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Derek Landy, Autor der weltweit erfolgreichen Bestseller über Skulduggery Pleasant, gibt wieder Vollgas. Demon Road ist ein irrwitziger Roadtrip, eine außergewöhnliche Coming-of-Age Geschichte und zugleich eine großartige Hommage an das amerikanische Horrorgenre, von Stephen Kings Klassikern bis zur Erfolgsserie Supernatural. Wenn ihr glaubt, eure Eltern wären schwierig, dann solltet ihr euch mal mit Amber unterhalten! Amber Lamont ist gerade 16 Jahre alt, als sie feststellen muss, dass ihre eigenen Eltern sie gerne zum Abendessen verspeisen möchten. Nur so könnten sie ihre "Kräfte" wieder aufladen. Alles klar: Ambers Eltern sind waschechte Dämonen. Seitdem ist Amber auf der Flucht. Quer durch die USA ist sie auf der Demon Road unterwegs, einem magischen Straßennetz, das unheimliche Orte und schauerlichste Wesen miteinander verbindet. Sie trifft auf Vampire, Hexen und untote Serienkiller und erfährt nach und nach, was für teuflische Kräfte in ihr stecken ... "Hölle und Highway" ist der erste Band der Demon Road-Reihe.
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Seitenzahl: 627
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1
Zwölf Stunden, bevor ihre Eltern sie umzubringen versuchten, saß Amber Lamont zwischen ihnen im Büro der Rektorin. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und hätte eine Menge zu sagen gehabt, schluckte es aber hinunter.
»Wir dulden keine Unruhestifter an dieser Schule«, sagte MrsCobb. Die Rektorin war eine rundliche Frau in den Fünfzigern und ihre Halskette lag so eng an, dass Amber, wenn der Hals der Rektorin bebte und ihr Gesicht rot anlief, nur darauf wartete, dass der Kopf einfach absprang, vielleicht auf den Boden fiel und unter den ausgesprochen imposanten Schreibtisch kullerte. Das hätte ihr gefallen.
»Wir rangieren nicht ohne Grund unter den drei besten Erziehungseinrichtungen in unserem großartigen Bundesland Florida«, fuhr Cobb fort. »Und wissen Sie, warum das so ist? Weil bei uns Disziplin herrscht.«
Sie legte eine Kunstpause ein, als müsste ihre Aussage auswendig gelernt werden, statt lediglich toleriert.
Cobb neigte den Kopf leicht auf eine Seite. »Ich kenne Sie nicht besonders gut, Mrund MrsLamont. Es gab noch nie einen Grund, Sie einzubestellen. In den vergangenen Jahren war an Ambers Betragen nichts auszusetzen. Doch Ihre Tochter wurde im letzten Monat wegen Streitigkeiten mit anderen Schülern drei Mal in mein Büro geschickt. Drei Mal. Das ist, und ich bin sicher, dass Sie mir in diesem Punkt zustimmen werden, inakzeptabel. Ich will ganz offen mit Ihnen reden, weil ich denke, es muss sein: Ambers Verhalten hat sich in diesem Halbjahr in einem solchen Maß verschlechtert, dass ich mich leider fragen muss, ob es in ihrer häuslichen Umgebung vielleicht einen Grund dafür gegeben hat.«
Ambers Mutter nickte mitfühlend. »Wie schrecklich für Sie.«
Ihre Eltern waren, wie immer angesichts überwältigender Dummheit, vollkommen ruhig. Diese spezielle Art von Ruhe – gleichgültig, geduldig, doch gelegentlich herablassend – bestimmte mehr oder weniger ihr Auftreten. Amber war daran gewöhnt. Cobb nicht.
Betty Lamont saß in perfekter Pose und mit perfekter Frisur auf ihrem Stuhl, elegant, aber dennoch zurückhaltend gekleidet. Bill Lamont hatte die Beine übereinandergeschlagen. Seine gefalteten Hände lagen auf der dezenten Schließe seines italienischen Gürtels und seine Schuhe glänzten. Beide sahen gut aus, waren groß, gesund und gepflegt. Amber hatte mit MrsCobb mehr Ähnlichkeit als mit ihren eigenen Eltern. Tatsache war, dass sie in vierzig Jahren MrsCobb sein könnte, falls sie es nicht schaffte, irgendwann mit der Diät zu beginnen, die sie sich vorgenommen hatte. Das Einzige, was sie aus dem kombinierten Genpool ihrer Eltern geerbt zu haben schien, waren ihre braunen Haare. Manchmal erlaubte Amber sich die Frage, wo und wann mit ihr alles schiefzulaufen begann – doch allzu lang widmete sie sich diesem Geheimnis nicht. Solche Überlegungen führten nur zu den dunkleren und kälteren Orten ihrer Seele.
»Es kommt noch schlimmer«, fuhr Cobb fort. »Die Eltern des anderen Mädchens, das an dieser … nennen wir es Auseinandersetzung beteiligt war, haben angedeutet, dass sie den Vorfall der örtlichen Presse melden wollen, falls wir keine angemessenen Maßnahmen ergreifen. Ich für mein Teil weigere mich zuzulassen, dass der gute Name dieser Schule aufgrund des Verhaltens einer einzelnen störenden Schülerin durch den Schmutz gezogen wird.« An dieser Stelle blickte Cobb Amber finster an, nur um sicherzustellen, dass alle Anwesenden wussten, auf wen sich ihre Worte bezogen.
»Kann ich etwas dazu sagen?«, fragte Amber.
»Nein, kannst du nicht.«
»Saffron hat angefangen. Sie mobbt jede, die nicht so hübsch und perfekt ist wie sie und ihre Freundinnen.«
»Sei still«, wies Cobb sie scharf zurecht.
»Ich sage ja nur, wenn Sie schon jemandem die Schuld geben wollen, dann geben Sie sie …«
»Du hast hier nichts zu melden!«
Amber erwiderte ihren finsteren Blick. »Warum bin ich dann hier?«
»Du bist hier, um still dazusitzen und mich mit deinen Eltern reden zu lassen.«
»Aber ich könnte Sie auch mit meinen Eltern reden lassen, während ich woanders bin«, argumentierte Amber.
Cobb stieg die Röte ins Gesicht und ihr Hals bebte. Amber wartete auf den Plopp.
»Du wirst still sein, wenn ich dir sage, dass du still sein sollst, Fräuleinchen. Du wirst meine Autorität respektieren und tun, was man dir sagt. Hast du mich verstanden?«
»Dann darf ich mich also nicht …«
»Hast du mich verstanden?«
Ihre Mutter tätschelte Ambers Bein. »Komm schon, Liebes, lass die nette alte Dame ausreden.«
Cobbs unscheinbare Augen weiteten sich. »Ich glaube, ich habe die Wurzel des Problems erkannt. Wenn Amber so erzogen wurde, wundert es mich nicht, dass sie keinen Respekt vor Autorität hat.«
»Selbstverständlich«, meldete sich Bill, gefasst wie immer. »Was ist an Autorität schon Großartiges dran? Sie nimmt sich viel zu wichtig, wenn Sie mich fragen. Sie haben ein kleines Problem, das Sie unverhältnismäßig stark aufblähen. Sie zerren Betty und mich durch die halbe Stadt für ein Treffen, vor dem wir uns offensichtlich fürchten sollen, sitzen hier wie ein Mini-Despot an Ihrem lächerlich großen Schreibtisch und glauben, Sie hätten irgendeine finstere Macht über uns. Fühlst du dich schon eingeschüchtert, Betty?«
»Noch nicht«, antwortete Betty freundlich, »aber es kommt sicher bald.«
Amber musste an sich halten, um nicht auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Sie hatte das schon so oft miterlebt, dass sie genau wusste, was als Nächstes kam, und jedes Mal war ihr nicht wohl dabei. Ihre Eltern ertrugen Menschen, die sie als Ärgernis einstuften, nur eine begrenzte Zeit, und der Gegenstoß hing einzig und allein von ihrer aktuellen Gefühlslage ab. Amber wusste nur nicht, wie weit sie an diesem Tag gehen wollten.
Cobb fokussierte ihren Blick auf Bill. »Der Apfel fiel offensichtlich nicht weit vom Stamm. Jetzt ist mir klar, woher Ihre Tochter ihre Einstellung hat.«
MrsCobb glich jetzt einem der lahmen Gnus, die Amber in Naturdokumentationen gesehen hatte. Ihre Eltern waren die Löwen, die durchs hohe Gras schlichen und sich von zwei Seiten näherten. Cobb wusste natürlich nicht, dass sie das Gnu war. Sie wusste auch nicht, dass sie lahm war. Sie hielt sich für die Löwin, für die Mächtigere. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete.
»Im Wesentlichen haben Sie gerade zwei Mal dasselbe gesagt«, erklärte Bill. »Außerdem scheinen Sie ausschließlich in Klischees zu reden. Und Ihnen haben wir die Erziehung unserer Tochter anvertraut? Das werden wir möglicherweise noch einmal überdenken müssen.«
MrsCobb straffte die Schultern und strich ihre Bluse glatt. »Seien Sie versichert, dass Sie sich darüber keine Gedanken mehr zu machen brauchen.«
»Oh, ausgezeichnet«, flötete Betty. »Sie verlassen die Schule also?«
»Nein, MrsLamont, Ihre Tochter wird die Schule verlassen.«
Betty lachte höflich. »Das glaube ich nun wirklich nicht. Bill?«
Bill zog sein Smartphone – das er halb im Spaß das mächtigste Telefon Floridas nannte – aus der Tasche und wählte eine Nummer.
