Das Zimmer hinter dem Spiegel - Pierre Magnan - E-Book

Das Zimmer hinter dem Spiegel E-Book

Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Drei Morde scheuchen das schläfrige Provencestädtchen Digne auf. Alles deutet darauf hin, dass die Opfer mit einer Steinschleuder getötet wurden. Man hat eine merkwürdig kleine Gestalt beim Steinesuchen an der Bléone gesehen. Kommissar Laviolette, dessen Phantasie vor nichts zurückschreckt, hat einen ungeheuerlichen Verdacht ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Pierre Magnan

Das Zimmer hinter dem Spiegel

Aus dem Französischen von Irène Kuhn

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Dilou und Charly [...]~ 1 ~~ 2 ~~ 3 ~~ 4 ~~ 5 ~~ 6 ~~ 7 ~~ 8 ~~ 9 ~~ 10 ~~ 11 ~~ 12 ~

Für Dilou und Charly Grupper, von ihrem Freund.

~ 1 ~

ES war in einer Nacht von Sonntag auf Montag. Zwischen der Bléone, die über ihre Kiesel dahinrauschte, und dem Bergbach Eaux-Chaudes, der über goldgelben Glimmer zu Tal schäumte, lag Digne in friedlichem Schlaf.

Die Ampeln blinkten völlig vergeblich. Verkehr in Richtung Barrême, Malijai oder Barcelonnette gab es keinen. Nicht einmal ein Hund bellte. Auch die bunten Triebwagen der Chemins de Fer de Provence standen still im menschenleeren Bahnhof.

Jenseits der beleuchteten Boulevards im bürgerlichen Wohnviertel der Seminare und vor dem Hintergrund der dunklen Hügel wies ein unauffällig blinzelndes Licht jemandem den Weg nach Hause. Aber zwischen diesem Jemand und den beiden rauschenden Wasserläufen, die ihr Bett glatt hobelten und die Stille verstärkten, war keine Menschenseele – da war höchstens eine Totenseele.

Um vier Uhr verließ der städtische Müllwagen seinen eingezäunten Standplatz. Die Müllmänner brauchten eine Stunde, in der schrille Pfiffe, das Rumpeln der Mülltonnen, das Rattern der Zerkleinerungstrommeln, die Geräusche des immer wieder anfahrenden und anhaltenden Müllautos, muntere Rufe von einer Straßenseite zur anderen die Nachtruhe unterbrachen, bis sie endlich die Rue Prête-à-Partir erreichten.

Und da wartete er auf sie. Sehr geduldig, ja doch. Er versperrte ihnen den Weg. Es war ein groß gewachsener Toter, er lag am Boden mit dem Gesicht zur Seite und trug einen hellblauen Jogginganzug mit dem großen gelben Schriftzug Gentiane.

Der Fahrer entdeckte ihn als Erster, er hielt an, stieg aus. Es war ein langer, hagerer Kerl, das linke Auge hielt er geschlossen, und ein Zigarettenstummel hing ihm im Mundwinkel. Die zwei Araber hinten pfiffen vergeblich, um ihm zu bedeuten, dass er weiterfahren könne. Als sich nichts tat, kamen sie nachsehen, was los war. Ein verlegenes Lächeln trat auf ihre wulstigen Lippen. Sie glaubten, es handle sich um einen Betrunkenen. Sie machten Anstalten, ihm auf die Beine zu helfen. Der Lange breitete die Arme aus und stellte seine riesigen Espadrilles quer, direkt vor ihre Füße. Er hielt nach wie vor nur das rechte Auge offen, so sehr störte ihn der Rauch seines Zigarettenstummels.

«Rührt ihn nicht an.»

«Dem ist schlecht.»

«Dem ist nicht schlecht. Der ist tot.»

«Woher willst du das wissen?»

Der spanische Müllfahrer blickte zum Himmel: Woher er das wusste?! In der jugendlichen Frische seiner siebzehn Jahre: Santander, Teruel, Irún, die Belagerung von Barcelona … Und wie genau er das wusste! Wirklich eine dumme Frage. Er sagte sehr bestimmt:

«Kümmert euch nicht. Ich weiß es!»

Die Araber nickten voller Hochachtung angesichts des wissenden Kollegen.

«Los, geht zur Polizei, ihr beiden. Ich warte.»

«Bis wir ihnen erklärt haben, was los ist, glauben die doch, wir sind besoffen, und besoffene Araber …, ab in den Knast!»

Sie hatten den Scharfsinn derer, die an so manches gewöhnt sind.

«Quatsch! Wo glaubt ihr denn, wo ihr seid? Wir sind in Frankreich hier!»

Sie nickten wieder und gingen zögerlich, ohne besondere Eile, und erörterten dabei in ihrer Sprache die guten Gründe, die sie veranlassten zu zweifeln.

Der Lange, der allein zurückgeblieben war, zündete sich den Stummel wieder an, von dem nur noch ein bisschen Papier übrig war, und verbrannte sich die Lippe. Den jungen und schönen Toten, der da sauber, fast werbeträchtig adrett mit seinem großen Gentiane auf dem Sweatshirt auf der Straße lag, betrachtete er brüderlich. Mit seinem lockigen Bart, den langen Haaren und den weit aufgerissenen Augen erinnerte er den Katalanen an einen griechischen Kameraden bei den Internationalen Brigaden, der an seiner Seite in der Sierra Madre gefallen war. Das Warnlicht des Müllwagens warf mit seinem rhythmischen Flackerschein einen Hauch von Leben auf das Gesicht. Der Lange rührte sich nicht vom Fleck; schweigend beobachtete er den Toten, mit dem nüchternen Ernst desjenigen, der erkennt, dass sich am Horizont eine Menge Scherereien abzeichnen.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis er den hastigen Schritt der beiden Araber vernahm. Zwei Polizisten in Uniform schoben sie eher vor sich her, als dass sie ihnen folgten. Es war den beiden anzusehen, dass sie vor weniger als zehn Minuten noch beim gemütlichen Kartenspiel am Ölofen gesessen hatten. Sie kamen zu Fuß, da der Dienstwagen sich geweigert hatte anzuspringen.

