Der ewige Gast - Can Merey - E-Book

Der ewige Gast E-Book

Can Merey

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Beschreibung

Tosun ist der Sohn eines Istanbuler Papierfabrikanten, im Herbst 1958 kommt der junge Türke nach Deutschland – noch vor den Gastarbeitern. Nach dem Studium heiratet er Maria, die von einem bayerischen Bauernhof stammt, und gründet eine Familie, in der nur Deutsch gesprochen wird. Tosun wird Manager in einer deutschen Firma und deutscher Staatsbürger. Er beginnt, auf Deutsch zu träumen, und sogar sein Gaumen passt sich deutschen Gepflogenheiten an: Er entwickelt eine Vorliebe für Schweinebraten und Weißbier.

Doch heute, sechzig Jahre später, zieht Tosun eine ernüchternde Bilanz. Zwar hat er alles unternommen, um sich zu integrieren. Dennoch wurde ihm immer wieder bedeutet, dass er weniger wert sei als ein „echter“ Deutscher. Ganz anders erging es seiner Schwester, die damals in die USA auswanderte – und dort nie Diskriminierung erfuhr.

Anschaulich und differenziert erzählt der Journalist Can Merey die Geschichte seines Vaters. Nach der Lektüre erscheint das Leben der drei Millionen Deutschtürken in neuem Licht - und die komplexe Beziehung Deutschlands zur Türkei.

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Zum Buch

Noch vor den Gastarbeitern kommt Tosun, Sohn eines Istanbuler Papierfabrikanten, im Herbst 1958 nach Deutschland. Nach dem Studium in München heiratet er Maria, die auf einem bayerischen Bauernhof aufgewachsen ist, und gründet eine Familie, in der nur Deutsch gesprochen wird. Tosun wird Manager in einer deutschen Firma und deutscher Staatsbürger. Er beginnt, auf Deutsch zu träumen, und sogar sein Gaumen passt sich deutschen Gepflogenheiten an: Er entwickelt eine Vorliebe für Schweinebraten und Weißbier.

Doch heute, sechzig Jahre später, zieht Tosun eine ernüchternde Bilanz. Zwar hat er alles unternommen, um sich zu integrieren. Dennoch wurde ihm immer wieder bedeutet, dass er weniger wert sei als ein »echter« Deutscher. Ganz anders erging es seiner Schwester, die damals in die USA auswanderte – und dort nie Diskriminierung erfuhr.

Anschaulich und differenziert erzählt der Journalist Can Merey die Geschichte seines Vaters. Nach der Lektüre erscheint das Leben der drei Millionen Deutschtürken in neuem Licht – und die komplexe Beziehung Deutschlands zur Türkei.

Zum Autor

Can Merey wurde 1972 in Frankfurt/Main als Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Der Job des Vaters führte die Familie unter anderem nach Teheran, Singapur und Kairo. Nach dem Studium der Sozialarbeit in Aachen wechselte Can Merey in den Journalismus. Von 2003 bis 2013 war er Südasien-Büroleiter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit Sitz in Neu Delhi, im Zentrum der Berichterstattung stand der eskalierende Konflikt in Afghanistan. Pünktlich zu den Gezi-Protesten und dem Beginn der deutsch-türkischen Spannungen wechselte er 2013 nach Istanbul, seither ist er dpa- Büroleiter für den Nahen Osten mit Schwerpunkt Türkei-Berichterstattung.

Can Merey

DER  EWIGE

GAST

Wie mein türkischer Vater versuchte,

Deutscher zu werden

Blessing

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Copyright © 2018 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Umschlagabbildungen: Privatfoto und iStock-Bilder

Bildredaktion: Annette Mayer

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21848-5V001

www.blessing-verlag.de

Für Maria und Tosun

INHALT

INHALT

VORWORT

TEIL 1   DIE ERSTE GENERATION

1      EIN WINTERMÄRCHEN

2      »UNGELERNTE NATURBURSCHEN FREMDER ZUNGE«

3      EIN PARADIES AUF ERDEN

4      NONNEN UND EINE REVOLUZZERIN

5      KALTER KRIEG UND HEISSE LIEBE

6      REINRASSIG

7      DIE MÜHEN DER EINBÜRGERUNG

8      DIE BEINAHE-AUSBÜRGERUNG

9      DER IMAM DER WINDMÜHLEN-MOSCHEE

10      »VERFLUCHTE DEUTSCHE!«

TEIL 2   DIE ZWEITE GENERATION

1      DEUTSCH: SEHR GUT

2      SPRICH: DSCHAN

3      KEIN ZUTRITT FÜR TÜRKEN

4      WIEDERVEREINIGUNG

5      BEILEIDSTOURISMUS

6      »VORZEIGETÜRKE«

7      EINMAL TÜRKE, IMMER TÜRKE?

8      FREMD IM EIGENEN LAND?

9      NICHT AN ZUWANDERUNG INTERESSIERT

10      »WACHT AUF, IHR DEUTSCHEN TRÄUMER«

11      »BMW-MURAT UND KICKBOX-HASSAN«

TEIL 3   ENTFREMDUNG

EXKURS: INTEGRATION, ASSIMILATION, LEITKULTUR? 223

1      RÜCKKEHR IN DIE TÜRKEI

2      DER BOSPORUS

3      »EUROPÄER DES JAHRES«

4      PUTSCHVERSUCH

5      DEUTSCHE GEFANGENE

6      DEUTSCHE DOPPELMORAL

7      ENTTÄUSCHTE LIEBE

RESÜMEE

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

VORWORT

VORWORT

Ein Camp der Bundeswehr in Nordafghanistan im Jahr 2010. Die Truppe steht kurz vor einer Offensive gegen die Taliban, als ich die deutschen Soldaten besuche. Ein junger Offizier hat die leidige Aufgabe bekommen, mir – dem angereisten Reporter – das Feldlager zu zeigen. Dabei lässt er mich an seiner persönlichen Strategie zum Umgang mit dem Feind teilhaben. »Mit den Taliban ist es wie mit den Kanaken früher in der Schule«, sagt er. »Immer einen auf die Mütze geben, dann lernen sie’s irgendwann.« Was der forsche Offizier nicht ahnt: Er führt gerade einen Kanaken durch das Camp. Einen Halb-Kanaken, wenn man es genau nehmen möchte.1

Mein Vater Tosun kam vor rund sechzig Jahren aus der Türkei nach Deutschland – nicht als Gastarbeiter, sondern erst als Sprachschüler und dann als Student. Das Anwerbeabkommen mit Ankara war damals noch Zukunftsmusik. Ende der 1950er-Jahre lebten hierzulande nur wenige Türken, Türkenfeindlichkeit gab es nicht. »Kanake« war kein Schimpfwort, sondern eine ebenso wertneutrale wie wenig bekannte Bezeichnung für Einwohner der Südsee-Inselgruppe Neu-Kaledonien.

