Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth - E-Book

Der blinde Spiegel E-Book

Günter Neuwirth

4,4

Beschreibung

Was wäre gewesen, wenn Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg gewonnen hätten? Günter Neuwirth begleitet seine beiden Helden in eine düstere fiktive Vergangenheit. Im Sommer 1914 muss Valentin Kellermeier an die Front. Er wird zum überzeugten Pazifisten und schließt sich 1946 dem Spionagering „Schattennacht“ an. Hermann Graf von Meyendorff wird von Kindesbeinen an zum Soldaten erzogen. Nach drei Jahren Frontdienst ranken sich Legenden um ihn: Kaum ein Bomberpilot hat mehr Einsätze geflogen. In Konstantinopel verliebt er sich unsterblich in Clarissa Roth, die Tochter eines jüdischen Industriellen. Doch kann ihre Beziehung in Zeiten des Krieges überdauern? Ein großer Roman um zwei starke Charaktere, um ein Europa, das der Apokalypse entgegen taumelt.

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Günter Neuwirth

Der blinde Spiegel

Roman

ISBN 9783990402504

Wien – Graz – Klagenfurt

© 2014 byStyria premiumin der

Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Alle Rechte vorbehalten.

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

Lektorat: Prof. Rainer Lendl

Layout: Alfred Hoffmann

Buch- und Covergestaltung: Bruno Wegscheider

Coverfoto:istockphoto.com/​SimFan

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Teil

2. Teil

3. Teil

4. Teil

5. Teil

6. Teil

Weitere Bücher

1. TEIL

SCHATTENNACHT

WIEN, AUGUST 1914

Endlich in der Metropole.

Überall dichtes Gedränge auf den Bahnsteigen. Ich habe Mühe, mit meinen zwei Pappkoffern voranzukommen. Was für ein Gewühl! Es war auch schwer, eine Fahrkarte zu bekommen, denn die Eisenbahn wird für die Soldaten gebraucht. Krieg ist jetzt! Krieg! Gegen Serbien. Krieg gegen Russland. Die Armee braucht die Eisenbahn.

Ich schiebe mich an einer Gruppe junger Männer vorbei, die akkurat gescheitelt zur Assentierung marschieren. Freiwillige, zweifellos Studenten. Lärmend sammeln sie sich, einer von ihnen mimt den Fähnrich.

„Kompanie stillgestanden! Rechts um! Links, zwo, drei, vier!“

Zwei elegante Herren winken ihnen mit dem Hut zu und exerzieren mit den Spazierstöcken.

Da ein Kuss, der gar nicht enden will. Die junge Frau lässt nicht von ihrem uniformierten Liebsten ab. Nur mit Mühe windet er sich aus ihrer Umklammerung und folgt mit schnellen Schritten seinen Kameraden. Die Soldaten sammeln sich zum Abmarsch in Richtung Arsenal.

„Gib mir noch ein Busserl!“

Die junge Frau lässt ihren Liebsten immer noch nicht aus, hakt sich bei ihm ein, stößt sich an seinem Gewehr und trippelt an seiner Seite hinaus aus meinem Blickfeld.

Jetzt sehe ich kurz den Mann, dessen Ziehharmonikaspiel die längste Zeit schon über das geräuschvolle Treiben hinwegtanzt. Ein unvermutet vorwitziger Klang, der Mann spielt den Radetzkymarsch mit der Intonation eines Heurigenliedes, statt forscher Akzente gedehnte Phrasen. Irgendwie komme ich doch aus der Bahnhofshalle und fülle meine Lungen mit der Luft der Stadt. Überall Bewegung, überall hastende, eilende Gestalten und ich mittendrin.

Ich muss überlegen, wie ich jetzt in die Siebensterngasse komme. Am besten mit der Elektrischen, weil zu Fuß mit zwei Koffern ist das ein weiter Weg. Am Gürtel marschiert mit strammen Schritten ein Bataillon hechtgrauer Uniformen. Ich mische mich unter die Leute, füge mich ins Spalier.

„Der Kaiser lebe hoch! Er lebe hoch! Er lebe hoch!“, ruft ein Mann.

Sofort stimmen andere in den Ruf ein, ich ebenso.

Die Stimmung ist atemberaubend, einzigartig, die Kaiserstadt ist in hellem Aufruhr. Ein Zeitungsjunge läuft mit einem Paket Zeitungen über die Straße. Er schwenkt ein Exemplar und ruft: „Frankreich erklärt Österreich-Ungarn den Krieg!“ Binnen kürzester Zeit ist der Zeitungsjunge seine kostbare Ware los und die hitzigen Köpfe der Menschen versenken sich hinter den Zeitungsblättern. Frankreich erklärt uns den Krieg! Uns!

