«

Ich nicke automatisch und gehe hinüber zum Fenster, das zum Parkplatz des Büroparks zeigt. Die Sonne scheint grell auf die Windschutzscheiben der unzähligen Reihen nichtssagender Viertürer. Man kann förmlich sehen, wie heiß es draußen ist, aber ich habe Gänsehaut an den Armen.

Stumm zähle ich die weißen Autos, während meine Anwältin auf mich einredet. Es gibt Unmengen davon, darunter auch mein eigenes. Ich kann es von hier aus bloß nicht sehen, weil es auf der anderen Seite geparkt ist. Mein Blick fällt auf einen silberfarbenen Mercedes wie den von Brielle und ich denke daran, dass man ihr die Reifen aufgeschlitzt hat. Damals, als wir die erste Meldung in den Nachrichten waren. Vielleicht hat sie inzwischen ein neues Auto. Ich vergrabe die Hände in den Taschen meiner Shorts. In der rechten steckt ein Kaugummipapier, das ich zu einer kleinen Kugel zusammenknete.

Als Natalie kurz die Klappe hält, bin ich gerade bei Nummer sechzehn angelangt. Dann redet sie weiter, und ich höre sie. Ich meine, sie dringt zu mir durch, weil ich vergesse, ihre Stimme auszublenden.

»Wir versuchen Sie da rauszuboxen. Ein Mädchen ist tot, und alle wollen Sie und Ihre Freundin dafür verantwortlich machen.«

»Aber das sind wir nicht«, platze ich heraus. »Wir haben nichts getan.«

»So einfach ist es nicht.«

»Das sollte es aber.«

Natalie stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß, aber so ist es nicht. Die Menschen sind traurig und wütend und wollen einfach sehen, wie leid es Ihnen tut.«

Aber das ist es ja gerade.

Es tut mir nicht leid.

Emma war bis zu dem Tag im März, an dem sie sich umgebracht hat, ein Miststück, das anderen den Freund ausgespannt hat.

Ich habe nichts Schlimmes getan, aber sie hat mein ganzes Leben zerstört.

***

Als ich wieder vor meinem alten Honda Accord stehe, herrscht im Innern eine Gluthitze. Das dunkle Sitzpolster hat die Sonne absorbiert, deshalb kann ich nicht gleich losfahren, obwohl ich endlich diesem verdammten Besprechungszimmer entkommen bin. Ich muss die Türen aufreißen und das Gebläse voll aufdrehen, bis die Sitze so weit abgekühlt sind, dass man sich darauf niederlassen kann. Vorsichtig und ohne meine Haut mit dem Metall in Berührung zu bringen, lehne ich mich an die Hecktür und checke mein Handy. Nichts … nur eine SMS von meiner Mom, dass ich Milch mitbringen soll, und ein angefangenes Freecell-Spiel.

Gleich muss ich zu einem Termin bei meiner Therapeutin und anschließend nach Hause, Hausaufgaben machen. Ein superlustiger Sommer, echt. Und da wundern sich die Leute, warum ich mir wegen Emma nicht ununterbrochen die Augen ausheule.

Ich frage mich, wie Brielle ihren Anwälten diese Sache im Umkleideraum geschildert hat. Inzwischen kursieren alle möglichen Versionen von allem Möglichen, und so ziemlich die ganze Schule ist von irgendjemandem befragt worden. Es waren viele Leute in diesem Umkleideraum und mit uns im Unterricht und an den anderen Schulen, auf denen Emma gewesen ist. Na ja, im Umkleideraum waren es nicht wirklich viele. Keine Lehrerin jedenfalls. Und auch nicht Megan Corley, das einzige Mädchen, mit dem Emma ein bisschen befreundet war. Megan ist auch so eine kleine Schlampe, und sie kamen nicht immer miteinander aus. Seit März ist Megan überall gewesen, sogar in New York, um mit ihrer Mom in der Today Show aufzutreten. Wahrscheinlich haben Brielle und ich auch Megan nicht besonders nett behandelt, sonst hätte sie uns nicht im landesweiten Fernsehen quasi des Mordes bezichtigt.

Und jetzt denkt alle Welt, dass Emma Putnam sich umgebracht hat, weil wir sie Schlampe genannt haben – und nicht weil sie eine Schlampe war. Echt klasse.

Ich wedle mit der Hand im Auto herum und entscheide, dass ich mich zumindest auf die Kante des Fahrersitzes setzen kann. Das verschwitzte T-Shirt klebt mir am Rücken, und ich richte eine der Lüftungsdüsen darauf, was jedoch nicht viel bringt.

Laut Natalie ist mein größter Fehler, dass ich keine Reue darüber zeige, Emma so mies behandelt zu haben. Egal, wie oft ich ihr erkläre, dass Emma auch ihren Teil beigetragen hat und es keine große Verschwörung gegen sie gab, wie die Zeitungen ständig behaupten, es nützt nichts. Und so habe ich jetzt einen Anwalt, und Brielle hat einen Anwalt, und die Jungs haben ihre Anwälte. Wir schieben uns gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Niemand macht Emma für irgendwas verantwortlich.

Meine Chancen, planmäßig meinen Abschluss zu machen, stehen schlecht bis gleich null. Vielleicht schaffe ich es nie aufs College. Aber wenn ich mich von nun an zusammenreiße, hart arbeite, Natalies Rat befolge und zerknirscht tue, wird vielleicht alles wieder gut, selbst wenn es zum Prozess kommt.

Das behaupten zumindest alle. Ich war sowieso nie eine Kandidatin für Harvard. Auch vor dieser Sache war ich keine besonders tolle Schülerin. Und ich sage auch gar nicht, dass ich ein toller Mensch bin. Es ist nur so – wie schon Brielle bemerkt hat, nachdem es passiert ist: Emma ist einfach so davongekommen. Ständig heißt es, sie ist ja nicht mehr da, um sich selbst zu verteidigen, aber ich bin da, und das ist wirklich zum Kotzen. Es ist, als wären, wenn jemand stirbt, alle, die noch leben, automatisch schuld daran.

Bloß dass in unserem Fall nur wir fünf schuld sind. Und bei all den vielen Anwälten und Anklagen kann ich nur hoffen, dass ich zum Schluss nicht ganz allein den Kopf hinhalten muss.