Nach seinem Studienabschluss entschied Tosun sich für ein Leben in Deutschland. Die vielen Anforderungen, die heute an Ausländer gestellt werden, damit sie sich in die Gesellschaft integrieren, hat er schon vor Jahrzehnten übererfüllt. Staatsbürger der Bundesrepublik ist er viel früher geworden als jene Deutschen, die nach der Wiedervereinigung ihre Ausweise mit Hammer und Zirkel gegen die Reisepässe mit dem Bundesadler eingetauscht haben. Schon lange vorher zahlte Tosun in die Sozialsysteme ein. Der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht er loyaler gegenüber als solche Deutsche, die Flüchtlingsheime in Brand stecken – und vermutlich auch als viele jener Bundesbürger, die Ausländer am liebsten gleich ganz aus dem Land werfen würden.

Auch in seiner Lebensweise unterscheidet sich Tosun – Nachfahre eines Imams aus Istanbul – kaum von gewöhnlichen Deutschen: Statt in die Moschee geht er ins Wirtshaus, wo er Schweinebraten bestellt, dazu gerne ein Weißbier. 1968 heiratete er Maria, eine geborene Obergrußberger, die auf einem bayerischen Bauernhof aufgewachsen war und mich und meinen Bruder zur Welt brachte. Gemeinsam haben Tosun und Maria eine Familie gegründet, in der von Anfang an nur Deutsch gesprochen wurde. Mehr Integration geht kaum.

Dennoch steht Tosun an seinem Lebensabend vor der bitteren Erkenntnis: Sein Versuch, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, ist gescheitert. »Das Schlimme ist, immer wieder vermittelt zu bekommen, als Mensch weniger wert zu sein«, sagt er. Mit dem Gefühl, nur Bürger zweiter Klasse zu sein, ist er unter den Zuwanderern aus der Türkei nicht alleine – im Gegenteil. Dieses Minderwertigkeitsgefühl trägt maßgeblich dazu bei, dass viele Türken in Deutschland zu glühenden Anhängern von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geworden sind. Zu ihnen gehörte über Jahre hinweg auch Tosun.

Dieses Buch soll keine Anklageschrift gegen Deutschland sein. Deutschland ist auch mein Land, selbst wenn der rechte Rand der Gesellschaft Menschen wie mir das nicht zubilligen mag. Und Deutschland ist ein Land, auf das ich – als jemand, der viele Jahre lang in anderen Staaten gelebt und die Verhältnisse dort kennengelernt hat – in manchen Momenten stolz bin.

Natürlich gibt es Türken, die jede Integration verweigern. Wer als Ausländer die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnt, während er gleichzeitig die Vorzüge der Bundesrepublik genießt, der hat aus meiner Sicht hier nichts verloren. Tosuns Geschichte zeigt aber: Integration scheitert nicht nur an unwilligen Ausländern, sondern auch an der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dieser Gesellschaft fällt sogar die Integration jener Ausländer schwer, die sowohl nach den Maßstäben ihrer Herkunftsländer wie auch nach denen Deutschlands zur Elite gezählt werden müssten. Das gilt vor allem dann, wenn diese Zuwanderer aus muslimischen Ländern stammen – und zwar unabhängig davon, ob die Einwanderer selbst überhaupt gläubig sind. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz kann Integration nicht funktionieren.

Wenn die Integration aber nicht gelingt: Was droht dann angesichts von fast drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland, von denen heute schon viele mehr Loyalität gegenüber Staatspräsident Erdoğan empfinden als gegenüber dem Bundespräsidenten? Was droht angesichts der Entfremdung zwischen Deutschland und der Türkei, die nicht nur zwischen den Regierungen, sondern auch zwischen den Gesellschaften beider Staaten rasant voranschreitet? Gleichgültig kann das weder den Deutschen noch den Türken sein: Durch die Türken in Deutschland sind die Bundesrepublik und die Türkei – trotz ihrer kulturellen Unterschiede – so untrennbar miteinander verknüpft wie sonst kaum zwei Länder auf der Welt.

Neben den Momenten, in denen ich stolz auf Deutschland bin, gibt es auch solche, in denen ich an diesem Land verzweifle: Etwa dann, wenn mein Vater mir sagt, dass er Angst davor hat, in bestimmte Regionen in Ostdeutschland zu reisen. Angst davor, dass ihm seine deutsche Staatsbürgerschaft wieder genommen werden könnte. Angst davor, was Menschen wie ihm oder seinen Nachfahren, also seiner Enkelin und mir, drohen könnte, wenn die extreme Rechte stärker wird.

Dabei schien Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nach den Gewalttaten in den 1990er-Jahren abzuklingen. Inzwischen hat der Dauerstreit zwischen Berlin und Ankara – für den übrigens nicht nur die türkische Seite Verantwortung trägt – jedoch dazu geführt, dass die Abneigung gegen Deutschtürken wieder zunimmt. Infolge der Flüchtlingskrise wurde zudem das Misstrauen gegen Menschen aus muslimischen Staaten befeuert. Das Ergebnis dieser Entwicklungen: Die AfD ist in den Bundestag eingezogen, Pegida-Demonstranten marschieren, Flüchtlingsheime werden angegriffen.

Ein einzelnes Buch kann gegen Fremdenfeindlichkeit kaum etwas ausrichten. Vielleicht kann es aber jene Deutschen zum Nachdenken anregen, die Mitbürger mit fremden Wurzeln für eine Bedrohung halten. Womöglich kann es auch zu einem differenzierteren Blick auf die Deutschtürken beitragen – und zu mehr Verständnis für deren Lage.

Als ich dieses Buch begann, sollte es sich eigentlich ausschließlich um das Leben meines Vaters drehen. Erst beim Schreiben ist mir bewusst geworden, wie sehr auch mein Leben von Tosuns Herkunft und von meinen türkischen Wurzeln geprägt worden ist – jenen Wurzeln, die ich einst am liebsten verdrängt hätte. Mein Werdegang als Angehöriger der zweiten Generation, der wiederum Tosuns Leben beeinflusst hat, spielt auf den folgenden Seiten also ebenfalls eine Rolle. Die Hauptrolle aber gebührt Tosun. Denn vor allem möchte ich in diesem Buch die Geschichte meines Vaters erzählen. Die Geschichte eines Türken, der auszog, Deutscher zu werden.

TEIL 1

TEIL 1

DIE  ERSTE  GENERATION

1   EIN WINTERMÄRCHEN

1    EIN  WINTERMÄRCHEN

Der Schnee leuchtete so weiß, so rein, dass Tosun ihn noch Jahrzehnte später erwähnt, wenn er nach seinen frühesten Eindrücken von Deutschland gefragt wird. Sauber und aufgeräumt erstreckte sich das fremde Land vor ihm. Die Schneeberge links und rechts der ordentlich geräumten Straßen waren weiß und nicht schmutzig grau. Die Wiesen waren verschneit, die Äste der Bäume bogen sich unter den weißen Massen. Dazu strahlender Sonnenschein, alles glitzerte, ein perfekter Winterzauber. »Schöner hätte es nicht sein können«, erinnert sich Tosun Merey an jenen November im Jahr 1958, als er zum ersten Mal nach Deutschland kam. »In Istanbul ist der Schnee nicht so unbefleckt.«

