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Zürich 1273: Dem begnadeten Schreiber und Buchmaler Bertram steht eine glänzende Zukunft im Grossmünsterstift bevor. Doch als er sich in die hübsche Pergamentertochter Fides verliebt, die bereits einem anderen versprochen ist, gerät sein Leben aus den Fugen. Auch Bertrams Ziehvater, der berühmte Gelehrte Konrad von Mure, hat Bedenken ob der Verbindung. Denn auf Bertrams Herkunft ruht ein Geheimnis. Eine Reise zum Konzil in Lyon soll dieses Rätsel lösen, bringt aber nicht nur Bertram in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 757
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Erika Weigele
Der Buchmaler von Zürich
Historischer Roman
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Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
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unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Altartafeln_von_Hans_Leu_d.Ä._(Haus_zum_Rech)_-_rechtes_Limmatufer_-_Wasserkirche_2013-04-08_15-06-02.jpg
© Roland Fischer, Zürich (Switzerland) – Mail notification to: roland_zh(at)hispeed(dot)ch / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0 Unported
ISBN 978-3-8392-7694-5
O beatissime lector, lava manus tuas et sic librum adprehende, leniter folia turna, longe a littera digito pone. Quia qui nescitscribere, putat hoc esse nullum laborem.
O glücklichster Leser, wasche deine Hände und fasse so das Buch an, drehe die Blätter sanft, halte die Finger weit ab von den Buchstaben. Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei.
[Schreibereintrag in einem westgotischen Rechtsbuch aus dem 8. Jh]
Zürich, im November 1253
Eine junge Frau läuft durch die dunklen Gassen der Stadt. Ihre hölzernen Trippen klappern auf dem gefrorenen Boden. Unter dem weiten Mantel trägt sie einen kleinen Stoffballen, den sie beim Laufen sorgsam an sich presst. Ab und zu bleibt sie stehen, um zu verschnaufen und die Last in ihren Armen zu verlagern. Endlich tauchen die trutzigen Türme des Grossmünsterstifts vor ihr auf. Sie ist am Ziel. Sie zögert ein paar Minuten vor der Klosterpforte und wartet, bis ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hat. Das Bündel in ihrem Arm beginnt sich zu bewegen. Zögernd läuft die Frau vor dem Tor auf und ab. Dann fasst sie sich ein Herz und betätigt den hölzernen Türklopfer. Dumpf hallen die Schläge durch die Nacht. Es dauert ein paar Minuten, dann öffnet sich ein Fensterladen im Tor. Der Pförtner schaut hinaus. Überrascht betrachtet er die junge Frau.
»Was wollt Ihr hier zu nachtschlafender Zeit?«
»Bitte, lasst mich ein. Ich habe etwas für Propst Werner abzugeben.«
»Um diese Zeit?« Der Pförtner bleibt misstrauisch. »Woher kommt Ihr? Wer schickt Euch?«
»Das darf ich nur dem Propst selbst sagen.« Die junge Frau hat Mühe, das immer stärker zappelnde Bündel festzuhalten. »Bitte, es ist eiskalt hier draußen, lasst mich ein!«
Bevor der Pförtner antworten kann, dringt wütendes Kindergeschrei an sein Ohr. Erschrocken zieht er den Kopf zurück.
Die junge Frau fasst einen Entschluss. Behutsam legt sie das brüllende Bündel auf der Schwelle ab. »Verzeih mir, mein kleiner Bertram. Hier wirst du es gut haben.« Eine Träne fällt auf das Gesicht des Kindes, dann ist die Frau verschwunden. Der Pförtner hört das sich entfernende Klappern ihrer Trippen, aber das Geschrei will nicht verstummen. Beim Allmächtigen, sie wird doch nicht …, denkt er bei sich und entriegelt vorsichtig die Pforte. Entgeistert starrt er auf den eingewickelten Säugling zu seinen Füßen, der lautstark kundtut, dass ihm die augenblickliche Situation so gar nicht zusagt. Seufzend hebt der Bruder das Kind auf. Dabei bemerkt er auf dem Boden einen kleinen Lederbeutel und ein mehrfach gefaltetes Pergamentstück mit einem Siegel daran. Bruder Johannes wiegt den Beutel in der Hand – darin klimpert es verheißungsvoll. Er wirft einen Blick auf das Siegel und erbleicht. »Jetzt muss ich doch den Propst wecken«, murmelt er und tritt zurück in das Gebäude, das Kind fest an sich gedrückt.
Zürich, Grossmünster, Freitag, 22. September 1273
Die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Fenster der Schreibstube und tauchte den Raum in ein rötliches Licht. Bertrams Brüder hatten schon längst ihre Arbeit niedergelegt und waren zur Vesper gegangen. Von ferne drangen die Klänge des »Magnificat« an sein Ohr. Leise summte er die Melodie mit und vollendete zugleich die letzte Zeile auf dem Pergamentbogen, der vor ihm auf dem Pult lag. Heute hatte er sogar zwei Seiten mehr geschafft als geplant, Meister Konrad würde zufrieden sein. Bertram legte den Federkiel nieder und schüttelte sein Handgelenk aus. Er reckte sich ausgiebig und sah sich im Raum um. Wie so oft war er der Letzte. Während die Stehpulte am Fenster, die den erfahrenen Schreibern vorbehalten waren, tadellos aufgeräumt waren, herrschte neben den Hockern der Schüler ein heilloses Durcheinander. Gänsefedern, Wachstafeln und Griffel lagen auf dem Boden, als hätten ihre Besitzer es gar nicht abwarten können, endlich ins Freie zu kommen.
Bertram konnte nicht verstehen, warum die meisten Schüler den Schreibdienst als lästiges Übel empfanden. Seit er als kleiner Junge zum ersten Mal die Schwelle des Skriptoriums überschritten hatte, war er dessen Atmosphäre verfallen. Er liebte den Geruch von Leder, Tinte und Kreidepulver, das gleichmäßige Geräusch der kratzenden Gänsefederkiele auf dem Pergament, und wenn er vor seinem Schreibpult saß, vergaß er alles um sich herum. Er war der jüngste Schreiber gewesen, dem Meister Konrad je erlaubt hatte, selbstständig Texte zu kopieren, und der Einzige im Stift, der es verstand, die Handschriften mit prachtvollen Miniaturen zu schmücken.
Allmählich wurde es zu dunkel zum Schreiben. Bertram sah zu der Truhe hinüber, in der die Talglichter aufbewahrt wurden. Ob er eines anzünden sollte? Auf die Gefahr hin, dass der Sigrist sich auf der Kapitelversammlung wieder über den übermäßigen Verbrauch an Lichtern beschweren würde? Der dumpfe Knall einer zufallenden Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Eilige Schritte näherten sich und dann stürmte einer der älteren Schüler ins Skriptorium. »Friedrich!«, rief Bertram überrascht. »Was willst du denn noch hier? Solltest du nicht beim Chorgebet sein?«
Friedrich nickte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Ein Bote!«, stieß er hervor. »Ein Bote ist eingetroffen! Und Ihr sollt sofort zum Propst kommen!«
»Endlich!« Bertram sprang so hastig auf, dass er beinahe sein Tintenhörnchen umgeworfen hätte. Das musste der Bote mit seiner jährlichen Leibrente sein, auf den er seit Ostern wartete. Seit fünf Monaten kein Geld und vor allem keine Gelegenheit, etwas über seine Familie zu erfahren. Er wollte den Mann unbedingt allein erwischen, bevor ihm der Propst wieder den Mund verbot. Er warf einen kurzen Blick auf die Unordnung und sah dann zu Friedrich, der resigniert nickte und anfing, die Griffel aufzusammeln. Bertram lächelte dankbar und eilte die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Er schlüpfte in den Kreuzgang und blieb einen Augenblick erstaunt stehen. So voll war es hier nicht einmal zur Fußwaschung an Gründonnerstag! Es schien, als habe sich das gesamte Personal des Stifts mit allen Angehörigen hier eingefunden. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. »Basel« verstand er und »Graf Rudolf« und »Bischof Heinrich«. Der Schreck fuhr Bertram in die Glieder. Er wusste von der Fehde zwischen dem Baseler Bischof und dem Grafen Rudolf von Habsburg, der die Stadt seit Monaten belagerte. War dem Bischof etwas zugestoßen? War er am Ende tot? Gab es wieder Krieg? Basel lag nur anderthalb Tagesritte von Zürich entfernt. Was dort geschah, war in kürzester Zeit auch in Zürich spürbar. Er drängte sich durch die Menschenmenge und erreichte den Eingang zum Chor in dem Moment, als Konrad von Mure heraustrat. Der Kantor sah ihm ernst entgegen.
»Gelobt sei Jesus Christus«, begrüßte Bertram seinen Ziehvater.
»In Ewigkeit, Amen«, erwiderte dieser mechanisch und fuhr gleich fort. »Gut, dass du da bist. Der Propst erwartet uns. Es ist etwas geschehen.«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Bertram mit einem Blick auf das Getümmel, aus dem sich jetzt unwillige Rufe erhoben. Mehrere Rebleute der Propstei hatten sich mit Stöcken bewaffnet und begannen, die Leute über die schmale Pforte aus dem Kreuzgang auf die Straße zu drängen. Nach einigen Minuten war der Spuk vorbei. Deutlich erklang das Einrasten des Riegels, dann herrschte Stille.
