degenerama - Jek Hyde - E-Book

degenerama E-Book

Jek Hyde

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Beschreibung

Dank der Gentechnik ist es nicht nur möglich, Erbkrankheiten auszumerzen, sondern auch den Menschen selbst zu formen. So ist die Welt nur noch von Schönen und Gesunden bevölkert. Als Reaktion darauf verkehren sich die Schönheitsideale ins Gegenteil und die chirurgische Entstellung von Gesichtern wird zu einem neuen Trend. Spade ist der Erste, der Doktor Steinmanns winzige Praxis hinter einem asiatischen Gemischtwarenladen entdeckt und somit zum Vertreter einer aufkeimenden Subkultur wird. Doch wie weit darf ein Mensch in der Gestaltung seines Selbst gehen? Ab wann geht er zu weit? Ist Hässlich das neue Schön?

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degenerama

von Jek Hyde

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

„C’est en faisant n’importe quoi qu’on

devient n’importe qui!“

Remi Gaillard

„I’m not a slave to a God that doesn’t exist.

I’m not a slave to a world that doesn’t give a shit.“

Marilyn Manson

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“

Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Unser Gesicht …

Unser Spiegelbild …

Brust auf Eis …

Das geliebte Gegenteil …

Ihr Wohlwollen …

Mit wem man sich bettet …

Für die Nachwelt …

In Gesellschaft …

Alkohol …

Oni …

Das zweite Gesicht …

Künstler …

Das neue Schön …

Bloody morning …

Später …

Unsere Prinzipien …

Ein Versuch …

Kunstwerk …

Der Horror …

Neue Perspektiven …

Leerlauf …

Das letzte Abendmahl …

Konkurrenten …

Verderben und Verzweiflung …

… das Ende

Nachwort

Unser Gesicht …

„Unser Gesicht. Es ist das Erste, was wir morgens im Spiegel sehen, und auch abends begegnet es uns im Spiegel.“

Vor dem Chirurgen, einem dünnen, langen Mann in einem weißen Anzughemd, lagen auf einem mit Folie bespannten Tisch ausgebreitet Skalpelle, Schere, Spatel, Klemmen. All die Werkzeuge, die einem Chirurgen gleich einem Künstler beim Formen des Gesichtes dienen.

Vor Spades Augen flammten Licht und das aufgequollene und verschobene Gesicht von John Merrik auf, gleich einem Bovist, eingezwängt in einen Anzug. Die Stimme des anderen Chirurgen vermischte sich mit den Erinnerungen.

„Das ist John Merrik. Er gilt als der deformierteste und von diesem Leiden gebeuteltste Mensch schlechthin. Nur ein einziger Fehler im Chromosomensatz, nur ein einziger falscher Buchstabe in der genetischen Kette, kann die schlimmsten Verunstaltungen und ärgsten Beeinträchtigungen zur Folge haben. Merrik zum Beispiel konnte sich nur schwer bewegen und um nicht zu ersticken, musste er in der Hocke schlafen. All diese Krankheiten, genauso das Down-Syndrom, gehören der Vergangenheit an. All diese Krankheiten, die Körper und Geist unserer Ungeborenen gefährden, können wir durch die neusten Methoden erkennen und ihnen vorbeugen.“

Fast wie ein Diktator erschien er vor Spade, der noch dieses Ziehen entlang der Ohren spürte. Es war das gleiche Gefühl, das er hatte, als der Chirurg, der einzig einen dünnen Mundschutz und Einweghandschuhe trug, Spades Kopf zur Seite gedreht und einen langen dünnen Schnitt vom Kiefer bis zu den Schläfen, knapp am Ohr vorbei, gezogen hatte. Obwohl Spades Gehirn unter dem LSD-Rausch des Schmerzmittels bereits durch ferne Sphären glitt, konnte er doch sehen, ähnlich einem Wachkomapatienten, der seiner Schlafstarre nicht entkommen kann. Mit einem dünnen, langen Spatel löste der Chirurg die Haut und zog sie mit einer Klemme zurück.

