Der Absturz - Günter Schabowski - E-Book

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Günter Schabowski

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Beschreibung

Absolvent der Moskauer Parteihochschule, Chefredakteur des «Neuen Deutschland», Mitglied des ZK und Politbüros, Berliner Bezirkschef der SED – Günter Schabowski gehörte zum innersten Zirkel der Macht in der damaligen DDR. Und war mitverantwortlich für ein System, das dem Volke zu dienen und zu nutzen versprach, in Wahrheit aber die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit zutiefst diskreditierte. Dieses Buch ist die unsentimentale Bilanz eines Mannes, der um das Schuldenkonto der von ihm verantworteten Politik weiß. Schabowski beschreibt das Klima des gegenseitigen Mißtrauens und der Selbsterniedrigung, das im Politbüro herrschte; den «subtilen Byzantismus», mit dem Honecker regierte; die «kalte Zweckgemeinschaft» zwischen Honecker und Mittag; die ständigen exklusiven Treffen beider mit Erich Mielke; den «Pomp auf Pump», mit dem der SED-Staat sich selbst inszenierte; und den Vorgang der Wahlfälschung, der seinen Untergang einläutete. Er erzählt, wie zögerlich und dilettantisch er und andere die Konspiration gegen Erich Honecker organisierten und korrigiert die zuvor kursierenden Versionen über den tatsächlichen Verlauf jener Politbürositzung, auf der der Generalsekretär gestürzt wurde. Er analysiert das immer wieder spannungsgeladene Verhältnis zwischen Honecker und den Sowjets – von Breschnew, der Honecker auf der Krim eine Rüge erteilte, weil russische Komsomolzen bei einem DDR-Besuch Bibeln in ihren Nachttischschränkchen vorgefunden hätten, bis hin zu der Verachtung Gorbatschows für den «deutschen Suppenkasper der Perestroika» (Schabowski).

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Günter Schabowski

Der Absturz

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Über dieses Buch

Absolvent der Moskauer Parteihochschule, Chefredakteur des «Neuen Deutschland», Mitglied des ZK und Politbüros, Berliner Bezirkschef der SED – Günter Schabowski gehörte zum innersten Zirkel der Macht in der damaligen DDR. Und war mitverantwortlich für ein System, das dem Volke zu dienen und zu nutzen versprach, in Wahrheit aber die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit zutiefst diskreditierte.

Dieses Buch ist die unsentimentale Bilanz eines Mannes, der um das Schuldenkonto der von ihm verantworteten Politik weiß. Schabowski beschreibt das Klima des gegenseitigen Mißtrauens und der Selbsterniedrigung, das im Politbüro herrschte; den «subtilen Byzantismus», mit dem Honecker regierte; die «kalte Zweckgemeinschaft» zwischen Honecker und Mittag; die ständigen exklusiven Treffen beider mit Erich Mielke; den «Pomp auf Pump», mit dem der SED-Staat sich selbst inszenierte; und den Vorgang der Wahlfälschung, der seinen Untergang einläutete. Er erzählt, wie zögerlich und dilettantisch er und andere die Konspiration gegen Erich Honecker organisierten und korrigiert die zuvor kursierenden Versionen über den tatsächlichen Verlauf jener Politbürositzung, auf der der Generalsekretär gestürzt wurde. Er analysiert das immer wieder spannungsgeladene Verhältnis zwischen Honecker und den Sowjets – von Breschnew, der Honecker auf der Krim eine Rüge erteilte, weil russische Komsomolzen bei einem DDR-Besuch Bibeln in ihren Nachttischschränkchen vorgefunden hätten, bis hin zu der Verachtung Gorbatschows für den «deutschen Suppenkasper der Perestroika» (Schabowski).

Über Günter Schabowski

Günter Schabowski, 1929 geboren, studierte Journalistik in Leipzig, war Redakteur der Gewerkschaftszeitung «Tribüne». 1952 trat er in die SED ein. Parteihochschule in Moskau, 1978 Chefredakteur des «Neuen Deutschland», 1981 Mitglied des ZK, 1985 Erster Sekretär der Berliner SED und Mitglied des Politbüros. Im Januar 1990 wurde Schabowski aus der SED-PDS ausgeschlossen.

Inhaltsübersicht

VorwortIm Niemandsland1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelOhne roten Taufschein1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelDie politische Tätowierung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelSozialistischer Absolutismus1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelKein Jahr wie 39 frühere1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelBerlin–Moskau: Szenen einer Ehe1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelZeit der Sprachlosigkeit1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelDie Entmachtung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelDas Ende mißt 40 Tage1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelIm Neu-Land

Vorwort

Eine Biographie zu schreiben, hatte der Autor nicht im Sinne. Was er über sich mitteilt, könnte beim Leser Klischees in Frage stellen, die vielleicht durch flinke Zaungäste der Politik hervorgerufen wurden. Vom Elternhaus, von Veranlagung und Neigung war ihm nicht vorgezeichnet, einmal in den inneren Zirkel der SED-Macht zu geraten. Er will damit sagen, auch dieser Typus war dort vertreten neben anderen, die von Kindheit an rot zu denken gelernt hatten.

Die relative kritische Distanz des Autors zu Politik und Praxis der SED, die aus seiner Schilderung spricht, ist nicht in allem seine heutige Haltung. Der Text spiegelt auch den Grad an Einsicht wider, der dem innerhalb der Verhältnisse Handelnden zu jener Zeit erreichbar war.

Er ist eine Figur der Nachkriegszeit, mehr noch der nachstalinschen Ära. Die Despotie hatte sich ihrer grausamsten Züge schon entledigt. Noch wurde der Gewissenszwang als Treue zur heiligen Sache der Partei verklärt. Die Entkanonisierung Stalins durch Chruschtschow verstörte viele der Älteren. Jüngere erfuhren zum erstenmal, wie Zweifel und Skepsis schmecken.

Wer über sich schreibt, verschweigt – auch wenn das nicht sein Vorsatz ist. Das Gegenteil einer Klarsichtpackung hat ein amerikanischer Publizist Memoiren genannt. Der Autor kann diesem Vorwurf um so weniger entgehen, als Verstrickung in Schuld und Scheitern sein Stoff sind. Er nimmt für sich in Anspruch, daß jedermann in seiner Sicht begrenzt ist. Auch wo er meint, nur authentischer Chronist zu sein, trügt ihn seine Subjektivität. Niemand ist allwissend. Im ziemlich totalen Überwachungsstaat der SED wußten einige viel, aber selbst in der Spitze niemand über alles Bescheid. Sogar Honecker, Mittag und Mielke, die – dreifaltig – Orwells Big Brother verkörperten, konnten nicht sicher sein, was wer in ihrer Umgebung dachte und fühlte. Mindestens zwei von ihnen traf die eigene Entmachtung unverhofft.

Wo der Leser mehr Auskunft erwartete, muß er hinnehmen, daß der Autor nicht mehr und Schlüssigeres mitteilen konnte, als Medien und offizielle Untersuchungsberichte im Jahr nach der Wende zutage gefördert haben.

Gesprächspartner in der pränationalen Bundesrepublik haben dem Verfasser den Eindruck vermittelt, dort sehen und verstehen viele den Absturz der SED, dem das Ende der DDR dichtauf folgte, als ein genuines, ein hausgemachtes ostdeutsches Phänomen. War das kläglich hingeschiedene System nur das Werk einer Rotte häßlicher Deutscher von «drüben»? So suggeriert es ja die in manchen Zeitungen verbreitete Instanthistorie, die häufig mit dem Frühstückskaffee gleicher Machart eingenommen wird. Solche Einäugigkeit möchte der Autor mit seinen Innenansichten aus dem anderen D-Land nicht verstärken. Was am 7. Oktober 1949 begann und am 3. Oktober 1990 als Geschichte abgelegt wurde, war nicht weniger ein Produkt internationaler Politik, ihrer Wechselwirkungen und Interessengegensätze. Das Experiment DDR wollte Antwort sein auf die Unzulänglichkeiten und Sünden der bürgerlichen Welt. Aber die DDR war auch das Ergebnis der Großmachtkonstellationen im Nachkriegseuropa. Sozialismusversuch und Eckpfeiler in den imperialen Plänen Stalins – das rührte sich zu einem unverträglichen Gemenge zusammen. Es hat den sozialen Anspruch der DDR verdorben und ihre Lebensdauer verkürzt. Insofern ist ihr Schicksal Reflex und Vorwegnahme der sowjetischen Krankheit. Oder sollte man besser sagen: der qualvollen Gesundung des Sowjetreiches?

«Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Die Warnung Gorbatschows an die SED-Führung ist lapidar wie eine Volksweisheit. Sie wurde unzählige Male bemüht, um das galoppierende Scheitern der Staatspartei und des Sozialismus in der DDR zu bewerten. Nun droht Gorbatschow selbst, von den unbehebbaren Schwächen des Systems eingeholt zu werden.

