Deep Secrets - Lisa Renee Jones - E-Book
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Deep Secrets E-Book

Lisa Renee Jones

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Beschreibung

Er ist tödlich, eine Droge ... meine Droge.

Als Sara McMillan die erotischen Tagebücher einer Frau namens Rebecca findet, ist sie von deren Inhalt gleichermaßen erschüttert wie fasziniert. Sie will herausfinden, was mit Rebecca geschehen ist, und begibt sich auf die Suche nach ihr. Doch dabei gerät sie wie diese selbst in den Bann zweier geheimnisvoller Männer, die eine gefährliche Sehnsucht in ihr wecken - eine Sehnsucht, die Sara schon bald zu überwältigen droht ...


"Bei so viel erotischer Spannung drohen die Seiten in Flammen aufzugehen!" Romantic Times

Vier Romane der New-York-Times-Bestseller-Reihe "Deep Secrets" in einem eBook:


1. Deep Secrets - Berührung

2. Deep Secrets - Enthüllung

3. Deep Secrets - Hingabe

4. Deep Secrets - Geheimes Begehren

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Seitenzahl: 1733

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Inhalt

TitelZu diesem BundleBerührungWidmung123456789101112131415161718192021222324252627282930DanksagungEnthüllungWidmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031DanksagungHingabeWidmung12345678910111213141516171819202122232425EpilogDanksagungGeheimes BegehrenWidmung1234567891011121314151617181920212223EpilogDanksagungDie AutorinDie Deep-Secrets-Reihe bei LYX.digitalImpressum

LISA RENEE JONES

Deep Secrets

Berührung

Enthüllung

Hingabe

Geheimes Begehren

Zu diesem Bundle

Als Sara McMillan die erotischen Tagebücher einer Frau namens Rebecca findet, ist sie von deren Inhalt gleichermaßen erschüttert wie fasziniert. Sie will herausfinden, was mit Rebecca geschehen ist, und begibt sich auf die Suche nach ihr. Doch dabei gerät sie wie diese selbst in den Bann zweier geheimnisvoller Männer, die eine gefährliche Sehnsucht in ihr wecken – eine Sehnsucht, die Sara schon bald zu überwältigen droht …

Berührung

Ins Deutsche übertragen von Michaela Link

Für Diego – diese Geschichte ist für dich.

Alles Gute zum Geburtstag!

1

Mittwoch, 7. März 2012

Gefährlich.

Seit Monaten habe ich gute und schlechte Träume davon, wie vollkommen er dieses Wort verkörpert. Schlaftrunkene Parallelwelten, in denen ich lebhaft seinen moschusartigen, männlichen Duft riechen kann und seinen straffen Körper an meinem spüren. In denen ich seinen süßen und sinnlichen Geschmack kosten kann – wie Milchschokolade mit ihrer seidigen Versuchung, mir noch einen weiteren Bissen zu gönnen. Und noch einen. So gut, dass ich vergaß, dass es einen Preis für die Begierde gibt. Und es gibt einen. Es gibt immer einen Preis. Am Samstagabend fühlte ich mich an diese Lebensweisheit erinnert. Und ich weiß jetzt, ganz gleich, was er sagt, ganz gleich, was er tut, ich kann und werde ihn nicht wiedersehen.

Es begann wie jedes andere erotische Abenteuer mit ihm. Unberechenbar. Aufregend. Ich erinnere mich kaum daran, ab welchem Punkt alles schiefging. Wie alles eine so dunkle Wendung nehmen konnte.

Er hatte mir befohlen, mich auszuziehen und mich auf die Matratze zu setzen, an das Betthaupt gelehnt, die Beine gespreizt, damit er alles an mir betrachten konnte. Nackt vor ihm, geöffnet für ihn, war ich verletzlich und zitterte vor Verlangen. Noch nie in meinem Leben hatte ich Befehle von einem Mann entgegengenommen, und schon gar nicht gedacht, dass ich jemals wegen irgendetwas zittern würde. Aber für ihn tat ich es.

Wenn dieser Abend eines bewiesen hat, dann das: Sobald ich mit ihm zusammen bin, bin ich in seinem Bann, kann er alles von mir verlangen – und ich gebe es ihm. Er konnte mich dazu bringen, über meine Grenzen hinauszugehen, an unglaubliche Orte, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je betreten würde. Und genau deshalb kann ich ihn nicht wiedersehen. Er gibt mir das Gefühl, besessen zu sein, und beunruhigenderweise gefällt mir das. Es will mir nicht in den Kopf, wie ich so etwas mit mir machen lassen kann, und doch erfüllt mich brennendes Verlangen. Aber als ich ihn am Samstagabend am Ende des Bettes stehen sah, stattlich und muskulös, während sein Schwanz steil hervorragte, war da nichts als Verlangen.

Er war prachtvoll. Wirklich und wahrhaftig der umwerfendste Mann, der mir je begegnet war. Sofort überkam mich Lust. Ich wollte ihn bei mir haben, wollte seine Berührung spüren. Wollte ihn berühren. Aber ich weiß jetzt, dass ich ihn nicht ohne seine Erlaubnis berühren darf. Und ich weiß, dass ich ihn nicht anflehen darf, es mir zu erlauben.

Ich habe meine Lektion aus vergangenen Begegnungen gelernt. Er genießt die Verletzlichkeit, die sich im Flehen offenbart, viel zu sehr. Genießt es, sein Begehren zurückzuhalten, bis ich beinahe unter dem Brennen meines Körpers erbebe. Bis ich flüssige Hitze und Tränen bin. Er mag diese Macht über mich. Er mag es, die volle Kontrolle zu haben. Ich sollte ihn hassen. Manchmal denke ich, ich liebe ihn.

Es war die Augenbinde, die mich hätte warnen sollen. Ich sollte an einen Ort geführt werden, von dem es kein Zurück mehr gab. Im Nachhinein glaube ich, dass er es war. Er warf die Augenbinde aufs Bett, eine Mutprobe, und sofort jagte ein Schauer über meinen Rücken. Die Vorstellung, nicht sehen zu können, was mit mir geschah, sollte mich erregen – und sie erregte mich tatsächlich. Aber aus Gründen, die ich damals nicht verstand, machte sie mir auch Angst. Ich fürchtete mich, und ich zögerte.

Das gefiel ihm nicht. Er sagte es mir, sagte es mit dieser tiefen, vollen Baritonstimme, die mich unkontrolliert zittern lässt. Das Verlangen, ihm zu gefallen, war unbezwingbar. Ich legte die Augenbinde an.

Ich wurde durch die Bewegung der Matratze belohnt. Er kam zu mir. Bald wusste ich, dass ich ebenfalls kommen würde. Seine Hände glitten besitzergreifend meine Waden hinauf, über meine Schenkel. Und, Gott verdamme ihn, sie machten Halt, kurz bevor sie das Zentrum meines Verlangens erreichten.

Was als Nächstes kam, war ein schemenhafter Wirbel aus Gefühlen. Er zog mich auf den Rücken, flach auf die Matratze. Ich wusste, dass die Befriedigung nur Sekunden entfernt war. Gleich würde er in mich eindringen. Gleich würde ich bekommen, was ich brauchte. Aber zu meiner Bestürzung entfernte er sich von mir.

Und in diesem Moment, dessen war ich mir sicher, hörte ich das Klicken eines Schlosses. Es ließ mich auffahren, und ich rief seinen Namen, voller Angst, dass er gehen würde. Bestimmt hatte ich etwas falsch gemacht. Doch dann legte sich seine Hand flach auf meinen Bauch, und Erleichterung durchflutete mich. Ich hatte mir das Klicken nur eingebildet. So musste es gewesen sein. Aber es lag eine subtile Veränderung in der Luft, rohe Lust und Bedrohung erfüllten den Raum, die sich nicht nach ihm anfühlten. Doch dieser Gedanke war nur zu schnell vergessen, als er sich wuchtig zwischen meinen Schenkeln niederließ, als seine starken Hände meine Arme über meinen Kopf hoben, sein Atem warm auf meinem Hals lag – sein Körper kräftig, perfekt.

Irgendwie wurde eine seidene Krawatte um meine Handgelenke gebunden, und meine Arme wurden an den Bettrahmen gefesselt. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass er dies nicht allein hätte tun können. Dass er sich über mir abstützte, außerstande, meine Arme festzubinden. Aber er manipulierte meinen Körper, meinen Geist, und ich war sein williges Opfer.

Er hob seinen Körper von meinem, und ich wimmerte, außerstande, nach ihm zu greifen. Wieder Schweigen und das Rascheln von Stoff. Weitere seltsame Geräusche. Lange Sekunden verrannen, und ich erinnere mich an die Kühle, die über meine Haut kroch. An das Grauen, das sich in meinem Magen zusammenballte.