Hypnotisiert renne ich durch die Gassen, die Koffer bemerke ich jetzt gar nicht mehr. Immerzu muss ich an meine Pflicht denken, in einer so großen Zeit auch mein Scherflein beizutragen. Freiwillig müsste ich mich melden, denn mein Jahrgang ist noch nicht zur Ausmusterung bestimmt. Freiwillig müsste ich mich melden und meine Pflicht erfüllen. Da aber mein Bruder Fritz schon den Rock des Kaisers trägt, habe ich meiner Mutter schwören müssen, mich nicht zu melden. Sie ist ängstlich, wie es Mütter nun einmal in den erhabenen Zeiten des Krieges sind. Was gäbe ich dafür, auch dabei zu sein! Wozu in einer Zeit wie dieser ein Studium beginnen? Ich will auch im Jubel der Wiener mutig und mannhaft den Zar von Russland lehren, was es heißt, den Fürstenmördern die Fahnen zu hissen.

Immer schneller laufe ich durch die Stadt, schlängle ich mich an Gruppen aufgeregter Menschen vorbei, die über den großen europäischen Krieg diskutieren. Was wird England tun? Wo ist Italien? Vivat dem deutschen Waffenbruder! Aufgeschnappte Sätze in einer siedenden Stadt. Mein Irrlauf bringt mich unversehens zur Ringstraße. Meine Augen weiten sich, ich stelle die Koffer ab. Das ist imperiale Größe, diese Straße macht Wiens Ruf in der Welt aus. Tausende Menschen am Opernring, eine Blaskapelle trompetet von irgendwoher das Lied vom Prinzen Eugen in den stahlblauen Himmel. Auf der Straße paradieren des Kaisers Reiter mit gezogenen Säbeln. Das schwere Getrappel der Pferde lässt den Boden zittern. Hell funkeln die Säbel und Helme der Reiter im gleißenden Schein der Sonne. Hunderte Hüte tanzen an hochgestreckten Armen.

Ich bin so stolz, an diesem Tag in Wien zu sein. Die Parade zieht weiter die Ringstraße entlang, der Jubel verebbt nach und nach, doch die Ansammlung der Menschen löst sich nicht auf. Ich sehe eine Straßenuhr, in einer halben Stunde soll ich bei meiner Vermieterin in der Siebensterngasse vorstellig werden. Ich werde nicht pünktlich sein. Immer weiter, immer weiter zieht mich mein Lauf durch die Straßen, hinein in die Innenstadt.

Ein älterer Herr mit gepflegtem Bart hält mich an und klopft mir auf die Schulter.

„Junger Mann, Sie sind mir ein Muster für die Tapferkeit unserer stolzen Jugend, die in diesem heroischen Ringen der Völker mit edler Gesinnung die eiserne Faust erhebt und für unseren Kaiser den Lorbeerkranz des Sieges einholen wird!“

Wie ich mich schäme. Ich wage nicht zu sagen, dass ich die Koffer trage, weil ich im September das Studium der Philosophie antreten werde, und nicht, weil ich zur Assentierung marschiere.

„Ich danke Ihnen, mein Herr“, murmle ich verlegen.

Der Herr lüftet seinen Hut.

„Auf, auf! Wohlan in Gottes Namen, deutscher Held.“

Ich eile weiter, immer weiter. Ich laufe rund um den ehrwürdigen Stephansdom. Ich sehe all die schönen Fräuleins. Elegant die eine, koketter Schritt und ein Hut mit Chic, andere wieder bewundernswert sittsam in strahlender Reinheit. Ich liebe sie alle, die jungen Fräuleins von Wien. Ich fliege über den Graben, weiter zum Michaelerplatz. Ja, ich möchte jetzt ein Gedicht schreiben, ein Poem über diesen wunderbaren Augenblick, über die perlende Schönheit dieser Stadt, ihre Würde und Erhabenheit, über ihr brodelndes Leben, ihre Eleganz und Eloquenz. Ich möchte ein Gedicht schreiben über den jungen Soldaten, der zum Abschied seine Braut küsst und zum Lebewohl noch aus dem Fenster des abdampfenden Zuges winkt. Warum soll ich mich nicht zu den poetischen Gefühlen bekennen, die dieser Tag in mir weckt?

Da stehe ich vor der Hofburg und ein tiefes Schaudern erfasst mich. Die Residenz des Kaisers, unseres greisen Monarchen, des Vaters der vielen Völker der Donaumonarchie.

„Es lebe der Kaiser! Es lebe Österreich-Ungarn!“, rufe ich weithin hörbar.

Ich weiß gar nicht, was ich tue, es geschieht einfach mit mir, ich lasse mich mitreißen im Strom. Und ein vielfacher Ruf schallt mir entgegen.

„Es lebe der Kaiser! Vivat dem Kaiser! Vivat!“

Ein Oberleutnant geht an mir vorbei, ich stelle meine Koffer ab und salutiere. Was für ein schneidiger Mann, was für ein Held im Rock des Kaisers! Mit dem rechten Zeigefinger streicht er über seinen Oberlippenbart, mit der linken Hand winkt er mir kurz und gönnerhaft zu und stiefelt stramm an mir vorbei.

Erst in den Abendstunden komme ich zu meiner Vermieterin. Ist es mir zu verdenken, dass ich bis spät in die Nacht viele Seiten in mein Tagebuch über die Eindrücke dieses ungeheuerlichen Tages schreibe?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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