Ihr Blick erfasste gleichzeitig die Leiche am Boden, den langen Fahrer, der daneben stand, und den Müllwagen mit seiner blinkenden Warnanlage.

«Hast du ihn umgefahren?»

«Nein. Er war schon tot.»

«Wieso tot? Ist er überhaupt tot?»

Schon machten sie Anstalten, die Leiche umzudrehen, sie auf den Gehsteig zu tragen und ausgiebig auf allen Spuren herumzutrampeln.

«An eurer Stelle würde ich ihn nicht anrühren!»

Betroffen richteten sie sich auf.

«Hör mal, bist du der Bulle oder sind wir es?»

«Ihr natürlich. Aber ihr habt noch welche über euch. Und möglicherweise kriegt ihr ganz schön eins auf die Mütze.»

Sie überlegten zuerst, ob sie ihn zurechtweisen sollten. Dann würde der Kerl schon sehen, was er von seiner Rechthaberei hatte. Aber schließlich drehten sie ihm lieber den Rücken zu, um sich abzusprechen.

«Geh, Montagnié, ruf den Kommissar Laviolette an! Ich halte die Stellung.»

«Ich geh schon.»

Der zurückgebliebene Kollege wandte sich dem Langen zu, der zwischen den beiden Arabern mit den orangefarbenen Schutzumhängen stand. Die drei bildeten eine geschlossene Front.

«Papiere!»

«Du siehst uns doch jeden Tag!»

«Papiere! Heute ist nicht ein Tag wie jeder andere! Ein Toter auf offener Straße um …» – er schaute auf die Uhr – «um halb sechs in der Früh, da ist der Ausweis fällig, meint ihr nicht?»

«Wir sind städtische Angestellte!»

«Fest angestellt!», betonten die Araber – sie waren es seit drei Monaten.

«Angestellte hin oder her …»

«Jouve!»

Es war Montagnié, der zurückkam, allein und außer Atem.

«Hast du den Kommissar angerufen?»

«Ja.»

«Und was hat er gesagt?»

«‹Rufen Sie die Polizei›, hat er gesagt.»

«Was?»

«Ja. Als ich ihm gesagt habe, dass in der Rue Prête-à-Partir eine Leiche liegt, hat er wortwörtlich geantwortet: ‹Rufen Sie die Polizei!› Und hat eingehängt.»

Ein peinliches Schweigen setzte ein, dann sagte Jouve, der in seiner Eigenschaft als Brigadier etwas schneller dachte:

«Gestern Abend hat bei Mistre ein Bankett der ehemaligen Résistance-Mitglieder stattgefunden … Kommissar Laviolette, der der Pflicht halber dabei sein musste, ist vermutlich etwas müde … Warte hier, ich geh hin und hol ihn ab. Und vor allem, lass sie nicht aus den Augen. Sie dürfen sich nicht vom Fleck rühren!»

Die Gefahr bestand nicht. Der Anblick faszinierte sie. Der einfache Polizist Montagnié belauerte sie von der Seite, als ob ihre Schuld schon bewiesen wäre.

Zu dieser frühen Stunde ging noch niemand durch die Rue Prête-à-Partir. Aber am Eckfenster im dritten Stock quietschte ein Fenstergriff, dem man gewünscht hätte, er wäre besser geölt; eine flinke Hand öffnete den Laden einen Spaltbreit. Da oben stand jemand, der es nicht wagte, hinunterzukommen auf die Straße, aus Angst, unpassenderweise auf sich aufmerksam zu machen, jemand, der aber gern gewusst hätte, was da unten los war. Danach rührte sich nichts mehr. Der Lange hatte den Motor und das Blinklicht abgestellt.

Zehn Minuten später war Kommissar Laviolette zur Stelle. Er trug einen Schal, hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt, und seine großen, hervortretenden Augen waren rot und verrieten den Mangel an Schlaf. Er war völlig verblüfft, an einem Montag Morgen, unmittelbar nach einem Festessen, ein Verbrechen am Hals zu haben. Und zu allem Unheil war auch noch sein einziger Mitarbeiter, Inspektor Courtois, im Frühjahrsurlaub.

Denn es war ein Verbrechen. Da, wo der Kopf den Boden berührte, wies die Leiche in der Stirngegend eine riesige schwarze Prellung auf, auf der sich ein großflächiges, noch glibberiges Blutgerinnsel breit machte. Das Scheitelbein war vollständig eingedrückt.

«Und natürlich haben Sie die Mordwaffe gefunden?», fragte Laviolette.

«Die werden wir bald haben. Aber wir wollten nichts anfassen, bevor Sie kommen.»

«War auch richtig so!», brummelte Laviolette

Er dachte genau das Gegenteil. Viel lieber wäre ihm gewesen, die Tatbestandsaufnahme wäre schon abgeschlossen, die Leiche abtransportiert und auch der Täter, während er hinter einem Baum stand und die Polizei bei ihren Nachforschungen beobachtete, überraschend festgenommen worden. Aber das war nur ein Traum! Dann also los an die Arbeit.

«Ich habe mit dem Staatsanwalt telefoniert», verkündete Laviolette. «Ja, doch», sagte er zu Montagnié gewandt, «nach Ihrem Anruf habe ich mich daran erinnert, dass ich die Polizei bin.»

Er drehte sich zu Jouve.

«Und natürlich haben Sie den Toten erkannt?»

«Ich fürchte, ja. Der junge Vial?»

«Genau. Jeannot Vial. Das müssen wir erst mal der Mutter beibringen. Die Arme, sie ist schon von ihrem Mann verlassen worden, vor zehn Jahren! Nun ja! Gleich ist die Staatsanwaltschaft da. Mit dem Gerichtsarzt. Und dem Fotografen. Den habe ich dienstlich herbefohlen. Er wollte nicht aufstehen. Aber ich habe ihm den entsprechenden Paragraphen aus dem Gesetzbuch vorgelesen. Also. Was ist nun mit der Tatwaffe? Wie wär’s, wenn wir ein bisschen danach suchten?»