Und dann der Augenblick, von dem ich weiß, dass ich mich noch im Sterben an ihn erinnern werde. Der Augenblick, als der Stahl einer Klinge meine Lippen berührte. Der Augenblick, in dem er versprach, dass in Schmerzen Vergnügen läge. Der Augenblick, in dem die Klinge über meine Haut glitt als Beweis, dass er Wort halten würde. Und ich wusste jetzt, dass ich mich geirrt hatte. Er war nicht bloß gefährlich. Und schon gar nicht wie Schokolade. Er war tödlich, eine Droge, und ich befürchtete …

Ein Klopfen an meiner Wohnungstür reißt mich aus den verführerischen Worten des Tagebuchs – so abrupt, dass ich das Buch um ein Haar in die Luft schleudere. Schuldbewusst schlage ich es zu und lege es zurück auf den schlichten Eichencouchtisch, auf dem meine Nachbarin und enge Freundin Ella Ferguson es am Abend zuvor hatte liegen lassen. Ich hatte nicht vorgehabt, es zu lesen. Es war einfach … da. Auf meinem Tisch. Geistesabwesend hatte ich es geöffnet und war so entsetzt über das, was ich las, dass ich nicht geglaubt habe, es könne wirklich von meiner süßen Freundin Ella stammen. Also habe ich weitergelesen. Ich konnte nicht aufhören und weiß nicht, warum. Es ergibt keinen Sinn. Ich heiße Sara McMillan, bin Highschool-Lehrerin und dringe weder in anderer Leute Privatsphäre ein, noch genieße ich diese Art von Lektüre. Ich sage mir das immer noch, als ich die Tür erreiche, aber das brennende Ziehen in meinem Bauch kann ich nicht ignorieren.

Bevor ich meinen Besucher begrüße, halte ich inne und lege die Hände an die Wangen. Sie müssen flammend rot sein, und ich hoffe, dass – wer auch immer vor meiner Tür steht – einfach wieder gehen wird. Dafür gelobe ich im Stillen, nicht weiter in dem Tagebuch zu lesen, auch wenn ich weiß, dass die Versuchung stark sein wird. Gütiger Gott, ich fühle mich so, wie Ella sich anscheinend gefühlt hat, als sie die Szene in dem Tagebuch durchlebte – als sei ich diejenige, die sich an einen erregenden Moment und dann einen nächsten klammert. Offensichtlich sollten achtundzwanzig Jahre alte Frauen nicht fünf Jahre lang auf Sex verzichten. Das Schlimmste an der Sache ist jedoch, dass ich in die Privatsphäre einer Person eingedrungen bin, die mir etwas bedeutet.

Es klopft abermals, und ich muss mir eingestehen, dass mein Besucher wohl nicht einfach weggehen wird. Ich rufe mich zur Ordnung und ziehe am Saum des schlichten hellblauen Kleids, das ich heute für den letzten Englischkurs der zehnten Klasse der Sommerschule angezogen habe. Ich hole Luft und öffne die Tür, und ein kühler Schwall der ganzjährig kühlen Nachtluft von San Francisco fährt durch die losen Strähnen meines langen brünetten Haars, die mir aus dem Knoten im Nacken gerutscht sind. Glücklicherweise kühlt die Brise auch meine fiebrig heiße Haut. Was ist los mit mir? Wie kann ein Tagebuch eine so heftige Wirkung auf mich haben?

Ohne auf eine Einladung zu warten, rauscht Ella an mir vorbei, in einem Schwall nach Vanille duftenden Parfums und mit roten, federnden Locken.

»Da ist es ja«, sagt Ella und schnappt sich ihr Tagebuch vom Couchtisch. »Ich dachte mir doch, dass ich es hiergelassen habe, als ich gestern Abend vorbeigekommen bin.«

Ich schließe die Tür, überzeugt, dass meine Wangen erneut brennen, denn ich weiß jetzt mehr über Ellas Sexleben, als ich sollte. Ich kann mir nicht erklären, was mich dazu verleitet hat, dieses Tagebuch zu öffnen, was mich geritten hat, weiterzulesen. Was mich selbst jetzt noch dazu bringt, mehr lesen zu wollen.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, sage ich und wünsche mir sofort, ich könnte es zurücknehmen. Ich mag Lügen nicht. Ich habe genug Leute gekannt, die welche erzählt haben, und weiß, wie verheerend das sein kann. Es gefällt mir wirklich nicht, wie leicht mir diese Lüge über die Lippen gegangen ist. Schließlich geht es um Ella, meine Nachbarin, die mir im vergangenen Jahr zur Vertrauten geworden ist, zu der jüngeren Schwester, die ich niemals hatte. Zusammen sind wir die Familie, die keiner von uns hat, oder vielmehr, die keiner von uns in Anspruch nehmen konnte. Voller Unbehagen fasele ich weiter, eine schlechte Angewohnheit, die durch Nervosität verursacht wird, und anscheinend auch durch Schuldgefühle. »Ein langer Unterrichtstag«, füge ich hinzu, »und ich habe haufenweise Papierkram, den ich für die Sommerschule fertig machen muss. Sei froh, dass du dieses Jahr drum herumgekommen bist. Waren allerdings wieder ein paar großartige Kids dabei, mit denen es wirklich Spaß gemacht hat.« Ich schürze die Lippen und rede mir ein, dass ich genug gesagt habe, stelle aber fest, dass ich nicht umhin kann fortzufahren: »Ich bin erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen.«

»Nun, Gott sei Dank hast du ja jetzt etwas Zeit«, sagt Ella und nimmt das Tagebuch an sich. »Ich habe das hier gestern Abend mitgebracht, weil wir vorhatten, uns diesen Frauenfilm anzusehen. Ich wollte dir ein paar Seiten vorlesen. Aber dann hat David angerufen, und du weißt ja, wie das ausgegangen ist.« Ihre Mundwinkel wandern nach unten, und Schuldbewusstsein schwingt in ihrer Stimme mit. »Ich habe dich wie eine sehr schlechte Freundin einfach allein gelassen.«

David ist ihr heißer neuer Freund, ein Arzt. Was David von Ella will, bekommt er. Und erst jetzt weiß ich, wie wahr das ist. Ich betrachte Ella einen Moment lang. Mit ihrer taufrischen, jugendlichen Haut und bekleidet mit ausgewaschenen Jeans und einem lilafarbenen T-Shirt sieht sie eher aus wie eine meiner Schülerinnen und nicht wie eine fünfundzwanzigjährige Lehrerin. »Ich war ohnehin müde«, versichere ich ihr, aber ich mache mir Sorgen, dass sie mit diesem Mann, der zehn Jahre älter ist als sie, überfordert sein könnte. »Ich musste ins Bett, um für den Unterricht heute fit zu sein.«

»Nun, der Unterricht ist jetzt zum Glück vorbei.« Sie deutet auf das Tagebuch. »Und ich bin so froh, dass ich das hier vor meinem Date mit David heute Abend zurückhabe.« Sie zwinkert mir zu. »Vorspiel. David wird es lieben. Dieses Ding ist glühend heiß.«

Ich starre sie ungläubig an. »Du liest ihm dein Tagebuch vor?« Nie hätte ich den Mut, einem Mann so persönliche Gedanken vorzulesen – vor allem nicht, wenn sie sich um ihn drehen. »Und das als Vorspiel?«

Ella runzelt die Stirn. »Das ist nicht mein Tagebuch. Erinnerst du dich? Ich habe es dir gestern Abend erzählt. Es stammt aus den Lagerbeständen, die ich zu Beginn des Sommers bei dieser Auktion gekauft habe.«

»Oh«, sage ich, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass Ella irgendetwas über das Tagebuch gesagt hat. Dabei bin ich mir sicher, dass ich mich daran erinnern würde. »Natürlich, die Lagerauktionen, die du besucht hast, seit du so versessen auf diese Sendung Storage Wars bist. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Leute ihre Sachen einlagern, dann mit den Zahlungen in Verzug geraten und ihr Hab und Gut an den Höchstbietenden gehen lassen.«

»Und doch tun sie es«, erwidert Ella. »Und ich bin nicht versessen darauf.«

Ich ziehe eine Braue hoch.

»Okay, vielleicht bin ich es«, räumt sie ein, »aber ich werde mehr als das Doppelte von dem verdienen, was ich bekommen hätte, wenn ich in der Sommerschule unterrichtet hätte. Du solltest wirklich darüber nachdenken, ob du nicht mit mir zur nächsten Auktion gehen willst. Ich habe bereits zwei der drei Lagerbestände, die ich gekauft habe, für viel Geld losgeschlagen.« Sie hält das Tagebuch hoch. »Dies stammt aus dem letzten Posten, den ich gekauft habe, und er ist bisher der beste. Es sind Kunstwerke dabei, von denen ich weiß, dass ich dafür einen ordentlichen Batzen Geld bekommen werde. Und bisher habe ich drei Tagebücher gefunden, die absolut fesselnd sind. Ich kann gar nicht aufhören, sie zu lesen. Die Frau war so wie du und ich und ist irgendwie in eine dunkle, leidenschaftliche Situation hineingezogen worden, beängstigend und aufregend.«

Sie hat recht, und als ich mich an die Worte auf diesen Seiten erinnere, spüre ich erneut das Brennen in meinem Bauch. Beinahe kann ich mir die weiche, verführerische Stimme der Frau vorstellen, die mir ihre Geschichte zuflüstert. Ich versuche mich auf das zu konzentrieren, was Ella sagt, aber stattdessen grüble ich über diese Frau nach, frage mich, wo und wer sie ist.