Tosun war damals frischgebackener Abiturient, es war das erste Mal überhaupt, dass er die Türkei verließ. Sein Vater hatte ihm einen Flug spendiert. Ein unerhörter Luxus für die 1950er-Jahre, aber damals warf die Papierfabrik der Familie in Istanbul noch Profite ab, und der älteste Sohn hatte gerade die Eliteschule Galatasaray abgeschlossen. »Die Idee war, dass ich die Fabrik eines Tages übernehmen sollte«, sagt Tosun. Davor sollte er nicht nur studieren, sondern eine weitere Fremdsprache lernen. »Deutsch war damals so eine Art Mode in der Türkei. Und ich hatte keine Ahnung, wie schwierig diese Sprache ist.« Mehrere seiner Klassenkameraden entschieden sich für ein Studium in der Bundesrepublik, obwohl sich Frankreich eher angeboten hätte – auf dem Galatasaray Lisesi wurde vor allem auf Französisch unterrichtet, sodass die Schüler diese Sprache fließend beherrschten. »Deutschland hatte den Ruf eines aufsteigenden Landes, eines Landes, in dem alles funktioniert«, sagt Tosun. »Es hatte ein positives Image, bis auf die Tatsache vielleicht, dass dort immer noch viele Nazis waren. Aber die meisten Türken glaubten, dass nach dem Krieg ein neues Kapitel aufgeschlagen werde und die Deutschen geläutert seien. Ein jüdischer Freund aus meinem Viertel in Istanbul fragte mich allerdings: ›Wie kannst du in ein Land gehen, in dem solche Horrorgeschichten passiert sind und in dem immer noch viele von den Tätern leben?‹«

Tosun ließ sich davon nicht abbringen. Sein Vater hatte einen Geschäftspartner in Reutlingen: Die Metalltuchfabrik Hermann Wangner lieferte dem Istanbuler Unternehmen Siebtuch zur Papierherstellung. Der deutsche Geschäftspartner meldete Tosun im Goethe-Institut in Blaubeuren am Fuße der Schwäbischen Alb an und schickte eigens einen Mitarbeiter, um den Besucher vom Bosporus am Flughafen Zürich abzuholen. Die Swissair hatte Tosun von Istanbul aus dorthin gebracht. Sein erster internationaler Flug beeindruckte ihn so nachhaltig, dass die Airline in unserer Familie noch über ihr Ende im Jahr 2002 hinaus einen hervorragenden Ruf genoss – obwohl außer meinem Vater wohl nie jemand von uns mit ihr geflogen ist.

Mit einem VW-Käfer fuhr der Angestellte aus Reutlingen Tosun von Zürich nach Blaubeuren. Unterhalten konnten die beiden sich nur radebrechend auf Englisch. Nicht nur die Sprache, auch das Wetter war eine herbe Umstellung: 1958 verzeichnen die Wetterarchive für die Mittlere Schwäbische Alb im gesamten Monat November nur zwanzig Sonnenstunden, in Istanbul waren es im Durchschnitt sechsmal so viele. In Blaubeuren kam Tosun bei einer einheimischen Familie unter, die Wohnraum an Sprachschüler vermietete, sein Zimmer teilte er sich mit einem Ägypter. Die kleine Tochter der Vermieter hatte ein Akkordeon, und die Feiertage rückten näher. »Das Mädchen übte ständig Stille Nacht, Heilige Nacht, um das Lied an Weihnachten den Eltern vorzuspielen«, sagt Tosun. »Es lag wieder viel Schnee. Alles war sehr idyllisch.«

Das Goethe-Institut in Blaubeuren 1959 – © Privatarchiv Can Merey

Mittagessen gab es für die Sprachschüler im Ochsen, einer Gaststätte in einem hübschen Fachwerkhaus, die ausweislich der Speisekarte auch gut ein halbes Jahrhundert später noch anbietet, »was der Schwabe gerne isst«, etwa »Alb-Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle« für 9,50 Euro. Das Interieur wirkt noch heute, als sei es einem Musterkatalog für bodenständige Wirtschaften mit Hausmannskost entsprungen, rot gepolsterte Bänke an Holztischen, weiße Gardinen an den Fenstern, ein Gemälde an der Wand zeigt einen Ochsenkarren inmitten von Feldern. »Das Essen war typisch deutsch und kam mir etwas merkwürdig vor«, sagt Tosun. Im Ochsen wurde der junge Türke erstmals mit Maggi-Würze konfrontiert, die er großzügig in die Suppe kippte. An den Wochenenden mussten die Sprachschüler selbst für ihre Verpflegung sorgen, dann gönnte sich Tosun im nahen Restaurant Adler die Grillplatte für 5 Mark. Pommes frites wurden damals nicht aus der Tiefkühltruhe geholt, sondern aus frischen Kartoffeln geschnitten. Als einzelnes Gericht waren sie im Adler der späten 1950er-Jahre nicht zu bestellen. »Nur bei der Grillplatte konnte man eine zweite Portion Pommes bekommen, was natürlich extra gekostet hat.«

Nach sechs Monaten konnte sich Tosun leidlich verständigen. Als er mit dem Angestellten telefonierte, der ihn ein halbes Jahr zuvor am Flughafen abgeholt hatte, sagte dieser: »Sie können nicht der Herr Merey junior sein, der kann ja gar kein Deutsch.« Gemeinsam mit Tosun bemühten sich am Goethe-Institut in Blaubeuren sechs oder sieben andere Türken darum, der schwierigen Sprache Herr zu werden. Ein kostspieliges Vergnügen, aber die Türken am Goethe-Institut stammten allesamt aus wohlhabenden Familien. Gastarbeiter aus Anatolien gab es noch so gut wie keine, nur einige Studenten und Kaufleute aus der Türkei hielten sich zu dieser Zeit in der Bundesrepublik auf.2

»Türken waren damals Exoten in Deutschland«, erinnert sich Tosun. »Was mich sehr gewundert hat: dass Deutsche mich immer wieder nach türkischem Honig gefragt haben, was – glaube ich – eine deutsche Erfindung ist.3 Türken hatten damals kein schlechtes Image, im Gegenteil. Jeder zweite Deutsche sagte, ihr wart doch unsere Kriegskameraden im Ersten Weltkrieg.«

Einige der Schüler, mit denen gemeinsam Tosun (zweiter von links) Deutsch lernte – © Privatarchiv Can Merey

Wie eng diese Kameradschaft war, darüber geben deutsche Propagandamaterialien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs Aufschluss. »Zum Besten des Roten Halbmondes«, war auf eine Feldpostkarte gedruckt, auf einer weiteren stand: »Wir wollen sein ein Volk von Brüdern«. Ein Propagandabild mit dem Titel »Bündnistreue« zeigte den Handschlag eines deutschen und eines türkischen Soldaten. Der unterschiedliche Glaube der Waffenbrüder spielte keine Rolle, zumindest wollte das die deutsche Kriegspropaganda glauben machen. In einem zeitgenössischen Gedicht hieß es: »Sei mir gegrüßt, grüne Prophetenfahne! Dein Feind ist unser! Unser Feind ist Dein! Sei mir gegrüßt, grüne Prophetenfahne! Mein Sieg ist Deiner, und Dein Sieg ist mein!« Aus muslimischer Sicht vielleicht etwas schräg: ein Bierkrug mit den Flaggen der vier Mittelmächte – dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich – und der Aufschrift: »Bairisch Bier stärkt alle Vier«.4

Die Waffenbrüderschaft war so eng, dass Deutsche sogar bei den Massakern an den Armeniern im Osmanischen Reich eine unrühmliche Rolle spielten. Der Autor und Türkei-Korrespondent der tageszeitung, Jürgen Gottschlich, sprach in seinem Buch Beihilfe zum Völkermord vom »dunkelsten deutschen Kapitel im Ersten Weltkrieg«5. Dass der Bundestag im Juni 2016 nicht nur die deutsche Mitverantwortung anerkannte, sondern die Massaker zugleich als Völkermord einstufte, führte zu schweren Verwerfungen im türkisch-deutschen Verhältnis.