»Handys sind im Rektorat nicht erlaubt«, sagte Cobb.
Bill ignorierte sie. »Grant«, sagte er lächelnd, als der Anruf entgegengenommen wurde, »tut mir leid, wenn ich dich mitten am Tag anrufe. Nein, nein, nichts dergleichen. Noch nicht jedenfalls. Nein, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Die Rektorin von Ambers Schule – du kennst sie? Genau die. Ich hätte gern, dass du sie feuerst.«
Kopfschmerz begann, wie Finger leicht von innen an Ambers Schädeldecke zu klopfen. So weit wollten sie es heute also treiben. Bis an die Spitze.
»Danke«, sagte Bill. »Und grüße Kirsty von mir.«
Bill legte auf und schaute Cobb an. »Sie sollten jeden Augenblick einen Anruf erhalten.«
Cobb seufzte. »Das ist nicht witzig, MrLamont.«
»Keine Bange, es wird noch entschieden lustiger.«
»Mein Entschluss steht fest. Jede weitere Diskussion darüber erübrigt …«
Bill hob einen Finger, um sie zum Schweigen zu bringen.
Cobb gehorchte gerade mal vier Sekunden, dann setzte sie erneut zum Sprechen an: »Wenn Sie nicht vernünftig über die Sache reden wollen, habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen. Ich bedaure, dass wir keine andere Lösung für unser …«
»Bitte«, unterbrach Betty sie, »warten Sie einen Moment.«
Cobb schüttelte den Kopf. Dann läutete ihr Telefon. Sie fuhr regelrecht zusammen.
»Ich würde drangehen«, riet Betty ihr freundlich. »Es ist für Sie.«
Cobb zögerte. Das Telefon läutete noch zweimal, bevor sie abnahm. »Hallo? Jaja, Sir. Ich bin mitten in … was? Aber das können Sie nicht machen.« Sie wandte sich ab. Sie war blass geworden und sprach leise weiter. »Bitte, das können Sie nicht machen. Ich habe nichts …«
Amber hörte von ihrem Platz aus das Freizeichen. Cobb saß reglos da. Dann begannen ihre Schultern zu zucken und Amber sah, dass sie weinte.
Amber war übel. »Bill, ist es wirklich nötig, dass wir sie feuern lassen?«
Bill beachtete sie nicht. Er erhob sich. »Also dann. Amber, wir lassen dich jetzt wieder in deine Klasse gehen. Du arbeitest später im Schnellimbiss, nicht wahr? Versuche, dort nichts zu essen – es gibt heute Abend Ente.«
Als ihre Eltern zur Tür gingen, drehte sich Amber noch einmal zu Cobb um.
Die Rektorin erhob sich rasch und wischte sich die Tränen ab. »Bitte. Es tut mir leid. Sie sind offensichtlich sehr einflussreich und Amber ist tatsächlich ein ganz besonderes Mädchen.«
»Ein ganz besonderes«, bestätigte Bill, der mit einem Fuß schon auf dem Flur stand.
Cobb kam im Eilschritt hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Es tut mir leid, dass ich das nicht erkannt habe. Besondere Schüler verdienen eine besondere Behandlung. Freiraum. Sie verdienen Freiraum und … und Verständnis. Spielraum.«
»Spielraum, Freiraum und Verständnis«, wiederholte Betty und nickte. »Das waren immer unsere Maßstäbe für ein glückliches Leben.«
»Bitte«, sagte Cobb, »lassen Sie mich nicht feuern.«
»Na ja, ich weiß nicht«, meinte Betty. »Das liegt jetzt an Amber. Amber, bist du der Meinung, MrsCobb sollte ihren Job behalten?«
Ein Teil von Amber, ein hinterhältiger, verborgener Teil wollte Nein sagen. Wollte ihre Rektorin für ihre harte Haltung und ihre Engstirnigkeit bestrafen – doch dieser Teil sah Cobb nicht als Person. Es spielte keine Rolle, wie unsympathisch Amber die Frau sein mochte. Sie würde jedenfalls nicht ihr Leben ruinieren, nur um ihr eine Lektion zu erteilen.
»Äh, ja, sie kann ihn behalten«, sagte Amber.
»Danke.« Cobb sackte sichtlich in sich zusammen. »Danke.«
»Moment.« Bill kam ins Büro zurück. »MrsCobb, Sie haben uns beschuldigt, schlechte Eltern zu sein. Wenn Sie Ihren Job wiederhaben wollen, genügt eine einfache Entschuldigung nicht.«
»Oh ja!« Betty klatschte vergnügt in die Hände. »Sie sollte darum betteln.«
Amber schaute ihre Eltern entsetzt und ungläubig an. Cobb runzelte die Stirn.
»Wie bitte?«
Bettys Lächeln verschwand. »Betteln, sagte ich.«
Amber hatte sich getäuscht. Sie hatte geglaubt, das volle Ausmaß der elterlichen Strafen zu kennen, doch das ging einen Schritt weiter. Das war rachsüchtig, als verlören sie aus einem Grund, den sonst niemand kannte, die Geduld. Das war etwas ganz und gar Neues.
Cobb warf Amber einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Bill und Betty. »Hm … bitte«, begann sie leise, »kann ich bitte meinen Job behalten? Ich … ich flehe Sie an.«
Bill zuckte mit den Schultern. »Klar, okay.« Er machte eine weit ausholende Armbewegung in Richtung Tür. »Sollen wir?«
Sie verließen das Büro, ließen MrsCobb, der Tränen übers Gesicht liefen, stehen und gingen schweigend den Flur hinunter. Genau an der Stelle, an der ihre Eltern nach rechts zum Parkplatz abbogen und Amber nach links zu ihrem Klassenzimmer, schaute Bill sie an.
»Dieses Mädchen, mit dem du die ›Auseinandersetzung‹ hattest, Saffron, richtig? War sie nicht deine Freundin?«
»Als wir klein waren«, antwortete Amber leise.
Er nickte, überlegte kurz und ging dann davon.
Ihre Mutter tätschelte Ambers Schulter und blickte mitfühlend. »Kinder können so grausam sein«, sagte sie. Dann folgte sie ihrem Mann.
2
Die Kopfschmerzen, die sich seit der Mittagspause angekündigt hatten, schlugen gegen Unterrichtsende voll zu und trieben dünne Nadeln aus schierem Schmerz tief in Ambers Schläfen. Sie warf zwei Tabletten ein und zur Halbzeit ihrer Schicht im Schnellrestaurant hatte sich der Schmerz bis auf ein dumpfes Pochen irgendwo im Hinterkopf verzogen.
»Meine Eltern werden immer merkwürdiger«, sagte sie.
Sally schaute von ihrer Zeitschrift auf. »Bitte?«
»Meine Eltern«, wiederholte Amber. Sie wischte gerade den Tisch ab und bemühte sich, lässig zu klingen. »Sie werden immer merkwürdiger.«
»Ist das überhaupt möglich?«
»Eigentlich nicht. Aber soll ich dir sagen, was sie sich heute geleistet haben? Sie mussten in meiner Schule antanzen und haben die Rektorin zum Weinen gebracht. Sie hat tatsächlich Tränen vergossen. Sie hat gebettelt und alles. Sie … sie haben sie traumatisiert. Es war so krass.«
Sally veränderte ihre Position, lehnte sich in ihrem rot-gelben Firebird-T-Shirt auf dem Tresen zurück und blickte nachdenklich vor sich hin. »Das«, meinte sie schließlich, »ist der Hammer. Ich hätte es als Teenager genossen, wenn meine Eltern meinen Rektor zum Weinen gebracht hätten. Wenn meine beiden auf die Highschool kommen, will ich ihren Rektor zum Weinen bringen. Ich habe meinen gehasst. Ich habe alle meine Lehrer gehasst. Sie haben immer behauptet, ich würde es zu nichts bringen. Aber schau mich an! Dreiunddreißig Jahre alt, keine Ausbildung und Kellnerin in einem schäbigen Schnellrestaurant mit einem Neon-Elvis an der Wand.«
Amber reckte den Daumen hoch. »Du lebst deinen Traum, Sally.«
»Da hast du verdammt recht. Und hey, wenigstens nehmen deine Eltern ausnahmsweise mal Anteil. Das ist doch was, oder?«
»Na ja … wahrscheinlich.«
»Hör auf mich. Halte noch ein paar Jahre durch, dann kannst du irgendwo studieren und dir dein eigenes Leben aufbauen.«
Amber nickte. New York, stellte sie sich vor, oder Boston. Irgendwo, wo es kühler war als in Florida und nicht allein die Luft schon Schweißausbrüche bei ihr auslöste.