Rechtzeitig oder verspätet? – eine Pseudoalternative. Fünf Jahre Terminvorsprung haben nichts genützt. Der Neuerer im Kreml hat einige Bedingungen des sowjetischen Gesellschaftsexperiments verändert und meinte, damit seine Ergebnisse zu verbessern. Offenbar wurde nur – List der Idee –, daß die Versuchsreihe falsch angesetzt war. Die sozialistischen Strukturen lösten sich auf, in Polen, in Ungarn, in der DDR. Auch in der Sowjetunion ist inzwischen ein Gesellschaftskonzept durch ein grundlegend anderes ersetzt worden, das sich seine politische Anatomie und Physiologie schafft. Marktwirtschaft und Privatisierung heißt die neue, alte Magie. Gorbatschow muß sich heute den größten politischen Abrißunternehmer der Geschichte nennen lassen.

Der repressive Sozialismus Stalins war als Notwendigkeit und Rationalität erschienen, die einer feindlichen Umwelt entgegengesetzt werden mußte. In Wahrheit trat ein extremer Subjektivismus im Gewande der sozialen Vernunft auf. Das ungeheuer vielfältige und sich unablässig differenzierende multikausale Geflecht, das der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegt, wurde über den einfachen Leisten der Revolution geschlagen. Von deren unvermeidlichen Eingriffen haben sich die ökonomischen und sozialen Kreisläufe nach der Bürgerkriegsphase der Revolution während der Diktatur Stalins nicht wirklich erholen und erneuern können.

Die politischen Prioritäten gestatteten keine organische Regeneration der Ökonomie. Die groben Prothesen der Planungsapparate waren unzulänglich. Die Widersprüche zwischen Mikro- und Makroökonomie und den Erwartungen der Menschen nahmen zu. Die Wurzeln der Repression liegen hier. Das System konnte und wollte seine Schwächen und Widersprüche nicht eingestehen. So war es auch in der DDR. Die Uhr lief ab. Als wir uns noch Chancen ausrechneten, hatte der Kollaps schon sein Datum.

 

Zu danken habe ich Frank Sieren, Trier, und Ludwig Köhne, Düsseldorf, die durch ihr anregendes Interesse, ihre kritische Aufgeschlossenheit und ihre erstaunliche Hilfsbereitschaft den Schreiber ermutigt haben.

Im Niemandsland

1

Ich war auf dem Wege zu unserer Berliner Wohnung. Erst vor kurzem waren wir dort eingezogen. Aus Wandlitz hatten wir uns schon im November abgeseilt. Übergangsquartier war ein altertümliches Gästehaus der Regierung im Pankow gewesen, wo wir nervös auf unseren unausgepackten Koffern saßen.

Heute wohnen wir in einem noch unfertigen Viertel am äußersten westlichen Rand der (Noch-)Hauptstadt der DDR. Die Häuser in unserer Gegend stehen auf einem Baugrund, den man historisch nennen kann: auf dem Terrain der Reichskanzlei. Aus dem Fenster geht der Blick auf die Mauer. Wir sind zwischen den düsteren Ablagerungen zweier Epochen angesiedelt.

Wochen nachdem die SED in Liquidation gegangen war, kam mir meine Lage noch immer verwirrend und unwirklich vor. Ich merkte es an meiner Unsicherheit, wenn Leute mich auf der Straße überrascht grüßten oder mir in der Kaufhalle verstohlen zunickten. Zweifelnd fragte ich mich, ob das Sympathie sei, die ich annehmen dürfe. Galt sie meinem (unzureichenden) früheren Bemühen, offen auf die Menschen zuzugehen, um mit ihnen etwas Sinnvolles im allgemeinen Widersinn zu bewirken? Oder war es vielleicht Erkennungszeichen einer Komplizenschaft, die das bankrotte Vergangene meint? Nichts wäre mir widerwärtiger als die Vorstellung, Mitglied eines Klubs der Gestrigen zu sein, die sich mümmelnd und greinend bescheinigen, wie schön alles war, und daß man nur das Beste gewollt habe.

Als ich diese Niederschrift begann, war ich 61 Jahre alt. Meine Körperlänge beträgt 184 Zentimeter. Mein Gewicht schwankt zwischen 86 und 88 Kilogramm. Nach Meinung des Arztes ist meine Gesundheit nicht die allerbeste. Ungeachtet medizinischer Unkenrufe wähne ich mich in guter Verfassung. Ein Diplom der Karl-Marx-Universität Leipzig aus dem Jahre 1962 bescheinigt mir, daß ich Fertigkeiten erworben habe, die mich zu journalistischer Arbeit befähigen. Zur Zeit gehe ich keiner geregelten Tätigkeit nach. Genauer gesagt, ich laufe der Arbeit hinterher. Für die Rente bin ich noch nicht alt genug. Dazu müßte ich in unserem Land 65 sein. Doch ich bin wohl nicht mehr jung genug, um mich mit Aussicht auf Erfolg an das Abenteuer einer neuen Profession zu wagen. Die Chancen sind für mich in der DDR ohnehin gleich Null; denn ich war ein roter Bonze.

Ich war ein Mitglied des Politbüros der SED. Die Partei war die Schöpferin, die unumschränkte Beherrscherin und Sachwalterin eines Systems, das ausschließlich dem Volk zu dienen und zu nutzen versprach. Die von ihr verordneten bescheidenen Wohltaten waren den Menschen durch latente oder harsche und brutale Entmündigung, durch zunehmende Selbstgerechtigkeit der Führenden vergällt. Das hat die Verweigerung durch das Volk herausgefordert. Heute bin ich überzeugt, daß der Mangel an Demokratie und Toleranz die Atrophie des Systems bewirkt und beschleunigt hat. Zutage liegt seine Unfähigkeit, solide zu wirtschaften, bedarfsgerecht, ohne Pomp auf Pump, ökologisch. Diese Defekte waren Geburtsfehler der Sache, der wir uns verschrieben hatten.

«Wie fühlst du dich denn jetzt?» wurde ich häufig gefragt. Vor allem fühle ich mich schuldig. Schuldig, obwohl das Scheitern des sozialistischen Experiments in der DDR vorprogrammiert war. Zu lange habe ich Zweifel an unserer messianischen Anmaßung abprallen lassen. Sie kamen allerdings erst in den letzten Jahren drängender und häufiger. Ich habe mit zu verantworten, daß die sozialistische Vision von Humanität und Gerechtigkeit, die diese Welt braucht, in Verruf gekommen ist.

Schuldig fühle ich mich auch, weil wir den Vorzug unserer Unbefangenheit als Jüngere nicht früher genutzt haben. Die Alten hatten ihre Kämpfe, Leiden und Opfer gehabt; die stalinistischen Denkschemata hatten sie fest im Griff. Wir hätten Gorbatschow, unserem Zeitgenossen, früher die Rückendeckung geben sollen, die er von uns nicht so einfordern wollte wie seine Vorgänger den politischen Tribut von ihren kleineren Bundesgenossen.

Vielleicht, nein sicher wäre es der bessere Teil der Treue gewesen, die wir gedankenlos dem Vermächtnis der Befreier von 1945 gelobt hatten. Manche von ihnen sollen, als sie in den letzten Gefechten um Berlin sterbend zusammenbrachen, tatsächlich noch den Namen «Stalin» gemurmelt haben. Der Name des Tyrannen und Henkers – so täuschbar und fügsam ist die Menschenseele – war Devise für eine freiere und gerechte Welt, in die es die Menschheit hinüberzuretten galt vor der anderen, der braunen Tyrannei. Ein Kopelew und ein Dudinzew, ein Grossmann und ein Nekrassow oder ein Granin, ein Baklanow, ein Bykau, viele andere noch haben die Botschaft der Fünfundvierziger für uns gereinigt und übersetzt. Wir haben uns zu lange die Augen und die Ohren zugehalten.

2

Zu Hause erwartete mich meine Frau Irina, eine gebürtige Moskauerin. Sie ist auch Journalistin. Ihre Arbeit als Moderatorin einer russischsprachigen Sendung im Fernsehen der DDR hatte sie unmittelbar nach meinem politischen Niedergang verloren. Die beiden Jungen, Jan (16) und Alexander (13), Irinas Mutter, unsere winzige, aus purer Geduld und Gutherzigkeit gebackene, Baba Soja (82), die Katze Dascha und ein Papagei bevölkern die Wohnung 0803.

Zuweilen, wenn sich wieder eine vage Aussicht auf Arbeit verflüchtigt hatte, spürte ich Beklemmung, mich zu Hause sehen zu lassen. Das war eine ungewohnte und bittere Erfahrung, die ich derweil schon mit Zehntausenden Bürgern der DDR teilte. Ich muß damit leben, daß ich mich für die Misere mitverantwortlich weiß. Oft war ich es müde, mir die Maske der Zuversicht überzustreifen, wenn ich vor der Wohnungstür stand. Im Gespräch mit Freunden, die mir geblieben sind, merkte ich, daß ich mit meiner Trübsal die Stimmung verderbe.