Im Zweiten Weltkrieg blieb die Türkei neutral, bis sie sich kurz vor Kriegsende auf die Seite der Alliierten schlug. Dennoch sollte indirekt (und unbeabsichtigt) auch die Machtergreifung Hitlers zur Stärkung der deutsch-türkischen Beziehungen beitragen: Wenig bekannt ist, dass die Türkei zwischen 1933 und 1945 Hunderten deutschen Wissenschaftlern und Künstlern sowie deren Familien Zuflucht bot, die aus dem Dritten Reich fliehen mussten. Die Exilanten bauten wichtige Fakultäten an türkischen Hochschulen auf, sie halfen bei der Modernisierung der Verwaltung – und sie trugen zu den Bestrebungen von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk bei, das Land nach Westen zu orientieren. Zum bekanntesten Vertreter dieser Gruppe wurde Ernst Reuter, der Sozialdemokrat und spätere Regierende Bürgermeister von Berlin lebte von 1935 bis 1946 in der Türkei. In Ankara trägt heute die Deutsche Schule seinen Namen. Auch Ernst Reuters Sohn Edzard Reuter verbrachte einen Gutteil seiner Kindheit in der Türkei, er wurde später Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG.

In Ausweispapieren von Flüchtlingen, denen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden war, trugen die türkischen Behörden den Vermerk »haymatloz« ein. Das dem deutschen Begriff »heimatlos« entlehnte Wort fand damals Eingang in die türkische Sprache, heute entspricht es in der Schreibweise »haymatlos« dem deutschen Adjektiv »staatenlos«.6

»Haymatloz« wurden 1940 auch Fritz Neumark, seine Ehefrau und seine Kinder. Der Wirtschaftswissenschaftler war mit seiner Familie bereits 1933 von Frankfurt nach Istanbul geflohen, nachdem sich die Nationalsozialisten per Gesetz jener Beamten entledigt hatten, die »nicht arischer Abstammung« oder politisch unerwünscht waren. Dass diese Entlassungen in Deutschland mit der Suche nach qualifizierten ausländischen Experten durch die Regierung in der Türkei zusammenfielen, bezeichnete Neumark später als »deutsch-türkisches Wunder«. In seinem 1980 veröffentlichten Buch Zuflucht am Bosporus7 schrieb er: »Das Phänomen einer Emigration deutscher Wissenschaftler, Künstler und Politiker unter dem Druck der nationalsozialistischen Diktatur war gewiss sehr weitschichtig, und in zahlreichen Ländern, wie insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika, hat in den Jahren 1933 ff. die absolute Zahl der Emigranten die derjenigen bei weitem übertroffen, die in der Türkei Zuflucht fanden. Aber ich glaube, dass nirgendwo anders die relative Bedeutung von Emigranten aus dem ›Dritten Reich‹ so nachhaltig und wirksam gewesen ist wie in der Türkischen Republik.« In seinem autobiografischen Werk kommt Neumark auch auf die schwierige Sprache des Gastlandes zu sprechen, eine der größten Herausforderungen für die Emigranten. Die Exilanten hatten sich in den Anstellungsverträgen verpflichten müssen, »Türkisch zu lernen und mindestens ein Lehrbuch für jedes von uns vertretene Fach zu publizieren. Allerdings haben die türkischen Stellen in kavaliersmäßiger Weise nicht absolut auf der Einhaltung dieser unserer vertraglichen Verpflichtungen bestanden – vor allem, was die erste anlangt –, waren aber umso dankbarer, wenn man sich mit mehr oder weniger Erfolg bemühte, ihnen nachzukommen.« Neumark – der erst sieben Jahre nach Kriegsende nach Frankfurt zurückkehrte – berichtete mit einigem Stolz, ihm sei es nach zwei Jahren gelungen, seine Vorlesungen in Istanbul ohne Übersetzer abzuhalten.

Tosun war nach seinem Deutschkurs beim Goethe-Institut in Blaubeuren noch weit davon entfernt, die fremde Sprache so gut zu meistern. Bis zu seinem Militärdienst hatte er noch Zeit, und vor allem hatte sein Vater Nejdet damals noch Geld, um den Sprössling zu unterstützen. Tosun zog nach München, um dort eine Sprachschule zu besuchen. »Es hätte auch Hamburg sein können«, sagt Tosun heute. »Aber mir hatte irgendwer gesagt, dass München eine schöne Stadt sei.«

Die Münchner kamen ihm zu dieser Zeit »nicht weniger warmherzig vor als die Türken«, sagt er rückblickend. »Eine ablehnende Haltung habe ich damals nicht erlebt. Manchmal fanden sie die Fehler lustig, die ich auf Deutsch gemacht habe.« Etwa in dem noch recht neuen Wienerwald-Restaurant in München, wo der junge Sprachschüler sich Hühnchen gönnen wollte (»damals eine Delikatesse«). »Statt einem halben Huhn bestellte ich einen halben Hund. Die Bedienung sagte, sie habe keinen halben Hund. Ich dachte, das ist die türkische Strategie, mir einen ganzen Hund zu verkaufen. Also sagte ich, macht nix, dann bringen Sie mir einen ganzen Hund.« Tosun bekam sein halbes Hendl, ihm gefiel München. Er entschied sich, nach seinem Wehrdienst in der Türkei in München zu studieren.

Im Spätsommer 1961 machte Tosun sich also erneut auf den Weg nach Deutschland, diesmal per Schiff – nicht ahnend, dass aus den geplanten Studienjahren ein ganzes Leben in der Fremde werden sollte. »Es war eine meiner schönsten Reisen«, sagt er. Der schneeweiße Luxusdampfer Ankara beförderte den angehenden Studenten von Istanbul nach Neapel. Als SS Solace hatte das ehemalige Lazarettschiff einst zur Pazifikflotte der US-Marine gehört, den japanischen Angriff auf Pearl Harbor Ende 1941 hatte es unbeschadet überstanden. 1949 kaufte die Türkei den Dampfer und baute ihn zum Flaggschiff der staatlichen Schifffahrtslinien um, deren elegantes Symbol – zwei gekreuzte Anker – den Schornstein zierten. Bis zu ihrer Verschrottung 1981 durchkreuzte die SS Ankara unter türkischer Flagge stolz das Mittelmeer.

Von Neapel aus fuhr Tosun mit dem Zug über die Alpen nach München, wo er sich an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität einschrieb. Damals wurde das türkische Abitur – anders als heute – als gleichwertig mit dem deutschen Abschluss anerkannt. Eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland war auch nicht notwendig: Erst im Jahr 1980 führte die Bundesrepublik die Visumpflicht für Türken ein. Bis dahin konnten diese nach Gutdünken nach Deutschland reisen (wenn auch nicht langfristig dort bleiben oder arbeiten) – heute kaum noch vorstellbar angesichts des Streits, der 2016 zwischen der EU und der Türkei um die Aufhebung der Visumpflicht entflammte.

2   UNGELERNTE NATURBURSCHEN FREMDER ZUNGE

2    »UNGELERNTE  NATURBURSCHEN  FREMDER  ZUNGE«

Am 18. Oktober 1961 nahm Tosun sein Studium in München auf. Zwölf Tage später trafen die Regierungen in Bonn und Ankara eine schicksalhafte Vereinbarung zur »Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland«.8 Das Anwerbeabkommen trat rückwirkend zum 1. September 1961 in Kraft, der Vertrag umfasste gerade einmal zwölf Punkte auf zwei Seiten. Er wurde nicht etwa bei einer feierlichen Zeremonie von hohen Regierungsvertretern unterzeichnet, sondern durch einen simplen Briefwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt (»Aktenzeichen 505-83 SZV/3 – 92.42«) und der türkischen Botschaft besiegelt. Der Bedeutung des Abkommens – das nicht nur das Leben von Millionen Menschen, sondern auch Deutschland und die Türkei sowie die Beziehungen der beiden Staaten für immer verändert hat – wurde das kaum gerecht.

Noch vor diesem Abkommen aus dem Jahre 1961 war eine kleine Gruppe Türken nach Deutschland gekommen: die sogenannten Heuss-Türken. Bereits 1957 hatte Bundespräsident Theodor Heuss bei einem Staatsbesuch in Ankara Berufsschulabsolventen eingeladen. Im Jahr darauf folgten 150 junge Männer dieser Einladung, viele fingen bei Ford in Köln an. »Die guten Erfahrungen mit den ›Heuss-Türken‹ brachten viele Unternehmen auf die Idee, auf eigene Faust in der Türkei Arbeitnehmer anzuheuern«, schrieb die Rheinische Post im Jahr 2011 zum 50-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei.9 Im Bundesarbeitsministerium habe damals die Auffassung geherrscht, »dass der türkische Arbeiter leistungsmäßig und in der persönlichen Veranlagung und Haltung keinesfalls gegenüber dem italienischen Arbeiter zurücksteht«.

Mit Italien hatte die Bundesrepublik bereits 1955 ein Abkommen geschlossen – mit deutlich mehr Pomp als sechs Jahre später mit der Türkei. Dieser markante Unterschied wurde auch in dem zitierten Rückblick festgehalten: »Zur Unterzeichnung des ersten deutschen Anwerbeabkommens ausländischer ›Gastarbeiter‹ reiste 1955 ein deutscher Minister nebst Botschafter zur feierlichen Unterzeichnung in Rom an. Für die Türkei gab es keinen Festakt, kein Händeschütteln und auch kein Foto.« Das mag ein frühes Anzeichen dafür gewesen sein, dass die Türken zwar als Arbeiter gebraucht wurden, als Menschen aber weniger erwünscht waren. Zwar zeigte sich die deutsche Gesellschaft in den folgenden Jahren auch gegenüber Gastarbeitern aus katholischen Ländern wie Italien oder Portugal verschlossen. Am meisten fremdelten die Deutschen aber mit den muslimischen Türken.

Fünf Jahre nach dem Vertrag mit Italien folgten 1960 Abkommen mit Spanien und Griechenland. Die »Heuss-Türken« bereiteten den Weg für den besagten Vertrag mit Ankara, der 1961 die Vermittlung türkischer Arbeitnehmer an deutsche Unternehmen regeln sollte. Zu beiderseitigem Nutzen: In der Türkei waren viele junge Menschen arbeitslos, während die Wirtschaft in Deutschland boomte und Unternehmen verzweifelt nach Arbeitskräften suchten. Eine halbe Million Stellen waren frei – bei gerade einmal 150.000 Arbeitslosen. Noch dazu hatten die Gewerkschaften mitten im Aufschwung kürzere Arbeitszeiten durchgesetzt.

Nach dem Abkommen mit der Türkei richtete die Bundesanstalt für Arbeit eine »Verbindungsstelle« in Istanbul ein, bei der sich bis 1973 mehr als zweieinhalb Millionen Türken um eine Arbeitserlaubnis bewerben sollten – angesichts einer Bevölkerung von damals nur 29 Millionen Türken eine geradezu schwindelerregend hohe Zahl. Jeder vierte Bewerber wurde genommen. »Die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie besaßen einen Arbeitsvertrag für Deutschland – und sie waren türkische Staatsbürger«, schrieb die Bundeszentrale für Politische Bildung 2011 in einem Rückblick auf das Abkommen.10 »Ansonsten einten sie mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Es waren Frauen, Männer, Kurden, Tscherkessen, Lasen, Griechen, Armenier, Christen, Juden, Sunniten, Aleviten, Kommunisten, Junge und Alte, meist ungebildet, einige erwähnten bei der Prüfung in der Istanbuler Verbindungsstelle gegenüber den deutschen Beamten lieber nicht, dass sie eine Ausbildung in der Tasche hatten. Das war nicht gewünscht. Gesund und kräftig sollten sie sein.« Die Zeit blickte Anfang 1982, also gut zwanzig Jahre nach dem Abkommen, auf die Epoche zurück: »Mit preußischer ›Akribie und Ehrgeiz‹ (ein Bonner Ministerialbeamter) wurden sie in Anatolien angeworben. Nachdem in Berlin die Mauer hochgezogen war und keine Flüchtlinge mehr aus der DDR kamen, nachdem auch der Zustrom aus Italien und anderen Anwerbeländern nachließ, waren die Türken für die nach Arbeitskräften lechzende westdeutsche Wirtschaft in den sechziger Jahren das letzte Aufgebot. Bis 1973 konnte sich jeder Unternehmer, vom Handwerker in Hamburg bis zum württembergischen Fabrikbesitzer, für 300 Mark einen Türken kaufen. Das war die Verwaltungsgebühr, mit der die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ihre Anwerbebüros in Anatolien finanzierte.«11

Die deutsche Verbindungstelle und die türkische Anstalt für Arbeits- und Arbeitervermittlung arbeiteten Hand in Hand, um Hunderttausende aus Anatolien in Richtung Westen zu verfrachten. »Die Türkische Anstalt sorgt durch die ihr als geeignet erscheinenden Verfahren für die Sammlung der eingegangenen Bewerbungen, für eine Vorauswahl der Bewerber und übernimmt die Vorstellung der Bewerber bei der Verbindungsstelle«, hieß es in Punkt 5 der diplomatischen Note, die dem Abkommen zugrunde lag. »Die Verbindungsstelle stellt ihrerseits fest, ob die von der Türkischen Anstalt vorgestellten Bewerber die beruflichen und gesundheitlichen Voraussetzungen für die jeweils angebotene Beschäftigung und den Aufenthalt in der Bundesrepublik erfüllen.« So kurz und knapp das Abkommen auch formuliert war, die deutsche Handschrift war nicht zu übersehen: Selbst Details wurden penibel geregelt – sogar die Zuständigkeit dafür, dass die Arbeiter pünktlich zum Zug nach Deutschland kamen und dass sie auf der langen Fahrt keinen Hunger leiden mussten. »Die Türkische Anstalt sorgt dafür, dass sich die Arbeitnehmer rechtzeitig zum Abreiseort begeben«, hieß es in Punkt 8. »Von der Verbindungsstelle erhalten die Arbeitnehmer eine nach der Reisedauer bemessene Reiseverpflegung oder einen entsprechenden Barbetrag.«

