Der Clan der Wölfe 6: Sternenseher - Kathryn Lasky - E-Book + Hörbuch

Der Clan der Wölfe 6: Sternenseher Hörbuch

Kathryn Lasky

4,7

Beschreibung

Faolan und seine Wolfs- und Bärenfreunde sind unterwegs in ein Land namens "Fernes Blau". Sie hoffen, dort bessere Lebensbedingungen vorzufinden als in den Hinterlanden, die durch Erdbeben und ewigen Winter unbewohnbar geworden sind. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse, und ein gefährlicher Verfolger ist ihnen dicht auf den Fersen: Faolans Gegenspieler Heep, der auf Rache sinnt ... Band 6 der abenteuerlichen Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Kathryn Lasky!

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:3 Std. 48 min

Sprecher:Stefan Kaminski
Bewertungen
4,7 (17 Bewertungen)
12
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe© 2016 Ravensburger Verlag GmbHCopyright © 2013 by Kathryn Lasky. All rights reserved.Published by Arrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012 USADie Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Wolves of the Beyond. Star Wolf bei Scholastic Press.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Übersetzung: Ilse RothfussRedaktion: Franziska JaekelUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Dominic WilhelmVerwendete Fotos von Straublund/Getty Images, Igor Sokolov/Shutterstock, Baldas 1950/Shutterstock und Anton Kudelin/ShutterstockVorsatzkarte: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47704-3www.ravensburger.de

Eine lange Wanderung geht zu Ende – eine Reise, die ohne meine Lektorin und Navigatorin Rachel Griffiths nicht möglich gewesen wäre.K.L.Cambridge, MAOktober 2012

Als Faolan die ersten Schritte auf der Eisbrücke machte, drehte er sich noch einmal um und schaute zum „Letzten Bau“ zurück. Das war der Unterschlupf, in dem er mit seinen vierzehn Reisegefährten geschlafen hatte. Acht erwachsene Wölfe, drei Wolfswelpen, zwei Bärenjunge und eine Maskenschleiereule purzelten hastig aus der Öffnung hervor. Auch sie warfen einen letzten Blick auf den einzigen Kontinent, den sie je gekannt hatten – die Hinterlande. Ihre alte Heimat war zerstört, denn nach der großen Hungersnot waren die Erdbeben gekommen. Nur wenige hatten überlebt. Nun war es dem silbernen Wolf Faolan bestimmt, das kleine Trüppchen, das er um sich versammelt hatte, in eine bessere Zukunft zu führen.

Voller Sehnsucht blickten sie nach Osten, doch ihr Weg führte sie in die entgegengesetzte Richtung. Und im Westen war nur endloses Weiß. Dort lag das Gefrorene Meer mit der Eisbrücke, die sich wie ein umgestülpter Halbmond in die Ferne wölbte. Die Brücke ruhte auf dicken Eispfeilern und stieg an einigen Stellen steil an. Der Gedanke, auf der glatten Fläche auszurutschen und auf das Eis hinunterzukrachen, war entsetzlich. Manchmal schwang die Brücke sich auch in die Tiefe und verlief dicht über den dunklen Tümpeln im Meereis. An diesen Stellen war das Eis aufgebrochen und Wasser ausgetreten.

Wie lange die Brücke wohl schon da war?Und würden sie auf die Spuren anderer Geschöpfe stoßen, die bereits hinübergewandert waren? Auf Huf- oder Pfotenabdrücke? Wie sollte auf dieser Brücke jemals etwas wachsen? Alles wirkte so kahl, so lebensfeindlich. Aber Faolan wusste von Gwynneth, die viele Jahre in den Nordlanden gelebt hatte, dass die Eulen kleine Nager im Eis fanden. Lemminge, Schneemäuse und Felshörnchen, die so ähnlich wie Streifenhörnchen aussahen. Eulen konnten eine Weile davon leben, doch Wölfe brauchten mehr.

Das Ende der Brücke verschwand im Nichts, so wie die fernen Ufer des Meeres. Dieses Nichts, dieses gleißende Nichts, setzte ihm am meisten zu.