»Ach herrje!«, ruft Ella aus. »Du wirst ja ganz rot. Du hast das Tagebuch doch gelesen, nicht wahr?«

Ich werde bleich. »Was? Ich …« Plötzlich fehlen mir die Worte. Hilflos sinke ich Ella gegenüber in einen dick gepolsterten braunen Sessel, befangen wegen meiner Lüge von vorhin. »Ich … ja. Ich habe es gelesen.«

Ella schnappt sich ein Couchkissen und sieht mich mit schmalen grünen Augen an. »Hast du gedacht, ich hätte dieses Zeug geschrieben?«

Ich werfe ihr einen zaghaften Blick zu. »Nun …«

»Jetzt mal langsam«, sagt sie und nimmt offensichtlich meine Antwort oder vielmehr deren Abbruch als Bestätigung. »Du hast gedacht …« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin sprachlos. Du kannst die guten Teile noch nicht gelesen haben, denn dann würdest du auf keinen Fall denken, dass da von mir die Rede ist. Aber du bist definitiv so rot geworden, als hättest du die guten Teile gelesen.«

»Ich habe einiges gelesen, das, äh, ziemlich detailliert war.«

Sie schnaubt. »Und du hast angenommen, ich hätte das geschrieben.« Wieder schüttelt sie den Kopf. »Und ich dachte, du würdest mich kennen. Aber Teufel auch, ich wünschte mir so sehr, ich könnte nur für eine einzige Nacht dieser Einschätzung gerecht werden. Das Leben dieser Frau hat eine mysteriöse Erotik, die einfach …« Sie schaudert. »Sie ist einfach unvergesslich. Sie … diese Frau … berührt mich.«

Irgendwie tröstet es mich ein wenig zu wissen, dass die Worte auf diesen Seiten sie ebenso berühren wie mich, und ich weiß nicht, warum. Warum um alles in der Welt brauche ich Trost? Es ist nicht logisch. Nichts an meiner Reaktion auf diese unbekannte Frau ist logisch.

»Sobald David und ich mit dem Tagebuch fertig sind«, fährt Ella fort und reißt mich aus meinen Gedanken, »wird er Fotos von einigen intimen Seiten machen, und dann stellen wir die Tagebücher bei eBay ein. Sie werden viel Geld bringen. Ich weiß es.«

Entsetzt starre ich sie an. »Du kannst nicht ernsthaft vorhaben, die intimen Gedanken dieser Frau bei eBay anzubieten.«

»Doch, genau das habe ich vor«, antwortet sie. »Geld regiert die Welt. Außerdem ist es, nach allem, was wir wissen, Fiktion.«

Ihre Worte klingen kalt und überraschen mich. Sie überrascht mich. Das ist nicht die Ella, die ich kenne. »Wir reden über die privatesten Gedanken einer Frau, Ella. Du willst doch bestimmt nicht von ihrem Schmerz profitieren.«

Sie senkt die Brauen. »Welchem Schmerz? Für mich klingt es nach purem Vergnügen.«

»Sie hat alles, was sie besitzt, bei der Auktion verloren. Das ist kein Vergnügen.«

»Ich schätze, ihr reicher Mann ist mit ihr an irgendeinen exotischen Ort geflogen, und sie führt ein prächtiges Leben.« Ihre Stimme wird düster. »Ich muss so denken, um das tun zu können, Sara. Bitte, mach mir kein schlechtes Gewissen. Ich brauche das Geld, und wenn ich es nicht tun würde, täte es ein anderer Käufer.«

Ich öffne den Mund, um Einwände zu erheben, gebe dann jedoch nach. Ella ist allein auf dieser Welt und hat keine Familie, abgesehen von einem alkoholkranken Vater, der die meiste Zeit seinen eigenen Namen nicht kennt, geschweige denn ihren. Ich weiß, sie hat das Gefühl, Geld für Notfälle zu brauchen. Ich kenne dieses Gefühl selbst nur allzu gut. Auch ich bin allein. Jedenfalls fast, aber darüber will ich in diesem Moment nicht nachdenken.

»Es tut mir leid«, sage ich und meine es ernst. »Ich weiß, dass das ein Glücksfall für dich ist. Ich bin froh, wenn es klappt.«

Ihre Mundwinkel ziehen sich leicht in die Höhe, und sie nickt, bevor sie sich erhebt. Ich stehe mit ihr auf und umarme sie. Sie lächelt, ihre Stimmung schlägt um, und prompt bringt sie, wie so oft, Sonnenschein in mein Leben. Ich liebe Ella wirklich.

»David und ich freuen uns schon auf diese faszinierende Inspiration«, verkündet sie schelmisch. »Ich muss los.« Sie lacht und wedelt mit der Hand. »Genieße deine Nacht. Ich werde es auf jeden Fall.«

Ich sinke in meinen Sessel zurück und beobachte, wie sich die Tür schließt.

Ein Hämmern reißt mich unsanft aus seligem Schlaf. Ich richte mich im Bett auf, desorientiert und erst halb wach, und schaue nach, wie spät es ist. Sieben Uhr früh, und das an meinem ersten unterrichtsfreien Tag.

»Wer zum Teufel schlägt da meine Tür ein?«, brumme ich, werfe die Decken von mir und schlüpfe in die pinkfarbenen, flauschigen Pantoffeln, die einer meiner Schüler mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat. Ich schnappe mir meinen pinkfarbenen Bademantel, der nicht so flauschig ist, auf dessen Rücken aber PINK geschrieben steht. Es klopft weiter.

»Sara, ich bin es, Ella!«, höre ich, während ich durch das Wohnzimmer schlurfe. »Beeil dich! Mach schon!«

Mein Herz flattert – nicht nur, weil Ella offensichtlich in Panik ist, sondern auch, weil sie im Gegensatz zu mir an ihren freien Tagen eigentlich nicht vor Mittag aufsteht. Sobald ich die Tür aufreiße, schlingt Ella die Arme um mich und verkündet: »Ich brenne durch!«

»Du läufst weg?«, stoße ich hervor, trete zurück und zerre Ella in die Wohnung, hinaus aus der Kühle des frühen Morgens. Sie trägt noch immer ihre Kleider vom Abend zuvor. »Wovon redest du? Was ist los?«

»David hat mir gestern Nacht einen Antrag gemacht«, ruft sie aufgeregt. »Ich kann es kaum glauben. Wir fliegen heute früh nach Paris.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr und kreischt. »In zwei Stunden.«

Sie drückt mir etwas in die Hand. »Da ist der Schlüssel zu meinem Appartement. Auf dem Küchentisch wirst du das Tagebuch finden und den Schlüssel zu dem Lagerraum. Wenn er nicht in zwei Wochen geräumt ist, muss man ihn mieten, oder die Sachen werden erneut bei der Auktion versteigert. Also nimm sie und verkauf den ganzen Kram. Der Erlös gehört dir. Oder lass es bleiben. So oder so, es spielt keine Rolle.« Sie grinst. »Ich brenne nach Paris durch, und dann machen wir in Italien Flitterwochen!«

Mein Beschützerinstinkt erwacht. Ich will nicht, dass Ella verletzt wird, und ich habe sie nicht ein einziges Mal sagen hören, dass sie David liebt. »Du kennst diesen Mann erst seit drei Monaten, Liebes. Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet.« Er ist passenderweise immer weggerufen worden, wenn wir uns kennenlernen sollten.

»Ich liebe ihn, Sara«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Und er ist gut zu mir. Das weißt du.«

Nein, das weiß ich nicht, aber während ich noch nach den richtigen Worten suche, greift sie bereits nach der Türklinke. »Ella …«

»Ich werde dich anrufen, wenn ich in Paris bin, also lass dein Handy an.«

»Warte!«, rufe ich und halte sie am Arm fest. »Wie lange wirst du fort sein?«

Ihre Augen leuchten vor Aufregung auf. »Einen Monat. Ist das zu glauben? Ein ganzer Monat Italien. Es ist wie im Traum.« Sie umarmt mich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Da wir Highschool-Leute dank der längeren Schultage nicht vor Oktober zurück sein müssen, werde ich für einen vollen Monat fort sein! Unfassbar, oder? Ich werde mich nie wieder über unsere längeren Schultage beklagen. Ein ganzer Monat Italien … Ich rufe dich an, und wenn wir zurückkommen, werden wir einen Empfang geben.«

Ihr Blick wird sanft. »Du weißt doch, dass ich dich am liebsten mitnehmen würde? Aber David ist davon ausgegangen, dass ich keine Familie habe. Er will mich im Sturm mitreißen, damit es keinen Abschiedsschmerz gibt.« Sie pikst in die gekräuselte Stelle, die immer zwischen meinen Brauen erscheint, wenn ich die Stirn runzle. »Hör auf, dieses Gesicht zu machen. Das wird Falten geben, wenn du älter bist. Und mir geht es gut. Mir geht es sogar großartig.«

»Das sollte es auch gefälligst«, antworte ich und will dabei in meine strengste Lehrerinnenstimme verfallen, aber meine Kehle ist dermaßen zugeschnürt, dass ich nur krächze. »Ruf mich an, sobald du gelandet bist, damit ich weiß, dass du heil angekommen bist. Und ich will Fotos. Jede Menge Fotos.«

Ella lächelt strahlend. »Ja, Ms McMillan.« Sie dreht sich um und eilt davon, winkt mir ein letztes Mal über die Schulter zu, bevor sie um die Ecke biegt.