Auf Ausbeutung der türkischen Arbeiter zielte das Abkommen nicht ab, im Gegenteil: Es war angesichts des extremen Lohngefälles zwischen Deutschland und der Türkei ausgesprochen fair. In der Anlage fand sich ein Muster-Arbeitsvertrag, unter Punkt II. wurde dort festgelegt: »Der türkische Arbeitnehmer erhält hinsichtlich des Arbeitsentgelts, der sonstigen Arbeitsbedingungen und des Arbeitsschutzes keinesfalls eine ungünstigere Behandlung als die vergleichbaren deutschen Arbeitnehmer«.12

Kein Wunder also, dass in Anatolien ein regelrechter Run auf Deutschland einsetzte. Registrierte das Statistische Bundesamt 1960 – im Jahr vor dem Abkommen – gerade einmal 3.549 türkische Einwanderer in Deutschland, waren es im Jahr des Vertragsabschlusses schon 8.707. Im Jahr darauf verdoppelte sich die Zahl. In den Folgejahren kamen jeweils Zehntausende, 1969 wurde die Zahl mit 151.142 türkischen Einwanderern erstmals sechsstellig. Ihren Höchststand erreichte sie 1973: 249.670 Türken kamen innerhalb nur eines Jahres nach Deutschland.13 Heute leben hier rund 2,85 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Mehr als die Hälfte davon sind in Deutschland geborene Nachfahren der ursprünglichen Einwanderer, also Angehörige der zweiten oder dritten Generation.14

Anfänglich wurden die Ausländer mit offenen Armen empfangen, wobei es bei genauer Betrachtung heißen müsste: Anfänglich wurde ihre Arbeitskraft mit offenen Armen empfangen. »Die helfenden Hände aus der Türkei hieß man dankend willkommen«, berichtete die Bundeszentrale für Politische Bildung rückblickend. Der Spiegel schrieb bereits im Oktober 1970, der Begriff »Gastarbeiter« sei irreführend: »Gastarbeiter sind in Deutschland keine Gäste. Sie bekommen nichts geschenkt, sie genießen keine Vorrechte, eingeladen sind sie nur zum Produktionsprozess.«15

Doch dieser Produktionsprozess geriet ins Stocken. Anfang der 1970er-Jahre rutschte die deutsche Wirtschaft in eine Rezession, die Bundesregierung zog die Notbremse: 1973 erließ sie einen generellen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, von dem nur Italiener ausgenommen waren. »Es ist nicht auszuschließen, dass die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird«, hieß es in einem auf den 23. November 1973 datierten Fernschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit. »Unter diesen Umständen ist es nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische Arbeitnehmer über die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit für eine Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik zu vermitteln.«16 Der Anwerbestopp vermochte den Zuzug aus der Türkei zwar zu verlangsamen, aber nicht aufzuhalten. Auch danach bestand für Türken in Deutschland die Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen. Laufende Arbeitsverträge galten weiter, und das Ausländergesetz gewährte Arbeitern aus der Türkei Aufenthaltsgenehmigungen.

Schon am 10. September 1964 hatte die Zahl der Gastarbeiter in Deutschland die Millionengrenze erreicht. Die größte Gruppe stellten Italiener, gefolgt von Spaniern, Griechen, Türken und Jugoslawen. Der millionste Gastarbeiter kam allerdings aus keinem dieser Länder, sondern aus Portugal. Dessen Ankunft beschrieb der Spiegel in einer Titelgeschichte vom Oktober 1964 so:

Der lange Zug glitt in die Bahnhofshalle zu Köln-Deutz. Aus dem Lautsprecher dröhnte die Aufforderung, der Zimmermann Armando Sá Rodrigues aus dem nordportugiesischen Dorf Vale de Madeiros möge sich melden. Als der Gesuchte nach mehrmaligem Aufruf verschüchtert aus der Menge seiner 1.200 schwadronierenden, mit Pappkoffern und Schachteln bewehrten Landsleute hervortrat, schmetterte eine Blechkapelle »Wem Gott will rechte Gunst erweisen« und »Alte Kameraden« unter das rußige Bahnhofsdach.

Rundfunk-Mikrophone streckten sich dem Neuankömmling wie einem lang ersehnten Staatsbesucher entgegen, Kameras von Fernsehen und Wochenschau hielten das Bild für die Geschichte fest: Deutschland hatte seinen millionsten Gastarbeiter.

Ein Herr im dunklen Arbeitgeber-Päckchen gebot Ruhe. Die Leistungen der westdeutschen Wirtschaft seien, so rief der Kölner Fabrikant Dr. Manfred Dunkel, den die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-Verbände zum Willkomm [sic] aufgeboten hatte, ohne die Mithilfe der Gastarbeiter nicht möglich gewesen.

Der Festredner stattete sodann dem verdutzten Armando Sá Rodrigues, der seinen Sombrero verlegen in den Händen drehte und dem ein Priester der Dunkel-Rede Sinn übersetzte, den Dank der Deutschen ab: ein blitzendes Moped, Urkunde und Blumen. Die Kapelle intonierte Portugals Hymne.17

Eine Million Gastarbeiter waren nun in der Bundesrepublik, und trotzdem waren 1964 noch immer 600.000 Arbeitsplätze unbesetzt. »Werbekolonnen westdeutscher Arbeitgeber schwärmten über den Kontinent aus, um dem ausgedorrten Arbeitsmarkt frisches Blut zuzuführen«, schrieb der Spiegel. »Menschentransporte« aus den südlichen Ländern rollten in die deutschen Bahnhöfe ein, wo durchaus Rücksicht auf kulturelle Befindlichkeiten genommen wurde: »Für 96.000 Kunden bereitete die Weiterleitungsstelle im Bahnhof München vergangenes Jahr das erste deutsche Essen, und die Caritas-Vertretung hält für die neu eintreffenden Türken, die als Mohammedaner kein Schweinefleisch essen dürfen, stets Spezialwurst auf Lager.« Für ihre 150 türkischen Gleisarbeiter habe die Bundesbahn-Direktion Hannover zwei Waggons als rollende Moscheen eingerichtet. »Die vorgeschriebene Richtung des Betenden – sie weist nach Mekka – wird an jedem Standort des Bauzuges mit Hilfe eines Kompasses ermittelt.«

Die Zuzügler erledigten die Arbeit, für die sich die meisten Bundesbürger inzwischen zu schade waren. »Durchweg rücken sie in Berufe ein, die von den Deutschen mehr und mehr gemieden werden«, berichtete der Spiegel. »Die Automation macht’s möglich, auch ungelernte Naturburschen fremder Zunge produktiv zu beschäftigen. Mehr als die Hälfte der Ausländerarmee ist in den hochtechnisierten Sparten der Eisen- und Metallerzeugung sowie der verarbeitenden Industrie tätig.« Das Fazit: »Nicht als ausgebeutete Menschen zweiter Klasse kommen die Fremden, sondern als gutbezahlte, umworbene Helfer.«

Knapp zwanzig Jahre später attestierte die Zeit den Türken, die neue Unterschicht der Gesellschaft in Deutschland gebildet zu haben. »Sie sind nicht nur die meisten, sondern auch die fremdesten. In der sozialen Rangskala der Gastarbeiter nehmen sie den letzten Platz ein.« Als Beispiele führte die Wochenzeitungin dem Bericht aus dem Jahr 1982 an:

•  Der deutsche Bergbau lebt von ihnen: Von 100.000 im Steinkohlebergbau unter Tage Beschäftigten sind 22.800 Ausländer, davon 87 Prozent Türken.