Nach einer weiteren Minute, in der es im Auto kein bisschen kühler geworden ist, ziehe ich seufzend meine Füße mit den roten Flipflops herein, schließe mit einem Ruck die Tür und versuche, nur mit den Fingerspitzen am Lenkrad aus der Parklücke zurückzusetzen. Während ich eine ganze Litanei Schimpfwörter vor mich hin murmle, bemerke ich die Person, die sich von der Seite her nähert, erst, als sie ans Beifahrerfenster klopft.

»Woa!«, schreie ich, trete auf die Bremse und fasse aus Versehen das Lenkrad an. Sofort verbrenne ich mir die Finger und stoße erneut einen Fluch aus.

»Hey, du Schnalle«, höre ich draußen jemanden sagen, »du hättest mich fast umgefahren!«

Brielle.

Ich bleibe einfach stehen, wo ich gerade bin – immer noch halb in der Parklücke –, schalte die Automatik auf Parken und springe aus dem Wagen. Der Schweiß läuft mir jetzt den Hals und den Rücken hinunter, Brielle hingegen wirkt taufrisch. Sie trägt ein loses Top mit aufgenähten Gänseblümchen am Saum.

»Hey«, sagt sie leichthin, dabei haben wir geschlagene zehn Wochen kein Wort miteinander gewechselt. Ich konnte ihr nicht einmal auf Facebook folgen – Natalie hat meine Mom dazu gebracht, meinen Account zu löschen. Das war auch ganz gut so: Ich fand ja die Leute im Supermarkt schon ziemlich gemein, aber was mich dann im Internet erwartete, hat mich echt eiskalt erwischt. Wahrscheinlich hätte ich meinen Account selbst löschen sollen, anstatt mir jeden Tag bis zwei Uhr morgens all die unglaublich boshaften Kommentare unter den mit meinem Namen markierten Fotos anzuschauen. Hunderte miese Kommentare, Millionen davon. Eine Menge Hass da draußen.

»Hi«, sage ich lahm. Ich muss wie eine Spinnerin wirken. Erst überfahre ich sie fast, und dann springe ich aus dem Auto, als würde es brennen. Ich zupfe an meinem T-Shirt, um Luft an meinen Rücken zu lassen, und versuche meine (ehemals?) allerbeste Freundin anzulächeln und etwas Normales zu ihr zu sagen. »Hat dein ähm … Anwalt auch hier sein Büro?« Es war wohl tatsächlich ihr SUV, den ich zuvor gesehen habe.

»Ach so, das. Ja klar«, antwortet sie. Sie neigt den Kopf zur Seite und zuckt mit den Achseln, sodass ihr zu Beach Waves gestyltes Haar mit den perfekten Strähnchen in leicht zerzausten Wellen auf ihre Schultern fällt. Ich widerstehe dem Drang, an meinen ungewollt schlampigen Pferdeschwanz zu fassen.

Allerdings hat sie wohl ein bisschen zugenommen, und sie ist nicht so braun, wie ich es um diese Zeit des Sommers bei ihr erwartet hätte. Die Greggs’ haben in ihrem Garten einen riesigen Pool, und bisher waren Brielle und ich immer tiefbraun, wenn im Herbst die Schule wieder anfing. Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die ständig im Haus herumhängt und fernsieht oder schläft.

»Das alles ist so ein verdammter Mist.« Sie klingt nicht richtig besorgt, nur müde. Oder ist sie vielleicht … bekifft? Ich will sie schon danach fragen, überlege es mir jedoch anders. »Oh.« Sie wedelt geziert mit der Hand, wie um eine Fliege zu verscheuchen. »Wir sollen ja nicht miteinander reden.«

In ihrer Stimme liegt eine gewisse Schärfe. Als wäre es meine Idee gewesen, dass wir nicht miteinander reden sollen, und als wäre sie sauer auf mich. »Ich … ich«, fange ich an, dann verstumme ich. Auf einmal vermisse ich meine beste Freundin so sehr, dass es fast körperlich wehtut – wie das Brennen in meinen Händen, weil ich das glühend heiße Lenkrad angefasst habe. »Wie geht es dir?«, bringe ich schließlich heraus.

»Tja, ich bin fett geworden«, sagt sie mit einem trockenen Lachen. Natürlich ist sie nicht fett. Als ich den Kopf schüttle, fügt sie hinzu: »Doch, total. Ich kann ja nicht mehr zum Fitness gehen, und meine Eltern sind voll die Nazis. Meine Güte, Emma hat es wirklich ganz schön verkackt, oder?«

Sie verdreht auf ihre typisch dramatische Art die Augen, und ich nicke, weil ich völlig ihrer Meinung bin. Mein Gott, was für eine Erleichterung, nach all der Zeit zu wissen, dass sie immer noch da ist, dass sie immer noch mitempfinden kann, wie schwer das alles ist, dass sie mich nicht hasst …

Mir ist danach, ums Auto herumzugehen und sie einfach zu umarmen, obwohl wir das sonst nicht tun, doch bevor ich mich in Bewegung setzen kann, verändert sich ihre Miene vollkommen. Auf einmal wirkt sie wieder so sorglos und locker wie eh und je.

»Bla, bla, bla«, sagt sie und schüttelt sich die Hände aus, wie um alles abzuschütteln. Sie ist definitiv bekifft. »Aber du bist ja dürr, du Hure.«

Ich senke den Blick und bemühe mich, nicht zu lächeln oder allzu geschmeichelt zu wirken. »Danke«, entgegne ich ganz leise. Ein bisschen lauter füge ich noch hinzu: »Du siehst toll aus, wirklich. Freut mich echt, dich mal wiederzusehen.«

»Ja, klar – so sehr, dass du mich fast überfahren hättest!«, meint sie lachend. Wieder liegt diese Schärfe in ihrer Stimme, und ich weiß nicht, was ich Falsches gesagt habe. »Aber du bist gerade auf dem Sprung. Ich wollte nur kurz Hallo sagen. Also, hallo. Und tschüss! Ha!«

Und bevor ich ihren Gruß auch nur erwidern kann, ist Brielle schon wieder zwischen den Autoreihen verschwunden.