Vor einigen Wochen hielt ich es noch für einen Extremfall, als ich hörte, daß Werner S., ehemaliger stellvertretender Vorsitzender einer ZK-Kommission, in der grünen Latzhose eines Bediensteten des Grandhotels für westliche Devisenbringer die Teller wäscht und die Resteeimer entsorgt. Zeitweilig war ich auf den Posten eines Grundwasserbeobachters erpicht. Ob ich ihn bekam, hing von der Bereitschaft der Berliner Grundwasserbeobachter ab, ihre begrenzte Arbeitsmasse mit mir zu teilen. Sie hatten letztlich darüber zu befinden, ob ich mit einer Pfeifsonde den Wasserstand der Berliner Brunnen messen und registrieren durfte. Mein journalistischer Gesprächspartner aus der Bundesrepublik, mit dem ich mich im Palast-Hotel zu einer politischen Bestandsaufnahme traf, hatte mitleidlos gelacht, als ich ihm davon erzählte. «Ist ja was fürs Beruferaten!» Ich mußte mitlachen, und mir wurde leichter. Die Antwort, die ich zwei Tage später erhielt, war ein gewundenes, aber unumstößliches Nein. Man hatte keine Planstelle zur Verfügung.

Presseleute vermittelten mir gelegentlich die Illusion, nicht nur eine abgetakelte Fregatte der Politik zu sein. Auch im Strudel der Wendewochen waren mir Journalisten häufige und wichtige Partner gewesen. Journalisten haben mir geholfen, meine eigene Befindlichkeit deutlicher zu bestimmen, als die Krisenflut, die wir zu bändigen hofften, über uns selbst zusammenschlug. Gespräche, Befragungen oder einfach kollegiales Räsonnieren brachten Erkenntnisgewinn. Wunden blieben nicht aus. Wie immer: die schmerzendsten fügt die eigene Sippe zu. Ohne kommunizierenden Fluß zwischen Politik und Medien ist eine moderne Gesellschaft nicht lebensfähig. Gewiß ist das ein naiver Satz für Menschen, die in einer Demokratie zu leben gewöhnt sind. Für mich war es in der Zeit des Umbruchs eine ganz frische und belebende Wahrheit. Ich verstand, wie sehr eine Politik, die Neues versucht, die sich selbst noch nicht gültig definiert hat, der Neugier, der didaktischen Phantasie und des Widerspruchs der Journalisten bedarf, um Statur und Muskel auszubilden, um im Bewußtsein der Bürger Fuß zu fassen.

Im Palast-Hotel hatten Sch. und ich heute die dritte mehrstündige Sitzung hinter uns gebracht. Für eine Fernsehdokumentation rekonstruierten wir die Wende, die Umwälzung, die Revolution, wie immer wer nennen mag, was das Endstadium des Phänomens DDR einleitete.

Sch. war für mich ein Testfall für Tatsachentreue und Moralität eines westlichen Journalisten. Erst jetzt hatte ich die Möglichkeit und die Unbefangenheit, das im Selbstexperiment herauszufinden.

Er liegt mir, weil er nicht prätentiös ist. Natürlich ist das Teil seiner Professionalität. Damit zieht er das Objekt seiner Befragung sacht über die Hemmschwelle. Der Täter packt aus. Im Gespräch wirkt Sch. kaum anders als der schlichte neugierige Kumpel von nebenan.

Mit ihm zu arbeiten machte mir Spaß, selbst wenn es – um einen heute gängigen Euphemismus zu verwenden – eine Verwertungspartnerschaft war, bei der ich ausgeweidet wurde. Vielleicht spielte bei mir die sentimentale Erwägung mit, daß man vor vielen Jahren als Journalist im bunten Menschenmilieu so hätte herumstöbern mögen und sollen.

Für heute haben wir beide voneinander genug, vom Verhör, vom gegenseitigen Abtasten, vom Abtauchen in die Vergangenheit. Sch. mußte zurück nach Hamburg. Bei mir waren es nur die paar hundert Meter Luftlinie vom Palast-Hotel bis zur neuen Berliner Behausung.

3

Irina öffnete mir, wies mit dem Daumen nach oben und buchstabierte lautlos: Bildzeitung! Ich schloß vorsichtig die furnierte Spanplatte, die hoffentlich von Klingelfahrern als eine Wohnungstür respektiert wird. Die Straßenschuhe müssen im Korridor ausgezogen werden. Auf Socken schlich ich die Wendeltreppe nach oben. Sie ist der markanteste Teil der Maisonettewohnung. Sie hat die Dreadnought-Stabilität, die wir uns für die Tür wünschten.

Vom «Speicher» wälzte sich Zigarettenqualm die Treppe hinunter. Der Speicher ist der Raum, der nur über die Treppe erreichbar ist. Das meiste hier oben hat sich im Keller des Hauses 19 in Wandlitz befunden. Für die Regale, einen Teil der Bücher und für das Werkzeug, das ich hinter einem Vorhang verstaut habe, war es ein Aufstieg – über neun Etagen. Es sieht ein wenig zusammengestoppelt aus, wie auf einem Speicher eben. Aber ich bin dankbar, daß mir die Familie dieses Refugium überlassen hat.

Zwei Damen saßen auf der kleinen Polsterbank. Ich erkannte Frau N. Sie hatte mich schon am Vortag aufgesucht. «Ich arbeite für die Bildzeitung und hoffe, von Ihnen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, einige Auskünfte zu bekommen.» Nach dem Wort «Bildzeitung» hatte sie gestockt, als erwartete sie eine Reaktion von mir. Ich blieb stumm. Etwas unsicher fuhr sie fort: Sie arbeite an einer Serie über die Frauen der verhafteten Politbüromitglieder und käme gerade von Frau Herrmann, die ja hier um die Ecke wohne. «Wissen Sie vielleicht, wie ich Frau X. und Frau Y.», sie nannte noch zwei oder drei Namen, «erreichen kann?»

Frau N. war eine zierliche Person. Ihre Redeweise war überhaupt nicht reporterhaft forsch. Das Gesicht hatte einen schmerzlich-sensiblen Zug, der mich an die Schauspielerin Hilde Körber erinnerte. Ich konnte die Frage nicht unterdrücken, wie man Bild-Redakteurin wird.

Frau N. krümmte sich ein wenig. «Ich gehöre nicht zur Redaktion. Einer der beiden Chefredakteure ist ein Bekannter von mir. Er hat mir die Serie überlassen, ich habe freie Hand zu schreiben, wie ich es sehe. – Mich zensiert niemand», sagte sie etwas spitz. Sie sei eine freischaffende Schriftstellerin, fuhr sie fort. Auf meinen fragenden Blick hin ergänzte sie: «Ich verfasse so etwas wie Lebenshilfereports.» Sie lachte flüchtig. «Wie reiße ich eine Frau auf, zum Beispiel.» Ich ließ mir den Titel vorsichtshalber wiederholen.

Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich konnte Frau N. nicht behilflich sein. Ich besaß die Adressen nicht, die sie brauchte. Die Ehemaligen hatten sich nicht zu einem Überlebensverein zusammengeschlossen. Wir wissen auch heute verhältnismäßig wenig voneinander. Das ist seit Wandlitz nicht viel anders geworden. Im Grunde kennen wir nur das, was die Zeitungen über den einen und anderen noch immer enthüllen. Ich nannte ihr einige Namen. Vielleicht könne sie dort Näheres erfahren.

Frau N. war sichtlich angetan davon, daß ihr als Bildemissärin bei uns vorurteilsfrei Gastfreundschaft widerfuhr. («Möchten Sie nicht noch einen Kaffee?») Unverrichteter Dinge, aber unverdrossen verließ sie uns. Zuvor hatte sie noch geraten – nun schon vom Bild-Hintergrund emanzipiert: «Sie müssen Ihre Erinnerungen aufschreiben. Ganz simpel, verstehen Sie. Wie wurden Sie, was Sie waren und was Sie heute sind.» Irina war angetan von diesem Rat. Sie wünschte Frau N. zum Abschied viel Erfolg bei ihrer Arbeit. Ich hörte das nicht so gern, wenn ich an die Objekte dachte. Irina ist Russin. Sie dachte nicht an den professionellen Antrieb von Frau N. «Sie ist doch eigentlich ein nettes Frauchen», meinte sie.

Jetzt saß ich Frau N. zum zweitenmal gegenüber. Bei soviel Bild-Interesse konnte ich ein Unbehagen nicht unterdrücken. Aber Frau N. war heute einzig und allein Schriftstellerin, die in mir einen künftigen Kollegen sah. Sie glaubte bereits an meine «message». Meine Tips von gestern hatten ihr allerdings nicht weitergeholfen. Sie hatte die Adressen nicht ausfindig machen können. Vielleicht ganz gut so, dachte ich.