«Können wir ja tun», antwortete Jouve, «aber wie soll das Ding aussehen?»

«Eine Schlagwaffe», erwiderte Laviolette, «ein Hammer, ein Gewehrkolben, ein Schraubenschlüssel, eine Spitzhacke, ein Brecheisen, ein Beil …»

«Nein! Da ist weit und breit kein Schraubenschlüssel, kein Hammer und kein Brecheisen zu sehen. Und auch kein … wie sagten Sie?»

«Eine Spitzhacke.»

«Nein! Aber eine Pétanque-Kugel, wer weiß?»

Laviolette drehte sich um. Doktor Parini, den er nicht hatte kommen hören, kniete über die Leiche gebeugt und untersuchte die Verletzung. Er hob den Kopf mit dem eckigen Frauenmörderbart à la Landru.

«Ein Mord ist natürlich keine alltägliche Sache für mich, gewiss nicht. Aber Sie kennen mich doch, Laviolette. Ich war im Krieg in Afrika, in Italien und sogar am Rhein. An Leichen bin ich gewöhnt. Und wie Sie wissen, geht diese Gewohnheit niemals verloren. Ich würde mich ja gerne täuschen, aber ich hab so im Gefühl, dass Ihnen diese Mordwaffe hier einiges Kopfzerbrechen bereiten wird.»

Er seufzte.

«Und es ist der junge Vial. Was für ein Unglück! Die arme Mutter! Die wurde doch schon von ihrem Mann verlassen, vor zehn Jahren!»

Doktor Parini erhob sich.

«Natürlich müssen wir eine Obduktion vornehmen … Aber wissen Sie, es ist ohnehin sonnenklar: Der Tod ist aufgrund des zertrümmerten Scheitelbeins eingetreten … Wie fanden Sie denn dieses Frischlingsgulasch gestern Abend?», fragte er übergangslos.

«Hervorragend! Und die Idee, die Fleischstücke mit Wacholder zu spicken, war genial! Aus dem Koch wird noch was werden!»

«Aha, Sie haben das auch bemerkt?»

Sie schwiegen etwas beschämt. Obwohl … Nun ja … Der Tod, was ist das schon? Sie waren ihm so oft begegnet, im Laufe ihres Lebens. Und in ihrem Alter kam er immer näher; dafür gab es tausend freundliche kleine Zeichen. Diese tägliche Mahnung machte es ihnen möglich, ihn mit größter Ruhe zu behandeln, nicht viel Aufhebens zu machen, wenn sie ihm bei anderen begegneten.

Gerade stieg der Staatsanwalt aus. Der Rettungswagen parkte geräuschlos. Laviolette hatte darum gebeten, dass das Martinshorn nicht eingesetzt werden möge. Bei einem Toten gab es keine Eile.

Untersuchungsrichter Chabrand stieß zu der Gruppe hinzu. Er war heimlich von Laviolette benachrichtigt worden, der ihn sehr schätzte, weil sie beide im gleichen Boot saßen, um nicht zu sagen in der gleichen Tinte … Auch er hatte nur wenig geschlafen. Alle diese Herren: der Kommissar, der Staatsanwalt, der Arzt und der Untersuchungsrichter als der jüngste Gast, alle waren sie am Vorabend beim Bankett der ehemaligen Résistance-Mitglieder gewesen. Dementsprechend waren sie alle mehr oder weniger mitgenommen. Wobei derjenige, der am meisten litt, Kommissar Laviolette, es ganz vergnüglich fand, dass er sie alle zu so ungehöriger Stunde aus dem Bett hatte holen müssen.

Der herbeibefohlene Fotograf hatte die größte Mühe mit dem Aufwachen, und er gehorchte dem Kommissar nur murrend, der ihn zwang, die Leiche von allen Seiten aufzunehmen.

«All diese verlorene Kraft!», dachte Laviolette. «Ein fünfundzwanzig Jahre alter Mann! Ein Schlag, und aus ist es! Heinrich III. hatte schon Recht: Ein großer Mensch liegend als Leiche wirkt viel länger als stehend!»

«Nun, meine Herren? Sind wir schon weitergekommen?», fragte der Staatsanwalt.

Er war eine echte Führernatur, und diese Methode wandte er gerne an: sich höchlich verwundern, dass eine kaum in Angriff genommene Arbeit nicht schon abgeschlossen ist.

«Wir haben uns zurückgehalten!», antwortete Laviolette ruhig. «Wir wollten lieber auf Sie warten, und jetzt werden wir gemeinsam weiterkommen.»

«Aber hören Sie, Kommissar, ich mache keine Witze!»

«Gott behüte, ich auch nicht …» Drei Jahre vor der Pensionierung und da er ohnehin schon auf dem Abstellgleis war, nahm er kein Blatt vor den Mund und geizte nicht mit Frechheiten, niemandem gegenüber.

«Was ist mit der Mordwaffe? Und das Motiv? In Digne! Das kann doch nur ein hundsgewöhnliches Verbrechen sein! In Straßburg wie in Lyon wurde ich schon mit ganz anderen Kriminalfällen konfrontiert!»

«Aha! Siehe da …», dachte der Kommissar. «Straßburg? Lyon? Ist der etwa auch auf dem Abstellgleis?»

«… in Digne», fuhr der Staatsanwalt fort, «kann es sich nur um ein ganz simples Verbrechen handeln: gemeiner Mord oder Rache …»

«Die Brieftasche des Opfers ist noch da. Offenbar fehlt nichts: weder Papiere noch Geld. Raubmord ist also ausgeschlossen.»

«Und was die Mordwaffe angeht, da …», sagte Parini, «da bin ich ganz auf Spekulationen angewiesen. Ich dachte, ich bräuchte die Verletzung nur näher anzuschauen, um den stumpfen Gegenstand zu bestimmen, aber ich muss gestehen … Andererseits: Schauen Sie sich diesen Riesen an! Entweder er wurde überrascht, oder er hat sich vor seinem Mörder nicht in Acht genommen, hat ihn also gekannt.»