Sie ist fort, und ich kämpfe plötzlich gegen Tränen, die ich nicht verstehe.

Ich freue mich für Ella, aber irgendwie bin ich auch besorgt um sie. Ich fühle mich … ich bin mir nicht sicher, wie ich mich fühle. Einsam vielleicht. Meine Finger krampfen sich um den Schlüssel, und plötzlich wird mir bewusst, dass ich soeben einen Lagerraum und die Tagebücher geerbt habe, von denen ich geschworen habe, dass ich sie nicht wieder lesen werde.

2

Und dann der Augenblick, von dem ich weiß, dass ich mich noch im Sterben an ihn erinnern werde. Der Augenblick, als der Stahl einer Klinge meine Lippen berührte. Der Augenblick, in dem er versprach, dass in Schmerzen Vergnügen läge …

Diese verführerischen Worte aus dem Tagebuch gehen mir durch den Kopf, am Tag von Ellas plötzlicher Abreise. Sie verfolgen mich bis zu dem Punkt, an dem ich fröstele, wann immer ich an sie denke. Sie sind der Grund, warum ich hier bin, warum ich in einem klimatisierten Lagerraum von der Größe einer kleinen Garage stehe, den, so vermute ich, die Tagebuchschreiberin irgendwann gemietet hat. Dankenswerterweise gibt es trübe Beleuchtung, und das Wohnviertel ist gut. Ich stehe hier, unsicher, was ich mir als Erstes ansehen soll, und fühle mich unbehaglich bei dem Gedanken, in den Sachen einer Fremden zu wühlen.

Der Augenblick, in dem er versprach, dass in Schmerzen Vergnügen läge.

Wieder sind diese Worte da, wie ein Gedankenwurm, ungerufen. Ich schaudere, und das nicht nur, weil das Tagebuch unleugbar erregend ist. Ich sollte nicht erregt sein. Nicht von schmerzhaftem Vergnügen und Fesselspielen. Ich weigere mich, erregt zu sein. Ich mache mir Sorgen um diese mysteriöse Frau. Außerdem bin ich meines Vaters Tochter, geradeso wie meine Mutter meines Vaters Ehefrau war, was bedeutet, dass wir seine Marionetten waren, die es nie wagten, aus seinem Schatten zu treten. Meine Mutter ist ihm im Tod entflohen, und ich habe es seither vorgezogen, ihn aus meinem Leben herauszuhalten. Trotz der fünf Jahre ohne ihn bin ich mir nur allzu deutlich bewusst, dass die nachhaltige Wirkung seiner harten Hand in meinem Leben allzu gegenwärtig ist.

Bei den Erinnerungen knirsche ich mit den Zähnen. Ich habe keine Ahnung, wieso meine Gedanken zu Dingen geschweift sind, an die ich niemals zu rühren versuche. Angestrengt konzentriere ich mich abermals auf die säuberlich zusammengestellten Möbel und Kartons, die die Wände säumen, und auf etwas, das aussieht wie gut eingepackte Kunstwerke. Ein Leben, das zurückgelassen und vergessen wurde. Wer hat das getan? Wer hat Dinge zurückgelassen, die offensichtlich wichtig genug waren, um sie ordentlich einzupacken und aufzustapeln? Ich lasse mich nicht davon überzeugen, dass ein reicher Freund diese Frau in ein exotisches Leben entführt hat. Niemand, der Unglück erlebt hat oder vielleicht sogar eine Tragödie, würde das tun. Ich werde die Probleme dieser Frau nicht noch vergrößern, indem ich ihre Sachen verkaufe. Nicht dieser Frau, korrigiere ich mich. Rebecca Mason ist ihr Name. Das zumindest steht in den Papieren, eine Telefonnummer konnten sie mir beim Management allerdings nicht geben, da ihr Anschluss »ohnehin abgemeldet ist«.

»Ich werde einen Weg finden, mich mit dir in Verbindung zu setzen und dir deine Sachen zurückgeben«, flüstere ich in den Raum, als spräche ich mit Rebecca, und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich habe das Gefühl, als sei sie hier, als spreche ich mit ihr … und es ist geradezu unheimlich. Irgendwie stärkt das nur meine Entschlossenheit, sie zu finden.

Ich seufze, denn mir ist klar, was mein Schwur bedeutet. Ich muss in ihre Privatsphäre eindringen und in ihren Sachen wühlen, um einen Weg zu finden, mich mit ihr in Verbindung zu setzen, einen Weg, um zurückzugeben, was von ihrem Leben übrig geblieben ist. Falls sie überhaupt noch lebt, denke ich erbittert und schlinge die Arme um mich.

»Hör auf damit«, tadele ich mich. Die Sensenmann-Mentalität passt nicht zu mir. Ich mag nicht mal Horrorfilme. Die Welt ist voll von echten Monstern, da muss man sich nicht auch noch welche einbilden.

Es könnte einen glücklichen Grund geben, warum Rebecca ihr Leben hinter sich gelassen hat. Einen Lotteriegewinn. Durchaus. Ja. Es gab einen guten Grund, all diese Sachen zurückzulassen. Unwahrscheinlich, aber trotzdem möglich. Zehn Millionen zu eins oder so, schätze ich – aber möglich. Also, warum trägt die Idee absolut gar nichts dazu bei, die unheimliche, hohle Atmosphäre im Raum zu vertreiben?

Erpicht darauf, es hinter mich zu bringen, lasse ich meine Handtasche zu Boden fallen und streiche mit den Händen über meine labberigen, verschossenen Jeans, bevor ich die Gegenstände um mich herum betrachte. Mein Blick fällt auf eine Schachtel, auf der in sauberer Schrift PERSÖNLICHE PAPIERE steht. Wo, wenn nicht da, sollte ich eine Adresse oder etwas Ähnliches finden können.

Zwei Stunden später sitze ich noch immer an eine Wand gelehnt und blättere Unterlagen durch, die mich absolut nichts angehen. Schulzeugnisse, Rechnungen, juristischer Papierkram, der die paar Cent der Erbschaft nach dem Tod von Rebeccas Mutter auflistet, ihrer letzten lebenden Angehörigen. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Ich denke an meine eigene Mutter, an die Frau, die so sehr versucht hat, mich meinem Vater gegenüber abzuschirmen, aber niemals irgendetwas getan hätte, um sich selbst zu schützen. Ich kneife die Augen zusammen und frage mich, ob der Schmerz über ihren Verlust jemals abebben wird. Sie war meine beste Freundin, meine engste Vertraute. Ich frage mich, ob Rebecca ihrer Mutter nahestand, so wie ich meiner nahegestanden habe. Ob sie gelitten hat, so wie ich unter meinem Verlust gelitten habe und immer noch leide.

Mit Mühe konzentriere ich mich wieder auf die Papiere und begreife, dass ich keine Familienangehörigen finden werde, um Rebecca zu erreichen. Aber glücklicherweise steht auf der Post und einem Bündel Kontoauszüge zumindest ihre Adresse, obwohl ich kaum glaube, dass sie noch stimmen wird.

Als ich alles zurück in den Karton stopfe und aufstehe, habe ich das Gefühl, dass ich bei meiner Suche nach Rebecca meinem Ziel nicht viel näher gekommen bin. Ich fühle mich steif und verkrampft – die Frau, die jeden Morgen joggt.

»Versuchen Sie es mal mit der Kommode«, erklingt eine Männerstimme hinter mir.

Ich stoße einen spitzen Schrei aus, wirble herum und sehe einen Mann in der Tür stehen, der ein Firmen-T-Shirt trägt. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf; meine Nervenenden summen mir eine Warnung zu. Er ist ein attraktiver Mann Mitte dreißig – blond, glatt rasiert, mit kurzem, abstehendem Haar, aber es ist das glimmende Interesse in seinen tief liegenden Augen, das mich nervös macht. Der ohnehin schon kleine Raum scheint zu schrumpfen und sich um mich zu schließen, und ich kann ein merkwürdiges Gefühl nicht abschütteln. Es lässt mich erstarren und liegt wie ein unsichtbares Gewicht auf meinen Schultern und meiner Brust.

»Kommode?«, krächze ich trotz der Trockenheit meiner Kehle.

»Jeder hat eine geheime Schlafzimmerschublade«, bemerkt er. Seine Stimme wird tiefer, Heiserkeit mischt sich hinein. »Einen Ort, der fast so persönlich ist wie seine Seele.«

Ich versteife mich, eine neue Woge Unbehagen überschwemmt mich. Er ist hier drin gewesen. Ich weiß es mit jeder Faser meines Seins. Er hat Rebeccas Sachen durchgesehen. Er weiß, was in der Schublade ist. Ich mag diesen Mann nicht, und ich bin mir plötzlich mit allen Sinnen der Tatsache bewusst, dass ich mit ihm allein bin, Meilen vom Highway entfernt, kein anderer Kunde in der Nähe – zumindest nicht, soweit ich das bisher gesehen oder gehört habe.