»Was ich sagen will, ist Folgendes«, fuhr Sally fort. »Wo und wann immer du dich entscheidest, deine eigene Familie zu gründen, kannst du es richtig machen.« Sie lächelte. »Okay?«
Amber konnte Sallys Lächeln einfach nicht widerstehen. »Ja. Okay.«
»Braves Mädchen.«
Gäste betraten das Restaurant und Sally ging sie mit federnden Schritten begrüßen. »Hallo«, sagte sie strahlend. »Willkommen im Firebird! Darf ich Sie zu Ihrem Tisch bringen?«
Amber beobachtete sie und bewunderte sie dafür, wie natürlich ihre plötzliche Fröhlichkeit wirkte. Ein Lächeln von Sally konnte schlechte Laune in ihr Gegenteil verkehren, ein Phänomen, das Amber bei unzähligen Gelegenheiten erlebt hatte und das seine Wirkung so gut wie nie verfehlte. Die Gäste erwiderten ihr Lächeln, sie wechselten noch ein paar Worte, dann führte Sally sie zu einem Tisch am Fenster. Obwohl das Firebird in Florida unter den erfolgreichsten im Stil der Fünfzigerjahre gehaltenen Franchise-Restaurants an dritter Stelle stand – und Amber hatte keine Ahnung, wie diese Statistik zustande kommen konnte –, war mittwochnachmittags nie viel los. An solchen Tagen gehörte es zur Geschäftspolitik, so viele Gäste wie möglich ans Fenster zu setzen, um weitere Leute anzulocken. Anscheinend aßen hungrige Menschen gern in Gesellschaft anderer hungriger Menschen. Amber hatte das nie verstanden. Solange sie sich erinnern konnte, hatte sie es immer gehasst, wenn Leute ihr beim Essen zugeschaut hatten. Selbst in Gesellschaft ihrer Eltern zu essen, behagte ihr nicht.
Wenn sie allerdings ehrlich mit sich selbst sein sollte – und wenn sie mit sich selbst nicht ehrlich sein konnte, mit wem dann? –, mochte die unleugbar merkwürdige Art ihrer Eltern etwas damit zu tun haben.
Ihre Eltern waren seltsam. Amber wusste das nun schon seit geraumer Zeit. Von jeher war es, als amüsierten sie sich gemeinsam über einen Witz, in den sie nie eingeweiht worden war. Sie liebte sie, ja natürlich, aber sie war sich immer vorgekommen wie ein Anhängsel. Sie machte die Familie nicht komplett, weil die Familie sie nicht brauchte, um komplett zu sein. Bill und Betty Lamont passten so perfekt zusammen, dass es keine Lücken gab, die Amber hätte ausfüllen können.
Zwei Typen, beide knapp unter zwanzig, betraten das Restaurant. Lachend und plaudernd standen sie am PLEASE WAIT TO BE SEATED-Schild und schauten Amber erst an, als sie in ihrer muntersten Stimme mit einem »Hi!« grüßte. »Willkommen im Firebird. Kann ich euch zu eurem Tisch bringen?«
»Ich sehe nichts, was dagegenspricht«, erwiderte der Erste.
Immer noch lächelnd drehte Amber sich auf dem Absatz um, dabei achtete sie darauf, dass ihr Lächeln nicht verrutschte. Sie war nicht so hübsch wie Sally, war nicht so groß wie Sally, war nicht so charmant wie Sally und machte in ihren gelben Shorts definitiv keine so gute Figur wie Sally. Aber es gab im Restaurant so viele Spiegel, dass es beträchtliche Trinkgeld-Einbußen bedeuten konnte, wenn man an irgendeiner beliebigen Stelle sein Lächeln verlor. Bei der Nische in der Ecke blieb sie stehen und ihre beiden Kunden rutschten rechts und links vom Tisch auf die Bänke.
Sie zog ihren Block aus der hinteren Hosentasche und stellte sich vor: »Ich bin Amber und werde euch heute Abend bedienen.«
»Hi, Amber«, erwiderte der erste Typ. »Ich bin Dan, das ist Brandon und wir sind heute Abend deine Kunden.«
Amber lachte leise. »Was darf ich euch bringen?«
»Wir machen es heute einfach und nehmen euren Cheeseburger mit allem Drum und Dran.«
Amber schrieb die Bestellung auf. »Zwei Cheeseburger mit allem, zwei Mal Fritten. Kein Problem. Und zu trinken?«
»Cola«, sagte Dan.
»Eine Cola.«
»Oder doch nicht«, korrigierte er sich. »Ich nehme lieber einen Erdbeer-Milchshake.«
»Einen Erdbeer-Milchshake. Hab ich. Und für dich?«
Brandon schaute nicht von der Karte auf. »Habt ihr 7-Up?«
»Wir haben Sprite«, erwiderte Amber.
»Das ist nett.« Brandon hob langsam den Blick und schaute sie an. »Aber ich habe nicht gefragt, ob ihr Sprite habt. Ich habe gefragt, ob ihr 7-Up habt.«
Ambers Kopfschmerzen wurden wieder stärker, doch sie behielt ihr Lächeln bei und schluckte ihre Antwort hinunter. Sie brauchte den Job. In zwei Monaten fand der Dark Places-Kongress statt und die Karten waren nicht billig.
»Tut mir echt leid, aber wir haben kein 7-Up«, sagte sie strahlend, als hätte man ihr gerade eröffnet, dass sie in einer Tombola ein Kaninchen gewonnen hatte. »Hättest du stattdessen gerne ein Sprite?«
Brandon nahm seine Brille ab und putzte sie. »Wenn ich Sprite gewollt hätte, hätte ich Sprite bestellt, oder?«
Dan grinste. »Bitte entschuldige Brandon. Er ist wieder mal launisch. Brandon, welches der Getränke von der Karte möchtest du haben?«
Brandon stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann werde ich wohl auch einen Milchshake nehmen.«
»Okay.« Amber drückte den Stift aufs Papier. »Welche Sorte?«
»Hm, ich weiß nicht. Welche kannst du empfehlen?«
»Mir hat Schokolade immer am besten geschmeckt.«
»Dann nehme ich Vanille«, entgegnete Brandon und setzte seine Brille wieder auf.
Dan versuchte, nicht über die Mätzchen seines Kumpels zu lachen. Amber stand da und lächelte. »Gerne. Kann ich euch sonst noch etwas bringen?«
»Wenn uns etwas einfällt«, antwortete Dan, »rufen wir dich. Versprochen.«
Amber lächelte und ging. Dabei kämpfte sie gegen eine schäumende Welle der Übelkeit an. Sie trat durch die Schwingtüren zur Küche, lehnte sich einen Augenblick an die Wand und wartete, bis es vorbei war. Als sie sicher war, dass sie nicht ohnmächtig würde oder sich übergeben musste, gab sie die Bestellung weiter und stellte sich neben Sally, um wie sie Milchshakes zuzubereiten.
Amber ignorierte ihre anschwellenden Kopfschmerzen und fragte: »Wie sind deine Typen so?«
»Zwei Geschäftsleute«, antwortete Sally. »Primitivlinge. Sie flirten echt schlimm mit mir und ich weiß jetzt schon, dass sie Soßenflecken auf dem Hemd haben werden, wenn sie hier wieder rausgehen. Wie steht’s mit deinen? Der mit der Brille sieht süß aus.«
»Er ist ein Arsch.«
»Aber so süß auch wieder nicht«, korrigierte sich Sally rasch. »Wenn du mich hättest ausreden lassen, hättest du mich sagen hören, er sieht süß aus, ist bei näherer Betrachtung aber ein Arsch.«
Amber grinste. »Das wolltest du sagen?«
Sally nickte. »Wenn du mich nur hättest ausreden lassen, anstatt weiterzuquasseln, wie du es immer tust.«
»Ich bin eben ein Quassler.«
»Genau.«
Amber stellte die Milchshakes auf ein Tablett, atmete tief durch und ging wieder hinaus.
Brandon sah ihr entgegen und sie versuchte ein Lächeln. Überzeugend war es nicht, aber es würde reichen. Das Trinkgeld war ihr inzwischen egal. Sie wollte nur noch, dass die beiden Typen verschwanden und ihre schlechten Schwingungen mitnahmen, damit sie sich endlich in dem Unwohlsein suhlen konnte, das sie schon den ganzen Tag zu überwältigen drohte. »Dann wollen wir …«, begann sie, doch der Kopfschmerz setzte erneut ein und stach wie mit Nadeln von hinten in ihre Augen. Sie zuckte zusammen, das Tablett neigte sich und die Milchshakes rutschten auf eine Seite, kippten über den Rand und die Gläser zerschellten auf dem Boden.
Das Geräusch von splitterndem Glas fegte den Kopfschmerz weg, und als Amber wieder klar sehen konnte, stellte sie fest, dass sich die Milchshakes überall verteilt hatten. Sie hatten ihre Turnschuhe durchweicht und Spritzer davon waren auf dem Saum von Brandons Jeans.
Dan brüllte vor Lachen, doch Brandon blickte sie finster an. Sein Gesicht färbte sich rot.
»Oh mein Gott«, stammelte Amber. »Es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid.«
»Du …«
»Ich mache alles wieder sauber. Es tut mir leid.«
»Du dumme, fette Sau.«
Amber erstarrte.