«Oder er hat sich vor seinem Mörder nicht in Acht genommen …», wiederholte Laviolette nachdenklich. «Er war im Begriff, in seinen Wagen einzusteigen. Er hält noch die Schlüssel in der Hand.»

«Ist das sein Auto?»

Chabrand deutete auf ein am Straßenrand geparktes Fahrzeug, rassig wie ein Rennpferd, blau wie die Kleidung der Leiche; und der Preis des Wagens entsprach vermutlich drei Jahresgehältern des Untersuchungsrichters. Dementsprechend glitzerten dessen Augen hinter der Brille, die eines amerikanischen Avantgarde-Filmemachers würdig gewesen wäre.

Dieser Richter neigte nicht gerade zur Dankbarkeit; er näherte sich Laviolette ziemlich zögernd, um ihm ein reserviert-mühsames «Besten Dank!» entgegenzuhauchen.

«Wofür denn, ich bitte Sie.»

«Dass Sie mich benachrichtigt haben. Wenn ich mich auf diesen Staatsanwalt verlassen müsste!»

«Er schaut Sie in der Tat etwas verkniffen an.»

«Er wünschte mich lieber anderswohin. Er wagt es nur nicht, mich zu fragen, was ich hier suche. Ich bin aber der Meinung, man hat eine genauere Vorstellung der Dinge, wenn man von Anfang an vor Ort ist. Am Ende werde ich ja doch mit der Sache befasst, oder?»

«Aber sicher doch!»

«Und da Sie mir gerade so freundlich gesinnt sind, will ich Ihnen gleich mitteilen, dass ich großen Wert darauf legen würde, wenn Sie mich im Laufe der Ermittlungen an Ihren Irrungen und Wirrungen teilhaben ließen.»

«Aber mit größtem Vergnügen, Euer Neugierden!»

«Und auch dass Sie mir gegebenenfalls gestatten, meinen Senf dazu zu geben …»

«Aber ich bitte Sie! Und wenn Sie jetzt gleich, hier auf der Stelle, eine Idee hätten …»

Diese ganze Unterhaltung war nicht für andere Ohren bestimmt, sie wurde nebenbei und im Flüsterton geführt, während beide die Arbeit des Fotografen und die Tatortinspektion der Polizisten beaufsichtigten. Im gleichen Ton fuhr Chabrand fort:

«Eines ist mir aufgefallen, Ihnen sicher auch?»

Er bot Laviolette eine Zigarette an. Der Kommissar griff dankbar zu, denn er hatte sein Maschinchen zum Selbstdrehen zu Hause liegen lassen.

«Ob mir etwas auffällt? Ja sicher. Es ist jetzt gleich sechs Uhr. Es wird schon bald hell. Und ich sehe weit und breit keinen einzigen Einwohner von Digne.»

«Ja, wir werden Mühe haben, Zeugen ausfindig zu machen.»

«Was wollen Sie? Das ist halt Digne: eine sehr diskrete Stadt, freundlich, aber zurückhaltend.»

«Sie mögen Euphemismen. Aber verzeihen Sie, mir fällt etwas ganz anderes auf.»

«Was denn?», fragte Laviolette harmlos.

«Das Opfer trägt Fahrradschuhe.»

«Ach, siehe da!»

Laviolette dachte, dass dieser Richter nicht dumm war. Er hatte das Detail fast im gleichen Augenblick wie er selbst, Laviolette, bemerkt, leider, denn er hatte sich vorgenommen, diese Karte erst einmal in Reserve zu halten.

Er schüttelte sich.

«Na los, wie wär’s, wenn wir ein wenig arbeiteten?»

Er ließ um die Leiche einen dicken Strich mit weißer Kreide ziehen, der die Umrisse ganz genau nachzeichnete. Die Sanitäter hatten die Bahre auf dem Boden abgestellt. Im Augenblick, als sie den Toten hochheben wollten, hörte man, gleichzeitig mit dem schrillen Pfiff des Polizisten, der eventuellen Verkehr umleiten sollte, das Geräusch eines hochtourigen Motors und unmittelbar danach das Quietschen der Reifen. Jemand sprang aus dem Auto und warf sich über die Leiche. Es war eine große, schlanke, blonde Frau, die jünger aussah, als sie war.

«Mein Kleiner! Mein kleiner Junge! Mein armer kleiner Junge!»

«Wer hat Sie benachrichtigt?»

Mit einer Behändigkeit, die erstaunlich war für einen so dicken Menschen, neigte sich Laviolette über sie. Er wollte eine spontane Antwort, hier, auf der Stelle, während die Verzweiflung noch ganz frisch war. In einigen Minuten würde sie lügen. Aber wenn es ihm jetzt gelang, ihr mitten in ihrem Löwinnengebrüll zwei Worte zu entreißen, dann würden die echt sein.

Er erntete einen Kratzer von rot bemalten Fingernägeln auf seinen Hängebacken und allgemeine Missbilligung dazu.

«Aber, Kommissar! Hören Sie mal …»

Der Staatsanwalt war schockiert, aber auch Dr. Parini, der Brigadier Jouve und sogar der Untersuchungsrichter Chabrand, der doch sonst den Schmerz nur bei den Ausgebeuteten und Unterdrückten anerkannte. Alle Anwesenden wollten die verzweifelte Mutter vor dem eiskalten Kommissar schützen.

Aber Laviolette, der heftig blutete, war nicht zu belehren. Er wurde in den Rettungswagen geschoben, gemeinsam mit der Mutter, die sich an der Leiche ihres Sohnes festklammerte, und während sie zur Leichenhalle fuhren, hörte er nicht auf zu fragen:

«Wer hat Sie benachrichtigt? Nur ein Wort! Ein einziger Name! Verstehen Sie denn nicht, dass es sich vielleicht um den Mörder Ihres Sohnes handelt? Verstehen Sie denn nicht, dass er uns durch die Lappen geht?»