Mein Mißtrauen schwand, als Frau N. auf ihre Bekannte verwies. «Ich habe Frau O. mitgebracht. Sie ist Lektorin bei Ullstein.» Frau O. hatte augenscheinlich Frau N. verlegerischen Beistand bei deren literarischer Lebenshilfe für Möchtegern-Machos geleistet. Die Lektorin verfügte über einen flotten Zungenschlag. Das beeindruckte mich. «Ich ghostwrite gerade für Herrn Neckermann. Er bringt bei uns seine Biographie heraus.» Vor meinem geistigen Auge sah ich Frau O. auf einen Apfelschimmel geklemmt und anstelle eines arthritischen Herrenreiters für Deutschland ghostreiten.

Um mich aufzulockern, enthüllte Frau O., sie sei von Hause aus Trotzkistin. Die Mischung von Ullstein, Trotzki und Neckermann verblüffte mich. Um sie nicht zu weiteren Selbstbekenntnissen zu nötigen, willigte ich ein zu überdenken, ob ich wie Neckermann für Ullstein reiten wolle.

4

Ich stieß das Mansardenfenster auf, um den Zigarettenrauch hinauszulassen. Wieder faszinierte mich die Aussicht. Über das Baustellen-Tohuwabohu vor der Haustür, das einen zweifeln läßt, hier könnte noch zu unseren Lebzeiten staubfreie Ordnung oder gar Grünes Einzug halten, reicht der Blick weit über das Doppelband der inneren und äußeren Mauer in das andere Berlin, bleibt im ungeteilten grauzottigen Himmel hängen. Unten war kein Mensch zu sehen, kein Spaziergänger, kein Grenzer.

Die Ereignisse hatten das «Bauwerk» entdämonisiert. Selbst die Mauergraffiti hatten ihren aggressiven Schmelz verloren. Das Banale war das Zeitgemäße. Auf einem der Betonsegmente bekannten «Carl, Sharon und Amy» in großen Spraylettern ironisch, daß sie «nicht hiergewesen» seien (wo inzwischen alle Welt gewesen war). Der Mauerstreifen, die längste Grünzone der DDR, ist eine grindige Wiesenfläche, die von Hunderten Krähen als Landepiste benutzt wird. In den Abendstunden pflegen sie sich schwerfällig und krächzend in die Luft zu erheben und verwandeln den Mauerkiez minutenlang in eine Hitchcock-Szenerie.

Ich hoffe, daß die grüne Neigung der Berliner kräftig genug ist, zu verhindern, daß nach dem endgültigen Fall der Mauer hier Baustellen wuchern oder – schlimmer noch – Betonströme für Parkplätze hineinfluten. Mit einem grünen Gürtel von Pankow bis Treptow schüfe sich Berlin eine neue Attraktion anstelle der von uns errichteten Scheußlichkeit. Bänke für Alte und Liebespaare unter schattigen Laubbäumen, Jogging- und Radfahrwege, Wiesenstücke für Sonnenanbeter und spielende Kinder, Blumenrabatten, Planschbecken, hier und dort ein Imbiß-Pavillon – das wäre eine gute und menschengerechte Bestimmung für die widernatürliche Schneise durch die Stadt.

Der antifaschistische Schutzwall, in Liedern und Märschen besungen, mit Paraden der Kampfgruppen gefeiert, mit dem Blut von Flüchtlingen und von Grenzsoldaten befleckt, mit Druckerschwärze in Ost und West begossen oder beschossen, hat kein Problem gelöst, wie seine Architekten und Bauleiter, Ulbricht und Honecker, kalkuliert hatten. Gewiß, die Hallsteinzeit war damit endgültig zu Bruch gegangen. Das Konzept, das zwischen einem primitiven Annexionismus und verbohrter Nichtwahrnehmung hin- und herschlingerte, hatte sich an der Nachkriegskonstellation unheilbar wundgelaufen. Außenpolitisch hatte die Mauer zu anderen Denkansätzen genötigt. Heute sind sie überflüssig geworden, weil die Realität, die die Mauer markieren wollte, sich als nicht lebensfähig erwiesen hat.

Der Betonzaun verriet die innere Schwäche des Sozialismus stalinistischer Prägung. Er war als ultima ratio gegen eine hunderttausendfache geistige und faktische Abkehr der Menschen aufgeboten worden. Die Kesselwand wurde versteift, für Jahre stabilisiert. Im Kessel stieg der Druck langsam und stetig. Die Volksbewegung in der DDR hat schließlich die Mauer zu Fall gebracht. Der Überdruck war so stark geworden, daß die kurzlebige Führung unter Krenz die Kesselwand selbst einschlagen mußte.

Sind nun die Probleme gelöst? Behalten die Pessimisten zum Schluß recht? Ist Geschichte nur Kreisen im Nebel? Ist der sozialistische Ausflug der Menschheit ein für allemal ins Wasser gefallen? Sind die Konjunkturwörter von Konföderation bis Vereinigung lediglich semantische Rauchzeichen des Verlöschens der großen Utopie? Modrow war es gewesen, der erstmals vom «Einig Vaterland» gesprochen hatte. Ist das nun Alibiparole für alle, die als gescheiterte Entdeckungsreisende zur Rückkehr an die alten Gestade gezwungen sind? Die Antwort auf diese Fragen wird Zeit brauchen.

Der Januar und der Februar des Jahres 1990 waren der DDR gnädig. Noch als die Republik sich stabil dünkte, pflegte man jedes Jahr aufs neue vor einem harten Winter zu zittern. Auch ein Symptom für die ungesunde Anfälligkeit der Planwirtschaft, die wir hinnahmen, statt sie zu analysieren.

Die meteorologische Milde dieses Winters hatte ihren Preis. Es regnete und regnete. Der Sturm heulte und rüttelte an den Dächern. Regen und Hagelgeschosse prasselten gegen die Fensterscheiben. Es hörte sich an, als risse ein zürnender Wettergott große Lagen Packpapier kurz und klein. Grauschwarze Wolkengeschwader schoben sich von Nordwest über Reichstag und Brandenburger Tor hinweg. Das wieder geöffnete Stadtsymbol sah ich von hier oben in der Nacht der Jahreswende 1989/90. Die klassizistische Kulisse war von Fernsehscheinwerfern wie in bengalisches Licht getaucht. Fetzen von Rockmusik wehten herüber. Doch wir waren weit genug entfernt, um die Ausuferung dieser beispiellosen deutsch-deutschen Silvesterfeier, den alkoholgesättigten Vandalismus nicht wahrzunehmen, der sich an Schadows Quadriga austobte.

Als Schuljunge habe ich es gemocht, den Blick vom Stubenfenster aus mitten in die hohe Himmelsglocke zu richten. Der Himmel damals hatte kein Cinemascope-Format. Er war das Licht am Ende eines von rückwärtigen Häuserwänden und fassadenlosen Brandmauern begrenzten Schachtes. Wir wohnten in einer 1 ½-Zimmer-Wohnung, Hinterhaus, erster Stock, Toilette auf dem Treppenpodest.

35 Mark Miete kostete das Ganze im Monat. Arbeiterstandard im Berliner Osten der dreißiger Jahre. Mit schöner Regelmäßigkeit stellte sich bei mir im Frühjahr oder im Herbst eine Angina ein. Tagsüber durfte ich im Doppelbett der Eltern liegen. Durchs Fenster drangen die Gerüche und Geräusche der kleinen Schnapsfabrik, die auf einem zweiten Hinterhof angesiedelt war. In einer der Brandmauern nisteten Mauersegler. Rammdösig vom Fieber, lauschte ich meinen dumpfen Herzschlägen und sah bewegungslos dem unruhigen Treiben der schwalbenartigen Vögel zu. Von Zeit zu Zeit kam Mutter ins Zimmer. «Na, wie geht’s dir? Besser?» fragte sie. «Sauwohl», sagte ich, und wir lachten beide.

Gute fünf Jahrzehnte liegen diese Himmelsblicke zurück. Alles in allem sind damit sechs Kilometer geographischen Standortwechsels verbunden, aus dem Arbeiterbezirk Friedrichshain an den westlichen Rand unserer Halbstadt. Es ist abzusehen, daß hier bald wieder die Mitte der Polis sein wird. Ob wir dann noch die Miete bezahlen können, steht auf einem anderen Blatt. Sechs Kilometer – auf einer Karte im Schulatlas hat das den Durchmesser eines Häufchens Fliegendreck. Ist das die Summe der räumlichen und geistigen Bewegung eines 60jährigen Lebens?

5

An einem Sonnabend im Januar verbrachte ich nahezu zehn Stunden im «Haus an der Spree», dem Parteihotel in Berlin. Gegen Mitternacht, am Ende eines den ganzen Tag andauernden Fließbandverfahrens, war ich mit fast allen anderen ehemaligen Mitgliedern des Politbüros aus der Partei verstoßen. Nur Siegfried Lorenz, der frühere 1. Sekretär des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, fand Gnade vor der Schiedskommission. Er war der Dritte im Bunde mit Krenz und mir gewesen, die Honeckers Entfernung aus der Parteispitze betrieben und gehofft hatten, damit den Weg für die Perestroika der SED und der DDR zu öffnen.