•  Die Autoindustrie lebt von ihnen: Ford Köln beschäftigt 26.399 Mitarbeiter, davon sind 9.226 Ausländer, davon wieder über achtzig Prozent Türken. Auch in Rüsselsheim würde kaum ein Auto ohne sie »aus dem Ofen« kommen. Gaststätten müssten schließen.

•  Viele Städte würden ohne sie im Dreck ersticken, es würden keine öffentlichen Toiletten mehr gereinigt, keine Gräber mehr ausgehoben, keine Straßen mehr gefegt, die Müllabfuhr müsste reduziert werden.

•  Auf der Werft Blohm und Voss in Hamburg arbeiten 1.700 Ausländer, davon 1.000 Türken. 13 davon sind in einem Jahr an Krebs gestorben. Die waren Schweißer, Verzinker, Reiniger: Sie hatten die Nase im Dreck.

Die Zeit kam zu dem Ergebnis: »Generell gilt, dass die Türken Arbeiten machen, für die kein Deutscher gewonnen werden kann, auch bei 1,7 Millionen Arbeitslosen nicht. Die Türken sind ein Proletariat, über das wir wenig wissen. Nicht nur Kultur und Mentalität sorgen, vor allem die Sprachbarriere sorgt für Abstand.«

Dass die Türken die Drecksarbeit erledigten, änderte nichts an einem gewissen Sozialneid, der bereits 1964 durchschimmerte. Manche der Südländer erhielten »mehr Kindergeld als Lohn«, wusste der Spiegel zu berichten. »Auf den Gleisen der Eisenbahnstrecke Duisburg-Düsseldorf warnt ein Türke seine Schotter-Kollegen mit Trompetensignalen vor nahenden Zügen; für seine 33 Sprösslinge kassiert er 1.240 Mark Kinderzuschüsse im Monat.« In einer Fußnote teilte das Magazin seinen Lesern lapidar und ohne jeden Beleg mit, dass das unter Ausländern verbreitete Heimweh »besonders bei Jugendlichen häufig Ursache für Brandstiftung, Sexualverbrechen u. a.« sei. Zugleich versuchte der Artikel allerdings, mit dem von der »westdeutschen Massenpresse« gepflegten »Klischee vom asozialen Fremdstämmigen« aufzuräumen. Das Bundeskriminalamt wurde in dem Bericht mit der Aussage zitiert: »Die Gastarbeiter stellen kein besonderes Problem dar.« Dass der massenhafte Zuzug fremder Arbeitskräfte dennoch nicht ohne Probleme bleiben würde, dafür erkannte das Magazin damals schon Anzeichen:

Der Düsseldorfer Betriebspsychologe Dr. Hellmut Sopp hat festgestellt, dass auf die Beziehungen zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitern spätestens nach drei Tagen der erste Reif fällt. Sopp: »Am ersten und zweiten Tag ist das Interesse der Deutschen an ihren neuen Kollegen groß. Aber dann gibt es unweigerlich die erste Panne: Die allesamt sparsamen Gastarbeiter denken nicht daran, am Arbeitsplatz einen Einstand zu geben und Bier zu spendieren.«

Nach dieser ersten Enttäuschung komme »eine Periode der Neckereien«. Den Griechen sage man, dass sie dreckig seien, den Türken, dass sie zu Hause faulenzen und ihren Harem arbeiten ließen, und den Italienern, dass sie schlechte Soldaten seien. Die Südländer zischelten dann zurück, die Deutschen fingen alle Kriege an, könnten aber keinen gewinnen. (…)

»Ultima ratio im Wortkampf«, so der Psychologe Sopp, sei meist, dass die Gastarbeiter durch drastische Gesten ihren deutschen Kollegen klarmachten, dass sie ihre Gegner in Konzentrationslager gesperrt und massakriert hätten.

Dr. Sopp: »Danach kann man von Beziehungen nicht mehr sprechen. Es gibt keine offenen Feindschaften, aber auch keine Freundschaften. Man arbeitet zusammen – aber in der Kantine sitzt man getrennt.«

Mein Vater ahnte schon damals, dass es tiefergehende Probleme geben könnte als getrennte Sitzplätze in der Werkskantine. »Als das mit den Gastarbeitern anfing, haben wir uns darüber unterhalten, wohin das wohl führen mag«, sagt Tosun. Viele der neuen Türken in Deutschland stammten aus ländlichen Gegenden Anatoliens, die seit jeher kosmopolitische Metropole Istanbul sahen sie zum ersten Mal vor ihrer Ausreise in die Bundesrepublik. »Die Türken, die nach Deutschland kamen, waren oft in einem erbärmlichen Zustand«, sagt Tosun. »Sie waren unrasiert, schlecht angezogen und ungebildet. So, dass man sich ein bisschen schämte. Meine Türken in Istanbul waren nicht so.«

3   EIN PARADIES AUF ERDEN

3    EIN  PARADIES  AUF  ERDEN

Dasselbe Zimmer, in dem Tosun 1959 für ein paar Monate in München gewohnt hatte, war bei seiner Rückkehr nach Deutschland zufällig wieder frei. Der frisch immatrikulierte Student wurde zum Wintersemester 1961 erneut Untermieter in der Ismaninger Straße, die parallel zur Isar verläuft. Die Wohnung in dem herrschaftlichen Anwesen gehörte einer aus Hamburg stammenden älteren Dame, mit ihr und einer weiteren Untermieterin teilte sich Tosun das einzige Bad der Wohnung. Die Vermieterin hielt sich zu Tosuns Verblüffung einen Papagei. »Für mich damals ein exotisches Tier, wie ich es nie zuvor in der Türkei gesehen hatte«, erinnert er sich.

Weder die Mitbewohnerinnen noch der bunte Vogel konnten verhindern, dass sich Tosun – gerade erst aus dem Militärdienst entlassen – einsam fühlte. »Ich war traurig, ich hatte keine Freunde und kannte niemanden«, erinnert sich mein Vater. Um sich abzulenken, ging Tosun abends alleine essen und Bier trinken. »Bis ich mich eines Tages hingesetzt und festgestellt habe, dass ich im Durchschnitt jeden Tag 25 Mark ausgab. Eine unvorstellbare Summe.« Auch das Zimmer war eigentlich zu teuer für ihn. Bei seiner Suche nach Alternativen hörte der junge Türke vom Maßmannplatz, wie die Wohnheimsiedlung an dem gleichnamigen Platz in der Münchner Innenstadt von heutigen und früheren Bewohnern verkürzt genannt wird. »Gott sei Dank habe ich damals den Maßmannplatz gefunden, das war für mich wirklich ein Segen«, sagt er rückblickend. »Mein Umzug dorthin hat mein Leben entscheidend beeinflusst.«