Der Kantor wischte sich über die Stirn. »Endlich Ruhe. Ich habe die Knechte angewiesen, die äußeren Pforten zum Kreuzgang jetzt schon zu verriegeln, damit wir ungestört sind. Und jetzt komm mit.«
Sie durchquerten den Kreuzgang und traten durch die geöffnete Tür in den kleinen Raum neben dem Refektorium, der dem Propst als Studierzimmer diente. Inzwischen war es dunkel geworden, die Talglichter in den Wandhalterungen warfen tanzende Schatten an die Wände und spiegelten sich in dem gläsernen Wasserkrug, der auf der Fensterbank stand. Die fein ziselierten Silberbecher daneben und das elfenbeinerne Tintenhorn auf dem Schreibpult zeugten von der Vorliebe des Propstes, sich auch im Alltag mit schönen Dingen zu umgeben. Doch im Moment hatte er keine Augen dafür. Er saß aufrecht in seinem gepolsterten Lehnstuhl und trommelte mit den Fingern auf der reich geschnitzten Armlehne. Er begrüßte die Eintretenden mit einem kurzen Nicken und wies auf zwei Scherenstühle an der Wand. »Bertram, schließ bitte die Tür und bringe die beiden Stühle zu mir. Wir müssen nicht lauter sprechen als unbedingt nötig. Die Wände haben Ohren.« Bertram tat wie geheißen und nahm neben dem Kantor Platz. Er musste an sich halten, um nicht ungeduldig mit dem Fuß zu wippen. Was war nur geschehen? Und was hatte es mit ihm zu tun? An den Geldboten glaubte er inzwischen nicht mehr. Ob er jetzt endlich erfahren würde, wer seine Eltern waren?
Propst Heinrich lehnte sich zurück und sah Bertram ernst an. »Wie es aussieht, haben wir wohl endlich einen König. Unser neuer Papst scheint den Kurfürsten ordentlich Feuer unter dem Hintern gemacht zu haben.«
Bertram traute seinen Ohren nicht. Seit er denken konnte, war das Reich ohne einen Regenten. Oder besser gesagt, es gab zu viele davon, aber keiner hatte das Sagen. Nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II. und seines Sohnes Konrad vor knapp zwanzig Jahren waren zwar verschiedene Kandidaten gewählt worden, doch keinem war es gelungen, die allgemeine Zustimmung im Reich zu erlangen. Den traurigen Höhepunkt erreichte die Geschichte im April letzten Jahres, als nach dem Tod Heinrichs von Cornwall dessen Gegenkönig Alfons von Kastilien die päpstliche Anerkennung seines Königtums forderte, von Papst Gregor X. jedoch abschlägig beschieden wurde. Stattdessen hatte dieser die Kurfürsten im Juli aufgefordert, sich auf einen passenden Kandidaten zu einigen, andernfalls werde er selbst einen bestimmen. Bertram sah den Propst gespannt an. »Und wer ist jetzt unser König? Doch nicht der Böhme?«
»Wenn ich unserem Boten aus Basel Glauben schenken soll, ist vorgestern Nacht der Burggraf Friedrich von Nürnberg im Feldlager Rudolfs eingetroffen und hat ihm im Namen der Kurfürsten die Krone angeboten. Und Rudolf hat angenommen.«
Bertram fiel die Kinnlade nach unten. »Der Habsburger?«
Der Propst nickte. »Genau der. Nun wird er seine Fehde mit dem Baseler Bischof wohl beilegen müssen, um rechtzeitig am Wahltag in Frankfurt zu sein. Und danach zur Krönung nach Aachen reisen.«
Das waren in der Tat bemerkenswerte Neuigkeiten! Trotzdem wusste Bertram immer noch nicht, warum der Propst neben dem Kantor ausgerechnet ihn eingeweiht hatte. »Und was bedeutet das für unser Stift?«, wagte er endlich zu fragen.
Der Propst seufzte. »In erster Linie viel Arbeit. Nach seiner Krönung wird der König durchs Land reisen, um seine Untertanen zu besuchen und Privilegien und Regalien zu bestätigen oder zu erneuern. Zürich ist Reichsstadt und als solche verpflichtet, den königlichen Hof unterzubringen und zu verpflegen. Hunderte von Menschen, dazu die Reit- und Lasttiere, ich darf gar nicht daran denken. Aber deswegen habe ich dich nicht rufen lassen.« Er warf einen Blick zum Kantor, welcher der Unterhaltung schweigend gefolgt war. »Unser Kantor ist seit jeher mit den Grafen von Habsburg befreundet. Wie du vielleicht weißt, hat er Rudolfs jüngste Tochter Guta aus der Taufe gehoben. Er wird also nach Aachen zur Königskrönung reisen. Das wird einige Wochen in Anspruch nehmen. Und er ist der Ansicht, dass du in dieser Zeit einen Teil seiner Aufgaben übernehmen könntest.« Bertram fuhr der Schreck in die Glieder. Hoffentlich erwartete man nicht von ihm, ihn bei der Leitung des Chores zu vertreten! Er war völlig unmusikalisch, nicht ohne Grund hatte man ihn bei den Messgesängen in die letzte Reihe verbannt und angewiesen, nur die Lippen zu bewegen und ja keinen Laut von sich zu geben.
Der Propst schien sein Zaudern zu bemerken und lächelte. »Keine Angst, es geht nicht um die liturgischen Aufgaben, die werden der Leutpriester oder ich übernehmen. Es geht um die Arbeit im Skriptorium.« Er nickte dem Kantor zu, der daraufhin das Wort ergriff.
»Bertram, du bist trotz deiner Jugend unser bester Schreiber und hast außerdem ein gutes Auge für die Qualität unserer Schreibstoffe. Ich möchte, dass du die Herstellung der Tinten überwachst und den Einkauf der Pergamente übernimmst. Außerdem sollst du unserem Schulmeister beim Schreibunterricht der jüngsten Schüler zur Hand gehen. Sozusagen als Hilfslehrer. Für die Lehrtätigkeit wirst du natürlich eine Vergütung erhalten.« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Die wirst du auch brauchen.«
Bertrams anfängliche Erleichterung schlug bei den letzten Worten in Besorgnis um. Was sollte das nun wieder? Fragend starrte er den Kantor an, doch der wich seinem Blick aus und sah zum Propst.
Der stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und faltete die Hände. Er blickte Bertram ernst an. »Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich dich habe rufen lassen. Du steckst in Schwierigkeiten. Dein Geldbote ist nicht erschienen. Weder zu Ostern noch an Pfingsten noch jetzt zur Kirchweih.«
Bertram blinzelte. Das war in den fast zwanzig Jahren, die er nun schon im Stift verbracht hatte, noch nie vorgekommen. »Wie, der Bote ist nicht erschienen? Einfach so, ohne Nachricht?«
»Kein Bote, keine Nachricht.« Heinrich machte eine Pause. »Und kein Geld.«
»Und was bedeutet das jetzt?«
»Das bedeutet, dass du praktisch mittellos bist. Das Geld, das uns jährlich für dich geschickt wurde, reichte zwar für deinen Unterhalt und dein Studiengeld, aber größere Rücklagen konnten wir damit nicht bilden.«
»Und was heißt das?«, fragte Bertram noch einmal. Seine Stimme wurde schrill. »Erst sagt Ihr mir, dass ich Meister Konrad vertreten soll. Dann sagt Ihr mir, dass ich nicht einmal mein Schulgeld bezahlen kann. Soll ich gehen? Wollt Ihr, dass ich das Stift verlasse? Aber wohin dann? Ich weiß doch nichts über meine Herkunft!« Sein Blick glitt zwischen den beiden Männern hin und her.
Der Propst hob begütigend die Hände. »Niemand will, dass du das Stift verlässt. Ich habe das Graduale gesehen, das du im letzten Jahr illustriert hast. Es ist außergewöhnlich. Der Kantor sagt, dass ihm in all den Jahren noch niemand untergekommen ist, der so schnell und sorgfältig schreibt wie du und außerdem hervorragend malt. Der Herr hat dich wirklich mit einem seltenen Talent gesegnet.«
Das unerwartete Lob ließ Bertram erröten, konnte ihn aber nicht beruhigen. Mehr als der Verlust des Geldes traf ihn die Erkenntnis, dass nun wieder eine Gelegenheit dahin war, etwas über seine Familie zu erfahren.
Der Kantor wandte sich wieder an ihn. »Wie gesagt kannst du dem Schulmeister beim Unterrichten der neuen Schüler zur Hand gehen. Außerdem haben wir zahlreiche Anfragen zu Schreibarbeiten von außerhalb. Beides wäre mehr als genug, um deinen Aufenthalt und deine weitere Ausbildung zu finanzieren. Wenn du damit einverstanden bist.«
Bertram nickte. »Ja, natürlich bin ich damit einverstanden. Aber …«
Propst Heinrich erhob sich und setzte so ein Zeichen, dass die Unterhaltung für ihn beendet war. »Dann wäre das also geklärt. Und Bertram, bitte vorläufig kein Wort über die Königswahl zu niemandem. Ich werde den Leutpriester anweisen, es am Sonntag vor der Heiligen Messe zu verkünden.«
Bertram nickte gehorsam und stand ebenfalls auf. Fragend sah er zum Kantor, der auf seinem Stuhl sitzen geblieben war. »Geh schon vor«, erwiderte Konrad. »Wir haben noch einiges wegen meiner Reise zu besprechen. Wir sehen uns morgen beim Frühmahl.«
Als sich die Tür hinter Bertram geschlossen hatte, sank Konrad von Mure in seinem Stuhl zusammen und rieb sich die Schläfen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie der Propst zu der Wasserkaraffe ging und zwei Becher füllte. Dankbar ergriff er den gereichten Becher und leerte ihn in einem Zug. Er presste sich das kalte Metall gegen die Stirn.