Als ich wieder im Wagen sitze, schalte ich die Klimaanlage aus. Es ist mir angenehmer zu schwitzen. Ich habe sowieso das Gefühl zu ersticken, was macht es da für einen Unterschied, dass ich vor Hitze kaum noch Luft bekomme? Das Atmen fällt mir jetzt die ganze Zeit schwer. Ich habe seit Monaten nicht mehr richtig durchatmen können.

JANUAR

»Ich sage dir doch, sie muss die Nummer von einem anderen Handy haben. Von Tyler oder was weiß ich.«

»Quatsch. Meine Güte, Sara, du bist aber auch so was von naiv.«

Schützend ziehe ich mein Chemiebuch vor die Brust, als wären Brielles Worte weniger wahr, wenn ich meine Möpse bedecke. Als könnte ich mich einfach einigeln. So tun, als bekäme mein Freund Dylan – der das Beste ist, was mir je passiert ist – keine SMS von einer anderen. Als hätte ich keine SMS auf seinem Handy gefunden und wüsste deswegen auch von nichts.

»Mann, Brielle, wird das hier ein Vokabeltest? Quetsch mich doch nicht so aus!«, beschwere ich mich bei meiner angeblich besten Freundin, aber sie verdreht nur die Augen.

»Okay, na schön, du bist ne blöde Bitch – ist das besser?« Sie stiefelt zum Chemielabor, und ich zuckle hinter ihr her. Als sie an einer Gruppe älterer Jungs vorbeikommt, grüßen sie alle mit einem Nicken und sehen ihr noch hinterher, nachdem sie längst zurückgenickt hat. »Du weißt doch, dass sie zusammen in Sprach- und Literaturkunde sind«, erklärt sie mir, »und du weißt, dass sie mit Jacob und Tyler rummacht, und du weißt, dass sie eine dreckige Schnalle ist. Da ist es wohl nicht ganz abwegig, dass sie sich auch an deinen Typen ranmacht.«

»Er kennt sie doch überhaupt nicht!« Schrecklich, wie piepsig meine Stimme ist. Schrecklich, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Ich habe mir schon die ganze Nacht die Augen ausgeheult, und ich kann echt darauf verzichten, jetzt vor Brielle und allen anderen, mitten auf dem Schulflur, die Fassung zu verlieren.

Dann dreht Brielle sich plötzlich zu mir um und sieht mich so mitleidig an, dass ich fast doch wieder weinen muss.

»Ach, Süße«, sagt sie liebevoll. »Es ist bestimmt nicht Dylans Schuld! Er ist nur ein dummer Junge. Natürlich liebt er dich. Aber Jungs können mit Schlampen wie Emma Putnam nicht umgehen. Er ist an nette Mädchen wie dich gewöhnt!«

Sie umarmt mich ganz kurz, wobei sie mir das Chemiebuch gegen die Brust presst, dann hält sie mich einen Augenblick an den Schultern und lässt mich los. Ich lächle ihr zaghaft zu, wie um ihr zu zeigen, dass mich die Sache nicht umhaut.

»Emma ist schuld«, fährt sie fort und geht voran in den Chemiesaal. »Müll muss entsorgt werden, ernsthaft. Wer hätte gedacht, dass mir eine Zehntklässlerin dermaßen auf den Zeiger gehen könnte?«

Ich knurre zustimmend, als wir uns an unseren Tisch setzen. Unsere Laborpartner Jeff Marsh und Seamus O’Leary (Brielle nennt ihn immer Irish O’Irish) sitzen bereits gegenüber von uns auf ihren Hockern, und wir grinsen sie an. Sie sind zwar nicht gerade die coolsten Typen der Schule, dafür erledigen sie in diesem Kurs fast immer die ganze Arbeit und lassen uns dann abschreiben. Ich bin eigentlich besser in Chemie als die beiden oder war es zumindest am Anfang des Jahres noch. Bloß, in diesem Halbjahr habe ich nur zwei gemeinsame Kurse mit Brielle, also sind wir quasi gezwungen, die ganze Zeit zu quatschen. Meine Noten in Chemie und Sport werden nicht gerade berauschend sein, aber wenigstens in Chemie falle ich dank Jeff und Seamus bestimmt nicht durch.

Auch mit Emma habe ich zwei gemeinsame Kurse – amerikanische Geschichte und Sport –, obwohl sie ein Jahr jünger ist als ich. Aus irgendeinem Grund gab es an der Schule, von der sie im Oktober hierhergewechselt ist, amerikanische Geschichte schon in der zehnten. Deshalb hat man in der Elmwood High entschieden, dass sie es weiterhin belegen soll, aber es überschneidet sich mit ihrem Sportunterricht, bla, bla, bla. Sie ist bereits mit einigen Elftklässlern ausgegangen und versucht ständig, sich bei den Mädchen aus unserem Jahrgang einzuschleimen. Alle wissen, dass sie nicht ganz dicht ist, weil sie immer aus allem ein sinnloses Drama macht. Brielle konnte sie von Anfang an nicht ausstehen.    

»Also, Irish«, sagt Brielle und deutet mit einem Messbecher auf Seamus. »Besorgt uns dein Bruder nun dieses Wochenende das Bierfass?«

Ich höre zum ersten Mal, dass Seamus Beziehungen hat, und sehe ihn hoffnungsvoll an. Die Party steigt im Haus von Brielles Eltern, die sich gerade auf einer Bermuda-Kreuzfahrt befinden. Ich dachte eigentlich, wir würden nur ihre Schnapsbar plündern und vielleicht ein paar Bier aus dem Kühlschrank im Keller von Alisons Dad mopsen. Dass Seamus und Jeff überhaupt eingeladen sind, hätte ich jetzt nicht erwartet.

»Aye, aye, meine Hübsche«, antwortet Seamus mit extrabreitem Akzent. Er findet es super, dass Brielle ihm einen Spitznamen gegeben hat, und spielt immer mit. Jungs mögen Brielle ganz allgemein – mit ihren superlangen Haaren und den Klamotten von Abercrombie & Fitch verströmt sie den Glanz eines reichen Mädchens, ist aber gleichzeitig so unerschrocken und bestimmend, dass sie sich nie mit ihr langweilen. Sie lacht über ihre Witze, bevor die Jungs überhaupt merken, dass sie einen gemacht haben. Weil sie nämlich erst einen Witz daraus macht.