Das in unserer Familie sagenumwobene Wohnheim am Maßmannplatz gibt es immer noch, der Komplex steht inzwischen unter Denkmalschutz. Gründervater war der Historiker Hermann Mau, der spätere Leiter des Deutschen Instituts für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit in München, das heute als Institut für Zeitgeschichte über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt ist. Mit dem Wohnheim im Herzen Münchens wollte Mau kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs viel mehr schaffen als nur eine billige Unterkunft für Studenten. Es sollte Arbeitern genauso offenstehen und soziale ebenso wie nationale Barrieren überwinden helfen. »Es ist zu hoffen, dass das Zusammenwohnen von Studenten und Arbeitern aus Deutschland und dem Ausland einiges dazu beitragen wird, die Klassenschranken niederzureißen, die das Leben in Deutschland so sehr geprägt haben«, hieß es zur Geschichte des Wohnheims in einem Buch zu dessen 50-jährigem Bestehen.18 »In dem neuen Deutschland sollte nicht wieder die alte Kluft zwischen Akademikern und Arbeitern aufbrechen.«

1948 hatten die zukünftigen Erstbewohner mit dem Bau der Häuser begonnen. Der Student und später preisgekrönte Architekt Werner Wirsing zeichnete für die Planung der Anlage verantwortlich. Zu Werke ging eine bunt gemischte Schar von Hilfs- und Bauarbeitern »aus Lehrlingen, Studenten, Jungarbeitern und Berufsfortsetzern anderer Art, von der ein Teil in Zelten der US Army auf dem Grundstück hauste und in einem eigenen Küchenzelt von der Volksküche verköstigt wurde«, wie der frühere Bewohner Hermann Weiß in dem Buch Alles ändert sich und bleibt, wie’s immer war19 zum 50-jährigen Jubiläum schrieb. »Die Bausteine wurden anfangs vor Ort aus zerkleinertem Bauschutt hergestellt, der in dem zerbombten München reichlich vorhanden war.« Die Lehrlinge, Arbeiter und Studenten am Bau bekamen kein Geld, sondern investierten in ihre Zukunft: Ihr Arbeitslohn wurde mit der künftigen Miete verrechnet. Im Winter 1948 wurden die ersten Räume bezogen, später lebten bis zu 180 Menschen in der Wohnheimsiedlung.

Jedes der nur zehn Quadratmeter großen Dreibettzimmer wurde sowohl mit Arbeitern als auch Studenten belegt, im Laufe der Zeit wurden die Unterkünfte etwas komfortabler: Zu Tosuns Zeiten wurden neue Bewohner erst in Doppelzimmern untergebracht, sie hatten später aber die Möglichkeit, in ein Einzelzimmer umzuziehen.20 Letztere waren mit 5,5 Quadratmetern etwas kleiner als die Mindestfläche von sechs Quadratmetern, die Gefangenen in deutschen Haftanstalten heutzutage zusteht.21

Eine schriftliche Hausordnung gab es in dem selbst verwalteten Projekt nicht, wohl aber ungeschriebene Gesetze. Ex-Bewohner Weiß, der 1954 am Maßmannplatz eingezogen war, berichtete: »Die Zimmer durften nicht abgesperrt werden; zu den Veranstaltungen des Gesamthauses oder der einzelnen Häuser wie Vorträgen, Diskussionsabenden oder auch Sitzungen von Gremien der Selbstverwaltung wurde Tee gereicht, Alkohol war verpönt. Das galt natürlich nicht bei allgemeinen Hausfesten wie dem jährlichen Faschingsfest oder Sommerfesten.«

Ein weiteres ungeschriebenes Gebot lautete, Damenbesuch vor Mitternacht wieder aus dem Haus zu bringen; einziehen durften Frauen in das Wohnheim erst ab 1972. Weiß erinnerte sich:

Verstöße gegen diese Regel, die sicher nicht ganz selten waren, wurden mit Kündigung geahndet – wenn jemand das Delikt öffentlich machte. In der Praxis mag diese Einschränkung exzessiven Damenbesuchs im Hause, gegen die immer wieder angekämpft wurde, auch dazu genutzt worden sein, unbeliebte oder unverträgliche Hausbewohner loszuwerden, während bei anderen durchaus mildernde Umstände wie nächtliche, anhaltende Wolkenbrüche u. Ä. anerkannt wurden. (…) Gerade die Abweichung von der Regel oder die Regelhaftigkeit der Ausnahme, das Sich-Einsetzen zufälliger Mehr- oder Minderheiten für die Ausnahme und das Suchen nach Kompromissen machte den Maßmannplatz zu einer erstklassigen Schule der Demokratie, von der viele seiner Bewohner und nicht nur die NS-Geschädigten für ihr Leben lernten.

Wie sehr die Erinnerungen an den Nationalsozialismus auch zu Tosuns Zeiten am Maßmannplatz noch nachwirken, zeigt ein Entwurf für ein Rahmenstatut im Jahr 1963. In dem Papier, das in dem Jubiläumsbuch in der Rubrik »Fundsachen« abgedruckt ist, heißt es:

Die Gründung einer solchen Keimzelle gemeinsam geordneten Lebens ist heute noch ein aktuelles Anliegen, weil wir – als verständliche Reaktion auf den Konformismus im 3. Reich – seither leicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen und über dem Streben nach materieller Sicherung und egoistischem Lebensgenuss gern jede Verpflichtung für das größere Ganze verleugnen, wie es den Menschen in einer organisch gewachsenen Demokratie selbstverständlich ist.

Da die Zukunft der freien Welt indessen davon abhängt, ob es morgen genügend Menschen geben wird, die bereit sind, sich für überpersönliche Aufgaben selbstlos einzusetzen, anstatt an die Gesellschaft nur Ansprüche zu stellen, so erblicken wir die Aufgabe des Hauses darin, in jungen Menschen solchen Gemeinsinn zu entwickeln.

Tosun fand sich nach dem Einzug in einer Welt wieder, die ihn begeisterte – und die ihn nachhaltig prägen sollte. »Die großzügigen Freiheiten, die wir genossen haben, waren herrlich«, sagt er. Durch die internationale Ausrichtung war er längst nicht der einzige Ausländer im Wohnheim. Von Fremdenfeindlichkeit spürte Tosun Anfang der 1960er-Jahre ohnehin noch nichts in Deutschland, im Gegenteil. Eher machte er ein freundliches Interesse an Ausländern aus.

So entdeckte er eines Tages einen Aushang, mit dem ausländische Studenten von deutschen Familien in deren Heimatstädte eingeladen werden. Tosun meldete sich an, ein Bus brachte ihn und andere Kommilitonen nach Ulm. »Meine Gastfamilie war sehr nett, die haben sich wirklich mit mir beschäftigt«, erinnert sich mein Vater. »Eine Woche lang haben sie mir Ulm gezeigt.« Ich bin überrascht: Deutsche haben damals einen ihnen fremden Türken tagelang zu sich nach Hause eingeladen, und das aus reiner Neugier? Verdutzt hake ich nach, ob es nicht eine andere Motivation gegeben habe – sicherlich habe die Familie Geld dafür bekommen? »Nicht, dass ich wüsste. Ich habe jedenfalls nichts bezahlt«, sagt Tosun. »Ich glaube, sie wollten einfach einen Ausländer kennenlernen.«