»Schon wieder die Hemicrania?«, fragte der Propst. »Ihr solltet den Infirmarius aufsuchen, für einen Aderlass.«
Konrad winkte ab. »Ach was, es war nur ein langer Tag.« Er setzte sich wieder aufrecht hin und versuchte, das Pochen in seinem Schädel zu ignorieren. »Und? Was haltet Ihr von unserem neuen König? Überrascht Euch die Wahl?« Er beobachtete den Propst, der sich nicht wieder gesetzt hatte, sondern an sein Schreibpult getreten war und mit dem Tintenhorn spielte. Er ließ sich etwas Zeit, bevor er antwortete.
»Nun, es gab nicht viele Alternativen, oder? Rudolf von Habsburg hat vielleicht nicht das edelste Blut, aber er ist der mächtigste Graf im Südwesten des Reiches, vor allem, nachdem er sich auch das Kiburger Erbe unter den Nagel gerissen hat. Er ist beliebt beim Volk und er ist ein guter und mutiger Feldherr – der Einzige, der Ottokar von Böhmen militärisch gewachsen wäre, sollte es tatsächlich zum Krieg kommen.« Er schwieg einen Moment. »Für Bertram wäre es natürlich einfacher gewesen, die Wahl wäre auf jemand anders gefallen. Oder ein Jahr später erfolgt.«
Konrad runzelte besorgt die Stirn. »Meint Ihr, Rudolf weiß etwas? Oder ist es Zufall – das Ausbleiben der Zahlungen ausgerechnet jetzt?«
Der Propst seufzte. »Dafür kann es viele Gründe geben, wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen. Haltet die Ohren auf, wenn Ihr zur Krönung fahrt. Vielleicht könnt Ihr etwas in Erfahrung bringen.«
»Ich werde es versuchen.« Er warf einen Blick zum Propst, um dessen Stimmung zu erkunden. So gut sie sich sonst verstanden, in einer Sache waren sie seit Jahren uneins. »Meint Ihr nicht, es wäre an der Zeit, Bertram endlich …«
»Nein!«, unterbrach ihn Heinrich in scharfem Ton. »Nur mit der Ruhe. Im November nächsten Jahres wird er volljährig und kann seine Ansprüche geltend machen, bis dahin braucht er nichts zu wissen. Zu seinem eigenen Schutz.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann etwas ruhiger fort: »Vielleicht hätte ich ihm damals den Ring nicht geben sollen. Das hat ihn neugierig gemacht.«
Das stimmt, dachte Konrad bei sich. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte sich Bertram wenig Gedanken über seine Herkunft gemacht. Sie hatten ihm nie verheimlicht, dass er ein Findelkind war, doch solange er seinen Platz im Haushalt des Kantors und seine Bücher hatte, schien er zufrieden zu sein. Aber dann war mit dem Geldboten auch ein silberner Ring gekommen, ein sogenannter Rosenkranzring, wie ihn die Kreuzfahrer gerne trugen. Seitdem hatte sich Bertram verändert. Wieder und wieder hatte er seinen Ziehvater und den Propst gedrängt, ihm endlich etwas über seine Eltern zu erzählen. Doch der Propst war eisern geblieben. Er hatte Bertrams Vater auf die Bibel geschworen, die Herkunft des Jungen bis zu dessen Volljährigkeit geheim zu halten, und er würde dieses Wort nicht brechen. Erst wenn er alt genug war, sein Erbe anzutreten, solle er die Wahrheit erfahren. Irgendwann hatte Bertram aufgehört zu fragen. Doch Meister Konrad wusste, dass ihn das Thema nicht losließ. Manchmal fand er ihn abends im Kreuzgang sitzend, wie er in sich versunken die Perlen des Ringes an seinem Finger abzählte, und der Kantor war sich sicher, dass dabei weder ein »Ave Maria« noch das »Paternoster« seine Gedanken beherrschte. Laut sagte er: »Nun, es ist doch nur natürlich, wenn ein Mensch nach seinen Wurzeln sucht. Ich will versuchen, in Aachen etwas herauszubekommen.«
Zürich, Montag, 25. September 1273, am Gedenktag des Hl. Kleopas
»Herr Bertram, auf ein Wort!« Nur langsam drang Friedrichs Stimme in Bertrams Bewusstsein. Er vollendete ruhig die Zeile und legte die Feder behutsam zur Seite, um den Bogen nicht zu beschmutzen. Dann erst wandte er sich dem Jungen zu, der an Bertrams Pult getreten war und die darauf liegenden Blätter betrachtete. »Wie macht Ihr das nur? So gleichmäßig werde ich nie schreiben können, egal wie viele Stunden mir der Schulmeister aufhalst.« Er schüttelte unwillkürlich die rechte Hand aus und schnitt eine Grimasse. Bertram musste lachen. Friedrich gehörte wahrhaftig nicht zu den Schülern, die sich durch eine schöne Handschrift auszeichneten, daran hatte auch jahrelange Übung nichts geändert. Sein ungelenkes Gekrakel trieb Schulmeister Nicholas regelmäßig zur Verzweiflung und hatte dem Jungen so manche Rutenschläge beschert. Auch heute hatte er ihn dazu verdonnert, nach dem Unterricht länger im Skriptorium zu bleiben und ein paar zusätzliche Übungen zu machen.
»Du wirst es schon noch lernen«, sagte Bertram. »Zeig mal her.« Er griff nach der Wachstafel, die ihm Friedrich hinhielt. »Ach herrje.«
Friedrich sah zu Boden. »Ich weiß auch nicht, warum die Buchstaben zum Ende hin immer kleiner werden«, murmelte er.
Bertram kratzte sich am Kopf. »Damit wird Meister Nicholas nicht zufrieden sein«, sagte er und gab Friedrich die Tafel zurück. »Glätte das Wachs wieder und dann probierst du es noch einmal. Aber vorher bringst du mir die Tafel.«
Als Friedrich wenige Minuten später mit der geglätteten Tafel zurückkam, nahm Bertram das Falzbein, mit dem die Pergamentbögen gefaltet wurden, und drückte es zweimal in daumenbreitem Abstand in das Wachs. »So, und jetzt schreibst du genau zwischen diesen beiden Linien, jeder Buchstabe muss die obere und die untere berühren.« Friedrich hockte sich wieder hin, die Wachstafel auf den Knien, und ritzte langsam Buchstabe für Buchstabe in das Wachs. Vor Anstrengung schnaufte er vor sich hin.
Bertram sah ihm über die Schulter. »Na bitte, das sieht doch schon besser aus.«
Friedrich sah zu ihm auf und ein zaghaftes Lächeln erhellte seine Züge, erlosch aber gleich wieder. »Meister Nicholas wird das mit den Linien aber nicht gefallen.«
»Er wird davon nichts merken. Wenn du das ein paarmal gemacht hast, brauchst du die Linien nicht mehr«, beruhigte ihn Bertram. »Stell sie dir einfach in Gedanken vor. Deine Hand weiß dann ganz von alleine, wie sie den Stilus führen muss.«
»Noch ein paarmal abschreiben?« Friedrichs Stimme rutschte vor Entsetzen in die Höhe. Bertram war versucht, den Jungen gehen zu lassen, doch dann rief er sich selbst zur Ordnung. Schließlich sollte er demnächst den Schreibunterricht übernehmen, da durfte er nicht zu nachgiebig sein. »Wäre es nicht schön für dich, Meister Nicholas’ Unterricht zur Abwechslung einmal ohne Rutenschläge zu überstehen?«
Friedrich seufzte, wischte das Geschriebene wieder aus und begann von Neuem. Die Aussicht, den strengen Schulmeister zu beeindrucken, schien ihn zu motivieren, nach kurzer Zeit lieferte er ein Ergebnis ab, mit dem Bertram zufrieden war.
»Das reicht jetzt, Friedrich, von mir aus kannst du gehen.«
»Danke, Herr Bertram!« Friedrich pfefferte freudestrahlend seine Tafel in die dafür vorgesehene Truhe und polterte die Treppe hinunter. Bertram sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann warf er einen Blick auf die Bögen, die noch immer auf seinem Schreibpult lagen. Durch die lange Unterbrechung war die Tinte am Federkiel eingetrocknet, außerdem war es inzwischen so dämmrig geworden, dass er kaum etwas erkennen konnte. Für heute sollte er es gut sein lassen. Zeit für den Heimweg.