»Ich will ihre Geheimnisse gar nicht kennen«, sage ich entschieden und mit bemerkenswert fester Stimme, wenn man bedenkt, dass mir die Knie zittern. »Ich will sie finden und ihr ihre Sachen zurückgeben.«

Er mustert mich ein paar Sekunden lang, sein Blick so scharf wie der Stich des Unbehagens, das sich tief in mich hineinbohrt. Dann, als ich kurz davor bin, an dem Schweigen zu ersticken, sagt er endlich: »Wie gesagt, schauen Sie in der Schublade nach.« Seine Lippen deuten ein sarkastisches Lächeln an, er stößt sich vom Türrahmen ab. »Ich werde um neun zurück sein, um das Außengebäude abzuschließen. Wenn ich das tue, wollen Sie bestimmt nicht mehr hier drin sein.« Ohne ein weiteres Wort ist er verschwunden.

Ich bewege mich nicht. Ich kann mich nicht rühren. Ich will die Tür zuschlagen, wage es aber nicht, da sie von außen abzuschließen ist, ein Gedanke, der mir furchtbare Angst einjagt.

Sekunden verrinnen, und ich warte darauf, dass die Schritte des Mannes in der Ferne verklingen. Weg. Ja. Weg. Ich muss hier weg.

Ich stürze zu der glänzenden Mahagonikommode an der Wand und reiße die obere rechte Schublade auf. Gott, das Herz schlägt mir bis zum Hals, und ich kriege kaum noch Luft. Ich muss eine Pause machen und mich dazu zwingen, ein- und langsam wieder auszuatmen. Ich zittere und habe irrationalerweise Angst. Ich zähle bis dreißig, dann kann ich wieder atmen. Ich bin okay. Alles ist okay.

Ich öffne die linke Schublade, und der Atem, den ich endlich wiedergefunden habe, stockt mir beim Anblick des Inhalts. Eine dreißig mal zwanzig Zentimeter große schwarze Samtschatulle mit einem Schloss. Ein roter Seidenschal. Drei rote, in Leder gebundene Tagebücher.

Ich nage an meiner Unterlippe, werfe einen Blick auf den Flur und dann zurück zu der Kommode. Trotz meiner Nervosität bin ich fasziniert, habe aber Angst, dass der unheimliche Mann zurückkehren wird.

Rasch konzentriere ich mich wieder auf die Schublade und suche nach einem Schlüssel zu der Schatulle, sage mir, dass vielleicht Kontaktinformationen darin sein könnten. Dass ich nicht etwa sexuellen Gelüsten nachgebe.

Ich klappe alle Tagebücher auf und schüttle sie, in der Hoffnung, lose Papiere zu finden, oder einen Schlüssel. Eine Broschüre fällt aus einem der Tagebücher, und als ich sie beiseiteschieben will, rutschen noch weitere Broschüren heraus.

Ich hebe eine von ihnen auf und lese »Allure Art Gallery«, San Francisco. Es sind alles Allure-Broschüren. Allure ist die größte und angesehenste unter den vielen Galerien San Franciscos. Ich erinnere mich daran, dass Ella Kunstwerke erwähnt hat, die sie in dem Lagerraum gefunden hat. Anscheinend teilen Rebecca und ich trotz des gewaltigen Unterschieds in unserem Liebesleben das Interesse an Kunst. Ich liebe Kunst, angefangen von der Geschichte bis hin zum kreativen Prozess. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich mir den rechten Arm abgeschnitten, um in der Kunstbranche arbeiten zu können. Genau das war mein großer Traum. Ein Traum, den ich vor Jahren begraben habe, als Alltag, Rechnungen und Verantwortung den Vorrang erhielten.

Irgendwo draußen ertönt ein lautes Krachen, und ich fahre zusammen. Ich drücke mir die Hände auf die Brust und zwinge mein Herz, nicht verrückt zu spielen. Donner. Das Krachen war ein Donnerschlag. Gleich wird es ein Gewitter geben. Ein weiteres lautes Grollen dringt durch die Wände und hallt zwischen ihnen wider, als sei ich in einer Höhle – beinahe wie ein warnendes Omen, das mir sagt, ich solle mich zum Teufel noch mal beeilen. Du lieber Himmel, meine Fantasie geht mit mir durch, aber ich werde dieses unbehagliche Gefühl nicht ignorieren. Ich schnappe mir meine Handtasche, staple die Tagebücher auf dem Arm, wobei ich mich vor mir rechtfertige, dass ich sie mitnehme, weil sie meine einzige Hoffnung sind, einen Hinweis auf Rebeccas jüngsten Aufenthaltsort zu finden. Ich will den Raum gerade verlassen, zögere aber, bevor ich mich zu der Schublade umdrehe, um die Schatulle herauszunehmen. Meine Hände zittern noch immer, während ich mit Mühe die Gegenstände ausbalanciere, die ich auf dem Arm habe, und das Schloss am Lagerraum befestige.

Schnell gehe ich durch einen schmalen, schwach beleuchteten Flur, vorbei an Reihen verschlossener Räume wie dem, den ich gerade verlassen habe. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland, die kurz davorsteht, durch das Kaninchenloch in die Tiefe gesaugt zu werden. Ich trete durch den Haupteingang und stelle fest, dass der Parkplatz bereits im Dämmerlicht des sich zusammenbrauenden Sturms liegt. Wie konnte mir nur dermaßen die Zeit davonlaufen?

Halb rennend nähere ich mich meinem silbernen Ford Focus, und das dank meiner hellblauen Nike-Laufschuhe mit verstohlener Lautlosigkeit. Meine Schlüssel sind noch in der Handtasche, und ich weiß nicht, warum ich sie nicht vorher herausgenommen habe. Ich will die Last aus meinen Armen auf die Motorhaube legen, um in meiner Handtasche zu wühlen, und bringe es fertig, eins der Tagebücher fallen zu lassen. Während ich danach greife, entgleitet mir ein weiteres.

»Mist«, murmle ich und hocke mich hin, hebe sie auf, aber die Härchen in meinem Nacken stellen sich abermals auf, und trotz der kalten Wassertropfen, die mir auf den Scheitel platschen, stehe ich nicht auf. Mein Blick wandert zu einem Schatten in der Nähe des offenen Liefereingangs, aber dort ist niemand. Ich springe auf die Füße; mein Magen rumort. Steig in den Wagen. Steig ein. Warum stehst du draußen vor dem Auto?

Meine Finger gehorchen kaum, während ich meine Schlüssel aus der Handtasche fische und die sonderbare Verfolgungsangst verfluche. Ich reiße die Autotür auf, werfe meine Handtasche hinein und steige ein. Die Tagebücher und die Schatulle nehme ich auf den Schoß. Ich kann die Tür gar nicht schnell genug verriegeln und atme erst auf, als ich es klicken höre. Endlich im Wagen eingeschlossen, lege ich alles auf den Beifahrersitz.

Ich bin im Begriff, den Motor zu starten, als irgendetwas meinen Blick an die Seite des Gebäudes lenkt. Jäh schnappe ich nach Luft. Im Schatten unter einer schmalen Markise steht, ein Bein gegen die Wand gestemmt, der Mann, der mich vor einigen Minuten aufgesucht hat. Er beobachtet mich.

Ich lasse den Motor an und spreche ein stummes Dankgebet, als er anspringt. Ich kann gar nicht schnell genug von hier wegkommen.

Ich bin auf halbem Weg nach Hause, als das Unwetter mit prasselndem Regen und grellen Blitzen über der Stadt losbricht. Obwohl es Freitagabend ist, finde ich prompt keinen Parkplatz an meinem Appartementkomplex. Da meine Handtasche aber wegen Schiffsladungen von Hausarbeiten die Größe eines kleinen Koffers hat, kann ich die Schatulle und Tagebücher mühelos darin verstauen, um sie gegen den Platzregen zu schützen. Einen nassen Lauf später und mit tropfenden Haaren und Kleidern knipse ich das Licht in meiner Wohnung an. Rasch schließe ich die Tür hinter mir ab, genauso eilig, wie ich von dieser Lagerhalle wegkommen wollte.

Vielleicht geht meine Fantasie wegen dieser mysteriösen Rebecca Mason mit mir durch, aber ich habe das Gefühl, als würde ich verfolgt. Dieser Mann in der Lagerhalle hat mir Angst gemacht. Der bloße Gedanke an ihn lässt mich schaudern. Nun gut, ich bin tropfnass, und obwohl es August ist, sind draußen den Nachrichten zufolge kühle elf Grad.