Faolan wollte einen Befehl bellen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Was wusste er schon von der neuen Welt, in die er seine Freunde führte? Ein Land über dem Wasser, wo sie neue Jagdgründe finden und in Sicherheit leben konnten. Das war alles. Und der Weg dorthin, die Eisbrücke über der riesigen Leere, war ungewiss. Wer konnte sagen, ob die Brücke – dieser schmale, schimmernde Halbmond – bis zu dem neuen Kontinent hinüberreichte, der nur als blauer Dunst erkennbar war? Gab es Spalten in der Brücke? Und wenn ja, wo würde ihre Reise enden? Die erwachsenen Wölfe konnten schwimmen. Aber die Welpen lernten es erst als Jährlinge und auch nur im ruhigen Sommerwasser der Flüsse. Die Brücke war am Anfang ziemlich breit, konnte aber jederzeit schmaler werden oder gar abbrechen. Dann saßen sie irgendwann in einem Meer aus schmelzenden Eisschollen fest. Und was dann?

Am meisten jedoch quälte Faolan die Angst, eines der Jungtiere zu verlieren. Diese Sorge verfolgte ihn Tag und Nacht. Die Jungen waren das Mark des Lebens auf diesem neuen Kontinent, ihr wertvollster Besitz. Aber ihnen blieb keine Wahl. Sie mussten nach vorn blicken, trotz aller Gefahren. In den Hinterlanden gab es kein Leben mehr für sie. Sie mussten auf ihr Glück vertrauen.

Endlich brachte Faolan ein kraftvolles Heulen zustande. „Aaaahuuuuu! Gaaruuuu!“ Es war der Ruf des Spitzenwolfs, der einen Byrrgis zusammentrommelt. Und er bedeutete: „Versammelt euer Mark.“

Faolan sah, wie seine Gefährten einen letzten Blick auf das Land hinter ihnen warfen, ehe sie die Eisbrücke betraten. Was ging wohl in diesem Moment in ihren Köpfen vor?

Myrr hielt den Blick die ganze Zeit auf seine Pfoten gerichtet, während er hinter Edme herlief. Faolan hatte ihnen eingeschärft, nie zurückzuschauen, nicht ein einziges Mal. Der Weg über die Brücke war gefährlich. Wenn sie nicht aufpassten, konnten sie leicht ausrutschen und hinunterfallen. Immer auf der Hut sein, hatte Faolan gesagt. Aber Myrr hatte sowieso keine Lust, zurückzuschauen. Hinter ihm lagen nur schreckliche Erinnerungen. Er war auf die schlimmste Art entwöhnt worden, die man sich nur denken konnte. Nicht weil seine Mutter gestorben war. Das wäre die zweitschlimmste Art gewesen. Nein, es war etwas anderes passiert. Myrr schauderte bei dem bloßen Gedanken daran. Seine Mutter und sein Vater hatten ihn verlassen. Sie hatten ihn mit leeren Augen angestarrt wie einen Felsen oder ein Stück Holz, ein welkes Grasbüschel, einen Schlammklumpen. Dann hatten sie ihm den Rücken gekehrt und waren einfach fortgegangen.

Myrr schüttelte sich, um die Vorstellung aus seinem Kopf zu verbannen. Er ging weiter, immer in Edmes Fußstapfen.

Edme lauschte angestrengt. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu hören, dass Myrr direkt hinter ihr war. Wie Faolan sorgte sie sich um die Jungtiere. Die Vorstellung, eines zu verlieren, machte ihr viel mehr zu schaffen als die Angst vor dem Unbekannten. Der kleine Welpe hinter ihr war das Wichtigste in ihrem Leben. Edme hatte ihn aufgenommen und zum Kreis der Heiligen Vulkane getragen, nachdem seine Eltern ihn verlassen hatten. Der Fengo Finbar hatte ihn „Myrrglosch“ genannt. In der alten Wolfssprache bedeutete das „kleines Wunder“. Und ein Wunder war es wirklich, dass er ohne seine Eltern überlebt hatte. Eltern, die dem Skaarswahn verfallen waren und ihr eigenes Junges im Stich gelassen hatten.

Viele Wölfe erlagen diesem Wahn, als die Hungersnot ihren Höhepunkt erreichte. Die Skaarswölfe gaben jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf, verloren ihren Überlebenswillen und verfielen in eine unheilbare Todessehnsucht. Der Wahn machte sie blind für ihre eigenen Gefährten, ihre Jungen und ihre Pflichten als Rudelwölfe. Sie vergaßen alle geheiligten Wolfstraditionen. Alles, wofür die Wölfe der Hinterlande gekämpft und gelebt hatten. Auch Myrrgloschs Eltern hatte der Wahn blind gemacht.