Es ist toll, das zu beobachten, aber praktisch unnachahmbar. Ich hab’s versucht.

»Cool«, sagt sie und schenkt ihm ein Lächeln, das jeder für echt halten würde. Dann schwingt sie ihre Haare zurück und schließt Seamus wieder aus.

Sie sieht mir in die Augen. »Wir müssen noch einmal das mit der Party diskutieren.«

Ach, ja. Die Diskussion. Oder eher die Debatte, ob ich auf der Party – beziehungsweise nach der Party, eventuell in Brielles Gästezimmer – mit Dylan meine Jungfräulichkeit verlieren soll oder nicht.

Ich tendiere eher zu Nein, nur will Brielle, seit sie selbst letzten Sommer im Schwimmcamp mit einem College-Studenten ihre Unschuld verloren hat, ständig mit mir über mein Sexleben reden. Oder über mein nicht vorhandenes Sexleben. Ich kenne den Typen nicht, mit dem sie es getan hat. Aber ich habe Fotos von ihm gesehen, und seitdem verstehe ich total, warum sie sich immer darüber beschwert, wie lahm die Highschool-Jungs sind.

Trotzdem, sie hat leicht reden, sie ist ja die Verwegene. Und sie war schon mit mehreren Jungs zusammen, auch wenn die eher von der lahmen Highschool-Sorte waren. Dylan ist quasi mein erster richtiger Freund, und ich habe das Gefühl, dass ich gerade mal die Sache mit dem Herumknutschen einigermaßen beherrsche. Er ist älter als ich und weiß, was er tut. Und er wird merken, dass ich null Ahnung habe. Klar, es klingt nach einer guten Idee, und schließlich machen es alle, aber in Dylans Gegenwart bekomme ich dann doch immer Zweifel. Es macht mir ganz schön Angst.

Brielle hat, wie gesagt, nie Angst, und selbst wenn, könnte ich ihr meine Gründe trotzdem nicht begreiflich machen. Und außerdem hat Brielle wie damals in der achten Klasse ein Totschlagargument parat:

»Er wird aufhören, der Emma-Schlampe zu simsen, wenn er von dir was Besseres bekommt«, flüstert sie verschwörerisch.

Ich habe keine Gelegenheit mehr zu kontern, weil Ms Enman hereinkommt und wir ein paar Minuten lang so tun müssen, als würden wir aufpassen.

Sobald sich Ms Enman jedoch zum Whiteboard dreht, höre ich Brielles tiefen Singsang: »Du willst es doch auch!«

***

Meine Mom arbeitet bei einer großen Versicherung und ist nicht zu Hause, wenn ich aus der Schule komme, deshalb muss ich dafür sorgen, dass meine kleinen Brüder, die gar nicht mehr so klein sind, etwas essen und wenigstens so viel Hausaufgaben machen, dass sie nicht durch die fünfte beziehungweise sechste Klasse fallen. Den großen Altersunterschied zwischen ihnen und mir finde ich gut – so konnte ich eine Weile das Einzelkinddasein genießen, und damals hassten sich meine Eltern noch nicht. Tommy (der Tom genannt werden will) und Alex (der wie Alex Rodríguez, der Baseballspieler, A-Rod genannt werden will) haben sie, glaube ich, nur bekommen, um ihre Beziehung zu kitten. Es hat allerdings nicht funktioniert. Ungefähr fünf Sekunden nach Alex’ Geburt ist Dad ausgezogen, und ich wurde zur Vollzeitbabysitterin-Schrägstrich-Miterziehungsberechtigten befördert.

Aber die Jungs sind super. Sie lieben es, wenn ich sie von ihren Nachmittagskursen abhole – manchmal vom Sport oder, wie heute, von einer zusätzlichen Übungsstunde. Studenten von der Uni bieten dort kostenlose Hausaufgabenhilfe an, und so ist mein Job schon halb erledigt, als ich in den Kreisverkehr vor der Pleasant Hill Elementary einbiege.

Der Sechstklässler Tommy lässt sich auf den Rücksitz fallen, nachdem er die Rangelei mit dem Fünftklässler Alex verloren hat, der in den letzten Monaten ganz schön stämmig geworden ist. Daran bin ich vielleicht nicht ganz unschuldig. Heute zum Beispiel verkünde ich, kaum, dass sie eingestiegen sind: »Wer hier im Auto irgendwo Kleingeld findet, darf entscheiden, ob wir ins Taco Bell oder zu McDonald’s gehen!« Unmittelbar darauf knalle ich fast gegen das Lenkrad, als Tommy auf den Boden hechtet und dabei seinen Kopf in die Rückenlehne meines Sitzes bohrt.

Alex öffnet das Handschuhfach und fängt an, Zettel und allen möglichen Kram herauszuziehen, von dem ich nicht mal wusste, dass er drin war. »Ja!«, brüllt er. »Ein Dollarschein!«

»Meine Fresse, Alex«, sage ich schmunzelnd.

»Meine Fresse, Taco Bell! Meine Fresse, Taco Bell!«, singt er triumphierend.

»Keine Kraftausdrücke, Kleiner«, sage ich, aber inzwischen lachen wir beide. Und ein Blick in den Rückspiegel zeigt mir, dass sogar Tommys Gesicht zu einem einzigen breiten Grinsen verzogen ist.

Unser Geld reicht nur für einen Taco pro Person, was auch Alex’ Figur guttut. Es ist also nicht gerade ein Gelage. Außerdem lasse ich sie zu Fuß ins Lokal laufen, so bekommen die beiden ein bisschen Bewegung. Also, wenn man den Weg quer über den Parkplatz als Bewegung wertet.

Wir genehmigen uns unsere Tacos in einer Sitzecke am Fenster, obwohl die Wintersonne schon fast untergegangen ist und es hier drüben kühl ist. Alex und ich nehmen milde Sauce zu unserem Taco, Tommy hingegen reißt ungefähr zehn Päckchen der schärfsten Sorte auf und versucht dann, etwas davon über Alex’ Taco zu kippen.