Wasser sammelt sich zu meinen Füßen, und ich ziehe die Schatulle und die Tagebücher schnell aus der durchweichten Handtasche und lege sie auf den Teppich, bevor ich mich im Flur ausziehe. Mein brauner Teppich ist ein Schmutzmagnet, aber mieten bedeutet, dass man nimmt, was man kriegen kann. Ich gehe zum Bad und zögere, dann eile ich wieder zurück, um mir mein Handy zu schnappen, weil es mir einfach besser geht, wenn ich es bei mir habe. Allerdings sage ich mir, dass ich es tue, um Ella anzurufen. Ich lasse mir ein heißes Bad ein und wähle ihre Nummer in der Hoffnung, dass sie vielleicht weiß, wo Rebecca zu finden ist, und um zu hören, dass sie gut angekommen und glücklich ist. Die automatische Ansage signalisiert mir, dass Rebecca kein Netz hat, aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Ich bin ein einziges Nervenbündel, und es macht mich selbst wahnsinnig.

Fünfundvierzig Minuten später, frisch gebadet und bekleidet mit pinkfarbenen Boxershorts und einem passenden T-Shirt, das Haar weich und trocken und nach meinem Lieblingsrosenshampoo duftend, tadele ich mich dafür, so paranoid zu sein. Ich gehe zum Kühlschrank, um mir einen süßen Trost gegen Kümmernisse zu holen – einen großen Becher Ben & Jerry’s Boston Cream Pie.

Mein Blick wandert zu Rebeccas persönlichen Dingen, die immer noch zusammen mit meinen abgestreiften Kleidern an der Tür liegen. Ich hätte in dem Lagerraum bleiben sollen, bis ich ihre Kontaktdaten finde. Jetzt habe ich keine andere Wahl, als zwischen den Seiten dieser Tagebücher zu suchen. Oder in der Schatulle … die ich nicht öffnen kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, warum ich sie überhaupt mitgenommen habe.

Einige Minuten später sitze ich mit meinen guten Freunden Ben & Jerry auf dem Sofa, die Tagebücher und die Schatulle liegen auf dem Couchtisch. Nach wie vor weiß ich nicht, wie ich die Schatulle öffnen soll, ohne sie zu beschädigen.

In Ermangelung einer Alternative greife ich nach einem der Tagebücher und schlage es auf. In zierlicher, weiblicher Schrift steht dort »2011«, allerdings kein Monat. Ich frage mich, ob dies vor oder nach dem Tagebuch geschrieben wurde, das Ella vorgestern Abend in meinem Appartement liegen gelassen hat.

Ich blättere durch die Seiten und versuche, nach Worten Ausschau zu halten, die vielleicht Rückschlüsse darauf zulassen, wo sie arbeitet. Beim Überfliegen erhasche ich kleine Bröckchen von Rebeccas Leben. Die Nacht war heiß, und mein Körper war durstig. Ich atme tief ein und blättere die Seite um. Dies ist wohl eindeutig zu privat, um Aufschluss über einen Arbeitsplatz zu geben. Diese Frau hat mit solch blumigen, exotischen Worten geschrieben. Wer schreibt so? Mein Leben hat sich an dem Tag verändert, an dem ich die Kunstgalerie betreten habe. Okay, das fesselt meine Aufmerksamkeit aus den richtigen Gründen. Offenbar sollte ich in der Galerie nach Rebecca suchen. Aber hat sie dort gearbeitet oder eingekauft? Oder war sie vielleicht Malerin?

Ich lese weiter.

Ich habe mich verändert. Es hat mich verändert. Diese Welt hat mich verändert. Er sagt, er habe mir einfach geholfen, mein wahres Ich zu enthüllen. Ich weiß nicht einmal mehr, was das wahre Ich ist.

»Er – wer?«, flüstere ich dem Text zu.

Die Orte, die ich jetzt erreiche, sowohl emotional als auch körperlich, sind dunkel und gefährlich. Ich weiß es, doch wohin er mich führt – wohin sie mich führen –, folge ich.

Ich runzle die Stirn und denke an den Tagebucheintrag, in dem jemand den Raum betreten hat, während Rebecca eine Augenbinde trug und dann ans Bett gefesselt wurde.

Wie kann Furcht erregend sein? Wie kann Furcht bewirken, dass ich begehre und entflammt bin? Und doch will ich, ersehne ich, wage ich Dinge, von denen ich nie geglaubt habe, dass ich dazu in der Lage wäre. Ist dies das wahre Ich? Diese Vorstellung macht mir Angst bis ins Mark. Dies kann nicht ich sein. Das bin nicht ich. Aber noch mehr als diese Furcht, dass ich eben doch jemand bin, den ich nicht kenne, fürchte ich die Vorstellung, nicht diese Person zu sein. Die Vorstellung, in die Vergangenheit zurückzugehen. Wieder das brave Mädchen mit einem langweiligen Leben zu sein, das in einem Null-acht-fünfzehn-Job Papier über einen Schreibtisch schiebt. Niemals glücklich, niemals zufrieden. Zumindest fühle ich jetzt etwas. Der Rausch von Angst ist viel besser als die Niedergeschlagenheit der Langeweile. Das Hochgefühl, nicht zu wissen, was als Nächstes kommt, ist so viel besser als das Wissen, dass ein Tag so sein wird wie der vorangegangene. Niemals Erwartung, niemals irgendein Gefühl. Nein. Ich kann nicht zurück. Also, warum habe ich solche Angst, nach vorn zu gehen?

Donner grollt und reißt mich vorübergehend aus meiner Versunkenheit. Ich schaue zum Fenster, wo Regen auf die Scheibe klatscht, und rolle mich geistesabwesend in der Ecke des Sofas zusammen, ganz in Gedanken verloren. Ich bin so anders als diese Frau, die diese Worte geschrieben hat, und doch verspüre ich eine seltsame Verbundenheit mit ihr. Ich liebe die Kinder, die ich unterrichte, aber ich spüre den Schmerz, wenn ich sie ermutige, ihren Träumen zu folgen, und weiß, dass ich es selbst nicht getan habe. Weiß, dass meine Worte scheinheilig sind. Ich verstehe, wie es ist, jeden Tag verstreichen zu sehen in der Gewissheit, dass ich meinen Träumen nicht nähergekommen bin. Jobs in der Kunstwelt sind so selten, und sie werfen so wenig ab, dass ich meine Leidenschaft nicht zu meinem Beruf machen kann.

Ein Seufzer entringt sich mir, und mein Blick kehrt zu der Seite zurück. Ich bin verloren in einer Welt, die nicht meine ist und niemals meine sein kann, aber irgendwie ist sie es in diesem Moment doch.

Drei Stunden später ist von dem Regen nur noch ein Nieseln übrig, und ich lümmle nicht mehr auf dem Sofa herum. Irgendwie hat meine Suche dazu geführt, dass ich alle drei Tagebücher gelesen habe, die erst erotisch und erregend waren, dann aber geradezu beängstigend wurden. Ich sitze jetzt aufrecht da, und meine Augen hängen an den Worten des letzten Eintrags.

Ich will raus. Das ist nicht mehr berauschend. Es ist nicht mehr aufregend. Aber er wird mich nicht rauslassen. Er wird mich nicht gehen lassen. Und ich weiß nicht, wie ich ihm entfliehen soll. Er war bei der Show heute Abend, hat mich beobachtet, mich gestalkt. Ich wollte wegrennen. Ich wollte mich verstecken. Aber ich habe es nicht getan. Ich konnte es nicht. In der einen Minute habe ich mit einem Kunden geredet, in der nächsten war ich in einer dunklen Ecke, mit ihm, tief in mich eingedrungen. Als es vorüber war, strich er mir übers Haar und versprach mir, sich später mit mir zu treffen. Heute Nacht. Sobald ich allein war, eilte ich in den Kameraraum, um an das Band zu kommen, um ihn daran zu hindern, es sich zu nehmen, und mit ihm mich. Aber es war fort. Er hatte es geholt, bevor ich es retten konnte. Und jetzt …

Das war es. Mehr nicht. Als sei sie von irgendetwas oder irgendjemand gestört worden und hätte aufgehört zu schreiben. Ich starre auf die leere Seite, und das Herz hämmert in meiner Brust. Sind diese Tagebücher vor oder nach dem geschrieben worden, was ich am Abend zuvor gelesen habe, frage ich mich erneut. Denn wenn sie sie vorher geschrieben hat, wüsste ich, dass Rebecca okay ist. Ich wähle Ellas Nummer und werde erneut von der automatischen Ansage begrüßt, die ich nicht hören will.

Frustriert springe ich auf und gehe auf und ab, fahre mit den Fingern durch mein bereits zerzaustes Haar. Rebecca Mason musste die Stadt verlassen haben – das war der Grund, warum ihre Sachen in diesem Lagerraum waren. Aber warum ist sie nicht zurückgekommen, um sie zu holen? Oder hat die Gebühr für den Lagerraum bezahlt?

Ich balle die Fäuste und zwinge mich, sie langsam zu öffnen, zwinge meine Schultern, sich zu entspannen. Ich werde logisch vorgehen, und das wird mich beruhigen. Es gibt keinen Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ich werde einfach in der Galerie anrufen und Rebecca dort aufspüren, werde feststellen, dass alles gut ist, und Rebecca ihre Sachen zurückgeben. Ende der Geschichte. Sehr gut. Perfekt. Dann werde ich mit meiner Arbeit für die Sommerschule fortfahren.