Spade konnte auf diesem schwarzen Lederstuhl, ähnlich einem Zahnarztsessel, zur gefliesten Wand sehen. Alles wirkte so einfach und billig. Die große weiße Leuchte erhellte Spades Fleisch, an das nun bei hochgeklappter Haut zum ersten Mal ein Lichtstrahl drang. Und während der Chirurg mit seinen ruhigen, intelligenten Augen sah, was zu tun war, sah Spade mit den seinen den grauhaarigen Mann mit ebenso grauem gepflegtem Bart am Rednerpult sprechen.

„Nicht nur, dass es jeder Mutter freisteht, zu erfahren, was für ein Kind sie gebären wird, ob gesund oder nicht, wir können auch kranke Gene entfernen und durch gesunde ersetzen. Wenn eine Mutter bereits einen Jungen hat und sich nun ein Mädchen wünscht, so kann sie eines bekommen, ohne die Gefahr eines weiteren Jungen. Wir können Gesichtszüge bereits im Mutterleib mit Zellen modellieren. Es wird an den Schulen keine Ausgrenzungen mehr geben, etwa wegen kleiner Makel wie Hasenscharten oder schiefer Nasen. Selbst die Augenfarbe stellt kein Problem mehr dar. Sogar ein Talent können wir unseren Kindern mit auf den Weg geben. Soll Ihr Junge ein berühmter Künstler werden oder Ihr Mädchen eine talentierte Sängerin? Kein Problem. Es ist alles möglich.“

Der Chirurg warf einen langen Streifen Haut wie Speck in eine Metallschale und zog Spades Gesichtshaut mit silbernen Zangen zurecht, bevor er mit dem Nähen begann.

In Spades Ohr drang nur das Geräusch, das vom Fernseher kam: „Sie können eine erfolgreiche Karriere haben und wenn Sie sich dann dafür bereit sehen, können sie mit vierzig noch problemlos Mutter werden. Wozu wir in so einer Welt der Selbstbestimmung noch einen Schönheitschirurgen wie mich brauchen? Nun, leider gibt es noch immer schlimme Unfälle. Brände, Autounfälle, hässliche Begegnungen mit fehlgeleiteten Kampfhunden. Ich habe genug dieser Gesichter gesehen. Ich habe genug Gesichter gesehen, die von Tierzähnen zerfetzt oder von Bränden verzehrt wurden. Um diese Menschen wieder in ein soziales Umfeld eingliedern zu können, gibt es Leute wie mich. Ich bin dazu da, Ihnen das wiederzugeben, was Ihnen nach so einem schweren Unfall fehlt. Ein Gesicht.“

Langsam und bedacht zog der Chirurg das Skalpell an dem anderen Ohr vorbei und hinterließ einen dünnen Schnitt, aus dem langsam Blut quoll.

„Unser Gesicht sind wir. Es ist das, was die anderen Menschen von uns sehen und was sie in Erinnerung behalten. Es schaut uns von unserem Ausweis an, aus unserem Computer, wenn wir auf unserem Profil im Netz etwas schreiben, oder von unseren Handys. Nur jenes kann lächeln oder weinen. All die Gesichtszüge und Ausdrücke. Zwischen uns und der Welt um uns herum steht nur eins. Unser Gesicht“, endete er. Die Menge applaudierte angemessen.

„Vielen Dank, das war Doktor Erik Hand“, stellte eine hübsche Sprecherin vor, als umgeblendet wurde.

Aus noch träumenden Augen zwischen den Binden sah Spades langsam erwachender Geist zu dem kleinen Fernseher auf dem niedrigen, alten Holzschrank. „Sie sollten es kühlen“, sagte die ebenso ruhige Stimme des Chirurgen.

Langsam wandte Spade seinen tonnenschweren bandagierten Kopf und sah hinüber, wo im grün-weißen Licht einer Lampe, die mit einem Gitter umwunden war, Doktor David S. Steinmann saß, die Beine überschlagen, mit einem Weinglas in der Hand, die Hemdsärmel aufgeknöpft und das dunkle Haar an der Seite gescheitelt. Mit seinen intelligenten, ruhigen Augen sah er über die schmalen, rechteckigen Gläser seiner Brille hinweg, die schmalen Lippen zusammengepresst.