»Du ungeschickter, hässlicher Troll«, fuhr Brandon fort. »Das hast du doch mit Absicht getan.«
»Nein, ich schwöre …«
»Du hast das mit Absicht über mich geschüttet.«
»Es war ein Versehen.«
Sally kam herübergeeilt, den Wischlappen schon in der Hand. »Kein Grund zur Aufregung, wir bringen das …«
Brandon zeigte mit dem Finger auf Amber. »Sie hat das mit Absicht getan.«
Sally lachte. »Ich bin sicher, es war ein …«
»Ich will, dass sie gefeuert wird.«
Sally hörte auf, den Boden zu wischen. Aus ihrem Lachen wurde ein amüsiertes Lächeln. »Sie wird nicht gefeuert, nur weil sie ein Tablett fallen ließ. So etwas passiert eben. Wie wäre es damit? Euer Essen geht aufs Haus.«
»Unser Essen liegt auf dem Boden«, erwiderte Brandon. »Wo ist der Manager? Ich will mit dem Manager sprechen. Ich will, dass diese fette Sau gefeuert wird.«
Sallys Gesicht wurde zu Stein. »Raus«, sagte sie. »Alle beide. Raus. Ihr seid hier nicht mehr willkommen.«
Dan hob in gespielter Unschuld die Hände. »Ich habe nichts getan. Ich hab einfach nur dagesessen. Was habe ich falsch gemacht?«
»Du hast den falschen Freund«, antwortete Sally. »Los. Raus.«
Brandon hielt seinen Blick weiter stur auf Amber gerichtet. Er war blass geworden und seine Miene starr, als wollte er sich auf sie stürzen. Dan musste ihn praktisch zur Tür schleifen.
Sally stand da, die Hände in die Seiten gestemmt. »Wow«, schnaufte sie, als sie weg waren, »das waren vielleicht zwei Ärsche. Alles okay, Liebes?«
»Alles gut.«
Sally tätschelte Ambers Schulter. »Das sind Vollpfosten. Vergiss alles, was sie gesagt haben.«
Sally half Amber beim Beseitigen des Durcheinanders. Die beiden Geschäftsleute warfen ihr verstohlene Blicke zu, wann immer es ging, und Amber konnte es ihnen nicht verdenken. Sally war auch noch beim Bodenwischen hübsch. Sie wurde von der Anstrengung nicht rot im Gesicht wie Amber und ihr Pferdeschwanz löste sich nicht auf wie der von Amber. Sie sah selbst in ihrem Firebird-T-Shirt noch gut aus.
Amber versuchte, möglichst nicht in die Spiegel zu schauen. Ihre Laune war ohnehin schon im Keller.
Der Rest ihrer Schicht schleppte sich dahin. Als sie endete, zog sie ein frisches T-Shirt und Shorts an, die nicht gelb waren, verabschiedete sich vom Koch und von Sally und trat auf den Gehweg. Es wurde bereits dunkel, doch die Hitze wartete noch auf sie und auf ihrer Stirn prickelte der Schweiß, als sich ihre Lunge mit warmer Luft füllte. Sie hatte ihr ganzes Leben in Florida verbracht, war in Orlando geboren und aufgewachsen und reagierte trotzdem immer noch wie ein Tourist auf die Hitze. Deshalb lag ihr Zimmer, obwohl sie eine große, zweistöckige Villa ihr Zuhause nennen durfte, im Erdgeschoss, wo die Luft geringfügig kühler war, vor allem an einem Tag wie diesem, an dem sich Wolken zusammenballten. Es würde Regen geben. Höchstwahrscheinlich auch ein Gewitter.
Ambers Heimweg dauerte zu Fuß eine Viertelstunde. Andere Jugendliche hätten wahrscheinlich ihre Mom oder ihren Dad anrufen können, damit sie abgeholt würden, doch Bill und Betty hatten feste Vorstellungen davon, was Unabhängigkeit bedeutete. Inzwischen hatte Amber sich daran gewöhnt. Mit etwas Glück erreichte sie die Haustür, ohne klatschnass zu werden.
Sie überquerte die Straße und bog in die schmale Gasse ein, die zu dem Tanzstudio führte, das sie als Kind gehasst hatte. Zu unkoordiniert, das war ihr Problem. Das und die Tatsache, dass ihre Tanzlehrerin sie mit einem erschreckenden Maß an Bosheit gehasst hatte. Amber würde nie so hübsch werden wie die hübschen Mädchen oder so anmutig wie die anmutigen Mädchen und sie hatte sich damit abgefunden, schon als Kind. Ihre Tanzlehrerin dagegen schien es nicht akzeptieren zu wollen.
Amber hatte das schlecht gemalte Schild mit der Ballerina und dem warum auch immer aus den Achtzigerjahren stammenden Hip-Hop-Tänzer erreicht, als Dan und Brandon um die Ecke bogen.
Sie waren im Gespräch – Dan schalt Brandon und Brandon sah angepisst aus –, doch als sie Amber sahen, verstummten sie. Amber stand da, ihre Beine waren steif und machten nicht mehr das, was sie wollte, und irgendwo hinter ihren Augen braute sich die nächste Kopfschmerzattacke zusammen.
Brandon grinste. Es lag nichts Freundliches darin.
Amber zwang ihre Beine zum Weitergehen und bog in die Gasse links von ihr ein. Die beiden folgten ihr. Sie legte in der zunehmenden Dämmerung einen Zahn zu.
»Quiek, quiek, Miss Piggy«, rief Brandon hinter ihr.
Amber begann zu laufen.
Sie lachten und nahmen die Verfolgung auf.
Amber stürmte aus der Gasse, überquerte die Straße und schlüpfte in die Lücke zwischen der Rückseite eines Waschsalons und einem Anwaltsbüro. Sie merkte sofort, dass es ein Fehler war. Sie hätte in Richtung Pizzeria laufen sollen, wo Leute gewesen wären, Licht und Lärm. Stattdessen rannte sie über ein unbebautes Grundstück und war außer Atem. Eine Hand packte ihre Jacke und sie schrie auf, wand sich, verfing sich in Dans Beinen und ging mit ihm zu Boden.
Sie landete hart und schmerzhaft und Dan lag auf ihr.
»Autsch.« Lachend rollte er sich von ihr herunter. »Autsch, das hat wehgetan.«
Amber stand auf und wich zurück. Sie rieb ihre Handflächen, die sie bei dem Sturz aufgeschürft hatte. Die Kopfschmerzen glichen einer Gewitterwolke in ihrem Schädel. Sie bekam Gänsehaut. Ihr Magen hob sich.
Dan stand keuchend auf und Brandon joggte gemächlich zu ihnen herüber.
»Das ist nicht komisch«, sagte Amber.
»Das soll es auch nicht sein«, erwiderte Brandon.
»Warum bist du gerannt?«, fragte Dan feixend. »Wir wären nicht gerannt, wenn du nicht gerannt wärst. Warum bist du gerannt?«
»Lasst mich gehen«, verlangte Amber.
Dan breitete die Arme aus. »Wir halten dich nicht auf. Du kannst gehen, wohin du willst.«
Amber zögerte und wollte dann zwischen ihnen durchgehen. Beide waren um Etliches größer als sie. Sie machte noch einen Schritt, doch kaum hatte sie ihnen den Rücken gekehrt, war Dan direkt hinter ihr und folgte ihr auf den Fersen.
Sie wirbelte herum und sah erst einmal alles nur undeutlich. »Hört auf, mir nachzulaufen.«
»Du kannst mir nicht vorschreiben, wohin ich gehen darf und wohin nicht.« Dan klang plötzlich ärgerlich. »Wir sind hier in Amerika. In einem freien Land. Schon vergessen?«
Ganz hinten in ihrem Mund schmeckte sie Kupfer. »Lasst mich in Ruhe«, bat sie matt.
»Wir tun doch überhaupt nichts!«, brüllte Dan ihr ins Gesicht. Sie zuckte zurück.
Brandon ging um sie herum. »Gib zu, was du getan hast, Miss Piggy. Gib zu, dass du den Milchshake mit Absicht über mich geschüttet hast.«
»Es war ein Versehen, ich schwör’s.«
»Wenn du zugibst, dass du es mit Absicht getan hast, verschwinden wir«, versprach Dan, wieder ganz der Vernünftige.
Er stand direkt vor ihr, als er das sagte, doch es klang, als sei er hundert Meilen weit weg. Sie musste das jetzt zu Ende bringen, sofort, bevor die Schwärze am Rand ihres Sehfeldes sich ausbreitete und sie zusammenbrach.
»Okay. Okay, ich hab’s mit Absicht getan.«
Sie nickten, als hätten sie es von Anfang an gewusst. Doch sie verschwanden nicht.
»Du hast mich als Lügner hingestellt«, sagte Brandon.
Amber versuchte, sich auf Dan zu konzentrieren. »Du hast gesagt, ihr würdet verschwinden.«
»Du liebe Güte.« Er schnitt eine Grimasse. »Sei nicht so verdammt unhöflich.«
»Okay. Ich hätte es nicht tun sollen. Es tut mir leid. Es war dumm von mir. Es tut mir sehr leid. Bitte, lasst mich nach Hause gehen.«
»Zum letzten Mal«, sagte Dan, »wir halten dich nicht auf. Wir hindern dich nicht daran, irgendetwas zu tun. Ist das so schwer zu begreifen? Bist du wirklich so blöd? Bist du wirklich so doof? Und hör auf, uns zu behandeln, als seien wir hier die Bösen, okay? Du hast schließlich den Milchshake über meinem Freund ausgeschüttet. Du bist schuld, dass wir rausgeworfen wurden. Du bist losgerannt. Du bist schuld, dass ich gestürzt bin. Mein Knie blutet! Aber beklage ich mich deshalb? Mache ich ein Theater darum? Nein, mache ich nicht. Aber du? Du hörst einfach nicht auf, aus dieser ganzen Sache ein verdammtes Drama zu machen.«
»Mir geht’s …«
»Was? Was war das?«
»Mir geht’s nicht gut.«
Ihre Knie knickten ein und sie streckte die Hand aus, um sich irgendwo festzuhalten. Sie erwischte Dans Hemdbrust. Er schnitt eine Grimasse und stieß sie zurück. Sie schwankte und dann war Brandon da, packte sie, stellte sie aufrecht hin …
… und schlug zu.