Werner Eberlein, dem baumlangen einstigen 1. Sekretär des Bezirkes Magdeburg, blieb die politische Verdammnis im Gästehaus erspart. Ein Herzinfarkt hatte ihm einen Aufschub verschafft. Eberlein ist der Sohn des Lenin-Vertrauten und Mitglied des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationalen (EKKI), Hugo Eberlein, der in den dreißiger Jahren während des Transports in eines der Stalinschen Schweigelager verschollen ist. Der Jungkommunist Eberlein wurde entsprechend der Praxis Stalinscher Sippenhaftung nach Sibirien verbannt. Vermutlich scheute man im Vorstand der PDS davor zurück, ein derart ausgewiesenes Opfer des Stalinismus durch einen Parteiausschluß ein drittes Mal zu stigmatisieren.

Wir saßen im Vorzimmer des Parteitribunals. Der Zeitplan war offensichtlich nicht einzuhalten. Schuldfeststellungen, Rechtfertigungen und Sühneerklärungen der Delinquenten brauchten ihre Zeit. Wir konnten uns Kaffee und Würstchen auf eigene Rechnung bestellen. Nach außen waren wir noch zu Galgenhumor fähig. Unter der gelassenen Oberfläche zwackten uns düstere Vorahnungen. Krenz fragte mich unvermittelt, ob man in Haft auch eine Möglichkeit zu Dauerlauf haben würde. Da er regelmäßig jogge, müsse er abtrainieren können, sonst ginge es auf die «Pumpe».

Wortlos haderten wir mit den Urteilen der Schiedskommission. «Ausschluß», «Ausschluß», «Ausschluß» – so murmelten die Verarzteten, die noch einmal den Kopf ins Wartezimmer steckten, um sich zu verabschieden. Wieviel Prüfungen hatte einigen von ihnen ihr Kommunistendasein auferlegt – KZ, Emigration, Zuchthaus, eine harte, wenn nicht unmenschliche Parteidisziplin. Die letzte, nicht bestandene Prüfung vor dem eigenen Volk hatte sie alle aufgewogen. Für die meisten war es ein vernichtendes Resümee am Ende eines politischen Lebens.

Am nächsten Tag lasen Krenz und ich im «Neuen Deutschland», welchen Trostpreis die Kommission uns zuerkannt hatte: «Die Schiedskommission stellt fest, daß Egon Krenz, Siegfried Lorenz und Günter Schabowski verschiedentlich versucht haben, eine Veränderung im Politbüro herbeizuführen. Letztlich scheiterte das lange Zeit an ihrer Inkonsequenz, die offene und kompromißlose Auseinandersetzung mit Erich Honecker, Günter Mittag u.a. zu führen und die Parteibasis bereits vor der 9. Tagung des ZK für eine grundlegende Veränderung der Parteipolitik zu mobilisieren. Dieses Zaudern und Zögern hat mit zu jener Krise geführt, die unser Volk zwang, die Wende auf der Straße durchzusetzen.»

Das ist, so pauschal formuliert, nicht unzutreffend. Aber es provoziert doch die Frage, wer von den Chargierten oder von den Klarblickenden in dieser Partei hatte denn aufzumucken gewagt? Wer hatte zum Beispiel im Zentralkomitee jemals vor uns die «kompromißlose Auseinandersetzung» gesucht oder die Basis, sei es auch nur im Ansatz, zu mobilisieren gewagt? Das Risiko eines Harich, Bahro oder Janka haben alle gescheut.

Ich verstehe, daß die in Panik vor der eigenen Vergangenheit fliehende Partei und die neue Führung, die es unternahm, der verzweifelten Mitgliedschaft Selbstvertrauen und den Mut zu einem demokratischen Neubeginn einzuflößen, weder Zeit noch Spielraum hatten, an uns Objektivität zu verschwenden.

Das Risiko des von uns betriebenen Umsturzes haben wir zu spät auf uns genommen und sind von der Geschichte bestraft worden. Aber eins ist sicher: Durch unser Handeln, so unvollkommen es gewesen sein mag, waren wir einer blutigen Tragödie nach rumänischem Muster zuvorgekommen. Die Revolution hätte sich andernfalls in immer mächtigeren Demonstrationen Bahn brechen müssen. Erich Honecker hatte schon für die Leipziger Demo am 16. Oktober den Aufmarsch von Panzern als Drohgebärde erwogen. Es lag im Bereich des Vorstellbaren, daß die alte Spitze unter dem Vorwand der Rettung des sozialistischen Systems zur Selbstrettung mit Waffeneinsatz gegriffen hätte.

Der Parteiausschluß hatte auch mich wie ein Keulenschlag getroffen. In den Tagen und Wochen danach sah, hörte und las ich indes, wie der in die Bresche gesprungene Gregor Gysi in öffentlichen Versammlungen, in Fernsehsendungen angegiftet, wie im Wahlkampf von den Gegnern der PDS versucht wurde, die neue Partei mit dem politischen Ochsenziemer in den Schatten der alten SED zurückzutreiben. Am schwersten traf es mich, Arbeiter verächtlich, ja haßvoll über die Sache sprechen zu hören, die doch die ihre hätte sein sollen. Das ging auf unser Konto.

Ich begriff im Laufe dieses ersten und letzten freien Wahlkampfes in der DDR, daß man uns an jenem Sonnabend im Januar abstoßen mußte wie brandiges Gewebe. Wir hätten wohl auf Dauer auch wenig Freude aneinander gehabt.

6

Die Droge, die Gescheiterte verkommen lassen kann, heißt Selbstmitleid. Es ist die Kehrseite der Selbstherrlichkeit. Der zu Fall Gekommene wälzt sich im Staub und hadert mit dem Schicksal, das ihn so unfair behandelt hat. Sich dem Lamentieren wie dem Suff ergeben? Das war kein Ausweg. Obwohl jeder Tag neue Versuchungen im Schlepptau hatte. Ich mußte sie niedrig halten.

Mitunter fing das in der Frühe an. Morgenstund hat Gift im Mund. Ich stand vor dem Briefkasten und sah, daß schon wieder der Streifen mit dem Familiennamen abgerissen war. Ein ordnungsliebender Hausgenosse hatte alle Namensflächen mittels eines westlichen Zaubergerätes einheitlich und fein säuberlich beklebt. Ich dankte ihm schon die dritte Nachlieferung. Zähneknirschend nahm ich mir vor, den mutigen Neudemokraten und Briefkastenschänder auf einem Aushang aufzufordern, mir seinen Haß doch Aug in Aug zu bekunden. Ich traute mir zu, ihn locker zu machen für ein Gespräch. Aber dann sagte ich mir, bist du nicht mitschuldig daran, daß in diesem Land solche Anonymi gewachsen sind? Gib ihnen Zeit für die Eingewöhnung in das neue Zeitalter. Bußfertig steckte ich mein Vorhaben auf.

Wer sich im Zustand politischer oder moralischer Ächtung befindet, bekommt es unweigerlich mit weniger erfreulichen Eigenheiten der menschlichen Natur zu tun. Mir widerfuhr nur in geringem Maße, was in der Vergangenheit jene erlebten, die das von mir mitverantwortete System geächtet hatte.

Auch Skurriles gab es da. In einem Zeitungsinterview erklärte eine Schauspielerin, ich hätte in einer Gaststätte meinen Kaffee nicht bezahlt. Am 4. November, vor der großen Kundgebung auf dem Alex, hatten sich Veranstalter und Redner in einer Kaffeestube aufgehalten. Ebendort sollte ich mich der Zechprellerei schuldig gemacht haben. Dieser entlarvenden Kunde war dem Sinn nach angefügt, das sei ein typisches Verhalten. Als Bonze wäre ich daran gewöhnt, andere für mich bezahlen zu lassen.

Mit der guten Frau hatte ich noch am Tag vor der Kundgebung freundschaftlich – so schien es mir – zusammengesessen. Für den Volkskammerausschuß zur Untersuchung von Machtmißbrauch und Korruption kam ihre (unzutreffende) Verdächtigung zu spät. Meine Einvernahme hatte schon stattgefunden. Als ich im März, also vier Wochen nach der Kundgebung, ihre «Erinnerung» in der Zeitung fand, fragte ich mich, was mag einen gebildeten und sensiblen Menschen zu dieser abgeschmackten Kopfnuß veranlaßt haben. Ich kam zu keinem anderen Schluß: die Gründe lagen bei uns. Ich kaute an den verdorbenen Früchten unserer Politik.

7

«Papa, das ist für dich, Egon Krenz.» Jan, der immer mit einem Anruf seiner Freundin rechnet und deshalb der erste am Telefon ist, wenn es läutet, hielt mir den Hörer hin. Ich nahm ihn zögernd.