Sie schüttelte nicht einmal den Kopf. Sie hörte nicht auf, hemmungslos zu klagen. Als das Fahrzeug in die Platanenallee, die zum Krankenhaus führte, einbog, zog sich Laviolette erneut einen Krallenhieb zu, diesmal auf der Stirn. Weil er der einzige Mann in ihrer Reichweite war. Sie musste sich rächen – an irgendeinem Mann, egal welchem. Denn es war ein Mann, der das getan hatte! Eine Frau konnte es nicht gewesen sein, eine Frau hätte ihren Kleinen, ihren schönen, schönen Kleinen nicht umgebracht.

~ 2 ~

«ER war schön wie ein junger Gott!», sagte Untersuchungsrichter Chabrand nachdenklich.

«Wollen Sie damit sagen, dass diese Schönheit etwas mit dem Mord zu tun haben könnte?»

«Irgendwie schon, wie könnte es anders sein?»

«Betrogene Ehemänner aus Digne würden keinen Mord begehen. Sie würden sich sang- und klanglos scheiden lassen oder sich wie so viele andere in anderen Regionen auch sagen: Schwamm drüber.»

«Es ist nicht gesagt, dass der Mörder aus Digne kommt.»

«Deshalb habe ich gesagt ‹wie in anderen Regionen auch›.»

«Richtig, das haben Sie gesagt.»

Im Justizgebäude begutachteten der Untersuchungsrichter und der Kommissar das spärliche Ergebnis der bisherigen Ermittlungen.

Die beiden hatten eines gemeinsam: Sie lebten in Digne, weil sie dorthin strafversetzt worden waren. Der Kommissar, weil er einem bedeutenden Politiker, der ihn nicht mochte, den Spitznamen «Tante Luise» verpasst hatte; der Untersuchungsrichter, weil er «ein verkappter Linksradikaler» war. Einer seiner Professoren an der Uni hatte ihn als solchen bezeichnet. Mit allen Mitteln hatte man zu verhindern versucht, dass er überhaupt irgendeinen Titel erwarb. Aber J.-P.Chabrand hatte ein ungeheures Gedächtnis, eine kolossale Arbeitskraft und die strahlendste Intelligenz seines ganzen Jahrgangs – vorausgesetzt, er vergaß, dass er ein Linksradikaler war. Man hatte ihm keine Hürde erspart. Er hatte sie alle «mit links» überwunden, dabei hatte er, während er sich auf das Staatsexamen vorbereitete, auch noch Albanisch gelernt und darüber hinaus, als Herausforderung gewissermaßen, das Werk begonnen, das die Summe seines Lebens werden sollte: «Widerlegung von Karl Marx im Lichte der albanischen Erfahrung.»

Zumindest hatte man es geschafft, dass dieser geistige Brandstifter nur in Digne sein Unwesen treiben konnte. Für einen Chabrand bedeutete in Digne zu leben vermutlich das Gleiche, wie für einen Bonaparte nach Elba verbannt zu werden, zumindest in der Vorstellungswelt seiner Kollegen.

Ähnliches galt für Kommissar Laviolette, der einem gekränkten Präfekten die Auswahl seines Arbeitsortes verdankte. Die Großköpfe können sich nur Strafen vorstellen, die ihnen selbst unerträglich vorkommen.

Obwohl sie nicht derselben Generation angehörten, hatten Chabrand und der Kommissar beide genügend Menschenkenntnis, um zu spüren, dass man ihnen übel wollte. Sie ließen keine Gelegenheit aus, öffentlich über die Ungerechtigkeit zu klagen, die sie an einen für ihre Begabung so ungünstigen Ort fesselte, und der Hoffnung auf eine baldige Versetzung Ausdruck zu verleihen. Ansonsten leisteten sie keinerlei eigenen Beitrag, um dieses Ziel zu erreichen. Aber dank solcher Lippenbekenntnisse waren sie gegen den Argwohn gefeit, ihr Sinneswandel könnte vorgetäuscht sein, und das verschaffte ihnen die Gewissheit, für alle beamtentümliche Ewigkeit – welche durch die Pensionierung begrenzt ist – in Digne vergessen zu werden.

Höchstens erlaubten sich der Richter und der Kommissar, wenn sie sich unter vier Augen trafen, hin und wieder ein zurückhaltendes Lächeln, das sie schnell unterdrückten, das jedoch bedeutete: «Na, was glaubst du? Echte Blödmänner, was?»

Denn beide liebten sie Digne, Digne im Herbst und Digne im Winter, Jahreszeiten, die tödlich sind für Menschen, denen es an Substanz fehlt. Die Einwohner von Digne grinsten nur heimlich, wenn irgendein lästiger Fremder, vom Klima im Sommer hingerissen, die anmaßende Absicht zum Ausdruck brachte, sich endgültig in ihrer Stadt niederzulassen. Der erste Winter brauchte keine acht Wochen, um den Wunsch zunichte zu machen. Hatte der Fremde aber Stehvermögen, dann machte man ihm Platz am Kartenspieltisch. Alles hier war eine Frage des Formats. Man sagte, was man zu sagen hatte, durch die Blume, man tauschte kurze Blicke, aber man spielte genauso leidenschaftlich die gleichen Gesellschaftsspiele wie anderswo auch.

So zum Beispiel auch der Untersuchungsrichter Chabrand: Er mochte nur schwierige und fleischlich-üppige Amouren, solche, die man nicht an die große Glocke hängt; und hier in Digne fand er, was ihn erfreute. Für ihn waren Madame Bovary und Madame de Raynal die beiden Höhepunkte, die es zu erreichen galt. Junge Mädchen in Jeans oder irgendwelchen durchsichtigen Kleidchen interessierten ihn nicht, auch nicht, wenn sie radikal links eingestellt waren. Er mochte Halsketten, Ringe, adrette Sauberkeit, Kostüme mit der richtigen Rocklänge, gut sitzende Strümpfe. Gott sei Dank fehlte es hier nicht an Frauen zwischen dreißig und fünfzig, die zwar zögerlich waren, aber doch mit dem scharfen Bewusstsein lebten, dass die Zeit drängte. Eine oder zwei belagerte Chabrand derzeit, wobei er mit nicht allzu langem Widerstand rechnete.