»Hör auf!«, schreit Alex und schubst Tommy weg.

»Feigling«, brüllt Tommy und schubst ihn zurück.

»Kommt schon, Jungs«, sage ich und lecke mir ein Stückchen Salat vom Finger. »Könnt ihr das jetzt …« Ich beende den Satz nicht, weil sie mich ignorieren, deshalb stehe ich kurzerhand auf, packe Tommy am Arm und zerre ihn aus seiner Seite der Nische um den Tisch herum zu meinem Platz. Dann setze ich mich neben Alex und ziehe meinen Taco heran. »Okay?«, frage ich ein wenig außer Atem. »Können wir jetzt essen?«

Alex grinst Tommy an, doch weil sein Taco jetzt außer Reichweite ist, grinst Tommy nur zurück.

»Wie steht’s um Dylans Fastball?«, fragt mich Alex.

Ich lächle. Alex ist vernarrt in meinen Freund Dylan, und das kann ich verstehen.

Dylan war schon immer in allen möglichen Auswahlmannschaften, aber jetzt in der zwölften setzt er alles daran, richtig, richtig gut zu werden, um ein Stipendium fürs College zu bekommen. Zur Zeit trainiert er praktisch nur noch für die Baseball-Ausscheidungsspiele. Er will dieses Jahr unbedingt Starting Pitcher werden. Oder Closing Pitcher? Ich habe wohl nur halb zugehört – wenn wir allein sind, reden wir nicht so viel miteinander.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag war Dylan bei uns zu Besuch, und weil es draußen so irre warm war, hat er im Garten mit Alex trainiert. Deshalb will mein zehnjähriger Bruder jetzt die ganze Zeit über Dylans Würfe reden. Tommy, der im April zwölf wird, tut normalerweise so, als wäre er zu cool, um sich durch den Freund seiner Schwester beeindrucken zu lassen. Aber auch er ist ziemlich begeistert.

»Ich glaube, es läuft ganz gut, Kumpel«, sage ich zu Alex. »Bald fängt die neue Saison an, dann kannst du mich zu einem Spiel begleiten und dich selbst davon überzeugen.«

Alex hopst auf seinem Platz, während Tommy fragt: »Ich auch, oder?«

»Natürlich«, antworte ich. Ich hoffe, Dylan hat nichts gegen einen Teenie-Fanclub einzuwenden.

Warum Dylan Howe eigentlich mit mir zusammen ist, weiß ich immer noch nicht. Wir sind uns letzten Herbst öfter mal über den Weg gelaufen, weil Brielle mit einem anderen Typen aus der Baseballmannschaft zusammen war: mit Rob. Ich hatte Dylan schon immer toll gefunden – er ist einfach toll, das ist nicht bloß meine Meinung, sondern eine Tatsache –, deshalb musste ich mich am Anfang zusammenreißen, um mich in seiner Gegenwart nicht wie eine Vollidiotin zu benehmen. Wenn ich mich mit Jungs in meinem Alter ebenso mühelos unterhalten könnte wie mit meinen Brüdern, wäre alles viel einfacher. Na ja, vielleicht doch nicht. Alex und Tommy reden eine ganze Menge übers Furzen. Ich habe auf Partys und so mit Typen rumgemacht, es ist allerdings nie was Richtiges draus geworden, nichts Offizielles. In der Zehnten habe ich mir fast das ganze Schuljahr hindurch eingebildet, in Parker Anderson verliebt zu sein, und wir hatten eine SMS-Affäre. Aber das waren nur SMS. In der Schule hat Parker mich total ignoriert, und schließlich hat Brielle mich davon überzeugt, ihn ebenfalls zu ignorieren.

Jedenfalls, wenn Brielle nicht mit Rob zusammen gewesen wäre, wäre ich nicht mal in den Dunstkreis von Dylan Howe gekommen.

Irgendwann haben sich ein paar von uns in den Thanksgiving-Ferien nachts auf den Spielplatz der Grundschule geschlichen. Brielle und Alison haben Pfirsichlikör getrunken und verrückte Sachen gemacht, sind von der Rutsche gesprungen und so. Ich hatte die Schaukel in Beschlag genommen, die mochte ich schon immer am liebsten. Auf einmal saß Dylan auf der Schaukel neben mir. Er hatte ein paar Bier intus und roch nach Hopfen und Schweiß und einfach nach Junge, vermischt mit dem Herbstgeruch von totem Laub in der kühlen Luft. Irgendwie habe ich dann angefangen, mit ihm zu reden wie ein halbwegs normaler Mensch. Und dann hat er urplötzlich meine Schaukel an der Kette zu sich gezogen und mich geküsst.

Es war das Aufregendste, das ich je erlebt hatte.

Dylan hat so kräftige Hände, richtige Männerhände, und mit einer hat er die Schaukel gehalten, während er mit der anderen meine Taille umfasste … Noch jetzt beginnt mein Herz schneller zu schlagen, und mir rauscht das Blut in den Ohren, wenn ich daran denke. In jener Nacht habe ich mich sogar getraut, eine Hand seitlich an sein Gesicht zu legen. Wie bei einem Filmkuss oder so. Ich war einfach vollkommen überwältigt und dachte: Jetzt oder nie, und auf einmal fühlte ich mich so verwegen und selbstbewusst und – Gott, ich weiß nicht, vielleicht auch sexy? Sein Gesicht war sehr weich, nur auf den Kinnbacken ein bisschen stoppelig. Meine Fingerspitzen strichen an seinem Haaransatz entlang, unter seinem Ohr.

Ich hätte ewig so weitermachen können. Aber nach ein paar Minuten rief ihm Rob von der anderen Seite des Spielplatzes etwas zu, und Dylan löste sich von mir. »Bis später«, sagte er und ging. Er ging einfach weg und ließ mich schwindlig auf der Schaukel zurück, die mit quietschenden Ketten hin und her schwang, während ich gegen eine Ohnmacht ankämpfte.