Seit unserem hastigen Abtritt von der politischen Bühne hatten wir uns selten gesehen. Wir hatten uns mehrmals auf dem außerordentlichen Parteitag im Dezember gesprochen, auf dem die SED ihre Häutung zur PDS einleitete. In den Pausen schlängelten wir uns durch die mit Verpflegungsständen vollgestopften Wandelgänge der Dynamo-Sporthalle. Der Fußballnarr Mielke pflegte hierher die Fans des FC Dynamo zum Jahresball des Vereins einzuladen, wobei an Devisen für erst- und zweitklassige Popsänger aus dem Westen nie Mangel war.

Jetzt sorgten Krenz und ich ungewollt für eine Pausennummer, eine Mischung aus Spießrutenlauf und Exotenschau. Unablässig umringten uns Delegierte und Journalisten. Wir wurden mit vorwurfsvollen Fragen bestürmt. «Wie konntet ihr es dazu kommen lassen?»

In einer zweiten Rede, die Hans Modrow nach Austrieb der Presseberichterstatter auf dem Parteitag hielt, nannte er die Personalbeschlüsse der 9. ZK-Tagung, auf der Honecker abgesetzt worden war, ein abgekartetes Spiel. Es sei darauf angelegt gewesen, den von Honecker selbst ausgesuchten Kronprinzen Krenz auf den Parteithron zu hieven. Das entsprach schlicht nicht den Tatsachen und war vermutlich ein Nachhall seiner Enttäuschung darüber, daß nicht Modrow, sondern Krenz vom ZK gekürt worden war. Der inzwischen zum Ministerpräsidenten und Hoffnungsträger der desolaten Mitgliedschaft aufgestiegene frühere Dresdener Parteichef hatte seine Lesart vom Sturz Honeckers mit einer Hitzigkeit vorgetragen, die von seiner üblichen, etwas drögen Rhetorik auffallend abstach. Er brachte die Gemüter der Delegierten gegen den «Erbschleicher» Krenz und seine Komplizen gehörig in Wallung.

Als ich Krenz danach in der Pause begegnete, war er noch blaß vor Empörung. «Wie kann Hans nur so etwas behaupten? Warum tut er das? Ich werde ums Wort bitten, um das richtigzustellen.» Inmitten einer Traube von Delegierten, die uns interessiert umlagerte, erörterten wir die Zweckmäßigkeit einer solchen Reaktion. Ich riet Krenz dringend ab. «Mach dir nichts vor. Du bist nur noch die Stimme aus der Mülltonne. Diese Partei, die sich in einer Roßkur von den Schlacken und Makeln ihrer Vergangenheit befreien will und muß, braucht jetzt Modrow. Die Delegierten werden dich gar nicht ausreden lassen.» Resigniert ließ er von seinem Vorhaben ab.

Der erregte Ausfall Modrows hatte nicht nur mich überrascht. Er nahm sich wie eine verspätete Abrechnung aus. Hinter den Kulissen des Parteitages war der Kandidat für den Parteivorsitz bereits ausgehandelt: Er hieß nicht Modrow; es war der Seiteneinsteiger Gregor Gysi. Längst dürfte auch Modrow klargeworden sein, daß nach dem politischen Konzept, das die Verschwörer gegen Honecker anstreben mußten, künftig der Regierungschef und nicht mehr der Parteiführer die entscheidende politische Kompetenz auf sich vereinigen würde. Er hat das als Ministerpräsident der ersten Koalitionsregierung der DDR schließlich selbst bewiesen.

Einige Wochen danach hatte ich Krenz wieder getroffen, und zwar im Warteraum der Partei-Chirurgie, im Gästehaus an der Spree, wo wir unserem Parteiausschluß entgegensahen. Er erzählte mir, daß sich bei ihm die Journalisten die Klinke in die Hand gäben. Selbst die Bildzeitung habe ihm ein Angebot gemacht. Ich empfahl ihm Vorsicht und Zurückhaltung. Mit einer korrekten, geschweige denn gerechten Darstellung unserer Absichten und Handlungen sei nicht oder kaum zu rechnen. Nur weil wir verloren hätten, dürften wir nicht mit Barmherzigkeit von seiten derer rechnen, die wir solange befehdet hatten und die uns nie etwas schuldig geblieben waren.

Springers Boulevard-Riese hatte Krenz in der Vergangenheit mehrmals Tiefschläge versetzt. Noch im Oktober war eine Schmäh erschienen, die ihm die bemerkenswerte Konstitution eines dem Suff, der Völlerei und dem Luxus verfallenen Sinnenmenschen andichtete, an dem auch noch schlimme Krankheiten nagen. Das hätte ihm Warnung genug sein müssen. Abgehalten hat es ihn nicht. Er gab «Bild» Gelegenheit, ihn als politische Schießbudenfigur vorzuführen.

Es war ein Fehler gewesen, resümierte ich unter dem Eindruck seiner Schnellkochmemoiren, daß ich in den Oktobertagen Zeichen von Skepsis, ja diese oder jene versteckte Warnung aus meiner Umgebung unbeachtet ließ. Wir waren die falschen Partner in der richtigen Sache gewesen.

Egon war nun am Apparat. Was werde ich ihm sagen? Er kam mir zuvor mit der Frage, ob ich gelesen hätte, was Honecker an einen dänischen Genossen geschrieben habe. Ich hatte es früh im Deutschlandfunk gehört. Honecker sah sich als unverstandenen Märtyrer des Realsozialismus. Er sei sich keiner Schuld bewußt. Im Gegenteil, er habe Saat für die Zukunft gelegt. Nur sein Nachfolger Krenz habe alles kaputtgemacht.

Ich sagte Krenz, daß ihn der Zwischenruf aus dem Altersheim doch kaltlassen könne. Der belege bestenfalls, daß wir den richtigen Ansatz gewählt hätten, um etwas Neues auf die Beine zu stellen. Im übrigen sei es nur die Variante eines Witzes aus den ersten Wendetagen: Die Honeckers sind kurz nach Erichs Absetzung aus Wandlitz ins Hellersdorfer Neubauviertel umgezogen. Sie wagen sich das erste Mal auf die Straße. Schweigend und kopfschüttelnd mustern sie die Auslagen in den Geschäften. In einem kleinen Kaufhaus reagieren sie auf das Angebot wiederum mit Schweigen und Kopfschütteln. Schließlich stößt Margot Erich in die Seite und meint: «Habe ich nicht immer gesagt, der Krenz ist ne Niete. Drei Tage regiert er, und schon ist die ganze Versorgung hin.»

Honecker offenbare mit seiner Äußerung, daß er nichts begriffen habe und nichts mehr begreifen werde. Auch die PDS könne mit solchen Sprüchen aus Lobetal leben. Das zeige nur an, daß sie mit der alten Honecker-SED nichts gemein habe.

Dann kamen wir auf «Bild» zu sprechen. Krenz gab zu, daß die Veröffentlichung ein Fehler war. Auch die Berufung auf Bonner Größen, die sich gelegentlich in «Bild» äußern, entlastete ihn nicht. Ein Sünder wie er konnte sich durch ein «Bild»-Bad schwerlich reinigen. «Warum hat mir die Berliner Zeitung bloß noch dieses 1,5-Millionen-Honorar angehängt? Das ist doch eine glatte Erfindung, um die Leute gegen mich aufzubringen.» – Ja, warum? Warum sah auch ich mich solchen verdächtigenden und gehässigen Attacken ausgesetzt? Einer wie der Neudemokrat und Advokat Schnur, der auf beiden Schultern getragen haben soll, erhielt nach Aufdeckung seiner zwielichtigen Praktiken besinnliche Nachrufe, war als Objekt für frisch erworbene demokratische Milde willkommen. Wir bleiben die Sündenböcke, ohne die Chance einer Revision. Indem man uns verwirft, die wir noch das Alte mittrugen und dennoch die notwendige, überfällige Umkehr nicht nur haben geschehen lassen, beweist man die eigene rigorose Abkehr vom Vergangenen, den scharfen Bruch in der Kontinuität. Den brauchen heute viele für das angesplitterte eigene Selbstwertgefühl.

Krenz schwieg. Dann sagte er: «Was machen wir nur? Warum haßt man uns so?» Krenz war wie ich nach wie vor ohne Arbeit. «Tja», sagte er nach einer Pause. «Ich bin am Ende.» Er meinte damit nicht unser Telefonat. Ich konnte ihm nur eine Platitüde anbieten. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Mir ging es ja nicht anders. Aber hol’s der Teufel, irgendwie tat er mir leid.

8

Nicht wegzustecken war die Sorge, wie die Familienmitglieder die veränderte Lage kompensieren würden. Meine Chance, wieder in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, wurde von Woche zu Woche geringer. Es passierte mir häufig, daß ich in der Nacht aufwachte und den Alp der Hoffnungslosigkeit von der Brust schütteln mußte. Wie sollte ich die Familie durchbringen, wenn alles fehlschlüge? Etwa die Hälfte unseres gesparten Geldes hatten wir für die Wohnungseinrichtung ausgegeben. Das Mobiliar in Wandlitz war nicht unser Eigentum gewesen. Es war mit dem Haus gemietet. Einiges davon, Regale und Klappbetten, hatte man uns zu einem passablen Preis überlassen.

Aber die Furcht vor dem materiellen Aus dominierte nicht in den Vorstellungen der Familienmitglieder. Eher war es eine unklare Scham darüber – so deutete ich es –, daß die Gesellschaft nichts, absolut nichts mehr brauchen will von dem, was ich noch leisten könnte.

Gottlob waren die Jungen bis jetzt von direkten Feindseligkeiten und Anwürfen verschont geblieben. Die Lehrer ließen sie nichts spüren – die Kinder der sogenannten Dissidenten hatten es da weitaus schwerer gehabt. Die Schulkameraden verhielten sich tolerant.

Für Baba Soja, die Oma, waren die Ereignisse nicht recht durchschaubar und deshalb schwierig zu verstehen. Sie spricht nicht Deutsch. Was sich in der DDR abspielte, erfuhr sie meist über die Berichte in der «Iswestija». Die Anschuldigungen gegen Erich Honecker, seine Verhaftung, die Überführung aus dem Krankenhaus ins Gefängnis, seine Zuflucht in einem Pfarrhaus – alles erschütterte und bekümmerte sie sehr. «Towarischtsch Chonecker», Genosse Honecker sei so ein ordentlicher und freundlicher Mann gewesen. Er habe sie stets höflich und liebenswürdig gegrüßt, wenn sie einander am Wochenende in Wandlitz begegneten. Die DDR habe doch gar nicht schlecht dagestanden. In vielem besser als die Sowjetunion. Wie hatte das alles nur geschehen können? «Und du, Gjunter, hast doch so viel gearbeitet. Du bist doch ein anständiger Mensch. Was hast du getan, daß sie dich so behandeln. Die eigene Partei …»

Kopfschüttelnd, mit schwerfällig-schlurfenden Schritten – sie hat es wie meine Mutter in den Beinen – pflegt sie in der Küche zu verschwinden. Dort verbringt sie die längste Zeit des Tages, um Frühstück, Mittag und Abendbrot für die Familienmitglieder zu bereiten. Keiner hält sich an eine feste Mahlzeit. Baba ist als Koch und Ober in einer Person ständig in Bereitschaft. Abends vor dem Schlafengehen höre ich sie oft aus ihrer Zimmerecke mit der lauten Stimme der Schwerhörigen beten. «‹Dai boch› – gib Gott, daß alles gut werde.» Dai boch, daß sie uns noch lange erhalten bleibt!

Irina traf der Bannstrahl vier Tage nach dem Rücktritt des Politbüros und des Zentralkomitees, am 7. Dezember. In einer dürren Mitteilung wurde ihr das Arbeitsverhältnis mit dem «F-DDR», dem Fernsehfunk der DDR, zum 31. Dezember gekündigt. Grund: Strukturveränderungen im F-DDR. Der unterzeichnete Bereichsleiter wünschte ihr «für das weitere Leben viel Glück und Erfolg». Kurzer Abspann für 17 Jahre Arbeit beim Fernsehen. Irina hatte die Sendung «Für Freunde der russischen Sprache» aus der Taufe gehoben. Zuletzt war sie Moderatorin der Sendung «Raduga» – Regenbogen. Es war ein krampfhafter Versuch, die Quantität der Berichterstattung über die Sowjetunion nicht zu vermindern, jedoch nirgendwo Perestroika direkt durchscheinen zu lassen. Da war viel von Sängern, Museen und Bohrfeldern die Rede mit Studiorequisiten, die Irina nicht unzutreffend als Perestroika-Verdrängungskitsch qualifizierte. Ihre wiederholten Proteste gegen diese Linie hatten nie gefruchtet. Doch sie mußte gehen, als in der DDR die Wende zu einer Perestroika vollzogen wurde. Die den Politschund oktroyiert oder mitgemacht hatten, Leiter, Regisseure und Redakteure, behielten ihren Job.

Sie steuert jetzt als Teilzeitjournalistin bei der Presseagentur «Nowosti» zum Unterhalt der Familie bei.

9

Das Fegefeuer, in dem wir garten, hielt wechselnde Überraschungen bereit. Am Abend des ersten Beratungstages des außerordentlichen Parteitages der SED im Dezember, auf dem die neue Führung gewählt wurde – «Vorstand», wie sie sich fortan schlicht nannte –, fanden Zusammenkünfte der Bezirksabordnungen statt. Die etwa 200 Berliner Delegierten trafen sich auf einer Seitentribüne der Dynamo-Sporthalle.

Reste meines Rufes als eines reformgeneigten Mitgliedes der alten Parteiführung hatten 116 von 149 Delegierten der Kreisorganisation des Bauwesens bewogen, Schabowski als einen ihrer ordentlichen Delegierten zum Parteitag zu wählen. Außer Krenz und mir hatte kein anderes Mitglied des Politbüros die Chance erhalten, zum Parteitag delegiert zu werden. Außer uns hatte es auch keiner versucht.

Ich saß nun in der Berliner Gruppe, als Heinz Albrecht, der frühere Industriesekretär der Berliner Bezirksleitung und jetzt mein Nachfolger als 1. Sekretär in Berlin, den vorläufigen Bericht der Schiedskommission der Partei über ihre Untersuchungen des Privilegienbabels Wandlitz verlas. Als er aufhörte, wurde ich sofort mit harten Fragen bedrängt. Ich machte keine Anstalten zu verkleinern oder zu verkleistern, was im Unrechtsempfinden der Genossen verurteilenswert war. Ich konnte nicht verhindern, daß es mir bei meinen Erwiderungen ein- oder zweimal die Kehle zuschnürte. Die Genossen waren fair. Sie dehnten die Tortur nicht aus. Die Mehrzahl schien meine Haltung zu akzeptieren. Einige sprachen sogar für mich, brachten meine vom Üblichen abweichende Arbeitsweise in Berlin zur Sprache.

Als ich Irina von dem Tribunal erzählte, erwähnte ich, daß in dem Bericht der Schiedskommission von Hamstereinkäufen einiger Familien in Wandlitz kurz vor dem Schließen des ominösen Ladens die Rede war. Ich bemerkte, wie sie erschrak. «Mein Gott», sagte sie, «ich habe in den letzten Tagen auch noch eine dicke Rechnung bezahlt, eine Sammelrechnung. Ich habe noch eine Reihe von Sachen gekauft, die wir nach dem Umzug brauchen werden.» In Wandlitz war es möglich und üblich, daß man Rechnungen über einen gewissen Zeitraum anstehen ließ und dann die Gesamtsumme per Scheck beglich. «Wir brauchten Bettwäsche, Schuhe und Unterkleidung für die Jungen und Geschirr. Ich habe doch keinen Schmuck oder Heimelektronik en gros gekauft», sagte sie in Anspielung auf die Kaufgewohnheiten einiger Altansässiger.

«Wie hoch war der Betrag?» fragte ich. Wir suchten in unseren Papieren und fanden die Rechnung. Es waren über zehntausend Mark. Mir wurde mulmig. Ein paar Tage später hörte ich aus dem Parteivorstand, daß auch der Name Schabowski gefallen war, als man über jene sprach, die sich in dem Laden zu guter Letzt und reichlich eingedeckt hätten. Irina war von Stund an fix und fertig. Sie befürchtete, jeden Tag darüber in der Presse zu lesen, vor Gericht zitiert zu werden. Wie könnten wir uns erklären?

Auf westliche Beobachter mochten Ambiente und Versorgung in dem Politbüroghetto eher kleinbürgerlich-bieder und eintönig wirken. Ich hörte wiederholt von Gesprächspartnern aus der Bundesrepublik: «Ich verstehe überhaupt nicht, was eure Leute haben. So würde bei uns nicht mal ein Kleinunternehmer leben wollen.» Einerlei. Für die Menschen in der DDR war die Prominentensiedlung 40 Autobahnkilometer nördlich von Berlin eine Quelle der Wut und Enttäuschung. Ihre Oberen hatten sich unter dem Etikett des Sozialismus abgeschirmte Sonderbedingungen geschaffen, während die Normalverbraucher den widrigen Winden des DDR-Alltags ausgesetzt waren. Heute können wir nicht einmal die elementaren sozialen Absicherungen der Menschen für uns als mildernde Umstände beanspruchen. Sie waren, wie sich inzwischen herausstellte, auf unsoliden Fundamenten gegründet.

Eine namentliche Veröffentlichung im Zusammenhang mit den Hamsterkäufen blieb aus. Der Spießrutenlauf wurde uns erspart.