„Blutergüsse nach einer Gesichtsoperation sind ganz natürlich. In Ihrem Falle um Nase und Augen und an den Gesichtsrändern.“

Dieser dünne Mann, eher wie ein verworfener Lehrer, saß auf dem schmalen Stuhl an einem kleinen runden Tisch, der an einer Wand stand.

„Sie können den Verband morgen abnehmen, aber lassen Sie Ihrem Gesicht Zeit zum Regenerieren. Sie sollten drei bis vier Wochen die Sonne meiden, um sich dann langsam wieder daran zu gewöhnen.“

Es kostete Spade einfach zu viel Kraft, den Kopf weiter aufrecht zu halten, also ließ er ihn wieder zurück auf das altertümliche Sofa fallen, auf dem er lag. Es musste wohl limonengrün sein.

„Kein Problem … Die Sonne und ich, wir verstehen uns nicht“, meinte Spade und stellte fest, dass er gerade nicht lächeln konnte. Wahrscheinlich, weil er es schon tat. Er versuchte es kurz in seinem schmerzenden Schädel, in dem er das Gehirn erst spät und träge reagieren spürte wie in gelatineartiger, trüber Brühe. „Muss ich wieder herkommen, um den Verband abzunehmen?“

„Nein“, meinte David ausdruckslos. Er trank einen Schluck Wein. „Sie könne das gern zu Hause tun. Aber denken Sie daran, einen leichteren Verband darumzulegen. Auch wenn Ihr Gesicht nicht Gefahr läuft, schief zu werden.“

Spade kicherte, so gut er konnte. Doch in seinem Zustand war es nur ein schwaches Gurgeln.

„Kann ich gehen?“

„Sobald Sie stehen können, können Sie gehen“, meint David.

„Gibt’s sonst noch was, das ich wissen müsste?“, fragte Spade, die Latten an der Decke anstarrend.

„Nein. Sie haben gezahlt und bereits unterschrieben, dass ich Ihr Gesicht nach Ihrem Wunsch verunstaltet habe.“ David stand auf und ging hinüber zu Spade, der ihn mit seinen verschieden geweiteten Pupillen ansah.

Spade gurgelte. „Ich verklage Sie, wenn mein Gesicht nicht verunstaltet ist“, scherzte er.

„Empfehlen Sie mich weiter“, meinte David. Er verschwand aus Spades Sichtfeld und kam mit einer Jacke, gerade im Begriff, sie anzuziehen, wieder.

„Wo wollen Sie hin?“, fragte Spade.

„Ich muss noch Miete zahlen. Fassen Sie nichts an und warten Sie, bis Sie ohne zu schwanken stehen können. Es ist nicht ungewöhnlich, aber wenn Ihnen schlecht wird, steht ein Eimer neben dem Sofa“, sagte David und deutete neben Spades Kopf.

„Miete? So spät?“, fragte Spade.

„Es ist nicht spät sondern früh. Schlimmstenfalls zu spät. Wir haben acht Uhr.“

„Geben Sie mir den Wein!“, keuchte Spade, der versuchte, sich aufzurichten.

„Nein“, meinte David und öffnete die Tür. „Und wenn ich ihn mir nehme?“

David sah neben der Tür stehend zu Spade, der sich an der Sofalehne halb hinaufgezogen hatte. „Nicht, wenn Sie leben wollen“, meinte er und schlüpfte durch die Tür nach draußen.

Spade ließ sich an der Lehne hinabsinken. Erschöpft, aber glücklich. Und er hätte gern richtig gelacht, doch es ging nicht. „Was ist mit Kopfschmerztabletten?“

„Tot!“, rief David. „Ertragen Sie’s wie ein Mann“, drang seine Stimme von draußen.

„Ich weiß nicht mal, ob ich wirklich wach bin oder ob es ein Traum ist“, keuchte Spade und schloss die schmerzenden Augen.