Wer weiß, wie es danach überhaupt weitergegangen wäre, wenn Brielle sich nicht eingemischt und mit Rob gesprochen hätte. Der hat Dylan in Brielles Auftrag gesagt, dass er mir eine SMS schicken soll – was Dylan dann auch getan hat. Danach habe ich bei jedem Baseballspiel mit Brielle direkt hinter der Mannschaft gesessen. Und ich habe noch ganz oft mit ihm herumgeknutscht, meistens nach den Spielen in seinem SUV, wenn seine Haare noch nass vom Duschen waren.

Um Weihnachten herum hat Dylan dann angefangen, beim Knutschen an meiner Hose herumzufummeln. Manchmal führt er auch meine Hände an seinen Gürtel, aber wenn er das tut, löst sich mein Selbstvertrauen, das ich beim Küssen vielleicht noch aufbringe, jedes Mal in Luft auf. Normalerweise küsse ich ihn dann einfach fester, und gleichzeitig sind meine Hände wie gelähmt. Er ist rücksichtsvoll, er hat mich nie gedrängt. Trotzdem ist ziemlich klar, was er als Nächstes erwartet.

Brielle hat mit Rob Schluss gemacht, als sie ihn auf dem Schulball in den Ferien beim Flirten mit Emma Putnam erwischt hat. Emma war ohne Begleitung da und trug dieses irre tief ausgeschnittene rote Kleid, deshalb stand sie sowieso schon total im Mittelpunkt. Ich meine, jeder weiß, dass der Schulball nichts Formelles ist. Und sie kam herausgeputzt wie zur Oscar-Verleihung, das war irgendwie ein trauriger Anblick.

Ich glaube, Brielle fand es gar nicht so furchtbar schlimm, dass Rob ein bisschen zu lange mit der aufgedonnerten Emma an der Softdrink-Ausgabe stand. So hatte sie einen Grund, Rob mit einer Cola zu begießen und Emma Hure zu nennen – so richtig laut. Bei solchen Szenen ist Brielle voll in ihrem Element.

»Können wir noch einen Taco kriegen?«, quengelt Alex. Erst da fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit aus dem Fenster gestarrt und zugesehen habe, wie es draußen dunkel wird – meine Brüder habe ich vollkommen vergessen.

»Tut mir leid, Kleiner«, sage ich, stehe auf und schnappe mir meine Jacke. »Das Geld ist alle. Aber heute Abend gibt es Hühnchen in Pilz-Sahne-Soße!«, sage ich so begeistert wie möglich, woraufhin die Jungs jedoch nur grummelnd ihre Jacken anziehen.

Draußen ist es schon ganz dunkel, und es pfeift ein eisiger Wind. Kurz vergesse ich vor lauter Frieren meine Probleme, bis ich zwei Autos weiter vorne etwas Rotes aufblitzen sehe. Emma Putnam steigt vom Beifahrersitz eines dunklen SUV. Den Fahrer kann ich nicht erkennen, Emmas Haare fallen mir jedoch sofort auf, sie leuchten feuerrot im Licht der Straßenlaterne.

Plötzlich dreht Emma sich um und sieht zu mir herüber. Erst denke ich, sie will winken, was absurd wäre. Sie weiß doch, dass ich Brielles beste Freundin bin. Und, ähm, Dylans Freundin. Aber sie winkt auch gar nicht. Sie wirkt einen Augenblick lang verwirrt.

Und ich zeige ihr aus einem mir völlig unerklärlichen Grund meinen Mittelfinger. Das habe ich noch nie getan, weder im Ernst noch im Spaß, und es fühlt sich echt seltsam an. Und irgendwie billig. Gleichzeitig gibt es mir ein Gefühl der Macht.

Also lasse ich den Finger so lange oben, bis sie ihn auch wirklich sieht, und vor Überraschung klappt ihr der Unterkiefer herunter.

Dann steige ich ins Auto und fahre meine Brüder nach Hause.

Und kann nicht aufhören zu grinsen.

***

»Also, was stand nun in dieser SMS?«

»Mmmmmpf.«

»Ich würde nur gern« – keuch – »es ist nicht so, dass« – uff – »ich meine, ich vertraue dir total.«

»Moment mal, wie bitte? Was willst du eigentlich?«

Dylan hört auf, meinen Hals zu küssen, und sieht mich an, als hätte ich drei Köpfe. Seine Lippen sind rot und ein bisschen geschwollen, und seine Augen sind so schwer, als wäre er gerade aufgewacht – oder als hätte er auf der Rückbank seines SUV zwanzig Minuten lang mit mir gerangelt, was er auch getan hat. Er hat mir das T-Shirt ausgezogen und den Knopf meiner Jeans geöffnet, und ich fühle mich lächerlich, wie ich so im BH dasitze. Aber wenigstens legen wir mal kurz eine Verschnaufpause ein.

»Wovon redest du?«, fragt er. Nicht böse. Nur verdattert. Und das ist ja auch verständlich, ich meine, wovon rede ich? Warum muss ich mir ausgerechnet jetzt meine Unsicherheit anmerken lassen und die Sache mit Emma zur Sprache bringen?

»Tut mir leid« sage ich, streichle auf eine süße, sexy Art, wie ich hoffe, seine Unterarme und lächle. »Ich … ich wusste nur nicht, dass du und Emma … dass ihr Freunde seid.«

»Sind wir nicht«, antwortet er schlicht. Mehr hat er dazu wohl nicht zu sagen, denn er stürzt sich wieder auf mich und drückt mich auf den Sitz. Einen Augenblick fühle ich mich warm und flatterig, aber dann fängt er wieder an, an meiner Hose zu ziehen, und ich erstarre und werde gleichzeitig ganz schlaff.

