Der Agent der kleinen Dinge - Francesco Micieli - E-Book

Der Agent der kleinen Dinge E-Book

Francesco Micieli

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Beschreibung

Angelo, selbst ernannter Privatdetektiv, zweifelt. An der Welt, an sich selbst und zunehmend auch an seinem ersten Fall, der ihn in ein kleines Dorf im Emmental führt. Seine Auftragsgeberin, die schöne, wenn auch etwas undurchsichtige Barbara, fühlt sich bedroht. Anlass dazu gibt ihr ein unmissverständlicher Satz, den sie in einem ausgeliehenen Buch vorfindet. Ob dieser aus der Feder des rigiden Weltverbesserers Wenger stammt? Dann fällt ein Stein durchs Gaststubenfenster, und Angelo ist gefordert. Doch immer wenn es darauf ankommt, holen ihn die Bilder jener Zeit ein, in der er als Migrantenkind in die Schweiz gekommen ist und niemand wissen durfte, dass er da war. Im Wechsel zwischen erinnerter Vergangenheit und erlebter Gegenwart versucht Angelo, dieser Agent der kleinen Dinge, den Boden unter seinen Füssen nicht zu verlieren und der Sache auf die Spur zu kommen. Hat der Wenger etwas mit seinem Vater zu tun? Immer mehr verwebt sich Angelos eigene Geschichte mit derjenigen, der er eben nachspürt. Könnte es sogar sein, dass er es hier mit seinem eigenen Fall zu tun hat? Francesco Micieli hat mit seinem Protagonisten Angelo einen sympathischen, ebenso selbstironischen wie auch leicht melancholischen Antihelden erfunden, dessen kriminalistische Spurensuche über das Emmentaler Dorf hinaus zurück in seine Vergangenheit führt – und Angelo dabei zunehmend zum Ermittler seiner eigenen Sache wird. Corina Lafranchi

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Francesco Micieli

Der Agent der kleinen Dinge

 

Für Matteo, der mir die Nachricht «Jakob ist tot» gesendet hat.

FRANCESCO MICIELI

Der

Agent

der

kleinen

Dinge

ZYTGLOGGE

Alle Rechte vorbehalten

Copyright: Zytglogge Verlag, 2014

Lektorat: Bettina Kaelin

Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann

Umschlagsbild: Franziska Muster Schenk

ISBN 978-3-7296-0877-1

eISBN (ePUB) 978-3-7296-2157-2

eISBN (mobi) 978-3-7296-2158-9

 

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

 

Zytglogge Verlag, Steinentorstrasse 11, CH-4010 Basel

[email protected], www.zytglogge.ch

 

«Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken.»

Martin Heidegger

 

«Jeder Ermittler hat nur einen einzigen Fall: sich selber.»

Angelo

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Schuldigkeit des ersten Gebots

– Sinfonia

– Recitativo:

«Die löblich’ und gerechte Bitte»

(Gerechtigkeit, Christgeist, Barmherzigkeit)

– 1. Aria:

«Mit Jammer muss ich schauen»

(Christgeist)

– Recitativo:

«So vieler Seelen Fall»

(Barmherzigkeit, Gerechtigkeit)

– 2. Aria:

«Ein ergrimmter Löwe brüllet»

(Barmherzigkeit)

– Recitativo:

«Was glaubst du?»

(Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Christgeist)

– 3. Aria:

«Erwache, fauler Knecht»

(Gerechtigkeit)

– Recitativo:

«Er reget sich»

(Christgeist, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit)

– 4. Aria:

«Hat der Schöpfer dieses Lebens»

(Weltgeist)

– Recitativo:

«Dass Träume Träume sind»

(Christ)

– 5. Aria:

«Jener Donnerworte Kraft»

(Christ)

– Recitativo:

«Ist dieses, o so zweifle nimmermehr»

(Weltgeist, Christ, Christgeist)

– 6. Aria:

«Schildre einen Philosophen»

(Weltgeist)

– Recitativo:

«Wen hör’ ich nun hier in der Nähe»

(Weltgeist, Christ, Christgeist)

– 7. Aria:

«Manches Übel will zuweilen»

(Christgeist)

– Recitativo:

«Er hält mich einem Kranken gleich»

(Christ, Christgeist, Gerechtigkeit)

– Recitativo:

«Hast du nunmehr erfahren»

(Barmherzigkeit, Christgeist, Gerechtigkeit)

– 8. Terzetto:

«Lasst mich eurer Gnade Schein»

(Christgeist, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit)

Sinfonia

Immer wieder hörte Angelo ‹Die Schuldigkeit des ersten Gebots› (KV 35, komponiert 1767), Mozart musste es mit 11 Jahren schreiben, ein göttlicher Befehl. Möglicherweise.

Was glaubte er in dieser Musik zu finden? Eine Lösung? Eine Erlösung?

Die grossen Kopfhörer gaben Angelo das Aussehen einer Sciencefiction-Figur aus dem letzten Jahrhundert.