„Dann bleiben Sie liegen, bis Sie’s sind.“ Er ließ Spade oben zurück und stieg die alte, knarzende Treppe, deren Stufen mit Linoleum belegt waren, hinunter, die dünnen Hände mit den langen Fingern glitten über das alte, dick mit Farbe bestrichene Holzgeländer. Unten befanden sich der schmale Gang zur Hintertür und die andere Tür zum Laden der Wos. Als David die Tür öffnete, stand er in einem kleinen quadratischen Laden mit zwei zusammengeschobenen Regalen als Kreisverkehr in der Mitte. Dort gab es alles, von Porzellankatzen über Püppchen bis hin zu billiger, künstlich stinkender Kleidung, von der David einen Anzug trug. Herr Wo, der kleine Chinese, baute draußen gerade den Gemüsestand auf, während seine Frau und Tochter, beide mit glattem schwarzem Haar, an der Kasse standen. Die Tochter war ein schlankes Mädchen mit einem hübschen runden Gesicht und soweit David wusste, wurde an ihr kaum etwas verändert oder gar vorausgeplant. Bloß Standard, keine Krankheiten. Augenfarbe unbeeinflusst, ebenso wie das Gesicht. Die Wo’s waren eben altmodisch. Die Tochter sah David auf sich zukommen und machte auf Chinesisch eine Bemerkung zu ihrer Mutter, die aufsah und über das ganze Gesicht strahlte. „Doktor Steinmann, guten Morgen.“

David zog das Geld aus der Hosentasche und streckte Frau Wo die in der Mitte gefalteten Scheine entgegen. „Die Miete.“

„Vielen Dank“, meinte Frau Wo, nahm es entgegen und schob es sogleich in die dreckige weiße Plastikkasse. „Können Sie Li zur Schule fahren?“

„Ja. Aber ich habe noch einen Patienten oben“, merkte er an. Li hob ihre Tasche auf und warf sie über die Schulter.

„Ich werde nach ihm sehen, Doktor Steinmann“, sagte sie und fuhr fort, zu erledigen, was auch immer sie gerade tat.

David ging voran und hinaus zu seinem silbernen, unauffälligen Wagen, der auf dem von Unkraut bewachsenen Hof auf sie wartete. Es hatte etwas Ritualartiges an sich. Er schnappte den Wagen auf. Ein Blinken, ein Klacken. Während er die Fahrerseite öffnete, ging Li um das Auto herum und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder mit ihrer Tasche auf den Knien.

Er wusste viel und doch wenig über Li. Ihm war bekannt, dass sie Medizin studierte; dass sie eigentlich ein Kind dieses Landes war, welches nicht viel von der Vergangenheit seines ursprünglichen kannte, außer der Sprache natürlich. Und eigentlich interessierte es ihn, was sie wohl dachte, doch sie kamen nur sehr selten ins Gespräch. Allerdings nur, wenn Li es wollte. Sie fing an. Er niemals. Meistens sprachen sie über Medizin. Ab und an erklärte er ihr etwas, was sie nicht verstanden hatte, wobei ihn stets dieses Gefühl verfolgte, dass sie eh wusste, was er sagte. Ab und zu unterhielten sie sich auch einfach so.

Es war eine merkwürdige Verbindung von David zu der Familie Wo. Er wohnte über ihrem Laden und sie über ihm. Wenn sie im Hof, der von allen vier Seiten von Häusern eingeschachtelt war, grillten, grillte er mit ihnen. Unterhielt sich mit ihnen. Sie duldeten seine halbwegs legale Praxis, deren Legalität sich nur so weit erstreckte, indem es kein Gesetz gegen das gab, was er tat: Gesichter für Geld zu verunstalten.

Als er vor dem kantigen Gebäude der Uni hielt, dachte er den Gedanken zu Ende, der sich darum drehte, dass der Laden der Wos nicht viel abwarf. Li verabschiedete sich nach dieser schweigsamen Autofahrt und wollte aussteigen, als David sie mit einem ruhigen „Warte kurz“ abhielt, bevor er ihr einen Schein reichte. Ihre mandelförmigen Augen sahen auf das Geld hinunter. „Weil Studenten immer welches brauchen“, meinte David und lächelte leicht. Li nahm es, lächelte ebenfalls, umarmte ihn flüchtig, bedankte sich eilend und ging.

Manchmal kam es ihm fast so vor, als wäre Li seine Tochter. Manchmal gefiel ihm der Gedanke jedoch nicht und die Realität zeigte ihm auf anschauliche Weise, dass sie’s nicht war.

David fuhr zurück.

Unser Spiegelbild …

Selbst der Weg zu Pias Wohnung war Spade so vorgekommen, als wandere er im Traum herum. Alles war irgendwie fremd und verschwommen, was wohl an dem Nachhallen des Betäubungsmittels in seinem Kopf lag. Er erinnerte sich noch schwach daran, sich aufgesetzt zu haben, und als er sich gerade in den Eimer erbrach, war ein älterer Chinese ins Zimmer getreten und hatte irgendwas gesagt. Spade war sitzen geblieben und hatte seine schwarzen, glänzenden Schuhe betrachtet, bis sein Kopf klar genug geworden war, um aufzustehen und durch die morgendliche Stadt zu wandern, die inzwischen erwacht war. Er ging an den grauen Häusern und den Schaufensterpuppen vorbei zu den Plattenbauten, die eher wie alte Computer wirkten und hoch in die Luft ragten. Der, in dem Pia wohnte, zeichnete sich durch viele kleine Balkone aus, die unabhängig voneinander aus der Fassade standen, gleich herausgezogenen Schubkästen.

Er presste den Finger gegen die Sprechanlage, noch immer leicht schummrig, und Pias Stimme erklang von der Mitte bis hinunter: „Wer?“

„Spade“, sprach der Schwankende einfach hinein.

„Komm hoch, Ben.“

„Ich bin nicht Ben“, erwiderte Spade und stieg die vielen Stufen zu Pia Hand hinauf, die bereits vor ihrer Tür wartete. In Shorts und einem weiten, dunklen T-Shirt stand sie mit ihren langen Beinen und dem blonden, flauschigen Irokesenschnitt auf dem Kopf da. Das hübsche Gesicht war von im Verheilen begriffenen Narben bedeckt. Sie hatten eine gewisse logische Anordnung, die Pia vor dem Spiegel getroffen hatte. Eine lange Narbe befand sich über ihrem linken Auge schräg zum Kiefer; eine stand parallel dazu und zur Nase; eine war über dem rechten Auge und schnitt die Lippen; eine Narbe verbreiterte ihr Lächeln bis zu den Ohren; eine verlief von dem einen Wangenknochen zum anderen über die Nase; eine Narbe begann unter dem rechten Auge und schnitt das linke längs, wobei sie natürlich aus Sicherheitsgründen die Augenlider in Ruhe gelassen hatte; und zu guter Letzt hatte sie eine siebte kleine Narbe an der linken Wange, recht nah am Kiefer, die die Narbe schnitt, die über die Nase führte, und die, die den Mund vergrößerte. Dieses Gitter, welches ihr hübsches Gesicht überspannte, hatte nichts mehr von den roten Narben, sondern bestand nur noch aus leichten, hellen Erhebungen.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie zu Spade hinab, der gerade die Treppen hinaufstieg.

„Ich habe die Zerstörung meines Gesichts professionalisiert. Bin aus der Amateurschublade raus“, meinte Spade und fuhr mit einem Finge eine von Pias Narben nach. „Du heilst“, meinte er.

„Ich weiß“, lächelte sie. „Ich muss die Cuttings demnächst nachziehen. Was machst du hier? Müsstest du nicht arbeiten?“

„Müsstest du nicht auch arbeiten?“

„Ich hab zuerst gefragt.“ Sie trat zurück und ließ den bandagierten Spade in den länglichen Flur.

„Könnte eh nicht arbeiten. Die Betäubungsmittel haben noch nicht wirklich nachgelassen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Pia plötzlich. „Na ja, es dauert, bis der Körper die Vergiftung abgebaut hat, und bis dahin bist du dir nicht sicher, ob du wach bist oder …“

„Das meine ich nicht. Du sagtest ‚professionalisiert‘. Was soll das heißen?“

Spade sah Pia an, wie sie unsicher dastand.

„Warum trägst du diesen Verband um dein Gesicht? Was hast du gemacht?“

„Schön-heits-chi-rur-gie. Bloß andersherum“, sagte Spade, als er seine Stirn gegen ihre legte und mit der Hand durch ihren wuscheligen Iro fuhr. Pia wich zurück. „Was?“

„Anders gesagt: Ich habe mein Gesicht chirurgisch zerstören lassen“, sagte Spade zufrieden.

Pia schien plötzlich Angst zu bekommen. „Was hast du gemacht, Ben?“

„Bleiben wir bei Spade. Ich weiß noch nicht, wie es geworden ist, und ich dachte, dass du es als Erste sehen sollst. Gehen wir ins Bad.“

Spade ging über das Parkett durch die Wohnung mit den cremefarbenen Wänden und den schicken, glatten, kantigen Möbeln in das kleine Badezimmer, das einen großen Spiegel, der vom Fußboden bis zur Decke reichte, eine Toilette neben dem Fenster und daneben eine Badewanne enthielt.

„Wie kommt es eigentlich, dass du in einem beschissenen Neubaublock wohnst, wo dein Vater doch reich ist?“, fragte Spade, als er das Bad betrat.

„Mein Vater ist wohlhabend, nicht ‚reich‘. Was hast du eigentlich machen lassen?“

„Facelifting extrem“, meinte Spade, schaute in sein bandagiertes Gesicht, aus dem das kinnlange, schwarze Haar in Strähnen hinabhing, schaute in seine Pupillen, wobei die rechte unnatürlich weit geweitet war und sich nie wieder zusammenziehen würde.

„Hat dir die Sache mit den Augen nicht gereicht?“, fragte Pia, die die Arme verschränkte und sich gegen die Wand lehnte, ein wenig in Angst, was sie unter dem Verband erwarten würde.

„Nein, aber es war ein Anfang. Ich erfuhr damals, dass David Bowies Auge nur durch eine Schlägerei, die er als Kind gehabt hatte, geweitet war. Es war ein Anfang.“

„Super, weißt du noch, wie oft ich dich schlagen musste?“, meinte Pia. „Am Ende hattest du eine gebrochene Schläfe und ich eine verstauchte Hand, die blau wurde.“

„Und meine verschiedenen Augen“, führte Spade an und suchte mit den Fingern den Anfang der Binden, die sich wie ein schützender Kokon um sein neues Gesicht schlangen.

„Ich will ja nichts sagen, aber bist du sicher, dass das eine gute Idee war? Ich meine, dein Gesicht gleich durch einen Chirurgen zu zerstören?“

Spade stand vor dem Spiegel und sah sich an. Nur seine zwei kleinen runden Augen mit geröteter Haut rundherum und seine Zähne schauten aus dem Verband heraus. „Weißt du, dass ich mir neulich vorgestellt habe, wie du dir dein Gesicht zerschnitten hast? Wie du mit einem Taschenmesser vor dem Spiegel standest und ähnlich einer Frau, die sich schminkt, lange, blutige Narben in dein Gesicht geschnitten hast?“

„Es war ein kleines Gemüsemesser“, berichtigte Pia ihn lächelnd.

Spade schüttelte seine Gliedmaßen aus, wie vor einer großen sportlichen Herausforderung. „Bist du auch so gespannt wie ich?“

Pia ging zu ihm. „Okay, mach schon, bevor ich Angst kriege.“

„Vielleicht kriegst du sie ja danach“, wandte Spade ein und schaute über seine Schulter. Anschließend drehte er sich wieder zum Spiegel, ertastete die kleine silberne Klemme und löste sie. Er begann, Band um Band von seinem Gesicht zu wickeln, wie eine Maschine, die den Kokon einer Seidenraupe aufwickelt, die ihre Metamorphose nie vollenden würde. Dann schaute er den neuen Spade an, mit seinem verzogenen Gesicht. Er sah aus wie ein Haifisch. Seine Haut war glatt, bis auf die vielen kleinen Poren. Sie war so stark gespannt, dass seine Nasenflügel verschwunden waren und seine Nase nur noch eine Kante war, wie eine Maske, die sie und die Augen bedeckte. Die Haut um seine Augen zog sich nach hinten, sodass sie in kleinen Höhlen lagen. Seine Lippen waren fast vollständig verschwunden und zu einem breiten, schmalen Lächeln gezogen. Nur die Unterlippe war noch vorhanden. Er sah wirklich aus wie ein Haifisch.

Pia starrte Spades Spiegelbild an. Langsam verzogen sich ihre Narben und ein Lächeln erfasste ihr Gesicht. Sie schüttelte den Kopf: „Ach du Scheiße, du bist total verrückt“, meinte sie.

Spade strich sein Haar zurück und mit dem Finger über die Nähte vor den Ohren. Rund um die Augen und an seinen Schläfen war die Haut eine Mixtur aus Blau und Violett. Abgesehen von den Blutergüssen war sie weiß. Er wandte sich Pia zu.

Sie lächelte: „Einfach irre“, und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Einerseits war es verdammt cool und machte Spade mehr als einzigartig, zu seinem eigenen Kunstwerk; andererseits war sie sein normales spitzes Gesicht gewöhnt, das nun regelrecht zu einer menschlichen Messerschneide geworden war. Sprachlos lehnte sie mit dem Rücken an der Wand.

Spade legte sein Gesicht, dessen starken Zug er noch spürte, gegen Pias und legte seine Hand auf ihren Schritt. Pia ging das zu weit und sie wich zur Seite weg. „Ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass wir nur Freunde sind und nicht zusammen?“, fragte sie unsicher, versuchte allerdings, sicher zu klingen.

Er hielt den Kopf gesenkt und es war nicht auszumachen, ob er wirklich lächelte oder es nur sein Haifischgesicht war. „Klar, muss das Betäubungsmittel sein. Bin noch nicht richtig in der Realität angekommen“, entschuldigte er sich und Pia wollte es ihm zu gern glauben.

Sie lächelte. „Komm, wir setzen uns auf den Balkon.“

Beide gingen durch die Mischung aus Küche und Wohnzimmer, welche den größten Teil der Wohnung ausmachte. Helle Wände, dunkle, kantige Möbel und modernes Sofa. Dann gingen sie hinaus auf den Balkon.

„Was willst du trinken?“

„Irgendeinen Energydrink. Ich muss zu mir kommen“, meinte Spade, schob die Glastür auf und schon wehte ihm die kühle Morgenluft ins Gesicht und umspielte es mit angenehm kühlen Fingern. Pia trat ebenfalls hinaus und reichte ihm die Dose, die Spade mit einem Zischen öffnete.

„Wer macht so was überhaupt?“, fragte sie. „Mein Vater würde das nie tun.“

„Du kennst doch diesen asiatischen Gemischtwarenladen?“, fragte Spade. „Den mitten in der Stadt?“ Pia nickte. „Klar. Die Asiaten machen das?“

„Nein, Doktor David S. Steinmann macht das. Lass dir doch bei ihm die Narben nachziehen. Da brauchst du kein Gemüsemesser. Der hat ein Skalpell.“

„Wie sieht er aus?“

„Wie ein Bürokrat oder ein Mathelehrer. Ein langer Kerl mit einem Pokerface und einer schmalen Brille.

Sagt nicht viel, aber was er sagt, ist direkt und auf den Punkt gebracht.“

„Zum Beispiel?“

„Ich wachte auf seinem Sofa aus. Er hat nur einen einzigen Behandlungsraum, ganz hinten im Gebäude. Muss mich irgendwie hoch in die Wohnung getragen haben. Er wartete, bis ich wach war, und trank Wein. Ich wollte auch was. Da sagte er, dass ich sterben würde, wenn ich jetzt Alkohol zu mir nehmen würde.“

„Klingt interessant. Und der versaut Gesichter?“

„Ganz genau“, meinte Spade, lehnte sich gegen das Geländer, nahm einen Schluck aus dem sprudelnden, sauer-süßen Energydrink und schaute in die orangefarbene Morgenstimmung und die kühlen, schattigen Gassen hinab.