Plötzlich lösen sich seine Lippen von meinen, er sieht nach unten und versucht zu ergründen, warum meine knallpinke Lieblingsjeans, die an diesem bedeckten Winternachmittag richtig leuchtet, nicht dort ist, wo er sie gerne hätte. Das gibt mir Gelegenheit, noch einmal tief einzuatmen und zu bemerken: »Mein Gott, sie ist einfach dermaßen schlimm. Es tut mir so leid, dass sie dich belästigt.«

Das war doch richtig so, oder? Ein erbärmliches Mädchen, das wegen jeder Kleinigkeit unsicher wird und seinen Freund nervt, würde so was nie sagen, oder? Ich bin nicht von der eifersüchtigen Sorte. Wirklich nicht. Aber Emma Putnam ist … einfach umwerfend. So, jetzt habe ich es gesagt, na wenn schon. Dieses Luder ist der Hammer. Sie hat diese langen roten Haare, lockig, aber nicht zu sehr; sie läuft nie knallrot an, sondern bekommt nur leicht rosa Wangen, wenn jemand nett zu ihr ist (und das ist immer ein Junge, nie ein Mädchen); ihre Möpse sind groß, aber nicht zu groß. Ständig lacht oder lächelt sie oder flirtet mit jemandem. Es ist wirklich keine Überraschung, dass ich ununterbrochen an diese verdammte SMS auf Dylans Handy denke. Selbst wenn sie nicht eine solche Schnalle wäre, würde ich mir Sorgen machen.

Er hatte mir letzten Freitag im Auto sein Handy gegeben – ich sollte seinem Freund Kyle simsen, wir seien unterwegs. Dylan simst nie, wenn er am Steuer sitzt, zum einen weil er weiß, dass es gefährlich ist, zum anderen aber auch (das ist wahrscheinlich der Hauptgrund), weil man aus dem Sportunterricht ausgeschlossen wird, wenn man dabei erwischt wird. Und man muss gar nicht von der Polizei angehalten werden, es genügt, wenn ein Trainer oder sonst wer es mitbekommt.

Jedenfalls habe ich das Handy eingeschaltet und die letzte SMS gesehen, und ohne nachzudenken platzte ich auch schon heraus: »Du hast eine SMS von Emma bekommen? Von Emma Putnam?«

»Glaub schon«, sagte er, und dann gleich: »Jetzt schick ihm endlich die SMS. Oder besser noch, ruf ihn an und schalt auf Lautsprecher, ich muss ihn auch noch wegen des Trainings was fragen.« Und so haben wir nie richtig darüber gesprochen.

Als Absender stand da nur EMMA. Die Nachricht lautete LOL!, mit einem dieser doofen lachenden Emoticons.

Das bedeutete, dass es schon eine frühere SMS gab. Aber ich hatte keine Zeit, sie zu lesen, ich konnte ja schlecht hier im Auto in Dylans Handy herumspionieren, um mir den Rest des SMS-Austauschs anzusehen.

Und jetzt musste ich meine dumme Klappe aufreißen und davon anfangen. Zweimal.

Er hört einen Augenblick auf, meinen Hosenbund anzustarren, und lächelt mich an. »Oooooh«, spöttelt er. »Da ist wohl jemand eifersüchtig!«

»Nein, bin ich nicht«, piepse ich.

»Ist doch süß«, sagt er, und dann sind wir wieder beim Küssen.

Er findet mich süß! Jetzt brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen. Außerdem ist mein Problem Emma, nicht Dylan – wie Brielle gestern gesagt hat. Nicht mein Freund ist schuld, sondern Emma, weil sie eben eine Schlampe ist.

Aber trotzdem, danach versucht Dylan nicht mehr, mir die Jeans ausziehen, und das beunruhigt mich ein bisschen. Vielleicht hat Brielle auch wegen der Party recht … Vielleicht muss ich dafür sorgen, dass Dylan nur noch an mich denkt.

***

»Emma Putnam hat dich verklemmte Zicke genannt.«

»Waas?«

Durch die Leitung klingt sie fast triumphierend, als hätte sie gerade einen Preis gewonnen. Ich wünschte, sie hätte mir das einfach gesimst wie jeder normale Mensch. Dann hätte ich ganz für mich allein hyperventilieren können.

»Jacob hat es mir erzählt. Anscheinend hat sie schon wieder mit ihm geflirtet, ist das nicht jämmerlich?« Brielle schnaubt verächtlich. »Er hat sich darüber kaputtgelacht.«

»Und?«, dränge ich.

»Oh. Also, ja, Jacob hat sie nach der SMS an Dylan gefragt, weil ich ihn darum gebeten hatte …«

»Du hast was?«

»Ja, das wusstest du doch! Egal, wir sitzen in Español ja nebeneinander, und es ist muy langweilig. Jedenfalls hat er anscheinend so was gesagt wie: ›Ich habe gehört, du bist scharf auf Dylan Howe‹, und sie kichert und antwortet: ›Er hat doch eine Freundin‹, und Jacob darauf: ›Ja, vielleicht solltest du die Finger von ihm lassen‹, und Emma – kein Witz: ›Vielleicht sollte er mit einer ausgehen, die nicht so eine verklemmte Zicke ist.‹«

Ich sitze ungefähr eine Stunde lang nur mit offenem Mund da.

Jacob hatte auch eine Freundin, bevor Emma aufgetaucht ist. Er ist natürlich ein schrecklicher Aufreißer, was es für Noelle Reese jedoch nicht weniger schlimm machte, als er sie betrog und ihr dann den Laufpass gab. Er ist dann nicht mal richtig mit Emma gegangen; sie haben bloß eine oder zwei Wochen miteinander rumgemacht. Und dann hat es höchstens noch eine Woche gedauert. Komisch, das ist eben typisch Emma – die Jungs wollen sie aufreißen, aber keiner will offiziell mit so einer Schlampe zusammen sein.

Ich kann nicht fassen, dass sie überhaupt über mich redet. Mann, bin ich wütend – ich habe das Gefühl, mein Kopf steht in Flammen.    

»Ich bringe sie um.« Meine Stimme ist ganz leise. Sogar für mich selbst klingt es unheimlich.

»Alter, da helfe ich dir.«

Wir bleiben noch eine Stunde am Telefon und gleichzeitig auf Facebook. Brielle erstellt ein Profil für »Fetteschlaaaampe« und klaut dafür eines von Emmas Fotos. Sie gibt mir das Passwort, damit wir uns beide auf Emmas Profil einloggen und alle Fotos von ihr mit dem falschen Namen markieren können. Dann verschicke ich an alle, mit denen wir abhängen, Freundschaftsanfragen. Brielle und ich lachen uns kaputt bei der Vorstellung, wie Jacob, Tyler und Kyle Emmas Foto mit ihrem neuen Namen bekommen.