Er stieg die steinerne Treppe hinab, die von der Klausur in den Kreuzgang mündete, und verließ das Kloster über den Seiteneingang neben dem Nordportal. Bevor er nach draußen trat, warf er einen prüfenden Blick nach allen Seiten. In den letzten Wochen war er mehrfach einem Trupp Franziskanermönche begegnet. Sie kreuzten seinen Weg so oft, dass man nicht mehr von Zufall sprechen konnte. Natürlich war die Anwesenheit der Barfüßer auf Zürichs Straßen nichts Ungewöhnliches, schließlich bestritten sie ihren Lebensunterhalt durch Bettelei, doch Bertram schien es, dass sie ihm seit einiger Zeit mehr Aufmerksamkeit schenkten als den anderen Passanten auf der Straße. Besonders einer unter ihnen, ein hagerer Mensch mit eisblauen Augen, fixierte ihn immer so eindringlich, dass Bertram sich vorkam, als sei er die Ausgeburt der Hölle persönlich. Doch jetzt war niemand zu sehen, der schmale Weg durch den Friedhof lag verlassen vor ihm. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu Magister Konrads Haus in der Kirchgasse, in dem Bertram ein Kämmerchen bewohnte. Wie die meisten der höhergestellten Chorherren nahm der Kantor nur noch zu den Gottesdiensten, Chorgebeten und Kapitelversammlungen am gemeinschaftlichen Klosterleben teil und wohnte ansonsten in seinem Privathaus, zusammen mit seiner Konkubine Hedwig Fink und ihren vier gemeinsamen Kindern, von denen zwei schon erwachsen waren. Die lebhafte Atmosphäre dort war für Bertram eine willkommene Abwechslung zu den stillen Stunden im Skriptorium, außerdem war Hedwig eine ganz hervorragende Köchin. Beim Gedanken daran knurrte Bertram schon der Magen, und so beschleunigte er seine Schritte und bog gerade in die Kirchgasse ein, als am oberen Ende der Straße die dunklen Kutten der Franziskanermönche erschienen. »Oh Herr, lass mich die Tür erreichen, bevor sie mich sehen«, stöhnte er, doch sein Flehen wurde nicht erhört.
Die Franziskaner gingen auf Bertram zu und umringten ihn in einem Halbkreis. Der Hagere war auch wieder dabei und fixierte ihn mit einem derartig intensiven Blick, dass es Bertram eiskalt den Rücken hinunterlief. Er wickelte sich fester in seinen Umhang und starrte trotzig zurück. Was wollte dieser Mensch ständig von ihm? Er sah schon ein wenig wahnsinnig aus mit den struppigen Haaren und dunklen Schmutzflecken im Gesicht. Etwas daran kam Bertram vertraut vor, doch löste es bei ihm eher ein unbehagliches Gefühl als eine wirkliche Erinnerung aus, als weigerte sich sein Bewusstsein, eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen ihm und diesem Widerling zuzulassen.
Einer der Mönche schwang die losen Enden seines Cingulums in der Hand, als wollte er ihre Schlagkraft prüfen. Bertram versuchte, zur Seite auszuweichen, woraufhin ihm die schweigende Gruppe geschlossen folgte. Da platzte ihm der Kragen. »Hättet Ihr wohl die Güte, mich vorbeizulassen?«, fuhr er den Hageren an, der direkt vor ihm stand. Dieser trat noch einen Schritt auf Bertram zu, so nah, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. Sein fauliger Atem ließ Bertram zurückweichen.
»Fürchte den Herrn, Jüngelchen, denn der Tag des Herrn der Heere kommt über alles Stolze und Erhabene, es wird erniedrigt werden – der Herr allein ist erhaben an jenem Tag.«
Bevor Bertram etwas erwidern konnte, setzte das Läuten ein, das das Ende der Abendandacht im Grossmünster verkündete. Mit einem letzten verächtlichen Blick auf Bertram setzten sich die Franziskaner in Bewegung und waren verschwunden, bevor die ersten Gläubigen aus der Kirche auf die Straße traten.
Bertram war es, als würde er aus einem bösen Traum erwachen. Kurz bevor der Hagere sich abgewandt hatte, war ein letzter Sonnenstrahl über seine Gesichtszüge geglitten und Bertram war mit einem Schlag klar geworden, was ihm daran so vertraut vorkam. »Aber das kann doch nicht sein«, murmelte er. Wie betäubt starrte er den Franziskanern nach. »Das darf einfach nicht sein. Wahrscheinlich sind meine Augen nur übermüdet.« Er schüttelte sich und setzte dann seinen Weg fort. Wenige Minuten später klopfte er an die Pforte des Chorherrenhauses. Die kleine Elsbeth öffnete ihm und umarmte ihn stürmisch. »Endlich kommst du! Mutter hat die Wildpastete gemacht, die du so gerne magst, und gesagt, wir dürfen erst anfangen, wenn du da bist.«
Nach dem Essen halfen die Mädchen Hedwig beim Abräumen, während die beiden Männer in das Studierzimmer gingen. Konrad ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder, Bertram nahm ihm gegenüber auf einem Scherenstuhl Platz. Die Magd brachte ihnen zwei Becher Würzwein. Die Männer schwiegen eine Weile, es war nur das leichte Knistern der Talglichter zu hören, deren Flammen tanzende Schatten an die Wand warfen. Konrad trank einen Schluck, dann blickte er Bertram direkt an. »So, jetzt raus mit der Sprache. Warum bist du später gekommen? Und warum warst du so still und geistesabwesend beim Abendbrot? Und das nicht zum ersten Mal. Schon seit Wochen habe ich das Gefühl, dass dich etwas belastet. Du bist doch nicht immer noch in Sorge wegen des Schulgeldes? Das haben wir doch geregelt.«
Bertram schüttelte den Kopf und erzählte in kurzen Worten von dem Vorfall auf der Straße.
Konrad runzelte die Stirn. »Hatte der hagere Mönch eine heisere Stimme und außergewöhnlich blaue Augen?«
»Ja, eisblau, mir wurde ganz kalt unter seinem stechenden Blick.«
Konrad seufzte ärgerlich. »Das war bestimmt Bruder Otto, ein Eiferer der übelsten Sorte. Er lebt erst wenige Jahre in Zürich, hat aber einen ungeheuren Zulauf vor allem bei den einfachen Leuten, denen er das Höllenfeuer in glühendsten Farben ausmalt. Wenn unser Leutpriester nur halb so mitreißend predigen könnte, bräuchte er sich nicht bei jeder Kapitelversammlung über sinkende Einnahmen zu beschweren, weil die Leute lieber zu den Bettelmönchen gehen.«
Zum ersten Mal an diesem Abend konnte Bertram lachen. Pfarrer Wellos Predigten waren in der Tat eher einschläfernd, als dass sie reuige Sünder zur Umkehr bewegt hätten. Doch dann gewannen die Gedanken an das Erlebte wieder die Oberhand. »Und woher kommt dieser Otto?«
»Das weiß keiner so genau. Er stammt wohl aus der Gegend um Winterthur und kam zur Zeit der Regensberger Fehde im Gefolge Graf Rudolfs von Habsburg nach Zürich.«
Bertram nickte. Jeder wusste, dass der frisch gekürte König Rudolf seit jeher ein Freund und Förderer des Franziskanerordens war. »Sein Beichtvater ist doch auch ein Barfüßer, oder?«
»Ja, das stimmt. Heinrich von Isny stammt aus einer einfachen Familie, hat es aber inzwischen schon zum Guardian von Luzern gebracht. Rudolf pflegt diejenigen reich zu belohnen, die ihm die Treue halten.«
»Und was will dieser Otto von mir?«
»Schwer zu sagen. Hat er dich denn konkret bedroht?«
Bertram versuchte, sich an die Worte des Franziskaners zu erinnern. »Eigentlich nicht. Er hat irgendetwas vom Jüngsten Gericht gefaselt, ich glaube, es waren Verse aus Jesaja – und dann setzte das Abendläuten ein und die Mönche sind verschwunden.«
Konrad lehnte sich zurück. »Dann war es wohl nur sein übliches Geschwafel, das muss man nicht weiter ernst nehmen. Geh ihm künftig aus dem Weg. Und jetzt lass uns von etwas Angenehmerem reden. Propst Heinrich hat angedeutet, dass Ritter Rüdiger Manesse gerne seine Bibliothek ergänzen möchte, entweder mit einer Weltchronik oder einem dieser neuen Romane, ›Tristan‹ oder ›Parzival‹. Und er möchte nicht nur eine Abschrift, sondern ein bebildertes Exemplar. Er überlegt noch, den Auftrag eventuell an den Stadtschreiber zu geben, aber wenn es um Miniaturen geht, bist du sicher die bessere Wahl. Also lass uns ein Konzept entwickeln, mit dem wir ihn überzeugen können. Ich möchte das gerne vor meiner Abreise erledigt wissen.«
Bertram war sofort Feuer und Flamme. Das war doch etwas anderes als das übliche Kopierwerk. Bilder in einem weltlichen Roman, davon hatte er noch nie gehört! Der Ratsherr musste gut betucht sein, um sich solchen Luxus leisten zu können. Geschmückte Initialen wie in einem Psalter, Federzeichnungen, vielleicht sogar echte Miniaturen – vor Bertrams innerem Auge tauchten unzählige Möglichkeiten auf. Eifrig begann er, seine Überlegungen auf einem alten Pergamentbogen zu skizzieren. Die Zeit verging wie im Flug, bis sich Konrad gähnend erhob. »Ich muss ins Bett. Bitte mach die Kerzen aus, bevor du schlafen gehst.« Bertram nickte und wartete, bis der Meister das Zimmer verlassen hatte. Dann trat er an Konrads Schreibtisch und ergriff den polierten Dolch, den dieser zum Aufbrechen von Wachssiegeln benutzte. Er schob eine Haarlocke zur Seite und betrachtete sich in der spiegelnden Klinge. Denn es gab etwas, was er Konrad nicht erzählt und ihn mehr erschüttert hatte als Ottos bedrohliches Gefasel. Als der Mönch so dicht an Bertram herangetreten war, hatte dieser erkannt, dass die vermeintlichen Schmutzflecke im Gesicht des Franziskaners Muttermale waren. In der Abenddämmerung war ihm besonders ein tropfenförmiger brauner Fleck an Ottos Ohrläppchen aufgefallen. Erst hatte er es nicht wahrhaben wollen, doch jetzt gab es keinen Zweifel: Im Spiegel erblickte er einen Leberfleck von genau der gleichen Form an seinem eigenen Ohrläppchen.