„Schau dir die glänzenden Autos und die vielen Menschen da unten an.“

„Ich schaue eher in die Ferne, die Stadt, die Skyline. Die ist am Morgen und in der Dämmerung besonders schön.“

„Die da unten wissen überhaupt nichts. Ich meine, das ist ein ganz neuer Schritt, weißt du? Wir werden einfach in diese Welt geboren, ob wir wollen oder nicht. Und nicht nur das. Sie formen uns nach ihrer Vorstellung. Geben uns Talente, die wir nicht wollen, nur damit wir ihre Träume leben können und unsere eigenen dann ihnen gleich auf unsere Kinder projizieren können. Und sie denke nicht nur, dass sie uns was Gutes tun, nein, sie denken, sie tun das Richtige. Mal sehen, wie sie mit meinem neuen Gesicht klarkommen.“ Wie ein Tornado wandte er sich um und Pia wich zurück. „Ich habe mein Gesicht neu geformt! Das ist mehr als die meisten können, Pia.“ Er kam ihr wieder verdammt nahe und strich liebevoll durch ihr Haar.

„Ben, jetzt komm endlich klar!“, rief sie. „Langsam müsste das Scheißbetäubungsmittel doch nachlassen, oder hat dir jemand ins Hirn geschissen?!“

„Spade“, korrigierte dieser, wich leicht zurück und lehnte sich an das Geländer. „Ich will Spade heißen. Es ist mein gutes Recht, mich zu nennen, wie ich will, oder etwa nicht?“

„Meinetwegen, solange du langsam klarkommst.“

Spade umklammerte das Geländer, beugte sich hinüber und schaute in die Tiefe. „Das sind nicht nur die Reste der Narkose: Das ist auch, was ich geschafft habe! Ich bin völlig high, berauscht vom Gefühl des Sieges!“ Er drehte sich um. „Das ist, als hätte man Gott überlistet und er könnte nichts dagegen tun! Scheiße, versuch dich mal hineinzuversetzen! Was hast du gefühlt, als du dir das Gesicht zerschnitten hast? Da war nicht nur Schmerz, der war nur oberflächlich, stimmt’s? Das ist das gleiche Gefühl wie als Kind, wenn du es endlich geschafft hast, zu gewinnen, nachdem du unzählige Runden irgendeines Spiels immer und immer wieder verloren hast. Auch wenn es eins zu zwanzig für dich steht, es ist dieser eine Sieg.“ Er hob den rechten Zeigefinger, um seine Worte zu verdeutlichen. „Dieser eine Sieg ist einfach mehr wert als die zwanzig Niederlagen, ganz einfach weil es dein Sieg ist!“

Pia packte ihn am Kragen und drückte ihre Lippen gegen seine. Als sie sich löste, meinte sie lächelnd: „Du hast auch schon mal besser geküsst.“

Spade versuchte zu lächeln. Sein Mund zuckte aber nur. „Hab Nachsicht, mein Gesicht ist im Eimer.“

„Mein’s doch auch, aber meine Lippen funktionieren noch. Und jetzt mach, dass du rauskommst, ich habe noch zu tun“, befahl sie, immer noch lächelnd.

Er trank die Dose auf ex und stellte sie auf dem Weg nach draußen auf einem der Schränke ab.

„Das ist echt gewöhnungsbedürftig“, meinte Pia, als sie wieder an der Tür waren.

„Klar. Was hat dein Vater zu deinem Gesicht gesagt?“

„Hat es noch nicht gesehen.“ Spielerisch lächelte sie.

„Wir sehen uns?“

„Du bist nicht mehr zu übersehen“, meinte Pia.

„Oder zu ignorieren. Passive Aufdringlichkeit“, entgegnete Spade, während Pia die Tür schloss.

Nun stand er draußen in der Dunkelheit des Treppenhauses und hob eine Hand. Eines von Pias dünnen, blonden Haaren klebte daran.

Drinnen ging Pia zum Balkon und war sich noch immer nicht sicher, ob sie Spades neues Gesicht mochte. Sie lehnte sich auf das Geländer und sah hinunter zu dem hellen Beton der Stadt, sah, wie Spade ging und noch einen Blick zu ihr hinaufwarf. Pia hob lächelnd die Hand und winkte. Wahrscheinlich sah Spade sie nicht mal, denn er winkte nicht zurück, sondern ging weiter. Pia sah ihm nach, während der Wind, wie Spade es getan hatte, mit kühlen Fingern durch ihr Haar griff und an ihren rasierten Schläfen entlangstrich.