»Schick auch eine an Dylan!«, schreit Brielle. »Nein, warte, ich hab’s schon …«

»Nicht«, brülle ich, doch sie hört mich nicht, weil sie immer noch am Wiehern ist. »Brie, nicht!«

»Warum? Er wird es witzig finden. O mein Gott, warum sind wir nicht schon früher darauf gekommen?«

Aber auf einmal finde ich es nicht mehr so lustig. Dylan ist auf Facebook mit der ganzen Schule befreundet, ich habe allerdings noch nie nachgesehen, ob Emma auch dazugehört. Bis vor ein paar Tagen wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, das zu prüfen. Und jetzt … widerstrebt es mir sogar, wenn er mit der falschen Emma befreundet ist. Ich möchte nicht, dass er überhaupt an sie denkt.

»Wir werden Ärger kriegen«, sage ich leise. Plötzlich habe ich einen Kloß im Magen.

»Gott, nein, werden wir nicht«, meint Brielle. »Vielleicht schließt der Administrator die Seite, aber niemand wird wissen, dass wir dahinterstecken – und wen interessiert es schon? Selbst wenn, sagen wir einfach, es war ein dummer Scherz. Außerdem hat sie angefangen.«

Genau. Das hat sie. Ich denke an vorhin, als ich mit Dylan in seinem SUV rumgemacht habe. Bin ich eine verklemmte Zicke? Ist das noch schlimmer, als eine Schlampe zu sein? Findet Dylan es schlimmer?

»Sie hat es total verdient«, fährt Brielle fort, »und ehrlich, es wundert mich, dass noch niemand so was gemacht hat. Oder was Ähnliches, weißt du. Sie muss endlich ihre dreckigen Finger von den Freunden anderer lassen.«

»Ja«, sage ich, schiebe mich von meinem Computer weg und werfe mich aufs Bett. Rache ist anstrengend.

»Hm, ich frage mich, ob wir nicht auch noch eine Fanpage erstellen sollen, etwas wie ›Boykottiert Emma Putnam‹ oder so …« Brielle scheint ein Selbstgespräch zu führen, deshalb knurre ich nur etwas Unverbindliches. So eine Facebook-Seite hört sich nicht besonders lustig an – nicht dass mir das hier wahnsinnigen Spaß gemacht hätte. Vor einer Minute war ich total Feuer und Flamme, aber inzwischen ist mir nur noch schlecht.

»Also, jetzt mal ehrlich«, sagt Brielle, »wie läuft’s zwischen dir und D-Bag?«

»Nenn ihn nicht so!«, kreische ich, was wie immer vollkommen nutzlos ist – Brielle findet ihren Spitznamen für Dylan – D-Bag wie die kultige Handtasche von Tod’s – superwitzig. Sie lacht sich gerade kaputt darüber.

Schließlich kriegt sie sich wieder ein und sagt: »Okay, okay, Dyyylllan. Wirst du nun morgen seine Welt auf den Kopf stellen?«

Ich habe ihr nicht von dem Nachmittag auf dem Rücksitz von Dylans Auto erzählt, aber jetzt muss ich daran denken, was für ein Gefühl ich dabei hatte. Das Gefühl, dass die Zeit reif ist; dass ich ihn mir nicht mehr lange vom Leib halten kann. Und vielleicht bin ich ja auch so weit – ich meine, auf wen warte ich eigentlich, wenn nicht auf Dylan? Er macht bald seinen Abschluss und besucht dann das eine Stunde entfernte College, und dort wird er College-Mädchen kennenlernen und dann werde ich … ich weiß nicht … für immer und ewig eine Jungfrau bleiben?

»Ich meine, du willst doch nicht, dass Emma am Ende recht behält«, fügt sie hinzu.

Brielle ist knallhart, das weiß ich, aber das ist schon heftig, sogar für sie. Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es kommt nichts raus.

»Ach, komm«, beschwichtigt sie mich, als sich das Schweigen ein bisschen zu lange ausdehnt, »du weißt, was ich meine! Er ist total scharf. Und er war supergeduldig mit dir, oder? Er wartet schon zwei Monate! Das ist eine Ewigkeit für einen scharfen Typen wie ihn.«

»Nur weil ich nicht so eine Schlampe bin wie Emma, bin ich noch lange keine verklemmte Zicke«, protestiere ich schließlich.

»Na ja, immerhin ist er dein Freund …«, wendet Brielle ein. »Also bist du das irgendwie schon.«

JULI

»Ich will nicht darüber reden.«

»Worüber willst du nicht reden?«

»Über alles, was damit zu tun hat. Was ich darüber denke, interessiert sowieso niemanden.«

»Ach nein?«

Meine Therapeutin Teresa sieht mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. Sie hat glänzende schwarze Haare und einen unglaublich glatten hellbraunen Teint, und sie trägt immer merkwürdige bunte Schals, selbst wenn es draußen glühend heiß ist wie heute. Stets sieht sie adrett und farbenfroh aus – aber Mann! Ihre Fragen gehen mir wirklich auf den Sack! Ich kann absolut nichts sagen, was nicht mit einem dicken Fragezeichen am Ende zu mir zurückkommt.

Ich seufze laut auf, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich ihren Trick durchschaue. »Es ist einfach so – egal, was ich denen erzähle, egal, was ich sage, es ist alles einfach … so sinnlos, verstehen Sie?«

»Sinnlos?«

»Ja, es ist sinnlos, denn jeder hat sowieso schon eine Meinung darüber, was geschehen ist.«

»Jeder hat eine Meinung darüber, was geschehen ist?«

Frustriert werfe ich die Arme in die Luft. »Ich und meine Freunde! Jeder denkt, wir sind Arschlöcher – sorry –, und dass Emma ganz unschuldig und nett und so war … Und selbst wenn ich genau die richtigen Sätze sage und sich alles wie durch ein Wunder auflöst, kann ich nicht mal mein sch… mein blödes Auto volltanken, ohne dass mich jemand blöde anmacht.«

Teresa schreit mich nicht an, wenn ich Schimpfwörter benutze oder so was, aber normalerweise mache ich das in Gegenwart von Erwachsenen auch nicht. Es ist ein seltsames Gefühl, dass sie einfach nur dasitzt und nickt und eigentlich gar nicht reagiert. Und dann, natürlich: