Der Fall Sartory - Roland Lange - E-Book

Der Fall Sartory E-Book

Roland Lange

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Beschreibung

10 Jahre Mordsharz-Festival! Das will gefeiert sein! Zu der hochkarätigen Besetzung des Krimi-Programms gehört auch der Shooting-Star der deutschen Krimiszene: Carolin P. Sartory. Sie wird zu einer Lesung erwartet – von den Organisatoren, von ihren Fans, von der Presse und auch von denen, die mit ihr noch eine Rechnung offen haben. Doch am Abend der Veranstaltung erscheint sie nicht, bleibt spurlos verschwunden …

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Inhalte

Titelangaben

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Epilog

Danksagung

Info

Roland Lange
Der Fall Sartory
Harz-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autoren. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Mailin, adobe stock
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-215-7
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-204-1
www.prolibris-verlag.de
Vorwort
Wir schreiben das Jahr 2020. Auf der Nordhalbkugel der Erde neigt sich der Sommer dem Ende zu. Wissenschaftler arbeiten fieberhaft an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus ... In dem Stil beginnen manche Science-Fiction-Filme oder -Bücher.
Auch die Handlung des vorliegenden Krimis Der Fall Sartory spielt in der Zukunft - genauer gesagt, im September 2020.
Eigentlich sollte das Buch eine Art Geburtstagsgeschenk zur 10. Auflage des Mordsharz-Festivals sein. Als ich es schrieb, konnte ich jedoch nicht ahnen, dass mir ein Virus einen Strich durch die Rechnung machen und alle meine Pläne in Frage stellen würde.
Wenn also Der Fall Sartory erschienen ist, steht es vermutlich noch in den Sternen, ob ich wenige Monate später zusammen mit »meinem« Mordsharz-Team das Festival-Jubiläum feiern kann.
In meinem Krimi habe ich die Pandemie allerdings abklingen lassen und die Hygienebeschränkungen aufgehoben, sodass zumindest darin das Mordsharz-Festival wie geplant stattfindet. Vielleicht ist das auch in der Realität noch möglich. Wenn nicht, gibt es ja zum Glück dieses Buch. Darin habe ich aufgeschrieben, wie alles sein wird oder wenigstens hätte sein können.
Herzlichst
Roland Lange
Prolog
»Was genau hast du vor?«
»Besser, du weißt es nicht.«
»Ist es so schlimm?«
»Ich sagte schon: Es ist besser, wenn du es nicht weißt.«
»Du willst doch nicht etwa ...?«
»...«
»Hör zu, ich will nicht in so eine Sache reingezogen werden.«
»Du wirst in gar nichts reingezogen. Mach einfach nur, worum ich dich gebeten habe. Alles andere überlässt du mir.«
»Das kann ich nicht tun!«
»Doch, das kannst du.«
»Und wenn wir auffliegen?«
»Wie denn?«
»Jemand wird mich sehen und irgendwann quatschen.«
»Und worüber? Es ist nichts Auffälliges daran. Niemand wird sich später an dich erinnern.«
»Und wenn doch? Wenn einer bei mir auftaucht und Fragen stellt?«
»Dann warst du nie da. Das werde ich bezeugen. Du bekommst ein Alibi von mir. Aber so weit wird es nicht kommen.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Weil es keine Spur zu uns geben wird. Weder zu mir, noch zu dir. Keinen Anhaltspunkt. Kein Motiv. Nichts.«
»Trotzdem. Ich habe ein Scheißgefühl dabei.«
»Herrgott noch mal, jetzt mach einfach, worum ich dich bitte.«
»Und wenn ich nein sage?«
»Du erinnerst dich hoffentlich, dass du mir noch etwas schuldest. Du hast gesagt, wenn ich mal deine Hilfe brauche ...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe.«
»Na also. Dann sieh es jetzt als einmalige Gelegenheit, deine Schuld zu begleichen.«
»Ich nehme an, mir bleibt keine Wahl.«
»Wenn du nicht willst, dass plötzlich jemand etwas erfährt, das dich in Teufels Küche bringen würde ...«
»Ich verstehe.«
»Das ist gut. Also, kann ich auf dich zählen?«
»Ja, kannst du.«
»Schön. Dann machen wir es wie besprochen.«
»Und diese Sache damals ...«
»Wird für immer unser Geheimnis bleiben.«
»Gib mir dein Wort.«
»...«
»Hallo ...? Nicht auflegen! Bitte!«
»...«
»Verdammt!«
1. Kapitel
»Sehr geehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Northeim. Sie haben Anschluss an die Regionalbahn nach ...« Bla, bla, bla!
Ingrid Schneider hörte nicht hin. Sie gähnte und blickte angeödet aus dem Waggonfenster auf die vorbeifliegenden Strauch- und Baumgruppen. Durch die Lücken im Geäst schimmerte das Wasser eines Sees, auf dem ein paar Segelboote kreuzten. Der Northeimer Kiessee, wie sie aus den Gesprächsfetzen der benachbarten Mitreisenden entnehmen konnte. Auf der Wasseroberfläche brach sich das Licht der schräg stehenden Sonne in den kleinen Wellen. Das Bild erinnerte sie an einen funkelnden Perlenteppich.
Freizeitgestaltung in der Pampa, dachte sie angesichts der Boote und sehnte sich augenblicklich zurück an den Ausgangspunkt ihrer Reise und zu den großen Schiffen.
In Bremen, der Stadt, in der sie wohnte, war sie am frühen Nachmittag in den Intercity gestiegen. Sie liebte es, in andere Großstädte zu fahren. In den Metropolen mit ihrem pulsierenden Leben fühlte sie sich wohl. Landluft und -bevölkerung waren ihr dagegen noch nie ganz geheuer gewesen. Ausgerechnet dort lag heute ihr Ziel: Walkenried, ein Kaff im Südharz, das ihr vollkommen fremd war. Ebenso wie das Kloster, in dem sie aus ihrem Krimi lesen sollte. UNESCO-Weltkulturerbe, diese restaurierten Mauern. Und wenn schon! Kirchenmauern eben. Und drinnen wahrscheinlich arschkalt.
In Hannover hatte sie das erste Mal umsteigen müssen. In einen der Metronom-Züge in Richtung Göttingen, der vollbesetzt war mit Pendlern auf dem Weg nach Hause in den Feierabend. Und gleich würde es noch eine weitere Stufe abwärts gehen, wenn sie mit der Regionalbahn bis hin zum letzten Außenposten der Zivilisation schaukeln musste – in das Mittelgebirge, das sie nicht das erste Mal besuchte. Sie glaubte nicht, dass sie sich je mit dem Harz anfreunden würde.
Der Metronom drosselte stockend seine Geschwindigkeit, als er in den Bahnhof von Northeim einfuhr. Im Waggon kam Unruhe auf. Etliche Fahrgäste verließen ihre Sitzplätze und drängelten sich im Gang hin zu den Türen. Auch der verschwitzte Fettwanst neben ihr, den sie seit dem Halt in Alfeld hatte erdulden müssen, war schnaufend aufgestanden. Endlich konnte sie wieder frei durchatmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich die Abstandsregeln der Coronakrise zurückwünschte.
Der Zug rollte langsam weiter, dann erneut das Kreischen der Bremsen. Sekunden später ein schwacher Ruck und der Zug stand. Northeim war erreicht. Ingrid Schneider quälte sich stöhnend aus ihrem Sitz hoch, griff nach ihrem Trolley. Lustlos trottete sie hinter den anderen Reisenden her zum Ausstieg. Auf dem Bahnsteig kam sie sich vor, wie ausgespuckt von einer gelb-blauen stählernen Schlange, die nach dem Pfiff der Zugbegleiterin unbeirrt ihren Weg fortsetzte und sich nicht weiter um sie scherte. Ebenso wenig, wie es ihre ehemaligen Mitreisenden taten, die jetzt eilig auf die Treppe zur Unterführung zusteuerten. Nicht einer von denen hatte sie erkannt – nein, nicht Ingrid Schneider, wie es in ihrem Personalausweis stand, sondern die große Carolin P. Sartory, die angesagte Krimi-Autorin, deren aktuelles Werk sich seit dem Erscheinen Ende Mai auf der Spiegel-Bestsellerliste sonnte. In jedem Buchladen hing ihr Konterfei über einem werbewirksam aufgeschichteten Stapel ihres Krimis. Irgendjemand im Waggon hätte doch auf sie aufmerksam werden müssen! Ihr wenigstens verstohlene Blicke zuwerfen können, wenn schon keiner den Mut gehabt hatte, sie anzusprechen und um ein Autogramm zu bitten. Stattdessen um sie herum nur ausdruckslose Gesichter und müde Augen, die stumpfsinnig ins Leere oder auf die allgegenwärtigen Smartphones glotzten. Es war kaum anzunehmen, dass sich die Situation ausgerechnet hier, auf diesem Bahnhof irgendwo im Nirgendwo in der nächsten halben Stunde verbesserte. So, wie es aussah, gab es weit und breit niemanden, der sich für sie interessierte, und auch sonst nichts, was das Leben etwas angenehmer machte, sah man einmal von dem kleinen Service-Store ab! Himmelherrgott, was hatte sie hier nur verloren?
Sie hätte die Einladung zu diesem Harzer Krimifestival nicht annehmen sollen, Anfang des Jahres, als noch nicht abzusehen gewesen war, was für ein durchschlagender Erfolg ihr neues Buch werden würde. Seitdem spielte sie in der Champions-League, nicht länger im Klub der grauen Mäuse. Jetzt, da man glaubte, das Coronavirus im Griff zu haben und das Leben seit ein paar Wochen wieder ohne größere Einschränkungen funktionierte, wurde sie von Lesungsanfragen überschwemmt und konnte es sich leisten, die weniger attraktiven Angebote auszuschlagen. Aber gut, Vertrag war Vertrag, da musste sie jetzt durch. Sollten sich die Veranstalter des Mordsharz-Festivals ruhig eine Stunde im Glanz ihres Top-Stars sonnen. Sie wollte nicht kleinlich sein und gönnte es ihnen.
Mordsharz – zugegeben, das hatte einen faszinierenden Klang! Dieser Hauch von Mystik und Düsternis, der darin mitschwang und dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Abgesehen davon musste sie sich nun wirklich nicht schämen angesichts der Kolleginnen und Kollegen, deren Namen das Festival-Programm zierten. Sie war in guter Gesellschaft, denn tatsächlich fand sich die Creme der Szene an diesen vier Tagen im Harz zusammen. Ein Umstand, der ihr einen gewissen Respekt abnötigte.