Edme, die von Geburt an um ihr Überleben kämpfen musste, brachte kein Verständnis dafür auf. Wie Faolan war sie ein Malcadh gewesen, eine „Verfluchte“, ein verkrüppeltes Junges. Nach den Gesetzen der Hinterlandwölfe wurden die Malcadh nach der Geburt ausgesetzt. Wenn sie am Leben blieben, konnten sie als Knochennager in den Clan zurückkehren. Dort lebten sie am Rande der Wolfsgesellschaft, verachtet und misshandelt. Es gab nur eine Hoffnung für sie: die Gaddernag-Spiele zu gewinnen. Dann durften sie als Gardewölfe im Kreis der Heiligen Vulkane dienen, ein nobles und angesehenes Amt.

Edme spürte ein Ziehen, das nicht von ihrer Angst um die Jungen kam. Eine namenlose Traurigkeit überfiel sie. Nie wieder würde sie die tanzenden Feuer des Vulkankreises sehen, die Flammenzungen der Krater, die hell in den Nachthimmel aufloderten. Darin hatte eine solche Schönheit gelegen, besonders während der Fallwinde, die das Innere der Vulkankegel aufwühlten. Die warme Luft über den Kraterflammen hatte ihren Spähsprüngen ungeheuren Auftrieb verliehen. Manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, sie könnte höher hinaufschießen als die Gluteulen, die über den Funkenregen hinwegflogen und sich tollkühn in die Tiefe warfen. Von den Kraterhängen holten sie die heißeste Glut herauf, die Rumser. Die Aufgabe der Wölfe bestand darin, die Grimalkin fernzuhalten, räuberische Eulen, die manchmal über dem blubbernden Vulkankessel schwebten, um die heilige Hoole-Glut zu stehlen.

Edme wusste, dass die meisten ihrer Reisegefährten mit bangen Gefühlen über die Eisbrücke gingen. Nicht nur wegen der Gefahren, die vor ihnen lagen, sondern weil sie alles hinter sich ließen, was ihnen vertraut war. Obwohl das Leben in den Hinterlanden für die meisten von ihnen hart gewesen war. Der Pfeifer hatte als verachteter Knochennager gedient, so wie Faolan und Edme. Aber im Gegensatz zu seinen beiden Freunden hatte er es nie geschafft, in den Vulkankreis zu kommen. Caila, die zweite Milchgeberin von Dearlea und Mairie, war in der Hungersnot dem Skaarswahn erlegen. Später war sie dem Scheusal Heep in die Hände gefallen, der sie sich zur Gefährtin genommen hatte. Caila hatte ihm einen Sohn geboren, den kleinen Abban. Die Sorge um ihr Junges hatte sie wieder zur Vernunft gebracht und sie war mit ihm geflohen. Ihr guter Stern hatte sie zu Faolan und seinen Freunden geführt. Die beiden Bärenjungen Burney und Toby hatten ihre Mutter verloren, die den blutrünstigen Clanlosen zum Opfer gefallen war. Und Gwynneth hatte nicht nur ihre zerstörte Schmiede zurückgelassen, sondern auch die Knochen ihrer ältesten Freundin, der Sark vom Sumpfmoor. Aber was blieb ihnen anderes übrig? Sie waren alle in derselben verzweifelten Lage.

Das Eis unter Edmes Pfoten fühlte sich ungewohnt glitschig an und sie drehte sich rasch zu Myrrglosch um.

„Myrrglosch, mein Lieber. Siehst du, wie ich meine Zehen ins Eis kralle?“

„Ja.“

„Das musst du auch machen, damit du festen Halt bekommst, verstehst du? Wir müssen uns Eisbeine zulegen.“

„Ja“, sagte Myrrglosch leise und bohrte seine Zehen tiefer ins Eis.

„Wenn du willst, trage ich dich in meinem Maul.“

„Nein! Ich bin doch kein Milchwelpe“, protestierte Myrrglosch empört.

Und das hier ist auch kein Welpenbau, dachte Edme. Ganz im Gegenteil! Sie blickte auf die schimmernde Brücke hinaus. In der Ferne nahm sie eine leichte Erhebung wahr. Von hier sah es aus wie ein kleiner Buckel, aber das konnte eine Täuschung sein. Wahrscheinlich war der Buckel viel höher und steiler. Und wie sollten sie dann hinüberkommen?

Drei Tage, nachdem Faolan und seine Freunde ihre ersten zögernden Schritte auf der Eisbrücke gemacht hatten, stand ein gelber Wolf am Rand des Westlichen Meeres. Er scharrte aufgeregt am Boden und sein Mark begann zu sieden. Sie waren hier! Sie war hier! Wie konnten sie es wagen! Eine blinde Wut schoss in ihm auf.

Heep hatte den „Letzten Bau“ entdeckt und darin den Geruch von Aliac und ihrem Sohn aufgespürt. Aber nicht nur das. Er hatte auch Faolans unverwechselbaren Pfotenabdruck entdeckt. Das Spiralmuster darin war noch erkennbar, obwohl Faolans Spreizpfote in der Großen Heilung gerade geworden war. Heep selbst war ja auch kein Malcadh mehr. Die Prophezeiung des guten Königs Hoole hatte sich erfüllt. Wenn die Glut befreit ist, bricht die Zeit der Großen Heilung an. Alles Krumme wird wieder gerade, fehlende Ohren, Augen oder Schwänze wachsen nach, Löcher in der Kehle schließen sich. Und tatsächlich, direkt nach dem Großen Erdbeben, das den Vulkankreis zerstört und die Glut befreit hatte, war Heep ein Schwanz gewachsen.

Heep hatte einst als Knochennager im MacDuncan-Clan gedient. Sein Herz war voller Hass und Groll gewesen. Und er hatte das schlimmste Verbrechen begangen, das ein Rudelwolf sich nur denken konnte. Um Faolan in ein schlechtes Licht zu setzen, hatte er ein unschuldiges Malcadh auf grausame Weise ermordet. Wegen dieser Untat (und vielen anderen) hatte ihn das Clan-Oberhaupt in die Frostlande verbannt. Dort hatte Heep sich mit den Clanlosen zusammengetan und war bald ihr Anführer geworden. In der schlimmsten Hungersnot hatte er Caila in seine Gewalt gebracht. Normalerweise hätte er die verletzte Wölfin getötet und aufgefressen, wie die anderen Clanlosen es machten, wenn sie auf halb verhungerte Skaarswölfe trafen. Aber im letzten Moment bezähmte Heep seine Blutgier, denn er hatte Besseres mit der Wölfin vor, die einst eine angesehene Wendewache im Carreg-Gaer-Rudel des MacDuncan-Clans gewesen war. Er nahm sie in seine Rotte auf, gab ihr den Namen Aliac (die Umkehrung von Caila) und machte sie zu seiner Gefährtin. Doch Caila war irgendwann wieder zu Sinnen gekommen und mit ihrem Jungen geflüchtet.

Heep blinzelte in die Schwärze. Hinter ihm färbte das erste Morgenrot den Himmel, aber im Westen war alles noch dunkel und unheimlich. War Faolan mit seinem Gefolge wirklich über diese Eisbrücke gegangen? Die Spuren deuteten darauf hin. Heep spürte ein Beben in seinem Mark. Um seine Angst zu überspielen, hielt er den Schwanz höher. Die anderen durften ihm nicht den geringsten Zweifel anmerken. Seine Rotte war gewachsen – in letzter Zeit war noch ein gutes Dutzend neuer Wölfe zu ihnen gestoßen. Heep war immer noch ihr Anführer. Sollte er sich mit seiner Rotte auf diese Brücke wagen? Dort draußen warteten seine beiden Erzfeinde. Ihr Geruch lockte ihn vorwärts. Eine wilde Gier nach ihrem Blut, ihrem Fleisch, überwältigte ihn und er malte sich aus, wie seine Fänge ihre Muskeln zerfetzten.

Das Oberhaupt der MacDuncan hatte ihn verbannt, aber in Wahrheit war Faolan an allem schuld. Er hatte Heep aus den Hinterlanden vertrieben. Und Aliac, diese Verräterin! Heep hatte sie zu seiner Gefährtin gemacht und sie hatte ihm einen Sohn geboren. Aber dann war sie einfach mit dem Welpen abgehauen. Eine schlimmere Kränkung hätte sie Heep nicht zufügen können und bei dem bloßen Gedanken daran kochte sein Blut. Das schrie nach Rache. Er würde Faolan töten, seinen Sohn zurückfordern und Aliac zerfleischen. Diese undankbare Wölfin. Aliac. Er spuckte auf den Boden, als er in Gedanken ihren Namen aussprach. Sie nannte sich jetzt anders. Calla oder Caila. Er wusste es nicht mehr genau. Aber egal – diese Wölfin war so gut wie tot.

Edme behielt Recht mit ihrer Befürchtung. Die leichte Erhebung, die sie vor drei Tagen entdeckt hatte, war kein harmloser kleiner Buckel. Die Brücke wurde immer steiler und ragte schließlich als hoher, zerklüfteter Eiswall vor ihnen auf. Dahinter folgten zwei weitere Eiswälle, die das Marschtempo der Wölfe erheblich bremsten. Sie waren durch Risse entstanden, die im Eis aufgebrochen waren und sich in den Sommermonden mit Wasser gefüllt hatten, um dann erneut zu gefrieren. Das überfrorene Eis warf sich auf und das Eis auf der anderen Seite presste dagegen. Auf diese Weise entstanden Druckspalten – und je stärker der Druck war, desto höher wurde der aufgeworfene Überhang.

Gwynneth flog voraus und führte die Gefährten um einige Kämme herum, wenn sie einen Einschnitt darin entdeckte. Aber oft blieb ihnen nichts anderes übrig, als über die zerklüfteten Eiswälle zu klettern. Faolan tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Kämme immer noch besser waren als tiefe Spalten, in die sie hineinstürzen konnten. Trotzdem war es ein mühsames Gehen.

Am dritten Tag auf der Brücke waren sie bereits auf vier Eiskämme gestoßen. Ein steifer Wind fegte über die Gefährten hinweg, die Faolan in einer krummen Linie folgten. Er konnte nur hoffen, dass vor ihrem nächsten Halt nicht mehr allzu viele Hindernisse auftauchen würden.

Aber die Kämme hatten auch Vorteile. Erstens wimmelte es darin von Lemmingen, sodass sie genug Nahrung fanden. Zweitens boten sie Schutz gegen den Wind, wenn die Freunde sich zum Schlafen niederlegten. Als nun die Sonne hinter ihnen aufging und einen zarten rosa Schimmer über die vereiste Landschaft warf, sah der Weg vor ihnen eben aus.

Faolan hob den Kopf, um nach Gwynneth Ausschau zu halten.

„Wie sieht es aus?“, heulte er zu ihr hinauf.

Gwynneth blinzelte in den verblassenden Himmel. „Ich … ich …“ Sie zögerte einen Augenblick. „Von hier aus sieht es ziemlich eben aus.“ Ihr Muskelmagen krampfte sich leicht zusammen.

„Nur ziemlich?“, rief Faolan.

„Ähm …“

Im selben Moment zerschnitt ein Windstoß die Luft wie ein scharfer Dolch. Faolan japste laut. Einen solchen Überfall hatte er noch nie erlebt – es war, als würde ihm das Fell vom Rücken gerissen. Aus dem Augenwinkel nahm er einen winzigen, flauschigen Welpen wahr, der hilflos im Wind taumelte. Abban! Der Kleine kämpfte sich einen Augenblick tapfer vorwärts, aber dann fegte ihn der Wind zum Rand der Eisbrücke. Er geriet erneut ins Taumeln und klammerte sich mit aller Kraft fest. Trotzdem glitten seine Pfoten ab …

Es war wie in Faolans schlimmsten Albträumen. Verzweifelt kämpfte er sich zu Abban vor, aber der Wind stemmte sich ihm wie eine Mauer entgegen. Ein schriller Angstschrei zerschnitt die Luft und der kleine Welpe wirbelte auf ein dunkles Schmelzloch im Eis unter der Brücke zu.

„Abban!“, heulte seine Mutter.

Gwynneth legte eine scharfe Kehrtwende ein und schoss hinunter, um den Welpen abzufangen.

Großer Glaux! Die Eule kam zu spät. Sie sah gerade noch, wie der arme Kleine in das dunkle Wasserloch fiel.

„Er ist fort!“, kreischte Gwynneth. Vor Schreck begannen ihre Flügel zu blockieren.

Wehe, du kriegst jetzt die Flügelstarre, alte Närrin. Untersteh dich!, fluchte Faolan im Stillen. Nicht jetzt. Aber was sollte Gwynneth schon tun? Ihm erstarrte ja selbst das Mark.

Da standen sie, am Rand der Brücke, gelähmt vor Angst. Schweigend starrten sie auf das Loch im Eis, das sich immer weiter ausdehnte. Das grüne Wasser glänzte dunkel wie ein flüssiges Auge mitten im Eis. Caila stieß ein ersticktes Heulen aus, als saugte sie mit letzter Kraft die Luft ein, die ihr ertrinkender Sohn nicht mehr atmen konnte. Gwynneth überwand endlich ihre Flügelstarre und segelte dicht über der Wasserfläche dahin, um nach dem Welpen auszuspähen.

Wie lange kann er unter Wasser überleben? Faolan spürte, wie seine eigene Lunge sich zusammenzog. Er hatte das Maul zugeklappt und zu atmen vergessen.

„Nein, Caila!“, keuchte er, als er sah, dass Caila sich ins Wasser werfen wollte. Zum Glück waren Dearlea und Mairie zur Stelle und rangen Caila zu Boden. Verzweifelt hielten sie ihre Milchmutter fest, damit sie ihrem Sohn nicht hinterherspringen konnte. Der Wind hatte inzwischen gedreht. Wenn Caila aus dieser Höhe hinuntersprang – am steilsten Abschnitt der Brücke –, würde sie sich sämtliche Knochen brechen.

Caila heulte jämmerlich. Zu viel Zeit war schon vergangen. Abban, ihr geliebtes Junges, konnte nicht mehr am Leben sein.

Abban wusste selbst nicht, was ihn dazu gebracht hatte, noch einmal tief einzuatmen, bevor er von der Brücke gestürzt war. Wahrscheinlich hatte er das Maul aufgerissen, um zu schreien, und stattdessen Luft geschluckt. Jetzt trudelte er sachte durch das Wasser. Eine Eiseskälte drang ihm in sein Fell bis unter die Haut und er ballte seine Klauen fest zusammen.

Mir erfrieren noch die Augäpfel, dachte er. Ich kann die Augen nicht zumachen. Mein Herz wird auch erfrieren. Und danach mein Blut.

Da er die Augen nicht schließen konnte, riss er sie noch weiter auf. Das Wasser war wie ein neuer, flüssiger Himmel mit silbernen Blasen statt Wolken. Kleine Fische schwammen vorbei, lautlos und gespenstisch. Als Nächstes tauchte ein seltsamer Unterwasservogel mit leuchtend orangefarbenem Schnabel auf. Der Vogel schwamm auf ihn zu. Abban streckte seine Pfote aus und berührte sanft sein komisches Clownsgesicht. Der Vogel blinzelte und Abban hätte gern zurückgeblinzelt.

Allmählich ging ihm die Luft aus. Und während seine Lunge sich zusammenzog, schwamm ein riesiger Fisch auf ihn zu. Was war das für ein grässlicher Dolch, der ihm da aus dem Kopf wuchs? Aber Abban war zu verzweifelt, um sich zu fürchten.

Er spürte, wie ihn etwas anschubste, dann stieg er zur Oberfläche auf. Im nächsten Moment brach sein Kopf aus dem Wasser hervor und er konnte endlich Luft holen.

Luft, dachte er. Himmelsduft. Soll ich dich zu atmen wagen? Will ich? Darf ich? Ich kann’s nicht sagen …

Dann packte ihn etwas am Nackenfell und er wurde aus dem Wasser gerissen. Gwynneth trug ihn in die Luft, immer höher hinauf. Aber Abban fühlte nur Schmerz, als er aus dem flüssigen Element an die Luft zurückkehrte. Am besten, sie verpufft, diese langweilige Luft.

Die Wölfe auf der Brücke hielten den Atem an, als Gwynneth plötzlich ihre Flügel einfaltete und im Steilflug auf das Wasserloch hinunterschoss. Es war aber nicht die Flügelstarre, wie sie befürchtet hatten, sondern ein Beuteanflug-Manöver. Nur wollte Gwynneth diesmal nicht töten, sondern ein Leben retten. Als sie wieder auftauchte, hing ein triefendes Bündel in ihren Krallen. Es hätte ein Klumpen Seetang sein können oder ein Fisch. Aber es war Abban, der Wolfswelpe, Sohn von Caila.

„Abban“, bellte Caila, als Gwynneth das Wolfsjunge auf dem Boden absetzte. Abban blickte zu ihr auf. Er zitterte so heftig, als wollte er seine Glieder abschütteln. Wasser tropfte an ihm herab und er sah nur halb so groß aus wie sonst, denn ihm klebte das Fell am Körper. Er hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem Wolfsjungen. Dann blinzelte er ein paarmal, als wollte er ausprobieren, ob seine Augenlider sich noch bewegten. Tiefe Verwirrung lag in seinem Blick.