Ich reiße mein Telefon vom Couchtisch und will anrufen, kann mich aber gerade noch bremsen. Es ist nach Mitternacht, und ich habe versucht, Ella anzurufen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie spät es in Paris ist, und jetzt versuche ich, die Kunstgalerie anzurufen. So viel zum Thema Ruhe und Gefasstheit.

Rebecca Mason ist in den Seiten dieses Tagebuchs lebendig geworden, als wäre sie ein Teil von mir. Als wäre ich Rebecca geworden, während ich diese Tagebücher gelesen habe. Ich spüre eine so innige Verbindung zu dieser Fremden, dass es geradezu unheimlich ist. Oder vielleicht, denke ich nüchtern, ist mein eigenes Leben einfach so verdammt langweilig, dass ich mich verzweifelt nach ein wenig Aufregung sehne. So wie es Rebecca ergangen ist, bevor sie ihn kennenlernte.

Bei diesem Gedanken schlinge ich die Arme um mich und beschließe, ins Bett zu gehen. Aber nicht, ohne die Tagebücher mitzunehmen.

3

»Rebecca ist nicht da.«

Dieselbe Antwort hat mir der Mann, der in der Galerie immer ans Telefon geht, schon bei meinem letzten Anruf gegeben. Und bei dem davor.

»Sie ist im Urlaub«, antworte ich. »Das hat man mir die ganze Woche gesagt. Es ist Freitag. Wird sie Montag zurück sein?«

Stille sickert durch die Leitung. »Ich kann eine Nachricht notieren.«

Ich habe bereits mehrere hinterlassen und sehe keinen Grund für eine weitere. »Nein, danke.« Ich lege auf und nippe an meinem Latte-Vanille aus dem Café Barnes & Noble. Dort habe ich gerade einem Football-Spieler Nachhilfe gegeben, der bei den Colleges mit mehr als seinen Fähigkeiten auf dem Spielfeld Eindruck machen will.

Die Sache mit Rebecca macht mich wahnsinnig. Es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, bis ich den Lagerraum räumen muss – nur noch eine Woche. Danach würden zweihundert Dollar für einen weiteren vollen Monat fällig. Ein harter Schlag ins Kontor, da meine Ersparnisse sowieso knapp bemessen sind. Der Manager hat mir schon eine zusätzliche Woche kostenlos gewährt, wofür ich dankbar bin, aber ich muss die Sache zum Abschluss bringen, und zwar schnell.

Auf meinem Laptop klicke ich die Website der Allure Art Gallery an. Vielleicht haben sie dort eine Liste ihrer Mitarbeiter. Tatsächlich gibt es eine, und Rebecca ist aufgeführt, als Marketingchefin. Hm. Nun, das ist gut. Das muss ein Zeichen dafür sein, dass mit ihr alles in Ordnung ist. Oder?

Ein Werbebanner am Rand der Seite erregt meine Aufmerksamkeit, und ich klicke es an. An diesem Mittwochabend findet in der Galerie eine Vernissage statt, und es werden nicht gerade unbekannte Künstler ausgestellt. Ein Kitzel durchläuft mich, als ich entdecke, dass auch der hochgelobte Ricco Alvarez dabei ist. Ich bewundere Ricco Alvarez’ Darstellung seines Heimatlands Mexiko, und obwohl es in einer so kunstverliebten Stadt wie San Francisco ziemlich gut bekannt ist, dass eine Größe wie er hier ein Haus besitzt, lässt er sich nur selten sehen. Aber andererseits ist dies eine gute Sache, ein Wohltätigkeitsereignis mit Smokings, dreistelligen Eintrittspreisen und einem Kunstwerk von Alvarez, das versteigert wird und dessen Erlös an ein örtliches Kinderkrankenhaus gehen wird. Bei einem solchen Ereignis muss die Marketingchefin auf jeden Fall dabei sein.

Ich überdenke meine Möglichkeiten. Wenn ich Rebecca vor der Vernissage nicht erreichen kann, werde ich einfach hingehen. Lautlos lache ich über mich selbst. Mache ich mir nicht etwas vor? Ich werde Ricco Alvarez sehen, selbst wenn ich für die nächsten zwei Wochen Fertignudeln esse, um es mir leisten zu können. Und da die Tickets hundert Dollar das Stück kosten, wird es wohl so kommen. Aber ich prasse nie, niemals. Ich beiße mir auf die Unterlippe und winde mich, und dann, bevor ich mich daran hindern kann, klicke ich auf den Button für TICKET KAUFEN. Ich werde keine Rückzahlung erhalten, falls ich Rebecca vorher erreichen kann, aber das Risiko gehe ich ein. Ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Es ist nicht gerade eine Strafe, Ricco Alvarez kennenlernen zu müssen. Jetzt, da ich einen Plan habe, fühle ich mich besser. Wenn ich nur noch Ella erreiche und höre, dass es ihr gutgeht, kann ich heute Nacht vielleicht sogar schlafen.

Der Mittwochabend kommt, Rebecca ist immer noch »nicht im Haus«, und ich mache mich auf den Weg zu der Alvarez-Vernissage. Aber meine Vorfreude ist von dem Gefühl gedämpft, dass irgendetwas wirklich nicht stimmt. Die ganze Situation macht mich ängstlich, und obwohl ich etwas Gesellschaft und moralische Unterstützung für die Ausstellung heute Abend vorgezogen hätte, habe ich die Idee, mir eine Begleitung zu suchen, wieder fallen lassen. Wie sollte ich jemandem erklären, warum ich auf der Suche nach Rebecca Mason bin, die ich nicht kenne und von der ich befürchte, dass sie ein vorzeitiges … irgendetwas ereilt hat. Ich werde mir nicht einmal gestatten, darüber länger nachzudenken. Und es wird meine Sorge nicht mindern, wenn ich jemand anderes an Rebeccas privaten Aufzeichnungen teilhaben lasse.

Ich steuere einen Parkplatz mehrere Häuserblocks von der Galerie entfernt an. Als ich die Autotür öffne, weht mir der kühle Abendwind vom nahen Meer ein paar lose Haarsträhnen ins Gesicht. Gänsehaut überzieht meine Arme, und ich werfe mir einen Schal über mein schlichtes, aber elegantes knielanges Etuikleid. Okay, in Wirklichkeit sind es Ellas Kleid und ihr Schal, beide cremefarben, aber wir leihen uns immer Klamotten. Der Form halber hätte ich sie gern gefragt, ob es ihr etwas ausmacht, aber sie ist immer noch nicht erreichbar. Ich schließe den Wagen ab und lasse meine Schlüssel in die zierliche, cremefarbene Umhängetasche gleiten, die ich im letzten Sommer auf dem Pier gekauft habe.

Ich atme tief ein, heiße die Geräusche und Bilder willkommen, den quirligen SoMa Art District, wo es von Leuten wimmelt, die die Läden, Museen und Kunstgalerien lieben. Ich komme nicht oft hierher. Ich kann einfach nicht. Es erinnert mich zu sehr an meine Träume, denen ich nicht gefolgt bin. Dennoch ist es zu lange her, nämlich fast ein Jahr, seit ich die Straßenszene mit den vielen Geschäften genossen habe. Die Architektur, die von neuen, glänzenden Glasbauten bis hin zu alten Lagerhäusern reicht, die zu Wohn- und Arbeitsräumen umgebaut wurden, ist ebenso sehr Kunst wie die Skulpturen und Zeichnungen auf den Betonwänden mancher Gebäude. Hier spüre ich etwas Besonderes. Hier fühle ich mich lebendig. Weniger gut fühle ich mich, wenn ich mich von diesem Viertel wieder losreißen muss.

Als die Galerie in Sicht kommt, halte ich inne und beobachte, wie ein Grüppchen elegant gekleideter Besucher die mit schimmerndem Silber eingefassten, gläsernen Doppeltüren passiert – ein passender Rahmen für die Abendgarderobe. Kunstvoll verschlungene rote Lettern, die über dem Eingang leuchten, fügen sich zu dem Wort ALLURE zusammen.

Mein Magen flattert vor Nervosität, obwohl ich nicht sagen kann, warum. Ich liebe die zeitgenössische Kunst, auf die Allure spezialisiert ist, liebe ihre Mischung aus einheimischen jungen Künstlern, die man neu entdecken kann, und etablierten Namen, deren Werke ich bereits zu schätzen weiß. Meine Nervosität ist lächerlich. Ich fühle mich unbehaglich, aber dies ist schließlich auch nicht meine Welt. Es ist Rebeccas Welt, und Rebecca ist der wahre Grund, warum ich hier bin.

Ein Blick auf meine handgearbeitete goldene Armbanduhr, ebenfalls auf dem Pier gekauft, bestätigt, dass ich noch reichlich Zeit habe. Es ist Viertel vor acht – noch fünfzehn Minuten, bis Alvarez sein neues Gemälde enthüllt, das während der anonymen Auktion bis zum Ende der Woche in der Galerie ausgestellt bleiben wird. Oh, wie gern ich einen echten Alvarez hätte – aber sie sind unerschwinglich. Trotzdem, ein Mädchen darf träumen.