Zürich, Montag, 9. Oktober 1273, am Gedenktag des Hl. Dionysius
Es war Viehmarkt in Zürich und seit den frühen Morgenstunden strömten die Menschen aus der Umgebung in die Stadt. Grobschlächtige Bauern trieben rücksichtslos ihre von Ochsen gezogenen Karren durch die Menschenmenge, die einfachen Hörigen schleppten ihre Waren auf Buckelkörben mit sich. Zerlumpte Betteljungen nutzten die Gunst der Stunde, stibitzten im Vorbeigehen Äpfel oder Rüben von den Wagen und verschwanden im Gewühl, während die Verwünschungen der Geprellten nutzlos hinter ihnen verhallten. Eine Gauklertruppe, deren bunte Gewänder sich deutlich von den grauen und braunen Kitteln der Bauern abhoben, versuchte mit ihrem Flötenspiel den Klangteppich aus rumpelnden Wagenrädern, blökenden Schafen und gackernden Hühnern zu übertönen. Auf der Straße vermengte sich die Abwasserbrühe aus den Häusern mit den Hinterlassenschaften der Vierbeiner zu einem übel riechenden Schlamm, in dem man besser nicht ausrutschte. Überall herrschten ein unglaubliches Gedränge und ein infernalischer Lärm. Fides hatte Mühe, ihre Mutter nicht aus den Augen zu verlieren, die wie ein schwarzes Schlachtschiff unbeirrt durch die Menge steuerte. Endlich blieb sie stehen und sah sich um.
»Fides, wo bleibst du denn? Gleich ist Ottos Predigt vorbei!«
»Ich komm ja schon!« Fides schlängelte sich eilig durch das Gewühl und hakte sich außer Atem bei ihr ein. »Ist es wegen Pater Otto so voll? Das hätten wir sonntags im Barfüßerkloster bequemer haben können.«
»Was du heute kannst besorgen … Außerdem willst du ja nie mit zu den Barfüßern – du gehst ja lieber zu den feinen Pinkeln vom Grossmünster!«
Fides presste die Lippen zusammen. Nicht schon wieder die alte Leier! Kurz darauf hatten sie den Rindermarkt erreicht. Er war voll von Menschen. Eine krächzende Stimme erhob sich über dem Gemurmel der Menge. Ihre Mutter geriet in helle Aufregung. »Hab ich’s dir nicht gesagt, jetzt hat er schon angefangen!«
Fides stellte sich auf die Zehenspitzen, doch in dem Meer von Rücken und Hinterköpfen vor ihr konnte sie Otto nicht erkennen.
»Los, lass uns versuchen, weiter nach vorne zu kommen, damit wir ihn wenigstens besser hören können!« Ihre Mutter packte sie am Arm und drängelte sich durch die Massen.
»He, was soll das!«, schimpfte eine alte Frau, der Fides versehentlich auf den Fuß trat. »Steh halt früher auf, wenn du was sehen willst!« Sie versetzte Fides einen kräftigen Stoß in die Seite. Fides biss die Zähne zusammen. Dann hatten sie es tatsächlich geschafft, sich bis in die erste Reihe vorzukämpfen. Nun sah sie den stadtbekannten Prediger mit eigenen Augen. Er stand auf einem Weinfass und hob gerade beide Arme, um die Zuhörer zum Schweigen zu bringen. Auf den ersten Blick fand Fides ihn nicht sehr beeindruckend. Ein hagerer Franziskanermönch in einer grauen Kutte, die schon bessere Tage gesehen hatte. Das grobe Sackleinen war mehrfach geflickt und starrte vor Schmutz, genauso wie die struppigen Haare des Mannes. In einer ausgewachsenen Tonsur standen sie nach allen Seiten ab und umrahmten seinen Kopf wie ein düsterer Heiligenschein. Er wandte den Kopf in ihre Richtung. Kalte hellblaue Augen trafen sie. Instinktiv drückte sie sich enger an ihre Mutter, doch sein Blick glitt schon weiter.
»Meine lieben Brüder und Schwestern!«, begann Otto. »Es freut mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Ich hatte schon keine Hoffnung mehr, in dieser verderbten Stadt noch ehrliche Menschen zu finden. Menschen, denen Gottes Gebote nicht egal sind. Aber das alleine ist nicht genug. Bloß weil ihr hier steht, habt ihr noch lange nicht das Seelenheil.« Mahnend erhob er den Zeigefinger. »Zuhören alleine reicht nicht, ihr müsst auch handeln!« Sein Blick glitt wieder über die Menge. »Aber wie könnt ihr Gottes Wohlgefallen erlangen?«
Fides wollte unwillkürlich die Lider senken, fühlte sich aber zugleich magisch angezogen.
»Nun, das ist ganz einfach: indem ihr eure Aufgaben erfüllt. Und damit ihr eure Aufgaben auch erkennt, hat unser Herr alles auf der Erde mit Weisheit geordnet. Die Bauern, Schlachter und Bäcker sorgen für unsere Nahrung, die Schneider und Schuster für unsere Kleidung, die Fürsten und Ritter für unseren Schutz. Alles ist nach einem göttlichen Plan geordnet. So wie in unserem menschlichen Körper die Gliedmaßen bestimmte Aufgaben erfüllen, so hat Gott jedem von uns seine Aufgabe zugewiesen. Und doch gibt es Menschen, die sich dem göttlichen Plan widersetzen. Die glauben, ihre eigenen Pläne seien weiser als die des Allmächtigen! Aber wo kämen wir denn hin, wenn auf einmal die Hände sagen würden: ›Nein, wir wollen nicht mehr greifen, wir wollen lieber laufen!‹ Und die Füße schreien: ›Wir haben jetzt lange genug die Last des ganzen Körpers getragen, wir wollen lieber Ohren sein.‹ Und der Arsch würde beschließen, ein Mund zu sein – ein schöner Mund, aus dem nur Scheiße quillt!« Vereinzelte Lacher erklangen, doch eine Handbewegung Ottos brachte sie sofort zum Schweigen. »Alles würde in Unordnung geraten und zugrunde gehen!« Plötzlich blieb sein Blick an einem Mann hängen, der schräg gegenüber an einer Hauswand lehnte. Sein Gewand aus gutem Wolltuch war mit Pelzbesätzen und Stickereien verziert. »Bist du nicht Johann von dem Stege, der Gerber vom Niederdorf?« Bei der Erwähnung seines Namens horchte Fides auf. Sie kannte ihn, das war Meister Johann, der reichste Gerber am Ort und langjähriger Freund ihres Vaters. Er sah Otto abwartend an. Dieser maß ihn abschätzig von Kopf bis Fuß und fuhr dann fort: »Du kannst dich noch so herausputzen und mit kostbarem Pelz behängen, an deinem von Gott bestimmten Los änderst du nichts. Selbst wenn du dich kleidest wie ein Graf, so bleibst du doch nur ein Gerber, der stinkende Häute wäscht.« Fides schnappte vor Schreck nach Luft. Der Gerber spuckte aus und wandte sich zum Gehen. Der feiste Bäcker neben ihm mit der mehlbestäubten Schürze lachte auf und klatschte in die Hände.
»Du brauchst gar nicht zu lachen, Meister Wackerbold, bist doch kein Stück besser!«
Die schneidende Stimme des Mönches ließ den Bäcker erröten. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mann! Und freigebig! Habe ich für Euch und Eure Mitbrüder nicht immer ein Stück Brot übrig, wenn Ihr an meinem Laden vorbeikommt?«
»Jaja, das hast du«, erwiderte Otto mit sanfterer Stimme. Er wandte sich an die Umstehenden: »Wir alle wissen doch, wie freigebig dieser gute Bäcker ist … vor allem mit der billigen Gerwe, die er reichlich unter das teure Mehl mischt, damit der Laib schön groß wird.«
Höhnisches Gelächter klang aus der Menge. Auch Fides musste lachen. Wackerbold war in der Tat bekannt für seine hohlen Brote. Schon mehrmals hatte er sich vor dem Rat für die schlechte Qualität seiner Waren verantworten müssen. Wie ein geprügelter Hund schlich der Bäcker davon.
Otto blickte wieder in die Runde. »Und ihr, die ihr so schadenfroh lacht – geht in euch und prüft, ob ihr wirklich ohne Schuld seid! Ihr denkt doch auch nur an den eigenen Vorteil! Betrügt, wo ihr könnt, und seid auch noch stolz darauf!«
Fides versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Der Pater konnte doch nicht jeden Bürger kennen? Wenn er den Gerber kannte, dann vielleicht auch ihren Vater – am Ende würde er sie auch noch vor allen Leuten abkanzeln. Doch der Blick des Franziskaners ging über sie hinweg in die Ferne. Sie hörte die Leute hinter sich murmeln und tuscheln, spürte, wie Bewegung in die Menge kam. Verwundert drehte sie sich um.
Von der Brunnengasse her näherte sich ein Trupp Geistlicher in kostbaren Gewändern. Zwei Knechte bahnten ihnen mit groben Faustschlägen und Tritten einen Weg durch das Gedränge.