Der Schmerz war nichts verglichen mit dem Tornado in ihrem Kopf. Doch seine Faust rüttelte sie durch, schärfte ihre Sinne und sie sah, wie er seine Knöchel betrachtete, als überraschte es ihn, dass er es getan hatte. Danach ging alles ganz schnell, und als sie eine Hand an ihrem Gesicht spürte, biss sie fest zu und hörte ein Heulen.
Sie sah wieder klar. Brandons entsetzte Miene tauchte vor ihr auf. Sie schlug zurück, so fest sie konnte, und sein Kinn brach unter ihrer Faust.
Ein Augenblick wurde zur Ewigkeit.
Sie betrachtete ihre Faust.
Es war seltsam – in diesem Dämmerlicht sah ihre Haut fast rot aus.
Ein dunkleres Rot allerdings als das Blut, das in grandioser Zeitlupe aus der Ruine sprudelte, die einmal Brandons Gesicht gewesen war. War das ihr Werk? Passierte das wirklich? In diesem Augenblick, in diesem triumphalen Augenblick fand Amber die Zeit, sich zu fragen, ob sie sich alles nur einbildete. Das konnte doch nur eine bizarre Halluzination sein, hervorgebracht durch Adrenalin und diese immer schlimmer werdenden Kopfschmerzen.
Im Moment hatte sie allerdings keine Kopfschmerzen. Sie verspürte keinerlei Schmerz. Stattdessen ging es ihr … super. Sie fühlte sich frei. Sie empfand …
Macht.
Die Zeit nahm wieder Tempo auf. Auf ihrem T-Shirt waren Blutspritzer und Brandon ging zu Boden. Und jetzt, da sie wieder die Geräusche ihrer Umgebung wahrnehmen konnte, hörte sie seine gurgelnden Schreie. Er hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und kroch hektisch davon, wobei er eine Blutspur hinterließ. Dan wich zurück. Er starrte sie an. Sein Gesicht war kalkweiß, seine Augen weit aufgerissen und in seinem Blick lag das blanke Entsetzen.
Es war ihr Werk. Das Blut und die Schreie und die gebrochenen Knochen. Es war keine Halluzination. Sie hatte das getan.
Sie hob ihre mit Blut gesprenkelte Hand. Ihre Haut war wieder normal. Das war gut. Normal war gut.
Da war etwas in ihrem Mund. Etwas, das nach Kupfer schmeckte. Sie spuckte aus. Brandons Finger fiel auf den Boden.
Amber drehte sich um und rannte los.
3
Sie hatte Blut an den Händen.
Nicht im metaphorischen, bildlichen Sinn, obwohl das natürlich auch der Fall war, aber sie hatte in einem realen, physischen Sinn reales Blut an ihren realen Händen und es erwies sich als überraschend schwer, es abzuwaschen. Amber schrubbte hektisch, besah sich das Ergebnis und schrubbte erneut. Ihr fiel nicht zum ersten Mal auf, dass ihre Hände ziemlich klein waren. Hätte der Rest ihres Körpers den Proportionen ihrer Hände entsprochen, wäre sie vielleicht keine solche Zielscheibe gewesen. Diese Gedanken kamen ihr, während sie das Blut wegschrubbte.
»Amber?« Die Stimme ihrer Mutter von der anderen Seite der Badezimmertür.
Amber betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken – wilder, panischer Blick. »Ja?« Sie bemühte sich, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen.
»Ist alles in Ordnung?«
»Alles gut. Ich bin in einer Minute draußen.« Amber lauschte. Ihre Mutter zögerte kurz, bevor sie den Flur hinunterging.
Sie drehte den Wasserhahn zu und untersuchte erneut ihre Hände. Einen lächerlichen Augenblick lang glaubte sie, sie seien immer noch voller Blut. Doch dann schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. Durch das hektische Schrubben waren sie wund und rot, das war ganz normal. Kein Grund für ihre Fantasie, sich deshalb zu überschlagen. Es gab auch so genug, weswegen man ausflippen konnte.
Sie klappte den Klodeckel herunter, setzte sich darauf, atmete tief ein und aus und ging die Fakten durch. Ja, sie hatte diesen Typen ernstlich verletzt, aber sie hatte in Notwehr gehandelt. Zwei gegen eine. Das sah die Polizei bestimmt genauso. Wenn sie ihn nur nicht ganz so spektakulär verletzt hätte.
Amber runzelte die Stirn. Wie hieß er gleich noch mal? Der Typ, dem sie die Visage eingeschlagen hatte?
Brandon, genau. Sie war froh, dass sie es noch wusste. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr wichtig, dass sie sich, nach dem, was sie ihm angetan hatte, an seinen Namen erinnerte.
Sie hatte das nicht gewollt und hatte keine Ahnung, wie es passieren konnte. Sie hatte Geschichten über Adrenalin gehört und darüber, was es mit dem menschlichen Körper machen konnte. Mütter, die Autos von Kleinkindern hoben, und solche Sachen. Sie vermutete, dass es durchaus möglich war, dass Adrenalin ihr die schiere Aggressivität zum Knochenbrechen verliehen hatte, und überhaupt: Wie viel Kraft brauchte es wirklich, um einen Finger abzubeißen?
Allein bei dem Gedanken hob sich ihr Magen wieder.
Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Haut war blass und fleckig und ihr Haar ein verknotetes, krauses Durcheinander. Ihre Augen – haselnussbraun mit goldenen Sprenkeln und das Einzige an ihr, das sie nicht hasste – waren rot vom Weinen.
Sie ging in ihr Zimmer und tauschte ihr blutbesudeltes T-Shirt gegen ein Top ein, von dem die Verkäuferin im Geschäft gemeint hatte, es schmeichelte ihrer Figur. Amber war sich nicht sicher, ob sie ihr glaubte, aber es war ein hübsches Top, auch wenn es an ihr nicht besonders gut aussah. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Natürlich zitterten sie. Sie stand unter Schock. Sie brauchte Hilfe. Einen Rat. Trost.
Zum ersten Mal, seit sie dem Kindesalter entwachsen war, brauchte sie ihre Eltern.
»Zum Teufel«, murmelte sie. Einen Versuch war es wert.
Sie hörte sie in der Küche, wo sie letzte Hand ans Abendessen legten. Amber ging mit bleischweren Beinen über den Flur. Das ganze Haus duftete nach Ente, auf den Punkt gebraten, und normalerweise hätte ihr Magen geknurrt. Doch im Moment summte in ihrem Magen nur eine nervöse Stubenfliege. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihren Eltern über etwas Wichtiges gesprochen hatte. Oder wann sie das letzte Mal über irgendetwas mit ihnen gesprochen hatte.
Es gelang ihr nicht.
Mit trockenem Mund betrat sie die Küche. Bill schaute nach der Ente im Ofen. Von Betty keine Spur. Amber merkte, wie ihr der Mut sank. Sie brauchte sie beide gleichzeitig zum Reden. Mit nur einem Elternteil ging es nicht. Wirklich nicht? Oder war das eine Bedingung, die sie für sich stellte, nur um eine Ausrede zum Kneifen zu haben?
Und dann verließ sie der Mut ganz, einfach so.
Erleichterung zog die Steifheit aus ihren Gelenken und sie sackte in sich zusammen. Ohne dass Bill merkte, dass sie hinter ihm gestanden hatte, verließ sie rückwärts die Küche und ging zurück in ihr Zimmer. Vielleicht konnte sie das Thema während des Abendessens ansprechen, vorausgesetzt, es entstand eine Pause in der Unterhaltung. In dem Zwiegespräch ihrer Eltern, versteht sich, da Amber nur selten nach ihrer Meinung gefragt wurde. Wahrscheinlich würde ohnehin keine Pause entstehen, doch selbst wenn, war dies wohl kaum ein angemessenes Thema. Dann eben nach dem Abendessen oder später am Abend oder …
Amber betrat ihr Zimmer, doch Betty war bereits da, das blutverschmierte T-Shirt in der Hand.
»Wessen Blut ist das?«, fragte ihre Mutter.
Amber suchte nach einer Antwort, die ihr nicht einfallen wollte.
Betty ließ das T-Shirt aufs Bett fallen, kam zu ihr herüber und ergriff ihren Arm. »Bist du verletzt?«, wollte sie wissen. »Hat dir jemand etwas getan?«
Amber schüttelte den Kopf.
»Was ist passiert? Sag es mir, Amber.«
»Alles in Ordnung«, brachte Amber heraus.
Ihre Mutter schaute ihr tief in die Augen, als sei die Wahrheit dort unter Verschluss.
»Es ist nicht mein Blut«, fuhr Amber leise fort.