Als ich den Eingang erreiche, mischt sich Aufregung in mein Unbehagen. Eine junge Brünette in einem schlichten schwarzen Kleid hält mir die Tür auf und schenkt mir ein Lächeln. »Willkommen.«

Ich erwidere das Lächeln, betrete die Galerie und spüre, wie das Mädchen, das in den Zwanzigern ist, Unsicherheit ausstrahlt, während ich vorbeigehe. Eine Verunsicherung, die zu schreien scheint: »Ich bin neu und habe keine Ahnung, was ich tun soll.« Dies ist nicht Rebecca, von der ich weiß, dass sie verwegen und selbstbewusst auftreten wird. Die Hostess dagegen bringt die Lehrerin in mir zum Vorschein, und ich kämpfe gegen den Drang, sie zu umarmen und ihr zu sagen, dass sie ihre Sache gut macht. Ich bin eine Glucke. Das habe ich von meiner Mutter, genau wie die Liebe zur Kunst, nur dass ich mit dem Pinsel nicht so talentiert war wie sie. Das Mädchen wird vor meiner Bemutterung gerettet, weil Klavierspiel von irgendwo weiter hinten an mein Ohr dringt und meine Aufmerksamkeit auf den Hauptausstellungsraum lenkt. Ich bin voller Ehrfurcht. Es ist nicht mein erster Besuch in dem Dreihundert-Quadtratmeter-Wunder der Allure Gallery, aber das dämpft nicht meine Aufregung darüber, wieder hier zu sein.

Der Eingang führt in den Hauptausstellungsraum, der wie ein funkelndes weißes Wunder anmutet. Die Wände sind schneeweiß; der Boden glitzert wie weiße Diamanten. Die glänzenden Raumteiler wölben sich wie abstrakte Wellen, und alle sind geschmückt mit kontrastierenden, nach Aufmerksamkeit heischenden, bunten Kunstwerken.

Ich wende mich von dem Ausstellungsraum ab und halte einer Hostess hinter einem Podium meine Eintrittskarte hin. Sie ist hochgewachsen und elegant, mit langem rabenschwarzem Haar. »Rebecca?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Nein, tut mir leid«, sagt sie. »Ich bin Tesse.« Sie hebt einen Finger und sieht durch die Glastüren einen Kunden an, um den sie sich offensichtlich kümmern muss.

Ich warte geduldig und hoffe, dass diese junge Frau mir Rebecca vorstellen kann. Ich lausche aufmerksam, während sie den neuen Gast zu einer kleinen Treppe dirigiert, die zu der Musik führt und anscheinend auch dorthin, wo Ricco Alvarez sein Meisterwerk enthüllen wird.

»Entschuldigen Sie«, sagt Tesse schließlich und schenkt mir nun ihre volle Aufmerksamkeit. »Sie suchen Rebecca. Bedauerlicherweise ist sie heute nicht dabei. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Enttäuschung erfüllt mich. Eine Alvarez-Ausstellung zu versäumen ist nicht das, was man von jemandem in Rebeccas Position erwarten würde. Ich will wenigstens sicher sein, dass Rebecca wohlauf ist. Mich als Fremde auszugeben, ist vermutlich nicht zielführend. »Meine Schwester ist eine alte Freundin von Rebecca. Sie hat mir gesagt, ich solle ihr auf jeden Fall Hallo sagen und ihr Rebeccas neue Telefonnummer besorgen. Sie meinte, dass Rebecca bei großen Events wie diesem sicherlich anwesend wäre, und wird enttäuscht sein, dass ich sie verpasst habe.«

»Oh, das ist mir wirklich unangenehm«, sagt Tesse und wirkt aufrichtig besorgt. »Ich bin nicht nur neu hier, ich arbeite auch bloß Teilzeit, wie es gerade notwendig ist, daher höre ich nicht viel von dem, was intern los ist. Aber ich nehme an, Rebecca hat sich freigenommen. Mr Compton wird es bestimmt wissen.«

»Mr Compton?«

»Der Geschäftsführer«, sagt sie. »Er wird gleich mit der Präsentation beschäftigt sein, aber ich kann Sie nachher mit ihm bekannt machen, wenn Sie möchten.«

Ich nicke. »Ja. Bitte. Das wäre wunderbar.«

Das Klavierspiel bricht abrupt ab. »Sie werden gleich anfangen«, eröffnet Tesse mir. »Sie sollten sich einen Sitzplatz sichern, solange es noch geht. Nach der Präsentation werde ich Ihnen Mark sicher vorstellen können.«

Ein Kribbeln durchfährt mich. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sage ich, bevor ich mich auf den Weg zum Sitzbereich mache. Ich kann kaum glauben, dass ich gleich sehen werde, wie Alvarez eines seiner Bilder präsentiert.

Ein Platzanweiser im Smoking begrüßt mich am Fuß der Treppe und hilft mir, einen Sitzplatz zu finden. Und, oh Gott, ich brauche Hilfe. Vor der Mini-Bühne sind mindestens zweihundert Stühle aufgereiht. Sie sind vor einem Erkerfenster aufgestellt, das sich fast über die ganze Wand zieht, und nahezu alle sind besetzt.

Ich zwänge mich in eine mittlere Reihe, neben einen Mann, dessen ganze Erscheinung – vom langen hellblonden Haar bis zu den Jeans und dem Blazer – signalisiert: Ich bin ein Kunstrebell. Eine Frau in den Fünfzigern ist verärgert darüber, dass sie mich vorbeilassen muss. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass der Mann unglaublich gut aussieht, und ich bin nicht leicht zu beeindrucken. Schließlich weiß ich zu gut, dass Schönheit oft nur Fassade ist.

»Sie sind spät dran«, sagt der Mann, als kenne er mich, und ein freundliches Lächeln umspielt seine Lippen. Seine grünen Augen, die von feinen Fältchen umgeben sind, blitzen schelmisch. Ich schätze ihn auf ungefähr fünfunddreißig. Nein. Dreiunddreißig. Ich bin bei solchen Dingen treffsicher und kann Menschen gut einschätzen. Meine Kinder in der Schule haben das oft zu spüren bekommen, wenn sie irgendeinen Streich im Sinn hatten.

Ich lächle den Mann an und fühle mich sofort wohl neben ihm, obwohl ich – abgesehen von meinen Schülern – normalerweise ziemlich reserviert im Umgang mit Fremden bin. »Und Sie haben vergessen, Ihren Smoking abzuholen, wie ich sehe«, necke ich ihn. Ich frage mich, wie er es eigentlich geschafft hat, in diesem Aufzug hier hereinzukommen.

Er streicht sich über den aschblonden Bart, der eher ein Zweitagebart ist. »Zumindest habe ich mich rasiert.«

Mein Lächeln wird noch breiter, und ich will gerade antworten, aber das Pfeifen eines Mikrofons durchdringt den Raum. Ricco Alvarez – ich kenne sein Gesicht von Fotos – hat die Bühne betreten und stellt sich neben die Staffelei, auf der, verhängt mit einem weißen Laken, zweifellos sein neuestes Meisterwerk steht. Weltgewandt und James-Bond-mäßig in seinem Smoking ist er das absolute Gegenteil des Mannes neben mir.

»Willkommen alle miteinander«, sagt er mit einer Stimme, in der – wie auch in seinen Arbeiten – ein deutlicher Akzent seines spanischen Erbes mitschwingt. »Ich bin Ricco Alvarez, und ich danke Ihnen an diesem wundervollen Abend dafür, dass Sie meine Liebe zu Kunst und Kindern teilen. Und so zeige ich Ihnen das, was ich Chiquitos nenne oder Kleine Kinder.«

Er reißt das Laken herunter, und alle keuchen überrascht auf. Das Bild ist so ganz anders als alles, was er zuvor gemacht hat. Statt einer Landschaft ist es ein Porträt von drei Kindern, alle verschiedener Nationalität, die einander an den Händen halten. Es ist gekonnt gemacht und passend zum Anlass. Aber insgeheim hatte ich mir eine seiner wunderbaren Landschaften gewünscht.

Der Mann neben mir stützt einen Ellbogen aufs Knie und senkt die Stimme. »Was denken Sie?«

»Es ist perfekt für den Abend«, antworte ich vorsichtig.

»Oh, wie diplomatisch«, sagt er mit einem leisen Lachen. »Sie wollten eine Landschaft.«

»Er malt wunderschöne Landschaften«, verteidige ich mich.

Er grinst. »Er hätte eine Landschaft malen sollen.«

»Und jetzt«, verkündet Ricco, »während das Bieten beginnt, werde ich die Runde durch den Raum machen und Fragen zu meinen zahlreichen Werken beantworten, die heute Abend hier ausgestellt sind. Ich hoffe das Vergnügen zu haben, möglichst viele von Ihnen kennenzulernen. Bitte, fühlen Sie sich frei, zur Bühne zu kommen, um Chiquitos genauer in Augenschein zu nehmen.«

Fast sofort erheben sich die Leute.

»Gehen Sie, um es sich aus der Nähe anzusehen?«, frage ich den Mann neben mir.