«Übrigens: Hat sie Ihnen am Ende gesagt, wer sie benachrichtigt hat?»

Mit einer gewissen Zufriedenheit betrachtete der Richter das breite, auf der linken Backe mit einem Pflaster und auch sonst noch mit einigen im Heilen begriffenen Kratzern geschmückte Gesicht des Kommissars.

«Ihre mütterliche Intuition», antwortete Laviolette. «Angeblich gab es zwischen ihr und ihrem Sohn eine übersinnliche Bindung. Halten Sie das für eine befriedigende Auskunft?»

«Teilweise … Die Chinesen sind im Begriff, diese Frage durch breit angelegte Versuche zu klären …»

«Wenn also die Chinesen …»

«Hat sie Ihnen wenigstens gesagt, wo er war?»

«Bei den Bahut-Lamastres, wo an diesem Abend Bridge gespielt wurde, angeblich.»

«Haben Sie das nachgeprüft?»

«Die Bahut-Lamastres haben ihn an jenem Abend nicht gesehen. Und sie schienen es ziemlich bedauerlich zu finden, dass er sie als Alibi benutzt hat. Das haben sie laut und deutlich gesagt und betont, dass sie es ihm bei Gelegenheit unter die Nase reiben würden. Wobei sie natürlich vergessen haben, dass man einem Toten keine Vorhaltungen mehr machen kann.»

«Und die Nachbarn?»

«Meine Leute haben alle Anwohner der Rue Prête-à-Partir vernommen. Sie haben alle geschlafen. Niemand hat etwas bemerkt.»

«Und die Alte, die ihre Läden so geschickt einen Spaltbreit aufgeklappt hat?»

«Sie ist taub. Sie hat die ganze Zeit, während ich sie vernommen habe, die Hand vor den Mund gehalten, als ob sie den Antichrist vor sich sähe, und die andere …»

«Welche andere?»

«Die andere Hand natürlich, zum Teufel! Die andere hat sie geschüttelt, als ob sie sagen wollte: ‹Ach herrjeh! Was soll denn noch alles passieren?› Ziemlich aufgekratzt, die Alte. Wenn man die achtzig überschritten hat und der erste Moment des Mitleids vorbei ist, macht es immer Freude, wenn ein junger Spund das Zeitliche segnet. Aber abgesehen davon wusste sie absolut nichts.»

«Feinde?»

«Wenn man dreiundzwanzig Jahre alt und schön wie ein junger Gott ist, wie Sie sagen, hat man immer Feinde. Genau das wird gerade geprüft …»

«Diese Ehemänner, die Sie vorhin erwähnten?»

«Ich wollte gerade darauf zu sprechen kommen. Ich habe auch, in aller Diskretion, die drei betrogenen Ehemänner, die die Mutter mir ganz von selbst aufgetischt hat, überprüft. Beziehungsweise ihre Alibis. Absolut einwandfrei.»

«Was heißt ‹in aller Diskretion›? Haben Sie nachgeprüft oder nicht?»

«Sie sind vielleicht witzig! Wir sind doch nicht in Amerika. Alles spricht dafür – und glauben Sie mir, das habe ich geprüft –, dass von den dreien mindestens zwei eine Traumehe führen. Sie wollen doch nicht im Ernst, dass ich sie verunsichere, indem ich sie zum Beispiel frage: ‹Wo waren Sie am Abend, als der junge Vial ermordet wurde?› Es wäre schwer, ihnen glaubhaft zu machen, dass ich dieselbe Frage allen sechzehntausend Einwohnern unserer Stadt gestellt habe. Auch die Polizei hat ihre Standesethik: Primum non nocere!»

Der Untersuchungsrichter musterte den Kommissar, um zu prüfen, ob er sich nicht ganz offen über ihn lustig machte.

«Komisch sind Sie, Kommissar!», feixte er.

In Wirklichkeit war keiner von beiden komisch. In den entzündeten Glubschaugen des Kommissars stand schon der Tod. Der Untersuchungsrichter hatte das eckige Gesicht eines schlecht gepuderten Robespierre. Sie standen Seite an Seite vor dem großen Fenster des Arbeitszimmers und beobachteten, wie der Wind Licht- und Farbenspiele veranstaltete in den hohen Bäumen des verborgenen Platzes, an dem das Justizgebäude lag.

Der Richter wurde unruhig.

«Leider konnte ich der Beerdigung nicht beiwohnen, daran hindern mich meine Überzeugungen, aber Sie …»

«Nun ja, auch mich hindern eigentlich meine Überzeugungen daran – obschon es vermutlich nicht die gleichen sind wie die Ihren, aber was soll’s? … Job ist nun mal Job, und wenn man halt hingehen muss …»

«Haben Sie irgendetwas aufschnappen können?»

«Ich habe mich unter die verschiedenen Gruppen gemischt, aber nichts als Allgemeinheiten vernommen über das Nichts, das wir sind auf Erden, und mitleidiges Gejammere über das Schicksal der Mutter, die das nicht verdient hat, nachdem schon der Vater sie vor zehn Jahren schmählich verlassen hat …»

«Aber der Mörder war sicher anwesend. Das ist so üblich in der Provinz.»

«Vermutlich. Doch es handelt sich eben um eine sehr angesehene Familie. Und so waren mehr als vierhundert Personen anwesend in der Kirche, und auf dem Friedhof waren es nahezu tausend.»

«Und der Wagen? Haben Sie ihn durchgekämmt? Ist nichts dabei herausgekommen?»

«Nein. Beziehungsweise: doch. Dieser Jeannot Vial war ein perfekter Sportler. Er war nicht nur ein leidenschaftlicher Autofahrer, er war auch Fahrradfahrer. Im Kofferraum lag ein Fahrrad mit abmontierten Rädern, das im Verhältnis genauso teuer war wie das Auto.»

«Und er trug Radfahrerschuhe. Ich hatte Sie darauf aufmerksam gemacht. Selbstverständlich!», seufzte der Richter. «Das schönste Auto, das schönste Fahrrad, die schönsten Mädchen! Irgendjemand hatte das satt.»