»Wessen Blut ist es dann?«
»Im Firebird. Ein paar Typen.«
Betty ließ sie los und trat zurück. »Wie viele?«
»Zwei. Sie sind mir gefolgt. Sie haben mich angegriffen.«
Auf Bettys Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. »Amber. Liebes, was hast du getan?«
»Gar nichts«, antwortete Amber und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Ich hab mich verteidigt. Ich habe nichts Falsches getan. Sie sind im Firebird ausfällig geworden und wir haben sie aufgefordert zu gehen. Ich bin ihnen auf dem Nachhauseweg begegnet und sie haben mich verfolgt. Sie haben mich angegriffen, Betty. Zwei gegen eine.«
»Du hast dich verteidigt? Bist du okay?«
»Ich … mir geht’s gut. Wirklich.«
»Und wie geht es ihnen?«
Jetzt wich Amber aus. »Hm, ich … ich weiß es nicht. Einer der beiden … ich glaube, ich habe ihm den Kiefer gebrochen. Und einen Finger abgebissen.«
»Du hast ihm in den Finger gebissen?«
»Ich habe ihm den Finger abgebissen.«
»Oh, Liebes!« Betty nahm Amber in den Arm. Amber verharrte reglos. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal umarmt hatte. »Und du bist ganz sicher, dass du nichts abbekommen hast?«
»Ganz sicher. Das Adrenalin hat einfach … Mir geht’s gut.«
»Ist dir das schon öfter passiert? Dass dich eine solche Welle von Kraft überkam?«
»Nein.« Amber fragte sich, wie lange sie noch so ausharren musste. »Es war das erste Mal.«
»Wie geht es dir, abgesehen davon? Wie fühlst du dich? Übelkeit? Kopfschmerzen?«
»Ein … ein wenig. Woher weißt du das?«
Betty ließ ihre Tochter los und schaute sie mit echten Tränen in den Augen an.
»Betty? Mom? Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Amber.
Betty lachte, ein nervöses Lachen, das sie abrupt beendete. »Ja, es ist alles gut, Amber. Ich bin nur … Du hast eine traumatische Erfahrung hinter dir und ich bin … ich bin erleichtert, dass es dir gut geht.«
»Wirst du es Bill erzählen?«
»Selbstverständlich.« Betty lächelte und es war das schönste Lächeln, das Amber je an ihr gesehen hatte. »Mach dir keine Gedanken. Er wird alles darüber hören wollen. Genau wie die anderen.«
Amber runzelte die Stirn. »Die anderen? Betty, bitte nicht. Ich will nicht, dass jemand …«
»Unsinn«, unterbrach Betty sie und wedelte Ambers Einwand mit einer Hand weg, während sie mit der anderen ihr Telefon aus der Tasche zog. Ihre schmalen Finger tanzten über das Display und in wenigen Augenblicken hatte sie eine Gruppen-SMS verschickt.
Sie saßen auf dem Bett und warteten, bis die anderen eintrafen. Betty fragte Amber nach der Schule, nach ihren Freunden, nach ihrem Job im Firebird und hörte zu, als Amber berichtete. Es war eine neue Erfahrung für Amber, mit ihrer eigenen Mutter über solche Dinge zu sprechen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sich Betty nie tatsächlich für sie und das Leben, das sie führte, interessiert. Sie nickte und lächelte, hakte nach, wo es nötig war, und als sie den ersten Wagen die Auffahrt heraufkommen hörten, beugte ihre Mutter sich zu ihr und küsste sie auf den Kopf.
»Du machst mich so stolz«, sagte sie leise.
Amber traten Tränen in die Augen, ungebeten, wie Einbrecher, die sich Zutritt zu ihrem Haus verschafften. Der Schock war genauso groß.
»Du lässt die anderen herein«, sagte Betty. »Ich helfe Bill mit dem Abendessen. Gut, dass wir eine große Ente genommen haben.«
Amber wartete, bis Betty draußen war, bevor sie sich die Augen rieb. Anschließend waren ihre Knöchel nass. Sie spürte eine seltsame Enge in der Brust, die sie komisch atmen ließ, und nahm sich einen Moment Zeit, um ruhig zu werden. Sicher konnte sie nicht sein, aber sie nahm an, dass es sich so anfühlte, wenn man liebevolle Eltern hatte. Die Erfahrung erwies sich als verstörend.
Es läutete und sie öffnete die Tür. Zwei der besten Freunde ihrer Eltern, Grant und Kirsty van der Valk, wohnten nur fünf Minuten entfernt, weshalb sie nicht überrascht war, dass sie als Erste eintrafen. Was sie dagegen überraschte, war Grants Lächeln, das so breit war wie seine Brust.
»Hallo, Kleines«, begrüßte er sie und nahm sie in den Arm. Er hatte sie noch nie Kleines genannt. Und sie auch noch nie in den Arm genommen. Er roch nach teurem, sparsam aufgetragenem Aftershave.
Immer noch lächelnd trat er einen Schritt zurück. Seine Frisur hatte Amber immer an Elvis Presley in seinen späteren Jahren erinnert – auch wenn die Koteletten nicht ganz so lächerlich waren. »Wie ist es bei deiner Rektorin heute gelaufen? Dein Dad hat mir gesagt, dass du ihr ihren Job gelassen hast. Du bist ein besserer Mensch als ich, weißt du das?«
»Daran gab es nie Zweifel«, meinte Kirsty und umarmte Amber nun ihrerseits. Wenn Grant Elvis war, war Kirsty Priscilla – schön, rothaarig und so herrlich lebhaft. Heute richtete sich ihre Lebhaftigkeit ausschließlich auf Amber. »Wie geht es dir?«, fragte sie leise, als sei dies eine Unterhaltung, die nur sie beide etwas anginge. »Geht es dir gut? Wie lang hast du die Kopfschmerzen schon?«
»Noch nicht allzu lang«, murmelte Amber. So langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Hatte sie einen Gehirntumor, von dem alle außer ihr wussten?
Dann weiteten sich Kirstys Augen. »Du lieber Himmel, das riecht aber gut. Hast du ihnen beim Kochen geholfen?«
Amber versuchte ein Lächeln. »Sie lassen mich nicht in die Nähe des Herds«, antwortete sie und führte die beiden ins Wohnzimmer, wo Bill ihnen bald Gesellschaft leistete. Während sie plauderten, stand er neben Amber und hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, wie sie das bei stolzen Eltern im Fernsehen gesehen hatte.
Dann läutete es wieder und Amber entschuldigte sich. Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten Familie und so war dieser enge Freundeskreis schon lange ein Ersatz dafür geworden. In gewisser Weise waren es wohl ihre Onkel und Tanten, auch wenn sie sie mit derselben kühlen Distanz behandelten, an die sie sich mit der Zeit gewöhnt hatte.
Sie öffnete die Tür und wurde sofort von den Füßen gehoben.
»Hallo, meine Schöne«, brummte Alastair.
Amber wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Ihre Füße baumelten in der Luft.
Alastair lachte und stellte sie wieder auf den Boden. Wie ihre Eltern und die van der Valks war Alastair Modine älter, als er aussah. Hinter all den Bartstoppeln hatte er ein offenes, freundliches Gesicht und gab sich weniger förmlich als die anderen. So zog er Jeans einem Anzug vor und aufgekrempelte Ärmel Schlips und Kragen.
»Ich hab gehört, dass es in der Schule Ärger gab«, flüsterte er, als sei es ein Geheimnis. »Schon als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass du eine kleine Quertreiberin bist. Du warst erst ein paar Stunden alt, aber ich wusste es. Ich wusste es!« Er betrachtete sie einen Augenblick. »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.«
Amber lächelte höflich, obwohl sie wusste, dass es rundheraus gelogen war. Betty war hübsch. Amber war unscheinbar. Betty war eine klassische Schönheit. Amber nicht. Das wusste sie alles.
Der dritte und letzte Wagen hielt in der Auffahrt. »Die anderen sind im Wohnzimmer«, sagte sie.
Alastair warf einen Blick auf den Neuankömmling, lächelte Amber noch einmal zu und gesellte sich dann zu seinen Freunden.
Amber stand in der Tür und blickte Imelda entgegen. Es begann zu regnen. Imeldas blondes Haar war erstklassig gestylt, ihr Make-up makellos und die Sachen, die sie trug, waren geschickt aufeinander abgestimmt. Sie hätte damit rechnen müssen, denn Imelda Montgomery war das Paradebeispiel an Perfektionismus. Bis auf das Lächeln. Imelda hatte ein hübsches Gesicht, das nach einem Lächeln verlangte – doch Amber hatte sie nie wirklich glücklich erlebt. Nicht einmal am Tag ihrer Hochzeit mit Alastair.
»Amber«, grüßte Imelda, als sie das Haus betrat.
»Hi«, sagte Amber. Damit erschöpfte sich ihre Unterhaltung. Mehr hatte Amber auch nicht erwartet. Neben Imelda wirkten sogar ihre Eltern herzlich.
Sie gingen ins Esszimmer und Amber aß mit ihren Eltern und deren Freunden zu Abend. Sie tranken Wein und sie trank Cola. Es war drei Monate her, an ihrem sechzehnten Geburtstag, seit sie das letzte Mal zusammen gegessen hatten. Aber noch nie hatte sie sie in so guter Stimmung erlebt. Mit Ausnahme von Imelda, die noch missmutiger dreinschaute als sonst. Aber das war Imelda. Sie war ein Sonderfall.
Amber hatte keine Freundinnen zu ihrem Geburtstag eingeladen. Ihre wahren Freunde, ihre echten Freunde, waren ohnehin alle online, auf Fanseiten und in Foren. Sie brauchte niemandem persönlich zu begegnen. Online konnte sie so tun, als sei sie allgemein beliebt, witzig und interessant, und brauchte keine Angst zu haben, jemanden zu enttäuschen, wenn ihr Lächeln nicht den Raum erhellte. Online scherte sich niemand um die Wattleistung.