Er war zu dieser Zeit an einen Punkt angelangt, von dem aus man geneigt ist, die Ereignisse als eine Reihe von Folgen anzusehen, obwohl jede Begebenheit einzeln und zufällig stattfindet und keine innere Logik aufweist. Es war sein Hirn, das das Ganze als eine Aneinanderreihung von einzelnen Augenblicken vorschlug und behauptete, es gebe eine Vorbestimmung. Er empfand die Schuld der Geburt, die ihn seiner Meinung nach zu einem so vorgezeichneten Leben führte.

Er sass im Regionalzug, der ihn zu seinem neuen Wohnort, zu seiner kleinen Wohnung führen sollte.

Nach der heftig – ihm waren die Sicherungen durchgebrannt – verlaufenen Trennung von Frau und Kindern, die mit einem Begegnungsverbot für vier Monate geendet hatte, beschloss er, sich in ein kleines Dorf im Emmental zurückzuziehen, denn da schien ihm die Einsamkeit erträglicher zu sein, da diese Orte die Einsamkeit in den Genen haben.

Wie um das Programm vollständig durchzuspielen, hatte er auch die Stelle verloren und sogar jene unbestimmbare Kraft und jenen Antrieb, die aus einer nicht gut ausgeleuchteten Stelle seines Universums stammen mussten und ihn sonst zum Schreiben brachten.

Angelo war am Rand angelangt, und an diesem Rand erfuhr er vom Tod des Schriftstellers Jakob Arjouni und damit verbunden vom Tod dessen Privatdetektivs ‹Kajankaja›.

In der lokalen Wochenzeitung liess er kurz darauf aus Jux (welch ein fröhliches Wort!) ein Inserat veröffentlichen:

«Suche meinen ersten Fall.

Arbeite ernsthaft und diskret und natürlich günstig.

Angelo, Agent der kleinen Dinge: 502 40 22»

Wenn es eine Konstante in meinem Leben gibt, ist es die, dass ich immer zu spät komme. «Angelo kommt zu spät.» Meine Mutter erzählte mir, dass ich schon bei der Geburt verspätet gekommen war. Ich lag, wie man sagt, auf dem Trockenen und wollte nicht raus.

Schon vor Jahren hatte ich davon geträumt, ein Agent zu werden, ein Privatdetektiv, ein cooler Siech, einer, der alles lösen kann. Dafür wollte ich sogar das Schreiben opfern, meine Seele hergeben, mein innerstes Licht. Und nun, da ich endlich den Schritt wage, realisiere ich, dass schon alle Agenten sind – einige Kollegen haben diese Phase sogar schon hinter sich gebracht und sind wieder zum Schreiben zurückgekehrt. Ich komme mir vor wie die alte Fasnacht.

«Die löblich’ und gerechte Bitte»

Aus dem Rot-Grün von Sloterdijks Buch ‹Zorn und Zeit› drohte der Einkaufs-Post-it mit drei Wörtern: «Du wirst sterben.» Darunter war das Unicef-Logo zu sehen.

Barbara sass am anderen Ende des Tisches und versuchte, Reaktionen auf dem Gesicht des Detektivs zu entdecken. Er hatte aber keine. Auch nicht, als sie ganz nahe kam, als er ihren warmen, angenehmen Atem spürte. Der Detektiv beherrschte die Kunst des Pokerface. Er war kein Interface, an ihn konnte man nicht andocken.

– Und natürlich wissen Sie nicht, woher das da stammen könnte?

– Keine Ahnung, ich habe das Buch in der Brockenstube des Frauenvereins gekauft. Der Zettel war da drin, auf Seite 46. Aber ich konnte ihn nicht wegwerfen. Und dann fing es an, mich zu bedrohen. Es liess mir keine Ruhe mehr!

Angelo hatte gehört, dass man auf die Mikrobewegungen im Gesicht achten muss, um die Wahrheit herauszufinden. Er konnte nur ausgeglichene Züge sehen.

– Es?

– Es, die Drohung! Haben Sie das Buch gelesen?

– Ich lese keine Bücher, ich lese nur Packungen, wenn ich frühstücke. Käse, Milch, Butter.

Ein Lächeln umgab seine Lippen, er dachte an Kajankaja, seinen Kollegen in Frankfurt, diese Antwort hätte von ihm stammen können.

Sie schaute ihn so an, als wäre er eben auf Erden gelandet, und ihr Gesicht wurde zu einer Abfolge von verschiedenen Masken. Er war in ihren Bann geraten. Ihre Schönheit machte ihn zu einem im Kellerregal vergessenen Apfel.

Ich will ihr nicht gestehen, dass ich ohne Bücher nicht leben kann, dachte er, als sie in seine Gedanken hineinsprach.

«Sie lügen!», sagte sie mit einem Lächeln.

Ihre Zähne waren perfekt weiss. Babyweiss. Was war Babyweiss?

– Haben Sie mich deswegen angestellt?

– Nein, mir gefiel die Idee, von einem Engel beschützt zu werden.

– Engel?

– Angelo, heisst doch Engel.

– Nur ein Name. Ich habe ihn von meinem Grossvater geerbt.