Otto lachte triumphierend auf. Er wies mit ausgestreckten Armen auf die Gruppe. »Und hier kommen die Allerschlimmsten! Nach außen hin schwingen sie fromme Reden, doch ihre Seelen sind verderbt bis ins Mark. Nur heran mit Euch, Ihr Ausbund an Scheinheiligkeit!«
Fides reckte den Hals, doch es standen zu viele Leute vor ihr, um jemanden zu erkennen. Die Menschen wichen vor den Knechten zurück, sodass eine schmale Gasse entstand, welche die Chorherren direkt an Otto vorbeiführen würde. Als diese den Franziskaner erblickten, beschleunigten sie ihre Schritte. Besonders dem Vordersten war anzusehen, dass er keinen Wert auf eine Begegnung mit Otto legte. Doch die Leute standen viel zu dicht, für jeden Mann, den die Knechte zur Seite stießen, rückten zwei weitere nach. Notgedrungen blieben die Kanoniker stehen, ihr Anführer blickte dem hageren Mönch hochmütig entgegen.
Otto verzog seine Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Sieh an, Wello, der frisch gebackene Plebanus des Münsters! Warum bist du nicht in deiner Kirche und spendest den Gläubigen Trost und Rat? Ach ja, dafür hast du deine Helfer! Du palaverst lieber mit den gelehrten Predigern. Das Seelenheil deiner Gemeinde ist dir egal!«
»Was erdreistet Ihr Euch!«, schimpfte der Pleban, doch Otto wandte sich bereits wieder an die Menge. »Die Ordensleute sollen den Menschen ein gutes Vorbild sein mit Demut, Barmherzigkeit und Güte, mit Keuschheit, Fasten und Frömmigkeit.« Mit ausgestrecktem Arm wies er auf die Kanoniker: »Sieht so ein Vorbild an Demut und Frömmigkeit aus?«
»Bestimmt nicht!«, rief ein dürrer Lumpensammler und zustimmende Rufe wurden laut. »Sie tragen unsere mühsam vom Mund abgesparten Opferpfennige um ihre feisten Hälse!« Ein Halbstarker riss Wello die Pelzmütze vom Kopf und warf sie hoch in die Luft.
»Gib das sofort wieder her!« Der Pleban stieß ein paar höchst unchristliche Verwünschungen aus. Einer der Knechte versuchte vergeblich, die Kopfbedeckung zu erhaschen. Doch die war längst zum Spielball der Leute geworden, die sich johlend darum balgten, bis die Mütze auf den schlammigen Boden fiel. Der Knecht hob sie auf und überreichte sie seinem Besitzer.
Angewidert betrachtete Wello den durchnässten Pelz. Dann raffte er seinen Mantel um sich und maß Otto mit einem bitterbösen Blick. »Ihr seid ein Aufrührer und Volksverhetzer! Ich werde Euch beim Bischof anzeigen! Dann sind Eure Tage hier in Zürich gezählt!«
Ottos Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ihr wagt es, den Bischof ins Spiel zu bringen?«, zischte er. »Ihr Kanoniker seid doch armselige Heuchler! Eure Aufgabe ist es, durch ständiges Gebet die Seelen der Toten vor der Hölle zu bewahren. Aber was tut ihr? Nur gegen klingende Münze erscheint ihr überhaupt zum Chorgebet oder besucht die Sterbenden.«
»Das ist eine infame Lüge! Ich werde Euch das Maul stopfen!«, kreischte Wello. Er gab seinen Knechten ein Zeichen, die daraufhin ihre Knüppel vom Gürtel nahmen und langsam auf Otto zukamen. Doch immer mehr Leute bildeten einen Ring um den Pater, sodass für die Knechte kein Durchkommen war. Gleichzeitig begannen andere Zuhörer, die Kanoniker zu stoßen und zu schlagen, ein paar Vorwitzige versuchten sogar, ihnen die Pelzkrägen vom Mantel zu reißen. Schimpfend und zeternd ergriffen die Geistlichen die Flucht, begleitet von den Schmährufen der aufgebrachten Menge. Als sie ihre Herren davonrennen sahen, ließen auch die Knechte von Otto ab und folgten ihnen schleunigst.
»Da seht ihr mal, wie viel Standfestigkeit diese Hasenfüße haben«, höhnte Otto. »Aber lasst sie laufen, ihr guten Leute, sie sind es nicht wert, dass ihr euch versündigt. Lasst sie gehen, Gottes Strafgericht werden sie nicht entkommen!«
»Es stimmt, was Pater Otto gesagt hat!«, rief ein altes Mütterchen direkt neben Fides. »Meinen Mann haben sie ohne Segen sterben lassen!« Seine zittrige Stimme trug kaum zwei Klafter weit, doch Otto verschaffte der Frau sofort Gehör.
»Hört, ihr Leute, was uns diese Frau zu sagen hat!« Er nickte ihr aufmunternd zu.
Die Alte knetete ihre Hände und begann zu sprechen. »Es war im letzten Winter. Mein Mann hatte das Lungenfieber und der Medikus hat gesagt, dass es zu Ende geht. Ich habe nach dem Leutpriester geschickt für die letzte Ölung, aber er wollte nicht kommen.« Ihre Stimme versagte. Dann fasste sie sich wieder und fuhr fort: »Er wollte nicht kommen, weil ich den Pfennig nicht hatte. Der Herr erbarme sich meiner, was konnte ich tun? Wir sind einfache Leute, ich hatte schon kein Geld für den Arzt. Und so ist mein Mann ohne Beichte und Segen gestorben – und jetzt schmachtet seine Seele womöglich auf ewig im Fegefeuer.« Sie begann zu schluchzen. Otto betrachtete sie mitleidig.
»Weine nicht, meine Tochter, wir alle werden für die Seele deines Mannes beten!« Er wandte sich wieder an die Menge. »Ihr habt gehört, was dieser unglücklichen Frau widerfahren ist. Lasst uns unsere Kräfte bündeln! Wir müssen die Seele ihres armen Mannes aus dem Fegefeuer erlösen! Im gemeinsamen Gebet sind wir stark. Gelobt ihr, für seine Seele zu beten?«
»Wir geloben es!«, skandierte die Menge.
Otto nickte zufrieden. »Gott wird unsre Gebete erhören, denn der Herr ist barmherzig.«
»Der Herr ist barmherzig«, klang es aus vielen Kehlen zurück.
»Der Herr ist barmherzig gegenüber denen, die in aufrichtiger Reue zu ihm flehen. Geht in euch, tut Buße, betet fleißig, und der Herr wird euch in Gnade aufnehmen. Dass uns das alles zuteilwerde, dazu verhelfe uns Gott der Allmächtige. Amen.«
»Amen«, erwiderte die Menge. Fides sah Otto von der Tonne klettern. Die Leute zerstreuten sich. Ihr war es, als würde sie aus einem Traum erwachen. War es schon vorbei? Sie wollte sich zum Gehen wenden, doch ihre Mutter hielt sie zurück. »Vater Otto, habt Ihr einen Moment Zeit? Ich möchte Euch meine Tochter vorstellen, Fides.«
Der Pater kam auf sie zu. Seltsam, dachte Fides. Wie kann in so kalten Augen ein solches Feuer lodern? Sie erschauerte unwillkürlich und murmelte einen Gruß.
Der Mönch betrachtete sie prüfend. »Fides heißt du also, mein Kind. Da hast du ja einen bedeutsamen Namen. Fides bedeutet Treue, Glaube, Beständigkeit – passt das zu dir, Fides?«
Fides schwieg verwirrt. Ihre Mutter antwortete für sie: »Ja, Pater, sie ist ein gutes Mädchen, genau wie die Heilige Fides, an deren Namenstag sie geboren ist.«
Otto machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jede Mutter hält ihr Kind für unfehlbar. Aber der Satan ist überall und seine Macht ist groß!« Dann richtete sich sein Blick wieder auf Fides. »Ich glaube, ich habe dich noch nie in meinem Gottesdienst gesehen …«
»Oh, sie geht regelmäßig zur Messe, Bruder Otto«, stammelte ihre Mutter, »nur wohnen wir im Pfarrsprengel des Grossmünsters, deshalb geht sie meist mit ihrem Vater …«
Mörderischer Zorn flammte in Ottos Augen auf. »Du lässt deine Tochter ins Grossmünster gehen? Zu Wello und seinen verderbten Klerikern, die nur Habgier und Wollust kennen?« Er fuhr zu Fides herum. »Soso, du gehst also gerne ins Grossmünster. Aber tust du das wirklich, um Gottes Wort zu hören? Vergisst du deinen Glauben nicht, wenn schöne Klänge und Wohlgerüche deine Sinne vernebeln? Denk daran: Unser Herr Jesus hat keine kostbaren Gewänder getragen, wenn er zu seinen Jüngern gesprochen hat.«
Fides spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Da gab es doch einen Vers, den sie oft in der Sonntagsmesse gebetet hatte. Fast von allein entschlüpften die Worte ihrem Mund: »Laudate eum in psalterio et cithara.«
Otto schien es für einen Moment die Sprache zu verschlagen. Dann fasste er sich wieder. »Sieh an«, höhnte er, »ein junges Mädchen, das den Psalter zitieren kann. Weißt du denn auch, was du da daherplapperst?«
Fides reckte trotzig das Kinn. »Lobet den Herrn mit Gesängen und Lautenklängen. Meister Konrad, der Kantor, hat es mir erklärt.«
»Der Kantor hat es ihr erklärt! Hat er dir vielleicht noch mehr –« Er machte eine kurze Pause. »– erklärt, der Herr Kantor? Und wieso pflegt der Herr Kantor Umgang mit jungen Mädchen? Reicht ihm seine Kebse nicht mehr? Fides, der Verstand eines Weibes ist nicht dazu gemacht, die Heilige Schrift zu begreifen. Das führt nur zu Irrglauben und Ketzerei. Luzifer hat dann leichtes Spiel.«
Fides holte tief Luft. Doch bevor sie etwas sagen konnte, griff ihre Mutter sie heftig am Arm.
»Fides, das reicht jetzt! Widersprich dem Pater nicht!«
Otto betrachtete sie stirnrunzelnd. »Fides, ich lese Trotz und Verstocktheit in deinen Augen. Demut und Einsicht würden dir besser zu Gesicht stehen. Aber ich bin gerne bereit, dich auf den rechten Weg zu führen.« Er wandte sich an ihre Mutter: »Martha, du bringst sie das nächste Mal mit, wenn du zur Beichte kommst. Man muss die Saat des Bösen zertreten, bevor sie zu keimen beginnt.« Damit ließ er die beiden Frauen stehen und ging davon.
Fides sah ihm entgeistert nach. Der konnte doch nicht einfach so bestimmen, wo sie zur Beichte ging! Sie riss sich von der Mutter los. »Das also ist dein barmherziger Wunderprediger? Mich schaudert es schon, wenn er mich nur ansieht!«
»Ja, weil du insgeheim weißt, dass er recht hat. Du hast Angst, für dein sündiges Verhalten in die Hölle zu kommen!«
»Welches sündige Verhalten denn? Weil ich gerne die Messe im Grossmünster besuche? Mutter, das kann nicht dein Ernst sein!«
Sie ließ ihre Mutter stehen und machte sich mit raschen Schritten auf den Weg ins Niederdorf. Daheim eine Fuhre Brennholz hacken war genau das, was sie jetzt brauchte.
Zürich, Niederdorf, Montag, 16. Oktober 1273, Gedenktag des Hl. Gallus
Bertram konnte sein Glück kaum fassen: Der Ratsherr Rüdiger Manesse hatte den Auftrag für die Romansammlung tatsächlich dem Münster-Skriptorium gegeben, mehr noch, er hatte ausdrücklich den Wunsch geäußert, die Texte von Bertram schreiben zu lassen. Und weitere Aufträge in Aussicht gestellt, sollte dieser zu seiner Zufriedenheit ausfallen. Und jetzt war Bertram zusammen mit Friedrich auf dem Weg ins Niederdorf, um beim besten Pergamenter der Stadt Pergamentproben auszusuchen. Meister Konrad war zur Königskrönung nach Aachen aufgebrochen und hatte daher Bertram mit dieser Aufgabe betraut. In die Vorfreude mischte sich auch etwas Aufregung. Der Kantor war recht heikel, was die Qualität der Schreibstoffe anbelangte, und hatte diese bisher immer höchstpersönlich ausgesucht. Natürlich war Bertram durch seine Tätigkeit im Skriptorium auch mit den Materialien vertraut und Meister Konrad hatte ihm zudem genauste Instruktionen erteilt, aber es war doch etwas anderes, die Verhandlungen mit dem Pergamenter allein zu führen. Wenn er sich nur nicht blamierte! Trotzdem fühlte Bertram sich so frei und unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Er atmete tief ein und sog die frische Herbstluft in seine Lungen. Es war ein schöner Herbstmorgen, der Frühnebel hatte sich verzogen und die Sonne besaß schon wärmende Kraft.
Sie passierten eine Reihe schmaler Steinbauten, die sich dicht an dicht an der Oberen Münstergasse aneinanderdrängten, als versuchten sie, sich gegenseitig den begrenzten Raum streitig zu machen. Die Lage in unmittelbarer Nähe zur Kirche war sehr begehrt, hier wohnten einige der höhergestellten Chorherren, aber auch Angehörige der Meliores, der vornehmen Rats- und Rittergeschlechter der Stadt. Etliche Gebäude wiesen in den Obergeschossen bereits die moderne spitzbogige Fensterform auf und farbige Wappenfriese zeugten von der edlen Herkunft ihrer Bewohner. Vor dem Hof des Propstes war eine Magd dabei, die Stufen zu fegen, und nickte ihnen im Vorbeigehen freundlich zu. Sie liefen an den Chorherrenhöfen vorbei über den Salzmarkt. An der Ecke zum Rindermarkt erhob sich der prächtige Wohnturm des Ratsherrn Ulrich, an dem, wie immer in den letzten Jahren, gebaut wurde. Von der Brotlaube an der Niederen Brücke zog der köstliche Duft frisch gebackenen Brots herüber. Bertram hörte, wie Friedrichs Magen vernehmlich knurrte. Belustigt sah er zu ihm hinunter. »Hast du denn nichts gefrühstückt?«
»Doch, aber das ist schon eine Ewigkeit her. Und wenn ich das rieche, habe ich sofort wieder Hunger.«
Bertram zögerte. Bei dem köstlichen Duft lief ihm selbst das Wasser im Mund zusammen. Aber dann gab er sich einen Ruck. »Weißt du was? Wir sehen zu, dass wir möglichst schnell unseren Auftrag erledigen, dann können wir auf dem Rückweg bei der Brotlaube vorbeigehen.«
Friedrich nickte erfreut und beschleunigte seine Schritte.
Je weiter sie flussabwärts kamen, desto bescheidener wurden die Häuser, nur ab und an war wenigstens das Untergeschoss der schmalen Holzbauten gemauert. Gänse und Hühner liefen frei zwischen den Häusern herum und ein paar Schweine wühlten im Unrat. Bertram bedauerte, nicht seine Trippen mitgenommen zu haben. Ohne die hölzernen Unterschuhe konnte er nur hoffen, dass die dünnen Ledersohlen seiner Stiefel der schlammigen Nässe standhielten. Selbst die Luft hatte sich verändert, ein stechender Geruch waberte von der Limmat her. Friedrich rümpfte die Nase. »Meine Herrn, hier stinkt’s aber ganz schön.«
»Das kommt von den Gerbereien«, bemerkte Bertram, der stehen geblieben war und sich suchend umsah. »Hier muss es sein.« Sie standen vor einem mittelgroßen Haus, über dessen gemauertem Erdgeschoss sich noch ein hölzernes Stockwerk erhob. Neben dem geöffneten Portal hing ein Lunellarium, das halbmondförmige Schabeisen der Pergamenter. Sie traten durch das Tor und gelangen rechter Hand in einen großzügigen Ladenraum. Ein breiter hölzerner Tresen teilte den Raum in zwei Hälften. Der schmale vordere Teil, in den sie eingetreten waren, war mit frischem Stroh ausgestreut. Im größeren hinteren Teil hingen über zahlreichen Holzböcken Pergamenthäute in unterschiedlichen Größen und Farbschattierungen. Zwei große Weidenkörbe neben dem Tresen enthielten Pergamentschnipsel, wie man sie zum Buchbinden oder für kurze Urkundentexte verwendete. Regalbretter an den Wänden trugen kleinere Körbe und Schachteln, die sorgfältig beschriftet waren. Bertram kniff die Augen zusammen. »Bimsstein« entzifferte er und »Kreide«. Erstaunlich, offensichtlich konnten der Pergamenter und seine Angestellten lesen und schreiben. Die ganze Werkstatt wirkte sehr sauber und aufgeräumt. Bertram begriff, warum der Kantor hier bevorzugt einkaufte. Doch wo war der Pergamenter? Bertram ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf einem großen Holztisch in einer Ecke lag ein mit diversen Werkzeugen beschwerter Pergamentbogen und ließ vermuten, dass hier vor Kurzem noch jemand gearbeitet hatte. Dieser jemand war offensichtlich gerade damit beschäftigt, heruntergefallenes Material vom Boden zu klauben, jedenfalls war unter dem Tisch ein wohlgeformter Hintern in einem dunklen Leinenkleid zu sehen, der sich geschäftig hin und her bewegte. Bertram räusperte sich. Die Gestalt unter dem Tisch fuhr erschrocken empor und knallte mit dem Kopf gegen die Platte. Ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren tauchte unter dem Tisch hervor, die kastanienbraunen Locken von einer leichten Haube gebändigt. Es hielt sich den Kopf und kam langsam auf die Füße.
»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken.« Bertram registrierte rosige Wangen mit schelmischen Grübchen.
»Schon gut, nicht Eure Schuld.« Das Mädchen zupfte sein Kleid zurecht und wischte sich die staubigen Hände an der Schürze ab. »Womit kann ich Euch behilflich sein?«
Bevor Bertram antworten konnte, öffnete sich die Hintertür und ein Mann mittleren Alters betrat den Laden. »Fides, mein Kind, ich vergaß, dir zu sagen, dass heute jemand vom Grossmünster vorbeischaut …« Er unterbrach sich. »Ah, ich glaube, die Herrschaften sind schon da.«
»Guten Morgen, Meister Hermann. Mein Name ist Bertram, ich soll Pergamentproben für das Grossmünster auswählen. Und das ist Friedrich, einer meiner Schüler.« Bertram schubste Friedrich nach vorne, der eine linkische Verbeugung machte.