10

Es stellte sich heraus, daß auch die relative Abgeschiedenheit eines Altersheimes keine Sicherheit dagegen bot, von Wendeböen gezaust zu werden. Die «Neue Zeit», Tageblatt der Block-CDU, damals an der Doppelneurose früherer SED-Konformität und noch nicht recht estimierter Kohl-Affinität leidend, fand heraus, daß meine Mutter im Altendomizil über ein Telefon verfügt. Sie hatte schon in ihrer früheren Wohnung ein Telefon besessen. Es war eine Empfehlung des Magistrats und der Bezirksleitung, älteren Bürgern bei einem Umzug in eine kleinere Wohnung oder in ein Heim den Fernsprechapparat zu erhalten, sofern es die Anschlußmöglichkeiten am neuen Wohnort gestatteten. Das war einfach eine humane Überlegung und sollte auch einen Anreiz für den Freizug dringend benötigten Wohnraumes bieten, z.B. zugunsten größerer, kinderreicher Familien. Die «Neue Zeit» hielt sich bei ihren Recherchen mit solchen Kinkerlitzchen nicht auf. Das Telefon wolle der alten Dame natürlich niemand nehmen, beeilte sich das Blatt zu betonen. Doch dann folgte die unfromme Denunziation: «Alle wissen wir, sie ist die Mutter eines einst unumschränkten Stadtherrschers.»

Mutter las die CDU-Postille nicht. Im Heim hatte ihr davon niemand etwas zugetragen. Das Telefon stand noch immer in ihrem Zimmerchen. Die Attacke blieb erst einmal ohne Folgen. Ich wagte nicht, mir auszumalen, wie die 84jährige auf einen rigorosen Entzugsakt reagiert hätte. Mir blieb die Hoffnung, daß der liebe Gott und die Behörden christlicher handeln als jene, die sich das frei verfügbare Adjektiv zugelegt haben.

Aber auch hier kann ich mir den Selbstvorwurf nicht ersparen: Wir hatten es nicht vermocht, die Haushalte so mit Telefonen auszustatten, wie das dem Standard einer Großstadt entspricht. Ein Antragsteller hatte 10 bis 15 Jahre auf einen Anschluß zu warten. Man muß fair sein: Ohne diese Ausgangslage hätte die «Neue Zeit» keinen Anlaß für ihren Ausfall gehabt.

Ich will mich an Tucholsky halten. Wer in der Öffentlichkeit Kegel schiebt, muß sich nachzählen lassen, wieviel er getroffen hat. Kein Selbstmitleid, keine Selbstrechtfertigung, basta!

11

Seit dem 17. März besitze ich ein kleines Buch, mehr ein Oktavheft, mit einem versteiften Deckel. Die Seiten haben Kupferstich-Lineaturen wie eine fälschungssichere Banknote. Es ist der Reisepaß der DDR. Nun ist er für jeden, der ihn haben will, verfügbar. Er war eine Mangelerscheinung, die sich verheerender in diesem Land auswirken sollte als manche andere Unzulänglichkeit. Sie hatte tiefere Unzufriedenheit bewirkt als Lücken in der Fleischversorgung, die vorherrschende Abwesenheit von Südfrüchten oder der Umstand, daß ein genealogischer Zufall, ein D-Mark-trächtiger Sippenzweig im Wessiland, den Erwerb einer Mischbatterie erleichtern konnte.

Als mir die Polizeibeamtin den Reisefreibrief aushändigte, konnte ich mich eines Gefühls aus Geniertheit und Ärger nicht erwehren. Ich erinnerte mich an den unzulänglichen, noch immer mit Bevormundungsklauseln gespickten Entwurf des Reisegesetzes, den wir Anfang November der Öffentlichkeit vorgelegt hatten. Die wütende und höhnische Reaktion der Mehrheit der Bürger war die Zuchtrute, die uns auf Trab brachte, hinreichend nur in der Reisefrage.

Ausgestattet mit dem neuen Paß, kam ich zu einem unverhofften Ausflug aus dem Niemandsland in die Nachbargalaxis. Für die Arbeit an dem Fernsehprojekt holten mich die Autoren für einige Tage nach Hamburg. Ich kam aus einer Stadt, wo ich mit Eifer in Kommunalpolitik dilettiert hatte. Der Fassadenputz und gar die Rekonstruktion vom Verfall bedrohter Wohnbauten im Umfang eines Straßenzuges hatten jedesmal ganze Bataillone von Planern und Baufachleuten in Bewegung gesetzt, weil sich der Aufwand an Technik, Material, Kosten, Zeit und nicht zuletzt an Arbeitskraft nie zu einer Gleichung fügen wollte. Kein Wunder, daß ich mit Respekt und Bitternis auf das hanseatischpropere Stadtbild sah.

Hamburg ist Schmuck ohne Protz. Die häufigen Klinkerfassaden dürften nicht gerade billig sein. Über die Höhe der Mieten in Westmetropolen sind wir derweilen im Bilde. Aber die meisten Häuser werden dort wohl kaum in drei Jahren schon wieder nach einer Ausbesserung ihrer Montur schreien. Erst in der letzten Zeit verfügten wir in Berlin über eine Anstrichfarbe – Chromoxydgelb –, die eine siebenjährige Haltbarkeit verhieß. Ich vermag nicht zu sagen, ob die Fachleute bei dieser Garantie die aggressiven Abgase der vorherrschenden Heizung mit Rohbraunkohle in Rechnung gestellt hatten. Auch diesen Unterschied meinte ich in Hamburg zu wittern: die Luft war frischer, lud mehr zum Durchatmen ein als zu Hause. Mochte es nun an besseren Heizstoffen und Filtern oder an der Brise liegen, die von der See herüberwehte.

Vom Plaza-Hotel, der einzigen Andeutung von Manhattan im Weichbild der Stadt, hat man einen weiten Blick über das Häusermeer. Einige Kirchen ragen auf, der Michel, Hamburgs Wahrzeichen, mit einem Dauergerüst versehen wie Moskaus Blashennij-Kathedrale. Das Auge labt sich an der segelbesetzten Wasserfläche der Außenalster, die sich wie die Binnenalster seenartig mitten in der Stadt breitmacht. Der Mammon hat hier nicht die Spargelarchitektur hochschießen lassen, mit der Bankenpotenz zur Schau getragen wird. Die Hamburger mögen das Aufgedonnerte nicht. Gelegentlich fiel mir eine der spitzschnauzigen Rennlimousinen auf, für die Parken nur der widernatürliche Zustand zwischen zwei Geschwindigkeitsüberschreitungen zu sein scheint. Dann murmelte mein Gastgeber: «Das is ’n Zuhälterschlitten, so was fahren nur Leute, die in St. Pauli anschaffen lassen.» Über dem Eingang des Thalia-Theaters registrierte ich ein in großen Lettern gepinseltes Zitat von Botho Strauß. Es besagt etwa: Wer viel im Laden hat, kann sich den Luxus eines bescheidenen Schaufensters leisten.

Meine Gesprächspartner in Hamburg waren vor allem Journalisten. Die Authentizität des Zeitzeugen, den sie in mir sahen, machte sie neugierig. Das unvermeidliche Fragespiel weitete sich alsbald zum Abwägen von Chancen eines anderen Verlaufs der Vorgänge in der DDR aus. Ich bin heute sicher, daß ein unverkrampfter Umgang mit solchen Journalisten auch, ja gerade bei Verwurzelung in gegensätzlichen politischen und sozialen Terrains unserem System auf die Sprünge hätte helfen können. Die Abschottung vor diesem «Feind» war die Verweigerung eines Faktors der Selbstreinigung. Das Ethos dieser bundesrepublikanischen Journalisten, für kritische, produktive Unruhe in einer demokratisch strukturierten Parteiengesellschaft zu sorgen, die von Rezidiven geplagt ist, von Filz und Saturiertheit, von Selbstgerechtigkeit und sozialer Rücksichtslosigkeit unter der Käseglocke des Wohlstandsstaates, ist von uns als Kapitalismustherapie verworfen worden. Wir haben für die Uneinsichtigkeit schwer bezahlen müssen. Schließlich war der absolute Vertrauensschwund in das System durch den Verlust an Glaubwürdigkeit der auf Schönfärberei getrimmten Medien vorprogrammiert.

Journalismus ist auch in der Bundesrepublik kein Job mit Lebensversicherung. Unangepaßtheit und Unbestechlichkeit gegenüber den läßlichen Sünden des Systems, seiner offenen oder verdeckten Korruption können einem journalistischen Parzifal erhebliche Schwierigkeiten bereiten, vor allem in den Proporzmedien wie Rundfunk und Fernsehen.

Wiederholt machte mir zu schaffen, daß die Geschehnisse und Tatsachen vor und nach dem 18. Oktober sozusagen kasuistisch, fallweise erörtert wurden. Das ist verständlich und notwendig, um sich dem historischen Prozeß zu nähern. Allerdings liegt dabei die Gefahr nahe, Vorgänge zu vereinzeln, vom Gesamtprozeß und den durch ihn gesetzten Unausweichlichkeiten zu lösen. Hätte der Hund nicht …, hätte er den Hasen – ironisiert der Volksmund solches Deigitzen.

Jemand sprach in einer abendlichen Runde von den heruntergekommenen Städten bzw. Stadtteilen Berlins. Ich mußte einwenden, daß eine enorme Bauleistung vollbracht worden war, was immer man auch gegen die neu entstandenen Wohnviertel und ihre dürftige Architektur einwenden mag. Es war unter DDR