„Abban?“ Caila kauerte sich neben ihn. „Du bist gestürzt, mein Kleiner“, flüsterte sie. „Aber jetzt ist alles gut.“ Der letzte Satz klang mehr wie eine bange Frage. „Ich wärme dich im Pfotenumdrehen auf.“ Dann leckte sie ihn eifrig. Mairie und Dearlea stürzten herbei, um ihr zu helfen, und nach einer Weile ließ das Zittern nach.

„Abban, kannst du sprechen?“, fragte Caila. „Sag doch was zu mir.“

Er sah sie an, aber sein Blick war immer noch leer.

Mairie hörte auf zu lecken und kauerte sich vor ihm nieder. „Abban – ich bin’s, Mairie. Deine Schwester.“

Abban schwieg immer noch. Aber das Licht in seinen Augen wurde heller und das Zittern hörte auf. Endlich öffnete er sein Mäulchen und quiekte: „Das ganze Meer hast du abgeleckt von mir!“

„Er hat gesprochen!“, jubelte Caila, aber dann verstummte sie. Abbans Stimme hatte so traurig geklungen.

„Sprechen will ich, ja“, wisperte er. „Um euch zu sagen, der Zahn war da. Er hat mich gestoßen aus dem Meer, sonst wäre ich am Leben nicht mehr.“

„Was redet er denn da?“, fragte Mairie.

„Ich weiß nicht“, murmelte Dearlea. „Aber es klingt … irgendwie komisch.“

„Nein, überhaupt nicht“, fauchte Caila. „Meinem Welpchen geht es gut. Er ist völlig in Ordnung.“

Dearlea brachte Abban einen Lemming, den er mit großem Appetit verspeiste. Als er fertig war, ging Edme vorsichtig zu ihm und fragte ihn, ob er jetzt weitermarschieren könne. Abban warf ihr einen seltsamen Blick zu. Seine Augen weiteten sich, als hätten sie das wässrige Grün der Meerestiefen angenommen, in die er hinabgesunken war.

„Bist du bereit? Meinst du, wir können jetzt weitergehen?“, wiederholte Edme.

„Bin ich bereit? Allein, zu zweit?“ Der kleine Welpe hielt inne und grübelte über Edmes Frage nach, dann erwiderte er in einem seltsamen Singsang: „Vorwärts müssen wir gehen – oder zu Staub verwehen.“

Caila blinzelte ihren Sohn an. „Kannst du das noch mal sagen, Abban?“

„Noch einmal, sagst du? Es sei dir gewährt. Ein Geschenk hat dir das Wasser beschert.“

Die anderen warfen sich betroffene Blicke zu. Warum redete Abban so seltsam?

Schließlich trat Katria vor. „Ich glaube, Abban kann jetzt weitergehen, nicht wahr, Herzchen?“

Diesmal nickte der kleine Wolf ernst und sagte kein einziges Wort.

Die Dämmerung brach an. Faolan blickte zum Himmel auf und spähte nach Molgith aus, dem ersten Stern der Leiter, die zur Himmlischen Höhle der Seele führte. Aber in diesem Teil der Welt war alles anders, auch die Sternbilder. In den Hinterlanden waren die Sterne zuverlässig aufgegangen und hatten ihre Position im Lauf der Jahreszeiten verändert, immer in der erwarteten Weise. Hier schien das nicht der Fall zu sein. Faolan fragte sich einen Augenblick, ob die schweren Erdbeben nicht nur das Land, sondern auch den Himmel erschüttert hatten. Hatten sich die vertrauten Sternbilder aus ihrer Verankerung gerissen? Aber das war natürlich Unsinn. Komisch nur, dass Beezar ihnen nach Westen gefolgt war. Der blind umherstolpernde Wolf erschien sonst nie um diese Jahreszeit am Himmel. Faolan schauderte. Es war kein gutes Zeichen, dass der alte Stolperwolf das einzige vertraute Sternbild war, das sie auf ihrer Reise begleitete.