Sie würde trotzdem froh sein, wenn sie diesen Pflichttermin hinter sich gebracht hatte und morgen wieder abreisen konnte. Nach Hamburg, Berlin, Frankfurt, München – egal wohin ihr neuer Verlag sie schickte, Hauptsache, nicht mehr in ein verschlafenes Provinznest! Und mit etwas Glück würde sie sogar um eine erneute Begegnung mit diesem Jammerlappen herumkommen, der einfach nicht begreifen wollte, dass er bei ihr keinen Blumentopf mehr gewinnen konnte und sich seine Niederlage nicht eingestehen wollte.
Zögernd verließ Ingrid Schneider den Bahnsteig und stieg die Stufen zur Unterführung hinab. Unten angekommen, studierte sie ihre Fahrkarte. Von Gleis 13 aus ging die Reise weiter. Sie blickte auf, suchte irgendeinen Hinweis, entdeckte hinten, fast am Ende des Tunnels, das Schild mit den weißen Ziffern auf blauem Untergrund. Eine Treppe führte dort wieder hinauf zu den Gleisen. Sie gab sich einen Ruck und setzte ihren Weg durch das menschenleere, geflieste Gewölbe fort. Die kleinen Räder ihres Trolleys klackerten leise hallend hinter ihr her.
»Frau Sartory! Frau Sartory, hallo!«
Ingrid Schneider hatte bereits den Fuß auf die erste Stufe der steinernen Treppe gesetzt, als von rechts, wo der Tunnel aus dem Bahnhofskomplex nach draußen führte, eine Frau winkend auf sie zugelaufen kam. Sie blieb stehen, blickte ihr verwundert entgegen.
Ein Fan!, dachte sie und ihre Laune machte augenblicklich auf der Gefühlsskala einen gewaltigen Satz nach oben. Wie es schien, lebten hier doch nicht alle Leute hinter dem Mond. Sie ließ ihren Trolley los und widmete sich ihrer Umhängetasche, um einen Kugelschreiber herauszufischen. Sicher wollte die Dame ein Buch signieren lassen.
»Frau Sartory! Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich erwische Sie nicht mehr!« Die Frau hatte sie erreicht und stand jetzt keuchend vor ihr.
Landei, dachte Ingrid Schneider abschätzig angesichts der in ihren Outdoor-Klamotten etwas unkultiviert wirkenden, etwa vierzigjährigen Person. Sie lächelte gönnerhaft. »Ja, da haben Sie wirklich Glück gehabt. Dann geben Sie mal her.« Sie streckte fordernd die linke Hand aus. In der rechten hielt sie den Kugelschreiber.
»Was?« Die Frau starrte sie begriffsstutzig an.
»Ihr Exemplar meines Buches, das ich Ihnen signieren soll. Möchten Sie, dass ich Ihnen eine Widmung reinschreibe?«
»Ich ... wie?« Plötzlich hellte sich das Gesicht der Frau auf. »Ach so! Nein, nein! Kein Autogramm. Ich gehöre zum Festival-Team. Mordsharz! Sie wissen schon. Ich soll Sie abholen.« Sie grinste entschuldigend. »Das konnten Sie natürlich nicht ahnen. Wir haben das kurzfristig beschlossen. Wollten Ihnen den Bummelzug ersparen.«
Ingrid Schneiders Laune bewegte sich zurück in Richtung Gefrierschrank. »Wie nett«, raunzte sie und steckte ihren Kugelschreiber wieder weg.
»Ja, dann mal los, Frau Sartory«, rief die Frau aufgekratzt. »Mein Auto steht draußen auf dem Parkplatz. Darf ich Ihnen den Koffer abnehmen?«
»Nein, nein. Das schaffe ich schon!«, wehrte Ingrid Schneider hastig ab. Ihr Hab und Gut fasste niemand an – jedenfalls niemand, der nicht mindestens Page eines Fünfsternehotels war oder ein armer Student, der sein Studium mit Taxifahren finanzierte.
»In Ordnung. Kommen Sie.« Die Frau wandte sich um und setzte sich entschlossen in Richtung Tunnelausgang in Bewegung. Dabei legte sie ein Höllentempo vor. Ingrid Schneider hatte auf ihren High Heels Mühe, ihr zu folgen.
Der SUV, vor dem die Frau kurz darauf stehen blieb, war schon älter und lief vermutlich noch unter dem Begriff »Geländewagen«. Ein kantiger Mitsubishi. Modell Pajero. Letzteres las Ingrid Schneider an der Heckfront. Die dicke Schmutzschicht an den Reifen und rings um die Karosserie zeigte deutlich, über welche Untergründe das Fahrzeug hauptsächlich bewegt wurde.
Wahrscheinlich herrscht hier im Outback an befestigten Straßen ohnehin Mangelware, durchzuckte Ingrid Schneider ein ketzerischer Gedankenblitz. Es bereitete ihr Unbehagen, in eine derart verdreckte Karre einzusteigen. Ein wenig mehr Komfort und Luxus hatte sie schon erwartet. Immerhin war sie nicht irgendwer, sondern Carolin P. Sartory!
Die Frau öffnete die Beifahrertür und verstaute den Trolley auf der Rückbank. »Entschuldigung, ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt«, sagte sie, ehe sie Ingrid Schneider einsteigen ließ. »Ich heiße Stefanie. Stefanie Pabst. Mit b, nicht p wie der alte Herr in Rom. Sie können Steffi zu mir sagen. Machen alle anderen auch.«
»Ja, angenehm ... Steffi«, murmelte Ingrid Schneider. Dann gab die Frau den Weg frei und sie konnte sich auf den Beifahrersitz schwingen.
Fünf Minuten später lag Northeim hinter ihnen. Nacheinander durchquerten sie Hammenstedt, Katlenburg, Lindau – Orte, von denen Ingrid Schneider noch nie etwas gehört hatte. Steffi, ihre Fahrerin, quasselte unentwegt.
»Mein Gott, ist das toll, Sie bei uns auf dem Festival zu haben, Frau Sartory!«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und ich durfte Sie als Erste kennenlernen. Sie glauben ja gar nicht, wie hibbelig die Jungs vom Team schon sind. Die werden über Sie herfallen, wenn wir gleich da sind.«
»Ich würde vorher lieber erst ins Hotel, mich etwas frisch machen«, dämpfte Ingrid Schneider ihren Enthusiasmus.
Steffi Pabst stockte. »Hotel ... äh, ja ... natürlich. Welches war das noch?«
»Hotel Romantischer Winkel in Bad Sachsa, hat man mir geschrieben. Dort soll ich übernachten. Wissen Sie das nicht?«
»Doch, klar.« Steffi Pabst grinste verlegen. »Hatte ich nur gerade nicht parat. Ich bin manchmal etwas schusselig. Tut mir leid.«
»Kein Problem.« Ingrid Schneider winkte ab. Die Frau war nicht die Hellste. Hatte sie gleich gemerkt. Was konnte man von so einem Landei auch anderes erwarten?
»Dann fahre ich Sie da jetzt mal hin«, sagte Steffi Pabst. »Da haben Sie es richtig gut getroffen. Eine Spitzenherberge, das kann ich Ihnen sagen. Ich bin fast ein bisschen neidisch.«
»Ich freue mich auch schon. Ganz ehrlich«, erwiderte Ingrid Schneider müde und schickte ein kurzes, gequältes Lächeln in Steffis Richtung. Dann starrte sie wieder nach draußen. Landschaft! Überall nur Landschaft. Äcker, Wiesen, Wald. Keine Großstadt-Skyline am Horizont. Dafür ein paar Windräder. Deprimierend.
Steffi schien nichts vom desolaten Gemütszustand ihres berühmten Fahrgastes zu merken. Sie plauderte weiter munter drauflos. »Es ist aber auch ein klasse Buch, was Sie da geschrieben haben. Sie stehen wirklich zu Recht ganz oben auf den Bestseller-Listen.«
»Danke.« Ingrid Schneider seufzte leise. Der kleine Stimmungsaufheller tat gut.
»Ich habe Die Festung der Schafe übrigens vor zwei Wochen zu Ende gelesen. Ehrlich, Frau Sartory, ganz großes Kino. Ich freue mich wahnsinnig, wenn Sie nachher aus dem Buch vorlesen. Ist doch noch mal was anderes, den Text aus dem Mund der Autorin zu hören.«
»Dann hoffe ich nur, ich werde Sie nicht enttäuschen.« Ingrid Schneider fühlte sich jetzt wesentlich besser. Fast ein bisschen euphorisch.
Steffi winkte ab. »Ach was! Ihr Publikum wird Sie lieben! Sagen Sie, schreiben Sie eigentlich schon an einem neuen Buch?«
»Ja ... doch.«
»Und? Worum geht es da?« Steffi unterbrach sich und kicherte. »Blöde Frage von mir, Entschuldigung. Da dürfen Sie natürlich nichts drüber verraten, oder?«
»Nein, darf ich nicht«, bestätigte Ingrid Schneider und dachte an die Dinge, auf die sie bei ihren Recherchen gestoßen war. Ein verdammt heißes Eisen, von dem sie noch nicht genau wusste, wie sie es für sich schmieden sollte.
»Auch kein kleiner Tipp? Nichts?«, bohrte Steffi weiter.
»Nein, nichts ... halt, Moment, sollten wir nicht geradeaus weiterfahren?« Aus den Augenwinkeln hatte Ingrid Schneider beim Abbiegen das gelbe Hinweisschild gelesen. Demnach hätten sie auf der vierspurigen Bundesstraße bleiben müssen. Gerade hatten sie Herzberg durchquert. Angeblich eine Stadt, in ihren Augen jedoch nur ein etwas zu groß geratenes Dorf.
»Alles in Ordnung, Frau Sartory«, verkündete Steffi munter, »machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir nehmen eine Abkürzung. Fahren ein Stück durch den Wald. Da draußen auf der Bundesstraße kriegen Sie ja sonst gar nichts mit von unserem wunderschönen Harz.«
Ingrid Schneider schluckte trocken. Ihr war nicht nach Harz und noch mehr Natur zumute. Aber bei diesem Geländewagen hätte sie sich eigentlich denken können, dass da was nachkam. »Na, jetzt bin ich echt gespannt«, presste sie hervor.
»Das sollten Sie auch. Sie werden sich wundern, was Sie erwartet«, trällerte Steffi vergnügt und grinste breit.
Ingrid Schneider kam diese Ankündigung, die sie vermutlich in Vorfreude versetzen sollte, eher wie eine Drohung vor. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.
Nur wenige Meter, nachdem Steffi nach links abgebogen war, machte sie einen Rechtsschwenk in eine Straße, die parallel zu jener Bundesstraße verlief, die sie gerade erst verlassen hatten. Ingrid Schneider blieb kaum Zeit, sich über die erneute Richtungsänderung zu wundern, da lenkte ihre Fahrerin den Pajero in einen asphaltierten Feldweg, der sie durch hügeliges Weide- und Ackerland führte. Nach weiteren zwei, vielleicht auch drei Kilometern – sie war noch nie gut im Schätzen gewesen – änderte sich die Vegetation und sie tauchten in die Harzer Wälder ein. Der Belag des Weges wechselte und die grobstolligen Reifen des Geländewagens rollten jetzt knirschend über eine Schotterpiste.
Ingrid Schneiders Unwohlsein hatte sich mit jedem gefahrenen Meter mehr und mehr in Angst verwandelt. Das war doch keine Sightseeingtour, auf der sie sich gerade befand. Niemals!
»Was wird das hier?«, fragte sie mit zitternder Stimme und klammerte sich an den Griff vor ihr am Armaturenbrett.
»Wie ich schon sagte, Frau Sartory, eine Abkürzung«, entgegnete Steffi gelassen. »Bleiben Sie mal ganz locker und genießen Sie einfach die wunderschöne Natur.«
Wunderschöne Natur? Von wegen! Nur Baumriesen um sie herum! Einschüchternd und bedrohlich, wie sie sich dicht an dicht bis an den Wegrand drängten und den letzten Rest Tageslicht schluckten. Daran war nichts wunderschön. Im Gegenteil, es war furchterregend!
»Ich will das nicht!«, jammerte Ingrid Schneider. »Ich will zu meiner Lesung! Bringen Sie mich in dieses Kloster! Nach ... nach Walkenried! Sofort!« Sie wollte nicht mehr ins Hotel. Ihre Stimme klang schrill, überschlug sich fast. Panik flutete ihren Körper.
»Ist ja gut«, knurrte Steffi unwirsch. »Wir sind gleich am Ziel. Nur noch hinten um die Kurve.«
Am Ziel? Welchem Ziel denn? Was meinte diese Steffi damit? Die Antwort bekam Ingrid Schneider Sekunden später, als ihre Fahrerin hinter der besagten Kurve auf die Bremse trat und den Pajero zum Stehen brachte.
»So, da wären wir.«
»Was?« Ingrid Schneider blickte entsetzt um sich. Sie sah noch immer nur Wald und Schotterweg. Ihr Herz raste. »Wo sind wir hier?«
Steffi reagierte nicht auf ihre Frage. Sie stieg aus, umrundete den Wagen, öffnete die Beifahrertür, packte ihren Fahrgast am Arm und zerrte ihn nach draußen. »Los, aussteigen«, blaffte sie kalt. Nichts erinnerte mehr an die fröhlich drauflos plappernde Frau der letzten Dreiviertelstunde.
Ingrid Schneider strauchelte, fiel nach vorn und konnte sich gerade noch mit ihren Händen abfangen, bevor sie der Länge nach hinschlug. Die spitzen Steine des Schotteruntergrundes stachen in ihre Handflächen. Sie rappelte sich auf, ihr Trolley krachte neben ihr auf den Boden und rutschte vor ihren Augen ein kleines Stück die Böschung hinunter. In einer reflexartigen Bewegung hechtete sie dem Koffer hinterher.
»So, dann noch viel Vergnügen heute«, hörte sie Steffis schroffe Stimme in ihrem Rücken. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Frau Sartory.« Nacheinander schlugen zwei Autotüren zu, Sekunden später heulte der Motor des Pajeros auf und entfernte sich mit durchdrehenden Reifen.
Ingrid Schneider fuhr entsetzt herum. »Steffi! Nein!«, schrie sie und winkte wild hinter dem Fahrzeug her. »Warten Sie! Nehmen Sie mich mit! Sie können mich doch nicht ...!« Zu spät. Der Geländewagen war bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden.
Wie angewurzelt blieb sie auf dem Weg stehen und starrte in das dämmerige Zwielicht. Sekunden wurden zu Minuten, in denen sie ohne Plan ein paar zaghafte Schritte in die eine und wieder in die andere Richtung machte. Dann endlich kam sie auf die Idee, ihr Smartphone herauszuholen, um einen Notruf abzusetzen. Eine gute Idee, die jedoch durch das fehlende Funknetz vereitelt wurde.
»Verdammt, verdammt ...«, wimmerte sie leise und ließ das Telefon zurück in ihre Tasche gleiten. Tränen rannen ihr über die Wangen. Tränen der Wut. Sie griff nach dem Trolley, zögerte. Was sollte sie tun? Dem Geländewagen hinterher? Nicht gut. Wer wusste schon, wohin der Weg führte. Wieder zurück? Vielleicht hatte sie da unten irgendwo Empfang oder stieß wenigstens auf menschliches Leben. Wie lange waren sie eigentlich durch diesen Dreckswald gefahren? Sie hatte nicht darauf geachtet, aber zu Fuß würde es bestimmt ewig dauern. Allerdings, hier stehenzubleiben und auf ein Wunder zu hoffen, war auch keine Option. Einfach zum Kotzen! Sie hatte es gewusst! Schon als sie in Bremen in den Zug gestiegen war, hatte sie gewusst, dass es eine beschissene Lesereise werden würde. Nicht noch einmal würde sie sich zu so einem Abstecher in die Walachei verpflichten lassen. Nie wieder! Wütend stolperte sie los, musste sich vorsehen, dass sie in ihren High Heels nicht umknickte und sich die Knöchel brach.
In dunkle Gedanken versunken, stakste sie eine Weile vor sich hin, die Augen starr auf den Schotterweg gerichtet. Plötzlich hinter ihr ein leises Rascheln im Unterholz. Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter. Nichts. Kurz darauf wieder das Rascheln. Sie wagte nicht, sich noch einmal umzublicken. Beschleunigte ihre Schritte. Irgendetwas war da. Etwas Bedrohliches. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, instinktiv nahm sie wahr, wie sich ihr dieses Etwas schnell näherte. Sie verkrampfte. Los, weiter! Nur nicht stehen bleiben!
Dann die Attacke. Die Gestalt sprang ihr in den Rücken. Ein Arm legte sich wie ein Eisenreifen um ihre Brust. Sekundenbruchteile später fühlte sie den stechenden Schmerz am Hals. In diesem Moment wusste sie, dass sie heute Abend beim Mordsharz-Festival in Walkenried nicht aus ihrem Krimi lesen würde.
Sie würde überhaupt nie mehr irgendjemandem etwas aus einem Buch vorlesen!
2. Kapitel
Ingo Behrends stand unter Druck.
»Ja, zum Kuckuck! Ich bin gleich da!«, knurrte er gereizt und stolperte durch den Flur auf die Haustür zu. Dabei versuchte er umständlich, mit der Hand den linken Ärmel seines Sakkos zu erwischen und hineinzuschlüpfen. Eine comedyreife Szene. Slapstick pur. Er erreichte die Tür und beeilte sich, nach draußen zu gelangen, ehe Katrin ein zweites Mal auf die Hupe drückte und der gesamten Nachbarschaft signalisierte, dass im Hause Behrends Hektik angesagt war.
»Ich fahre wohl doch besser allein«, maulte seine Frau beleidigt, als er zu ihr ins Auto stieg. »Macht mir gar nichts aus. Du hast keine Lust und willst lieber vor der Glotze hocken.«
»So ein Quatsch!«, schnappte Behrends. »Nur weil ich nicht so aufgedreht bin wie du! Denkst du deshalb, mich interessieren die Lesungen nicht? Und was ist mit gestern? Da war ich auch dabei.«
»Ja, da hast du dich verpflichtet gefühlt. Glaubst du, ich habe das nicht gemerkt? Hinterher konntest du gar nicht schnell genug wieder wegkommen. Obwohl wir noch zu dem gemütlichen Beisammensein mit den Autoren eingeladen waren.«
»Mein Gott, es war schon so verdammt spät und ich musste heute Morgen früh raus!« Behrends atmete zweimal tief durch. Jetzt bloß ruhig bleiben. Warum unterstellte sie ihm nur so etwas?
»Komm, sei ehrlich. Du hast einfach keinen Draht zur Kriminal-Literatur. Zur Literatur überhaupt! Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal ein Buch gelesen hast.«
Das wusste er auch nicht. »Ich hab nicht genug Zeit«, versuchte er eine halb gare Rechtfertigung.
»Na, dann ist ja alles klar, alter Kulturbanause«, entgegnete sie lapidar und verhinderte mit einem breiten Grinsen, dass sich die angespannte Stimmung weiter zuspitzte. Ihr war offensichtlich ebenso wenig an einem überflüssigen Ehekrach gelegen wie ihm. Gleich darauf startete sie den Motor.
Behrends lehnte sich im Sitz zurück und seufzte leise. Er war froh, nicht selbst fahren zu müssen und seinen Gedanken nachhängen zu können.
Schuld an der Situation war Holger Diekmann, Behrends’ bester Freund. Mal wieder. Wenn es einer schaffte, ihn permanent in die Bredouille zu bringen, dann Holger. Obwohl es dieses Mal eher unabsichtlich und gar nicht gezielt auf Behrends gemünzt gewesen war. Holger hätte einfach nur auf diese Verlosung in seinem Online-Magazin Burgblick verzichten müssen oder Katrin hätte sich nicht daran beteiligen dürfen.
Drei Festival-Tickets für je zwei Personen hatte Holger als Preis ausgesetzt gehabt. Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Harzer Krimifestivals Mordsharz, das in dieser Woche über die Bühne ging. Nur eine E-Mail mit Namen und Kennwort »Kriminaltango« abschicken und man landete im Lostopf. Katrin hatte das getan und war prompt als Gewinnerin gezogen worden. Was für ihn, Behrends, bedeutete, er musste die Suppe zusammen mit ihr auslöffeln. Als zweite Person. Vier Tage mit jeweils drei Lesungen. Mehr Krimi ging nicht!
Ausgerechnet er als Kriminalhauptkommissar sollte das erdulden. Wo er schon den allerwenigsten Fernsehkrimis etwas abgewinnen konnte! Die ewigen Ermittlerduos mit ihren Methoden fernab jeder Realität oder diese ganzen seelisch gebrochenen Bullen-Typen, die mehr an ihrem Privatleben als an ihren Fällen zu knacken hatten. Kein vernünftiger Polizist konnte so einen Quatsch ernst nehmen, geschweige denn, Gefallen daran finden!
Dummerweise hatte Katrin ihm nichts von ihrer Teilnahme an der Verlosung gesagt, genau wie vor ein paar Jahren, als er sich gegen seinen Willen in Nörten-Hardenberg ein Springturnier hatte ansehen müssen. Ein Tag, der unerwartet in einen seiner heikelsten Fälle gemündet und nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert war. Auch damals hatte Holger so eine alberne Verlosung gestartet und Katrin ... na ja. Er wollte weder ihr noch Holger böse Absichten unterstellen, aber es roch schon gewaltig danach, dass die zwei eine geheime Abmachung getroffen hatten, mit dem Ziel, ihn ab und zu ein bisschen zu ärgern.
Bis kurz vor der ersten Lesung zu Beginn des Festivals gestern hatte er sich mit solchen Gedanken herumgeschlagen. Aber dann war alles anders gekommen. Sein Widerwillen hatte sich in Luft aufgelöst, und die Chancen standen ausgesprochen gut, dass er im Lauf der nächsten Wochen zu einem der Bücher griff, die Katrin schon gekauft hatte und an den verbleibenden drei Abenden sicher noch kaufen würde.
Vielleicht war es ja der einmaligen Atmosphäre des Wernigeröder Schlosses geschuldet, dass er mit offenen Ohren und ohne auch nur eine Minute gedanklich abzuschweifen, den Lesungen gelauscht hatte. In einer kunstvoll ausgeleuchteten Schlosskirche hatte er eine unterhaltsam moderierte Verleihung des Krimi-Preises Harzer Hammer genossen. Und den sympathischen Protagonisten auf der Bühne war es tatsächlich gelungen, mit spannenden Lesepassagen seine Vorurteile, wenn schon nicht zu zerschlagen, so doch zumindest ins Wanken zu bringen. Das alles hatte ihm zuletzt Lust gemacht auf die drei Mordsharz-Abende, die noch vor ihm lagen.
Ja, vielleicht hätte er Katrin etwas mehr Begeisterung zeigen sollen gestern Abend. Aber er war wirklich zu müde gewesen. Hatte ihr das nicht vorgespielt. Und jetzt zog sie die falschen Schlüsse. Na schön, sie würde schon merken, wie sehr sie sich täuschte. Er fühlte sich heute sogar fit genug für die Aftershow-Party. Zusammen mit Krimi-Autorin Carolin P. Sartory. Die war der Shooting-Star des Jahres in der Krimi-Szene, hatte ihm Katrin versichert. Und damit ein Highlight im Mordsharz-Programm.
Nach all den Vorschuss-Lorbeeren war Behrends wirklich neugierig auf die Frau.
3. Kapitel
Zwei Lesungen lagen bereits hinter den Gästen und vor dem Tisch auf der Bühne wartete noch eine Handvoll der zahlreichen Fans des österreichischen Bestseller-Autors Andreas Gruber, um sich Bücher von ihm signieren zu lassen. Nach der halbstündigen Pause füllten sich die Stuhlreihen im Kreuzgang des Zisterzienserklosters Walkenried allmählich wieder, das Gedränge am Tisch mit dem Fingerfood und dem daneben mit den Bücherstapeln ebbte ab. Viele der Besucher hatten die kurze Zeit für den Buchkauf, einen kleinen Snack oder den Gang zur Toilette genutzt. Andere kamen erst jetzt neu hinzu, besaßen Karten nur für diese eine noch ausstehende Lesung, die schon seit Wochen ausverkauft war.
Auch Holger Diekmann hatte in einem längeren Beitrag über die Autorin in seinem Online-Magazin dafür geworben. Wie es schien, hätte er sich die Mühe sparen können. Er war nicht so vermessen, zu glauben, sein Artikel hätte die Krimi-Fans der Region mobilisiert. Der Stern von Carolin P. Sartory strahlte so hell, da brauchte sie keinen Provinzjournalisten, der Licht ins Dunkel ihres Daseins brachte. Eine Selbsterkenntnis, die ihn ein wenig schmerzte.
In diesen Minuten kurz vor Beginn der Lesung streifte Diekmann hinter den aufgereihten Stühlen entlang und fing mit seiner Kamera ein paar Stimmungsbilder ein. Er hatte in den zurückliegenden Jahren nur sehr selten die Gelegenheit gehabt, die Mordsharz-Veranstaltungen zu besuchen. Immer waren ihm andere Termine dazwischengekommen. Zum Glück gab es Chris Dolle, den Pressesprecher des Festival-Teams. Der hatte ihn regelmäßig mit ausreichend Fotos und Texten von den jeweiligen Lesungen versorgt, sodass er umfassend darüber berichten konnte.