Sie ließ Fragen zu möglichen Freunden und der lästigen Plackerei in der Schule über sich ergehen und fing gerade an, sich wohlzufühlen, als sie plötzlich wieder den Geschmack vom Blut dieses Jungen im Mund hatte. Von einer Sekunde zur anderen hatte sie keinen Appetit mehr und schob ihr Essen nur noch auf dem Teller herum, während die anderen sich weiter unterhielten. Entgegen Bettys früherer Aussage sprachen sie nicht über den gewalttätigen Ausbruch, der Amber so durcheinandergebracht hatte. Dafür war sie dankbar.
Betty beugte sich zu ihr herüber. »Du siehst müde aus«, stellte sie fest.
Amber nickte. »Ich glaube, ich gehe heute früh ins Bett, wenn das okay ist.«
»Natürlich ist das okay«, erwiderte Bill. »Lass deinen Teller stehen – wir räumen später ab. Geh du nur ins Bett – heute war ein großer Tag.«
»Der größte überhaupt«, bekräftigte Grant.
Die anderen nickten und lächelten verständnisvoll – nur Imelda wirkte verärgert. Eigentlich mehr als verärgert. Richtig aufgewühlt.
Amber war zu müde, um sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Sie erhob sich und erst da fiel ihr auf, dass von den anderen niemand sein Essen angerührt hatte. Lächelnd wünschte sie eine »Gute Nacht«.
Die anderen antworteten herzlich im Chor, sie ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Der Regen schlug wie Maschinengewehrkugeln ans Fenster. Draußen war es heiß und nass, doch hier drin sorgte die Klimaanlage für angenehme Kühle, genau so, wie Amber es gern hatte. Am liebsten wäre sie sofort ins Bett gegangen, obwohl es erst kurz nach zehn war, doch sie musste auch noch über das, was ihr heute widerfahren war, reden. Sie loggte sich ins In the Dark Places-Forum ein.
Die Dunkle Prinzessin sagte …
Hallo? Jemand da?
Mad Hatter99 sagte …
Prinzessin! Wo WARST du nur, Mädchen?
*kuschelt sich für eine Umarmung an*
Die Dunkle Prinzessin sagte …
Hatte viel für die Schule und so zu tun.
War ein ECHT merkwürdiger Tag.
Hast du BPB in letzter Zeit gesehen?
Mad Hatter99 sagte …
Meiner auch! Du hast den Talk gestern verpasst.
Was hältst du vom ep vom Dienstag?
Sie war vorhin online.
Hatte irgendein Rollenspiel laufen. Warum?
Die Dunkle Prinzessin sagte …
Muss nur mit ihr reden. Nichts Schlimmes.
Bin zu müde, um zu warten. Gute Nacht. X
Mad Hatter99 sagte …
Neeeein! Verlass mich nicht!
Amber loggte sich aus und legte sich aufs Bett. Sich auszuziehen war schon viel zu anstrengend. Die Zähne zu putzen schien eine lächerliche Energieverschwendung zu sein. Sie konnte kaum die Augen offen halten. Gedämpft hörte sie ihre Eltern und die anderen reden, verstand aber nicht, was sie sagten. Es wurde gelacht. Die Stimmung war aufgekratzt.
Ihr Telefon klingelte, summte an ihrer Hüfte. Mit tauben Fingern zog sie es aus der Tasche und hielt es ans Ohr.
»Ich bin’s«, meldete sich Sally. »Gerade hat Frank angerufen. Vor zehn Minuten kamen zwei Polizisten ins Firebird und haben nach dir gefragt.«
Ganz entfernt schrillten Alarmglocken in Ambers Kopf. »Was wollten sie?«, fragte sie benommen.
»Dich. Sie behaupteten, du hättest die Typen von heute Nachmittag angegriffen. Hast du? Einer davon sei im Krankenhaus, haben sie gesagt.«
Amber setzte sich ächzend auf. »Hat Frank ihnen meinen Namen genannt?«
»Natürlich. Sie waren Polizisten. Was ist passiert?«
Es läutete an der Tür. Amber legte auf und steckte beim Aufstehen das Handy in die Tasche. Einen Augenblick lang drehte sich das Zimmer. Als sie sicher war, dass sie nicht umkippen würde, ging sie auf Frankenstein-Füßen zum Fenster.
In der Auffahrt stand ein Polizeiauto.
4
Das Geplauder im Haus verstummte, dafür war eine neue, unbekannte Stimme zu hören. Eine Männerstimme. Sie klang offiziell. Amber wünschte, sie wäre nicht so entsetzlich müde. Wenn sie nur ihr Gehirn in Gang bringen könnte, wäre sie in der Lage, alles zu erklären. Sie war sicher, dass die Polizisten sie danach verstehen würden. Sie holte ein paar Mal tief Luft, um den Kopf freizubekommen, und ging dann mit unsicheren Schritten zur Tür. Öffnete sie. Falls sie verlangten, dass sie mit erhobenen Händen heraustrat, musste sie sie enttäuschen. Sie war viel zu müde, um die Arme zu heben.
Wie es sich anhörte, waren die anderen im Esszimmer geblieben, während Bill und Betty sich mit den Polizisten im Wohnzimmer unterhielten. Amber hielt sich beim Gehen dicht an der Wand, falls sie sich abstützen musste. Sie kam zu dem Familienfoto im Flur – der einzigen gerahmten Fotografie, auf der sie alle drei zu sehen waren – und blieb stehen. Von hier aus konnte sie über den Flur durch die offene Wohnzimmertür schauen.
Zwei Gesetzeshüter in Uniform redeten mit ihren Eltern. Sie sagten etwas, doch Amber konnte sich nicht genügend konzentrieren, um die Worte zu verstehen. Wieso war sie nur so müde?
Alle standen in der Mitte des Zimmers und beobachteten sich gegenseitig. Amber schob ihre Schulter an der Wand entlang und versuchte, endlich mitzubekommen, was der Polizist sagte.
»… muss lediglich mit ihr sprechen, mehr nicht.«
»Amber geht es im Moment nicht gut«, erklärte Bill. »Wenn Sie morgen wiederkommen, fühlt sie sich vielleicht besser.«
»Ich verstehe Ihr Verhalten, MrLamont, bitte glauben Sie mir. Ihre Tochter ist möglicherweise in Schwierigkeiten und Sie wollen sie beschützen. Das verstehe ich. Wirklich. Aber Sie tun ihr keinen Gefallen, wenn Sie uns nicht mit ihr sprechen lassen.«
Trotz ihrer Benommenheit spürte Amber, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief.
»Mein Mann lügt nicht«, verteidigte ihn Betty. Sie klang erregt. »Rufen Sie doch bitte den Polizeipräsidenten an. Er wird für uns und Amber bürgen. Was immer passiert sein soll, ich weiß genau, dass es nicht passiert ist.«
»Wir rufen den Polizeipräsidenten nicht an, wir werden die Sache nicht einmal melden, bevor wir nicht mit Amber sprechen konnten«, erwiderte der Polizist. »Wir haben zwei junge Männer, die behaupten, dass sie sie angegriffen hat.«
»Ein sechzehnjähriges Mädchen greift zwei Männer an?«, meldete sich Bill wieder. »Und Sie nehmen sie ernst? Sie verschwenden tatsächlich Ihre Zeit mit einem solchen Unsinn?«
»Wir werden die Sache aufklären, wenn Sie uns nur endlich mit ihr reden lassen.«
Bill stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte verzweifelt den Kopf. Betty schaute ihn an. »Du bist ein solcher Perfektionist«, sagte sie. Die Erregtheit, die sie kurzfristig an den Tag gelegt hatte, war verschwunden.
»Ich mag es einfach, wenn alles akkurat erledigt wird«, erwiderte Bill. »Das hier … wäre keine saubere Sache.«
»Was, bitte schön, wäre nicht sauber?«, fragte einer der Polizisten.
Doch Bill und Betty ignorierten ihn.
»Heute ist ein besonderer Tag«, fuhr Betty fort. »Ein wundervoller Tag. Sechzehn Jahre lang haben wir auf diesen Tag gewartet. Was jetzt gleich passiert, kommt zwar etwas ungelegen, aber mehr auch nicht.«
»MrsLamont«, begann einer der Polizisten, doch Bill schnitt ihm das Wort ab.
»Es ist bereits im System«, sagte er zu seiner Frau. »Bereits protokolliert.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach Betty. »Der da hat gesagt, sie hätten es noch nicht einmal gemeldet. Gilmore wird es verschwinden lassen. Er hat es schon öfter getan und für das Geld, das wir ihm bezahlen, tut er es bestimmt wieder. Kann sein, dass du in der Nacht ihren Wagen ins Moor fahren musst, einfach, um ihre Kollegen zu verwirren, aber warum nicht?«
Die Polizisten schauten sich an.
Billy sah seine Frau an und lächelte. »Du meinst das ernst, nicht wahr? Du willst es tatsächlich tun?«
»Ja. Ich will es tatsächlich tun.« Betty nahm einen Mantel von der Rückenlehne der Couch, schlüpfte hinein, zog den Ärmel über ihr Handgelenk und wickelte ihn um ihre Hand.
»Hm, Entschuldigung?«, meldete sich der Polizist.
»Welchen willst du haben?«, fragte Bill.
Betty wies mit dem Kinn auf den Polizisten, der ihr am nächsten stand. »Den da.«
Bill zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Dann töte ich den Hässlichen.«
»Moment mal«, begann der größere der beiden Polizisten, doch seine nächsten Worte wurden von Bills Hand auf seinem Gesicht gedämpft.