„Passt auf die Welpen und die Bärchen auf“, bellte er. „Behaltet sie dicht bei euch.“

Caila nahm Abban in ihr Maul und trug ihn wie einen Milchwelpen, der zum ersten Mal den Welpenbau verließ. Die beiden Bärenjungen waren viel größer als die Welpen, drängten sich aber trotzdem Schutz suchend zwischen Airmid und Katria, die beiden großen, starken Wölfinnen aus dem berühmten MacNamara-Clan. Und Banja trug ihre winzige Maudie im Maul, so wie Caila ihren kleinen Sohn.

Maudie zappelte in ihrem Griff. „Aber Mama“, schrie sie empört. „Ich bin doch kein Milchwelpe mehr.“

Banja schnaubte nur – ein Schnauben, das Bände sprach.

Edme dachte an die alten Zeiten im Vulkankreis. Damals war Banja ein anderer Wolf gewesen – eine missgünstige, mürrische Kreatur. Ständig hatte sie auf Edme herumgehackt. Wer hätte gedacht, dass die rote Wölfin jemals eine so liebevolle Mutter werden könnte? Maudies Geburt hatte sie verwandelt. Es war, als sei Banja selbst neu zur Welt gekommen.

Unermüdlich liefen sie weiter. Faolan blickte alle paar Schritte über die Schulter, um nach den Jungtieren zu sehen. Sobald Wind aufkam, bellte er den Befehl „Wrychtong!“, was auf Altwölfisch „Runterducken!“ bedeutete. Die anderen wunderten sich über das altertümliche Wort. Das war doch keine gesprochene Sprache. Solche Ausdrücke kamen höchstens noch in den feierlichen Sätzen der alten Wolfsgesetze vor, die alle Bereiche des Lebens regelten und vor undenklicher Zeit in die heiligen Schnitzknochen geritzt worden waren.

Für Edme hingegen hatte Altwölfisch plötzlich einen neuen Klang. Oder ist es wirklich eine uralte Sprache?, dachte sie. Wieder schoss der heftige Schmerz in ihre Hüfte. Sie packte den Knochen noch fester, den sie immer bei sich trug. Auch der Schmerz in ihrer Hüfte und in ihrem Kiefer war wie ein Echo aus längst vergangener Zeit. Was hatte es nur damit auf sich? Sie drehte den Kopf und schaute zu Faolan, der ihren Blick auffing.

Sie spürt es auch, dachte er. Sie nimmt meine Gyr-Seelen wahr, wenn auch nur dunkel. Aber wie nur? Wie konnte Edme wissen, dass noch andere Leben in ihm schlummerten – Leben so alt wie die Zeit? Faolan war schließlich nicht nur der silberne Wolf der Hinterlande, sondern ein Gyr-Wolf. Die Spreizpfote hatte ihn zum Malcadh gemacht, aber die kreisenden Linien gaben ihn als Gyr-Seele zu erkennen.

Bevor er Faolan wurde, hatte er als Eo gelebt, in der Gestalt eines Grizzlybären. Und vor Eo war er Fionula gewesen, eine Schnee-Eule, nicht männlich, sondern weiblich. Doch sein allererstes Leben, seine allererste Seele war die eines Wolfs gewesen. Nicht die Seele eines gewöhnlichen Wolfs, sondern die von Fengo. Unter diesem Namen hatte er ein halb verhungertes Wolfsrudel aus dem Fernen Blau ins Land der Langen Kälte im Osten geführt und von dort in die Hinterlande. Eine Wanderung, die er jetzt in umgekehrter Richtung zurücklegte. Als Fengo war er eine Legende geworden, das erste Oberhaupt des Heiligen Vulkankreises. Sein Name war zu einem hohen Amt geworden, dem höchsten der Wolfsgesellschaft. Und dieses Amt hatten zahllose weitere Fengos im Lauf der Jahrhunderte geerbt.

Aber die Geschöpfe, die er jetzt ins Ferne Blau zurückführte, ahnten nichts von diesen Dingen – außer vielleicht Edme.

All das ging Faolan durch den Kopf, während er Edme tief in ihr leuchtend grünes Auge blickte. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Was hätten sie auch sagen sollen? Edme klemmte ihren Knochen fester zwischen die Zähne und Faolan spürte beinahe den Schmerz in ihrer Hüfte. Es war wie ein geteilter Schmerz und im tiefsten Inneren wusste er, dass auch in Edme etwas Uraltes, Leidgeprüftes, ja vielleicht Zeitverlorenes lebte. Edme trug nicht die Kennzeichen einer Gyr