Barbara wohnt in einem jener Häuser, die nahe der Strasse sind und von denen man denkt, da kann keiner leben. Leute, die da leben, haben kein Geld oder leben da, weil sie sich eines Tages unter ein Auto stürzen wollen. Als ich bei ihr klingelte, stellte ich mir vor, dass eine Frau mit einer Axt in der Hand die Tür öffnet. Eine Frau, die beinahe zwei Köpfe grösser ist als ich und über hundert Kilo wiegt. (Ich bin klein.)

Auf dem Display erschien eine Einladung nach Tirana zu einem Germanistenkongress. «Ich schreibe nicht mehr», schrieb er zurück.

– Was sehen Sie auf Ihrem Handy? Die Wahrheit?

– Ach, nichts. Nur einen unmöglichen Auftrag.

– Sie müssen zuerst meinen erledigen.

– Dann bieten Sie mir wenigstens etwas zu trinken an.

«Immer mehr chinesische Autos werden importiert. In wenigen Jahren wird China Europa überholt haben», las er in der Wochenzeitung, die auf dem Boden lag. Tannenriemenboden. ‹Wachstumsmotor Asien›, lautete der Titel der Werbereportage. «Notenstein denkt in Szenarien, um ihr Vermögen zu schützen.»

Europa ist ein sinkender Stern, dachte der Detektiv, und das Wort Motor ist nahe bei Tumor. Wachstumstumor.

Er bestaunte die Hügel, die hier wie Drachenrücken aussahen und sich bis zum Fenster der Wohnung dehnten. Er befürchtete, dass diese Hügel eines Tages den Rachen öffneten, um ihn zu verschlingen.

Jetzt möchte ich meine Kinder sehen. Denken sie an mich? Wie wird es ihnen in zwanzig Jahren gehen? Werden sie in Europa grosse Umwälzungen erleben? Armut?

Ich musste über mein einfache Denkweise lachen. Ich sah mich auf der Höhe der Zeit und schaute in die Weite. Die Höhe der Zeit erschien mir als viele jugendliche Arbeitslose in südlichen Ländern. Die Höhe der Zeit war eine nicht existierende Solidarität zwischen Reichen und Armen. Sie war auch, zumindest hier, ein sinnloser Aktivismus, ein Krabbeln wie bei den Käfern, die auf einen Sandberg steigen wollen.

Barbara kam mit einer Cola aus der Küche.

– Ich habe nur das, sagte sie.

Er schaute von der Zeitung auf, sah seinen Namen (in schön geschwungenen Lettern) auf der Flasche und ihm wurde klar, dass er hier bald wegkommen musste. Er empfand sich nicht professionell genug, er erlag der Schönheit seiner ersten Kundin.

Das Handy vibrierte.

– Darf ich?

Barbara nickte.

Auf dem Display erschien eine Nummer aus Deutschland.

– Ja, Angelo, Privatdetektiv.

– Hahaha, Angelo, das ist doch kein Name für einen harten Kerl!

– Kajankaja, mein Türke, der nicht Türkisch spricht! Dass du mich anrufst, welch eine Ehre! Brauchst du einen Rat eines blutigen Anfängers?

– Jakob ist tot.

Angelo schwieg, er schaute zu den Hügeln und war sicher, dass der Drache sich bewegte.

– Verstehst du? Es gibt ihn nicht mehr, und es gibt mich nicht mehr.

Der Detektiv wusste nicht, wie lange er mit seinem alten und altmodischen Sony Ericsson dagesessen war, ohne zu sehen, ohne zu hören.

Irgendwann bemerkte er, dass Barbara nicht mehr im Raum war. Hinter der Milchglastüre ihres Badezimmers ahnte er die Silhouette ihres nackten Körpers. Ihm wurde heiss, dann kalt, ein Sturmwind brach in seinem Körper aus. Zuckungen plagten ihn.

Barbara schien seine Gedanken zu lesen. Sie schrie, dass sie sich umziehen müsse, sie habe jetzt keine Zeit mehr für ihn, ob er den Job annehmen wolle.

– Haben sie dir die Sprache geklaut, Mann? Diese Schweizer!, sagte die Stimme aus dem Handy.

– Entschuldige, ich fühle mich nicht gut, ich weiss nicht.

– Danke, dass du so mitfühlst! Es ist schrecklich!

– Komm mich doch besuchen, dann können wir –

– Es gibt mich nicht mehr! Verstehst du denn nicht? Ohne meinen Autor bin ich ausgeschrieben, ausgeschossen.

Nein, der Detektiv verstand nicht. Wie konnte jemand da sein und nicht da sein? Er verabschiedete sich hastig von Barbara, nachdem er ihr ein «Ja, ich nehme an» zugerufen hatte. Draussen fühlte er sich gerettet, aber auch lächerlich, denn er hatte kein Mittel gegen die Anziehungskraft seiner ersten Kundin gefunden und auch keines gegen die Trauer. Starb der Autor, so starben auch seine Figuren. Niemand würde sie weitererzählen. Auch sein eigenes Leben hing an einem solchen dummen Erzählfaden. Auf dem Feld standen Schafe unmotiviert herum, sie glotzten ihn an.