«Ja, es war zu viel. Aber verzeihen Sie: Sie sprechen vom Opfer.»

«Oh, das ist schon eine Herausforderung, wenn einer unentwegt Glück hat!»

«Aber es hat nicht gehalten, das Glück …»

Der Untersuchungsrichter kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Es hatte in der Tat nicht gehalten. Ein wenig war ihm unwohl bei diesem Bild, das sich allmählich in seinem Kopf einnistete, dem Bild einer immanenten Gerechtigkeit, die dafür sorgt, dass allzu auffälliges Glück nicht lange währt.

«Ich nehme an», sagte Laviolette, «Sie haben den Obduktionsbericht gelesen, den ich Ihnen freundlicherweise in Kopie habe zukommen lassen?»

«Ich habe ihn nicht nur gelesen, ich habe intensiv darüber nachgedacht. Ich bin Ihnen übrigens äußerst dankbar für Ihre freundliche Aufmerksamkeit …»

Der Ton des Richters war immer so ostentativ ungezwungen, dass eine ehrliche Aussage aus seinem Mund stets wie Persiflage klang.

«Übrigens», fuhr er fort, «ich habe einige Passagen unterstrichen. Schauen Sie doch einmal, ob sie Ihnen nicht genauso aufgefallen sind wie mir.»

Der Kommissar nahm die Unterlagen an sich und überflog sie kurz; dann wurde er aufmerksam und begann, laut zu lesen:

«… Der Speisebrei weist darauf hin, dass das Opfer eine gewisse Menge Alkohol (vermutlich Champagner) zu sich genommen hatte, und dies zu einem ziemlich üppigen Essen: Schweizerkäse, Staudensellerie, Gänseleberpastete, Kaviar etwa …»

«Kaviar!», wiederholte der Richter mit erhobenem Zeigefinger.

«… das Ganze sehr stark gewürzt. Sagen Sie mal, kommt er Ihnen nicht etwas übertrieben vor, dieser Obduktionsbericht? Er klingt wie die Speisekarte eines Dreisternerestaurants.»

«Mein lieber Freund», erwiderte der Richter, «das Labor in Marseille ist eines der bestausgestatteten von ganz Europa. Die sind an Verbrecher gewöhnt, die Mädchen niederknallen und sie mit Benzin übergießen, ehe sie sie anzünden. So dass die Leichen dann einen Meter lang sind und hart wie afrikanische Idole. Und trotzdem gelingt es ihnen häufig, genügend Hinweise davon abzuleiten, um den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Ein Speisebrei wie dieser, so frisch und unverdaut, war ein Kinderspiel. Sagt Ihnen das nichts?»

«Weiß Gott! Mit fünfundzwanzig hatte ich eine Geliebte, die mich, wenn sie mir eine Nacht gewährte, wie ein Rennpferd mit derlei Speisen dopte. Glauben Sie übrigens ja nicht, dass Sie dadurch zu Hochleistungen angespornt werden; im Allgemeinen wirken solche Sachen mit Zeitverzug, nämlich dann, wenn Sie keine Geliebte mehr zur Verfügung haben.»

Chabrand erlaubte sich ein leises Lachen. Vermutlich war ihm Ähnliches auch schon passiert.

«Das heißt also, dass wir einen großen Schritt vorwärts kämen, wenn wir erstens wüssten, wo, und zweitens, von wem dieser Kaviar gekauft wurde?»

«Lassen wir uns von diesem Kaviar nicht allzu sehr in Aufregung versetzen. Es würde mich wundern, wenn in Digne ein Geschäft frischen Kaviar führte – den einzigen mit aphrodisischer Wirkung –, zumindest außerhalb der festlichen Jahreszeit. Er kann sowohl in Aix als auch in Marseille oder in Grenoble gekauft worden sein, wie sollen wir das prüfen? Natürlich werde ich Leute darauf ansetzen, aber Wunder sollten wir uns davon nicht versprechen.»

Der Kommissar las weiter.

«Sieh da! Sie haben auch Folgendes unterstrichen: … Die Biopsie, die im Umfeld der Ekchymose am linken Schläfenbein vorgenommen wurde, wurde einer besonderen Untersuchung unterzogen, die in Bezug auf die Beschaffenheit der Tatwaffe nichts Genaues ergeben hat; es wurden lediglich Spuren von Schwemmsand (Quarzsand) gefunden.»

Der Kommissar blickte auf.

«Quarzsand!», wiederholte der Richter. «Merken Sie sich das. Heute Morgen war ich an der Bléone spazieren, und genau danach roch es: nach Quarzsand.»

«Welch feine Nase!», spöttelte Laviolette.

Chabrand betrachtete ihn über den Brillenrand.

«Wissen Sie, Kommissar, ich bin in Maison-du-Roy geboren. Wissen Sie, wo das ist, Maison-du-Roy?»

«Das weiß doch jeder. Jedes Mal, wenn ein Champion an diesem Ort losgefahren ist, hat er die Tour de France gewonnen: Ottavio Bottecchia, Bartali, Coppi und …»

«… und Louison Bobet! Wir brauchen das Thema nicht so erschöpfend zu behandeln! Maison-du-Roy, das ist nämlich noch was anderes als dieser Jahrmarkt. Maison-du-Roy, das ist der Zusammenfluss der Guil und der Cristillan. Es gibt die gewöhnlichen Gerüche, die die Zeit der Gamsjagd, des Absinths oder der Steinpilze anzeigen … Und dann gibt es auch, zwei-, dreimal in jedem Jahrhundert, den typischen Geruch nach zersplittertem Gestein, das die Combe du Queyras herunterkommt. Die Guil ist es, die dann zwei- oder dreitausend Kubikmeter Quarz vor sich herschiebt. Das Gestein schleift das Flussbett aus. Und wenn man an einem solchen Tag, es kommt wirklich nur zwei- oder dreimal im Jahrhundert vor, nicht sein Düfte-Wörterbuch richtig im Kopf hat, dann … Sie können mir doch folgen?»