»Seid Ihr ein neuer Lehrer?« Der Pergamenter musterte ihn prüfend. »Üblicherweise kommt Meister Konrad doch selber, er ist hoffentlich nicht krank?«
»Nein, er ist nach Aachen gereist, zur Krönung. Ich arbeite im Skriptorium und soll bis zu seiner Rückkehr einige Proben besorgen.«
Der Meister lächelte. »Dann hält Meister Konrad wohl große Stücke auf Euch, wenn er Euch die Vorauswahl zutraut. Ich nehme an, bei solch aufwendigen Vorarbeiten geht es nicht nur um Urkunden, sondern um einen Codex? Was soll es denn werden? Ein Psalterium? Oder etwas Größeres, eine Bibel oder gar ein Graduale?«
»Nein, diesmal soll es eine Sammlung höfischer Romane werden, ›Tristan‹ und ›Parzival‹, eventuell noch andere.«
Der Pergamenter hob überrascht die Augenbrauen. »Übernimmt das Grossmünsterskriptorium jetzt auch solche Aufträge?«
Bertram kratzte sich am Hinterkopf. »Äh, ja, seit Kurzem.« Er bemerkte eine Bewegung an seiner Seite. Das junge Mädchen kam näher heran und blickte ihn erwartungsvoll an. Schon wieder diese Grübchen! Bertram sah schnell zu den Pergamentständern. Der Meister folgte seinem Blick. »Und an welche Größe hattet Ihr gedacht – gewöhnliches Folioformat?«
»Ja, dazu hat Meister Konrad nichts gesagt – was würdet Ihr denn empfehlen?«
Der Pergamenter lächelte und gab seiner Tochter ein Zeichen.
Sie hob einen Bogen helles Pergament von einem der Holzböcke und zeigte es Bertram. »Hier ist eine kleine Schafshaut.« Sie faltete den Bogen einmal. »Jetzt haben wir ein Folioformat. Das reicht gut für zwei oder drei Textspalten. Denn wenn Ihr zwei oder gar mehr Romane in einem Band unterbringen wollt, solltet Ihr ein mehrspaltiges Format wählen, sonst wird das Buch zu dick zum Binden.« Sie drückte Bertram das Pergament in die Hand und schob eine widerspenstige Locke zurück, die sich aus der Haube gelöst hatte.
»Für ein Mädchen kennt die sich aber gut aus!« Friedrichs offensichtliche Bewunderung brachte den Meister und seine Tochter zum Lachen. Bertram tat so, als hätte er nichts gehört, und konzentrierte sich auf den Bogen. Er rieb das Pergament vorsichtig zwischen den Fingern. Die Oberfläche fühlte sich samtig an und doch gleichmäßig glatt. Darauf ließ sich bestimmt gut schreiben.
»Ihr könnt gerne eine Schreibprobe machen, wenn Ihr wollt.« Als hätte sie seine Gedanken erraten, ergriff die Tochter des Pergamenters wieder das Wort. Sie wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern wühlte in dem Korb mit den Reststücken herum, bis sie ein kleines Stück Pergament von der gleichen Qualität gefunden hatte. Das legte sie vor Bertram auf den Tresen, lief dann zu einem Regal im Hintergrund und kehrte kurz darauf mit einem gefüllten Tintenhörnchen und einem Federkiel zurück. Sie stellte alles auf dem Tresen ab, tunkte die Feder in die Tinte und malte langsam Buchstaben für Buchstaben auf das Blatt. Mit geröteten Wangen sah sie zu Bertram empor. »Seht Ihr? Die Feder lässt sich leicht führen und die Tinte verläuft nicht – probiert es selbst!« Sie hielt Bertram die Feder hin. Automatisch griff er danach. Für einen Wimpernschlag berührten sich ihre Finger. Hastig rückte er von ihr ab und tunkte die Feder in das Tintenhörnchen. Er schrieb ein paar Zeilen. Die Feder glitt wie von selbst über den Bogen. Er legte den Kiel aus der Hand und sah zu dem Pergamenter auf. »Ihr habt wirklich sehr gute Ware.«
Der Mann lächelte leicht. »Wisst Ihr denn schon, was für eine Sorte Ihr benötigt? Ziege, Schaf oder Kalb?«
Bertram geriet ins Schwitzen. Schon wieder so eine Frage. Er versuchte, sich an Meister Konrads Instruktionen zu erinnern. Der Pergamenter kam ihm zu Hilfe. »Was für eine Ausstattung soll das Buch denn haben? Soll es Miniaturen enthalten?«
»Nein, nur farbige Initialen, höchstens ein paar Federzeichnungen.«
»Gut, dann können wir dünne Pergamente gleicher Stärke nehmen, von Schaf oder Ziege. Bei farbigen Miniaturen hätte ich sonst das dickere und rauere Kalbspergament für die Bildseiten vorgeschlagen, besonders, wenn auch Blattgold aufgetragen werden soll.«
Bertram nickte zustimmend. »Das Grossmünster besitzt ein paar Schafherden bei Schwamendingen, da könnten wir Euch Häute zur Verfügung …« Ein lautstarkes Grummeln unterbrach ihn. Bertram warf einen entgeisterten Blick auf Friedrich, der verlegen grinste und sich den Bauch hielt.
Der Pergamenter schmunzelte. »Fides, ich glaube, du solltest den jungen Mann mit in die Küche nehmen und ihm etwas zu essen besorgen, bevor er uns hier noch vom Fleisch fällt.« Fides öffnete den Mund, wie um zu protestieren, doch ihr Vater hatte schon die Hintertür geöffnet und winkte seine Tochter und Friedrich hinaus.
Bertram wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, doch der Meister winkte ab. »Jungs in dem Alter sind immer hungrig, mein Geselle Rudolf war früher genauso. Lasst uns lieber ohne Ablenkung weitermachen.« Der Meister legte Bertram weitere Bögen vor und begann, ihm ausführlich die Vor- und Nachteile der einzelnen Pergamentsorten und Formate darzulegen. Bertram merkte schnell, dass er es nicht nur mit einem echten Fachmann zu tun hatte, der Meister war mit der gleichen Leidenschaft bei der Sache wie er beim Schreiben. Nach einer Weile eifrigen Diskutierens einigten sie sich auf fünf Proben, die Bertram Meister Konrad vorlegen wollte. Auf einem Wachstäfelchen skizzierte der Pergamenter eine Schätzung des Materialverbrauchs und der zu erwartenden Kosten. Kaum hatten sie die Arbeit beendet, öffnete sich leise die Hintertür und Friedrich schlüpfte herein.
Bertram sah ihm entgegen. »Du kommst gerade recht, wir sind soeben fertig geworden.« Er versuchte, durch den Türspalt zu blicken. Das Mädchen war offenbar nicht mit zurückgekommen.
Friedrich wandte sich an den Meister: »Ich soll Euch von Eurer Frau ausrichten, dass sie Eure Tochter jetzt in der Küche braucht.« Er drehte sich zu Bertram um. »Die machen nämlich gerade Latwerge, die schmeckt vorzüglich, ich durfte probieren!«
»Das ist nicht zu übersehen«, erwiderte Bertram trocken, »dein halbes Gesicht hängt noch voll Mus. Mach dich mal ein bisschen sauber, so kannst du nicht auf die Straße.«
Friedrich fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wischte mit dem Ärmel nach. »Besser?«
»Hinnehmbar«, erwiderte Bertram und drückte ihm die Pergamentrollen in die Hand.
Dann verabschiedete er sich von dem Pergamenter. »Ich danke Euch sehr für Eure Zeit. Wir geben dann Bescheid, sobald wir uns entschieden haben.«
Er verließ mit Friedrich die Werkstatt und trat durch die Toreinfahrt auf die Straße. Sie waren kaum ein paar Schritte weit gekommen, als sie hinter sich eine helle Stimme rufen hörten. »Herr Bertram, Herr Bertram, wartet doch!«
Überrascht blieb Bertram stehen und drehte sich um. Die Tochter des Pergamenters kam ihnen hinterhergelaufen. Sie schwenkte etwas in ihrer Hand – das Wachstäfelchen, auf dem der Pergamenter die Berechnungen gemacht hatte. Bertram stieg das Blut zu Kopf. Wie dumm von ihm, er hatte es liegen lassen! Sie streckte ihm das Täfelchen entgegen. »Verzeiht, mein Vater hat vergessen, es Euch mitzugeben.« Bertram sah sie verdutzt an. Dann griff er hastig zu und verstaute das Wachstäfelchen in seiner Gürteltasche. »Ich hätte ja auch daran denken können. Danke, dass Ihr Euch die Mühe gemacht habt.« Er lächelte ihr zu.
Sie senkte die Lider. »Das war keine Mühe«, erwiderte sie leise. Sie schwiegen beide.
Ein scharrendes Geräusch an seiner Seite brachte Bertram wieder zur Besinnung. Er warf einen ärgerlichen Blick zu Friedrich, der mit der Schuhspitze Muster in den Straßenschmutz zeichnete. »Friedrich, hör auf damit, du verdirbst ja die Schuhe!« Dann wandte er sich wieder an Fides. »Jetzt müssen wir aber wirklich gehen. Danke für Eure Hilfe!« Er nickte ihr noch einmal zu, griff Friedrich am Arm und zog ihn mit sich die Straße hinauf. Obwohl er sich nicht umwandte, war er sich sicher, dass sie ihm hinterherblickte.
Zürich, Pergamenterhaus, Freitag, 10. November 1273, am Tag vor Martini
Fides verstaute die Töpfe mit Latwerge sorgfältig in einem geräumigen Korb.
»Stopf ein wenig Stroh in die Lücken, damit sie nicht aneinanderstoßen.« Fides’ Mutter bewachte ihr Tun mit Argusaugen. »Und vergiss nicht, Mechthild schöne Grüße von mir auszurichten.«
»Ja, Mutter«, erwiderte Fides.