Nur dass es nicht Bills Hand war. Sie war rot mit schwarzen Krallen. Auch Bills Gesicht war rot, aber es hatte sich verändert und er war insgesamt kräftiger, größer, ragte plötzlich über dem Polizisten auf, ein rothäutiges Monster, aus dessen Stirn sich schwarze Hörner ringelten wie bei einem Widder.
Der Dämon, der an Bills Stelle getreten war, donnerte den Kopf des Polizisten gegen die Wand. Der Kopf verformte sich wie eine leere Limo-Dose.
Sein Kollege machte entsetzt einen Satz nach hinten und versuchte mit fahrigen Bewegungen, seine Pistole aus dem Holster zu ziehen. Dann fiel ihm Betty ein und er drehte sich in dem Moment um, in dem sie sich verwandelte. Eben noch Betty. Im nächsten Augenblick ein Monster. Groß. Rot. Gehörnt. Ihre Faust ging mitten durch seine Brust und kam in einer Blutfontäne am Rücken wieder heraus. Der Polizist gurgelte etwas, das Amber nicht verstand. Betty öffnete die Faust, ließ den Ärmel los und zog ihren Arm sowohl aus dem Mantel als auch aus der Brust des Polizisten.
Als der tote Polizist zusammenbrach, wich Amber geduckt zurück.
»So«, hörte sie Bill sagen. »Das wäre erledigt.«
Betty lachte. Es war ihr Lachen, kein Zweifel, doch es kam aus dem Mund eines Dämons.
Die Tür zwischen Wohnzimmer und Esszimmer ging auf und Amber schlich wieder ein Stück näher. Sie sah, wie Grant mit den anderen hereinkam. Entsetzt starrten sie auf das Blutbad.
Kirsty legte die Hand über den Mund.
Bill wandte sich ihnen zu. »Wir können alles erklären.«
Kirsty lief näher heran. »Das ist mein Mantel! Was zum Teufel fällt dir ein, Betty?«
Amber bekam weiche Knie.
»Können wir später über deinen Mantel reden?«, fragte Grant. »Können wir zunächst über die beiden toten Polizisten auf dem Teppich reden?«
»Ich rufe Gilmore an«, sagte Bill. »Das kriegen wir schon wieder hin. Es ist keine große Sache.«
»Sie sind Polizisten!«
Bill, der Dämon, wedelte mit der Hand. »Wir haben ein wenig über die Stränge geschlagen. Wir hätten es nicht tun sollen. Zufrieden? Betty und ich halten uns für den Rest des Abends zurück, versprochen. Wir töten Amber und damit hat es sich dann. Keine weiteren Morde in dieser Woche.«
Ambers Magen hob sich und plötzlich war ihr kalt, kälter als je zuvor. »Das mit deinem Mantel tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Betty bei Kirsty. »Ich kauf dir einen neuen.«
Kirsty schüttelte den Kopf. »Es wurde nur eine bestimmte Stückzahl davon angefertigt. Heute bekommt man sie nicht mehr.«
Amber rutschte seitlich weg. Sie vergaß, wie man geht, vergaß, wie man atmet. Ihre Füße waren schwer, steinern, und sie schleppten sich über den Flur zu ihrem Zimmer, während der Rest ihres Körpers sich bemühte, aufrecht zu bleiben. Sie fiel durch ihre Tür auf die Knie, drehte sich um, streckte die Hand aus und stieß die Tür mit tauben Fingern zu. Ihr Mund war trocken und ihre Zunge geschwollen. Etwas passierte in ihrem Bauch, sie kippte nach vorn, lag wieder auf Händen und Knien und übergab sich auf den Teppich, der seit Jahren in ihrem Zimmer lag. Aber sie tat es geräuschlos. Sie würgte und spuckte, aber alles vollkommen leise.
Ihre Eltern waren Monster. Ihnen waren Hörner gewachsen! Sie hatten Polizisten getötet. Ihre Eltern – und deren Freunde – würden auch sie töten.
Betty hatte sie betäubt. Genau das hatte sie getan. Irgendein Betäubungsmittel im Essen. Nein, in der Cola. Amber betrachtete die Schweinerei auf ihrem Teppich und fragte sich, wie viel von der Droge hier geronn.
Sie streckte die Hand aus, ergriff den Bettpfosten und zog sich daran hoch, hielt sich fest, damit sie nicht seitlich wegkippte. Sie musste hier weg. Musste verschwinden. Sie machte einen Schritt aufs Fenster zu, das Zimmer schlingerte wild und sie stolperte weiter. Sie warf sich zur Seite, damit sie nicht durch die Scheibe krachte, und schlug sich dafür den Ellenbogen an der Wand an. Es tat weh, aber ihre Eltern kamen nicht angerannt. Sie hatte einen solchen Durst. Auf ihrem Nachtschränkchen war eine Flasche Wasser, doch das Schränkchen stand an der gegenüberliegenden Wand.
Dumme, taube Finger fummelten am Fenster herum. Ein blöder, dummer Daumen stieß gegen den Griff. Stumpfe Zähne bissen zu, aus ihrer Lippe kam Blut. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, schärfte ihre Sinne für einen Moment und ihre dicken, dummen, unwilligen Finger taten endlich, was von ihnen erwartet wurde. Der Griff quietschte, bewegte sich, sie legte den Unterarm an den Fensterrahmen, drückte nach oben, nahm ihren ganzen Körper zuhilfe, um das Fenster zu öffnen. Dann versagten ihre Beine, sie fiel und schlug sich auf dem Weg nach unten den Kopf am Fenstersims an.
Amber lag mit geschlossenen Augen da. Das Blut pochte in ihren Ohren, wie Trommelwirbel, wie Schritte, wie Knöchel, die an die Tür klopfen.
»Amber?«
Augen öffneten sich.
»Amber? Alles in Ordnung?«, fragte Betty vom Flur aus.
Keine Antwort würde bedeuten, dass die Tür aufging und Betty hereinkam. Eine Antwort musste her. Eine Antwort.
»Ja.« Schwerfällig kam das Wort aus Ambers Mund. Es folgten weitere. »Müde. Schlafe schon.« Jedes einzelne unbeholfen auf ihrer Zunge.
Die Tür. Der Griff. Der Griff bewegte sich. Die Tür ging auf. Bills Stimme von irgendwoher. »Wo ist unser Fleckenmittel?«
Die Tür schloss sich, dann Bettys Schritte, die sich entfernten.
Amber drehte sich auf die Seite und hievte sich dann auf Hände und Knie. Blieb so, atmete, sammelte ihre Kräfte. Ohne den Kopf zu heben, griff sie nach dem Fenstersims. Packte ihn. Zog sich hoch, bis sie einen Arm draußen hatte. Packte den Sims von außen, zog sich weiter hoch, streckte den Kopf aus dem Fenster, in die Hitze, in die Luft und den Regen.
Amber fiel ins Gras, ihre Beine schlugen gegen den Fensterrahmen. So würden sie sie finden. Sie war nicht entkommen. Sie konnte sich nicht ausruhen, nicht so. Sie musste weg. Musste in Bewegung bleiben.
Amber kroch jetzt durch das nasse Gras, durch die getupften Schatten der Bäume. Sie musste hier weg. Sie musste schneller kriechen. Musste die Straße erreichen. Die Straße erreichen, in ein Auto steigen, wegfahren. Entkommen.
Der Boden unter ihr veränderte sich, wurde härter. Kein Gras. Nicht mehr. Dunkler. Härter. Glatter. Die Straße.
Näher kommende Schritte. Jemand lief durch den Regen. Sie hatten sie gefunden. Sie hatten sie bereits gefunden. Ihre Arme waren schwach, keine Kraft mehr. Ihr Körper legte sich hin. Ihr Verstand … ihr Verstand … Wo war ihr Verstand?
Schuhe. Hochhackige Schuhe auf einer nassen Straße, direkt vor ihr. Eine Stimme. Eine Frauenstimme. Sie kannte diese Frauenstimme.
»Hallo, Amber«, sagte Imelda.
5
Amber erwachte in einem fremden Zimmer. Klare Linien und kein Schnickschnack. Schwere Vorhänge sorgten dafür, dass die Dunkelheit nicht ins Licht der Morgensonne entschwand. Mit langsamen Bewegungen schob sie die Decke zurück und stand auf. Sie trug nur ihre Unterwäsche. Ihre Kleider lagen ordentlich zusammengefaltet auf der Kommode. Sauber und trocken. Sie schlich zum Fenster, schob die Vorhänge auseinander und schaute hinaus auf den Eola-See. Sie runzelte die Stirn. Ein Apartment in der Stadt mit Blick auf den Eola-See. Sie hatte keine Ahnung, wo zum Teufel sie war.
Aber sie lebte. Das war wenigstens etwas.
Amber griff sich ihre Kleider, zog sie an. Ihr Handy war verschwunden. Sie wollte nach dem Glas Wasser neben dem Bett greifen, hielt aber inne, als ihr die Cola einfiel. Es gab ein Badezimmer, sauber und auf Hochglanz poliert. Es sah aus, als sei es noch nie benutzt worden. Sie trank aus dem Wasserhahn und wischte sich den Mund ab. Dann ging sie zur Tür, legte das Ohr daran, hörte nichts.
Sie öffnete sie, zögerte und trat hinaus.