«Er betet die Ängste seiner Großväter herunter», dachte Laviolette und nickte.

«Ich habe mich übrigens nicht damit begnügt, die Luft zu schnuppern. Ich habe dies hier aufgehoben.»

Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr einen Gegenstand, den er auf die Glasscheibe eines Eisenbahnwaggons legte, die ihm als Unterlage diente. Es war ein glatt polierter Stein, an einem Ende scharf geschliffen wie ein vorgeschichtlicher Dolch, in dem Gesteinpartikel aus allen Alpenböden verschmolzen waren und glitzerten. Eine Gesteinsprobe aus einer unermesslichen Zeit, Konzentrat einer unvorstellbaren Zeitspanne, die schon vor dem Erscheinen des Menschen ihren Anfang nahm, sich während seiner Herrschaft fortsetzte und sich nach dem Menschen fortsetzen würde: ein Kieselstein der Bléone.

«Wissen Sie, ich habe ihn sorgfältig ausgesucht unter Tausenden; ein paar Dutzend, die ähnlich waren wie dieser hier, habe ich mit dem Auge geprüft, aufgelesen, mit der Hand abgewogen, immer mit Bezug auf die eine Frage, die ich mir stellte: ‹Wenn du jemand mit einem Kieselstein umbringen wolltest, welchen würdest du wählen?› Ich kam zum Ergebnis, dass ich diesen hier wählen würde!», sagte er und deutete mit dem Finger darauf. «Und … Sie können daran riechen. Wenn Sie wirklich eine sehr feine Nase haben, dann werden Sie unschwer den Geruch von Quarzsand wahrnehmen.»

«In diesem Punkt verlasse ich mich auf Sie …»

«Diesen Stein habe ich heute Morgen sehr früh aufgehoben», sagte der Untersuchungsrichter nachdenklich. «Von Zeit zu Zeit habe ich ihn mit aller Kraft gegen einen Baumstamm, einen Telegrafenmast oder auf einem Abstellplatz der Straßenbaumeisterei gegen einen Teerbehälter geschleudert. Übrigens haben mich bei der Gelegenheit ein paar Arbeiter, die früh im Einsatz waren, etwas merkwürdig angesehen; sie fragten sich, was ich da wohl trieb. Ich wollte einfach nur herausbringen, ob man mit einer so primitiven Waffe tatsächlich einen Menschen töten kann.»

«Sie meinen, zufällig?»

«Zufällig oder absichtlich, was ändert das?»

«Es ändert, dass bei gegebener Absicht diese Waffe nicht zuverlässig genug ist. Wenn wirklich jemand den jungen Vial umbringen wollte, dann scheint mir der Kieselstein nicht das sicherste Mittel. Und der Überlebende nach einem Mordversuch weiß im Allgemeinen, wer der Attentäter war. Die Sache wäre zu riskant gewesen, nicht unfehlbar genug. Ich frage mich sogar, genau wie Sie, ob es überhaupt gelingen kann …»

«In der minoischen Kultur wurden die Ehebrecherinnen gesteinigt …»

«Mag sein. Aber sie starben, weil sie sehr viele Steine abbekamen. Während in unserem Fall … Man müsste einen Versuch machen. Aber das geht natürlich nicht.»

«Nebenbei bemerkt», fügte Chabrand hinzu, «im Mai 68 habe ich ein paar von dem Kaliber auf die Bullen geworfen, aber mir ist nie zu Ohren gekommen, dass einer von ihnen daran krepiert wäre.»

«Sie trugen Helme und Schilde.»

«Ja sicher, aber die Pflastersteine waren ziemlich dick …»

Der Richter wog den Stein in der Hand und schien ihn von allen Seiten zu befragen; dabei hatte er den gedankenverlorenen Gesichtsausdruck eines Hamlet, der mit dem Schädel herumspielt.

«Ein Wurf mit einem einzigen Stein», murmelte er nachdenklich, «und ein zweiundachtzig Kilo schwerer Typ liegt flach …»

«Die Waffenhersteller werden Kopf stehen. Und die Ballistikspezialisten auch.»

«Und in der Bléone liegen Millionen solcher Steine.»

«Soll ich Ihnen mal was sagen, Chabrand? Dieser Mord macht mir einen sehr üblen Eindruck.»

«Ja, aber letzten Endes kommt er mir doch wie ein sehr schöner Mord vor. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich von vornherein an seiner besonderen atmosphärischen Qualität teilhaben lassen. Das wird mir unter Umständen helfen.»

Chabrand nahm sich immer das Recht heraus, die Dinge aus einer ästhetischen Perspektive zu betrachten.

«Ich wünsche dir, dass du eines Tages jemanden liebst und dass ‹ein sehr schöner Mord› dir diesen Menschen wegnimmt!», dachte der Kommissar.

Aber wenn er sich den Untersuchungsrichter Chabrand aufmerksam ansah, konnte er sich nicht vorstellen, dass dieser düstere Unbestechliche jemals jemand anderen als die Armen und Unterdrückten lieben würde – und auch die nur theoretisch.

~ 3 ~

ES war eine jener Oktobernächte, in denen der Winter schon an den Bergen hängt und die Natur nur noch wartet, trunken von Düften, raschelnd von bewegten Blättern, wo das von den Jägern des Tages noch verschreckte Wild unter dem Schutz der Bäume vorbeihuscht.

Das Wetter war soso, lala, die Straßen trocken. Genau die richtige Jahreszeit für die Chrysanthemen-Rallye, die jedes Jahr vom Rennstall Gentiane veranstaltet wurde, dem wiederum die ganze Jeunesse dorée des Départements Basses-Alpes angehörte.

An jenem Abend handelte es sich um ein schlichtes Training. Eine kleine Rundstrecke von kaum fünfzig Kilometern, auf der die Fahrzeit gestoppt wurde: Bis zur Kreuzung von Chateauredon verlief sie über die Landstraße nach Nizza, danach führte sie durch das Asse-Tal, die Département-Straße 14