Den Tag heute hatte sich Diekmann jedoch freigehalten, nicht zuletzt, um den Stargast aus Bremen persönlich erleben zu können. Gelesen hatte er ihren Krimi Die Festung der Schafe noch nicht. Vielleicht schaffte es Carolin P. Sartory ja mit ihrer Lesung, ihn davon zu überzeugen, dass der Kauf ihres Buches eine sich lohnende Investition war. Mit den Krimis, die bisher unter ihrem richtigen Namen Ingrid Schneider erschienen waren, hatte sie allenfalls mittelmäßigen Erfolg verbuchen können. Zu dem Schluss war Diekmann während seiner Recherchen gekommen. Manchmal brauchte es ja nur ein Pseudonym, einen neuen Verlag und eine entsprechend angelegte Marketing-Strategie und schon ging so ein Krimi durch die Decke. Diekmann war überzeugt, dass Erfolg nicht immer etwas mit Qualität zu tun hatte. Aber er wollte fair sein und kein voreiliges Urteil fällen.
Er warf einen Blick hinüber zu Ingo Behrends, der zusammen mit Katrin vorn an der rechten Bühnenseite saß, direkt neben einer der mächtigen Säulen des Kreuzganges. Vorhin, in der ersten Pause, hatte er kurz mit seinem Freund geplaudert. Erstaunlich, wie locker Behrends drauf war und noch erstaunlicher, dass ihm die Lesungen zu gefallen schienen. Es war Diekmann einigermaßen unangenehm gewesen, als Katrin sich bei ihm Anfang der Woche ihren Gewinn abgeholt und auf ihren Gewinn sehr zwiespältig reagiert hatte.
Jetzt müsse sie wieder stundenlang Überzeugungsarbeit leisten, hatte sie gejammert. Weil Ingo kulturell leider so gar nicht interessiert sei, sie aber auch nicht ohne ihn zu den Lesungen fahren wolle. Es sei doch etwas peinlich, wenn sie gefragt werde, wo sie ihren Mann gelassen habe und sie sich dann eine halbwegs glaubhafte Erklärung aus den Fingern saugen müsse.
Diekmanns Vorschlag, den Preis einfach jemand anderem zu überlassen, hatte Katrin allerdings auch nicht gefallen. Nun, die Angelegenheit schien weniger dramatisch als befürchtet. Katrins Überzeugungsarbeit war offensichtlich sehr erfolgreich gewesen. Ingo war nicht nur mit von der Partie, sondern darüber hinaus allem Anschein nach bester Laune.
Hinter Behrends’ Rücken schlich diese junge Autorin aus der Nähe von Stuttgart herum. Sie zwängte sich in die zweite Stuhlreihe und ergatterte einen freien Platz schräg hinter ihm. Schon ihre Lesung hatte Diekmann nicht gefallen. Weniger, was ihren Vortrag anging. Die Mischung aus Hochdeutsch und schwäbischer Mundart war auf eine rührende Art richtig komisch gewesen. Nicht komisch hingegen hatte er ihr Buch selbst gefunden. Im Gegensatz zum Großteil des Publikums. Vielleicht lag es einfach daran, dass er dem übertriebenen Klamauk ermittelnder Altenheimbewohner überhaupt nichts abgewinnen konnte. Wie er Cosy-Krimis ganz allgemein nicht mochte.
Nach ihrer Lesung hatten Katrin und Ingo brav angestanden, um sich von der Autorin ein Buch signieren zu lassen. Diekmann hatte die drei beobachtet, wie sie ein paar Minuten miteinander plauderten. Später dann hatte er die Autorin immer in Ingos Nähe herumtigern sehen. Was, zum Kuckuck, wollte die bloß von ihm? Ach verdammt, das musste ihn nun wirklich nicht interessieren.
Er hielt kurz die Luft an und ließ sie langsam mit aufgeblähten Wangen wieder entweichen. Dann wandte er sich anderen Zielen zu, fing mit seiner Kamera weitere Impressionen ein. Keine fünf Minuten mehr. Alles war für den Auftritt des heutigen Haupt-Acts vorbereitet. Um 21 Uhr sollte sie die Bühne betreten. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Chris, den Pressesprecher, der sich hinter den Stuhlreihen entlangdrückte, auf den Ausgang zu. Diekmann machte ein paar Schritte zur Seite, schnitt ihm den Weg ab.
»Hey, Chris, grüß dich«, rief er ihm zu.
Chris blickte flüchtig auf, hob kurz die Hand zum Gruß. »Hallo, Holger. Schön, dass du da bist.«
Diekmann bemerkte das besorgte Gesicht des Pressesprechers. Der schien mit seinen Gedanken ganz weit weg. »Was ist los, Mann? Die Hütte ist gerammelt voll und du machst so ein Essiggesicht.«
»Du hast ja keine Ahnung«, grunzte Chris düster.
»Wie – keine Ahnung?«
»Die Sartory. Sie ist nicht gekommen.«
»Nicht gekommen?« Diekmann riss die Augen auf, starrte den Pressesprecher entgeistert an. »Heißt das, da wird nicht gleich eine gefeierte Krimi-Autorin auf die Bühne steigen und aus ihrem Bestseller vorlesen?«
»Du hast es erfasst«, bestätigte Chris grollend. »Eine verfluchte Scheiße ist das!«
»Aber wieso? Hat sie in letzter Minute abgesagt, oder was? Ist sie krank geworden?«
»Das ist es ja! Wir wissen nichts. Rein gar nichts! Sie hat sich nicht gemeldet. Eigentlich hätte sie schon längst in Bad Sachsa im Hotel einchecken müssen. Roland sollte sie vom Bahnhof abholen, mit ihr zum Hotel fahren und sie anschließend hierher ins Kloster bringen. So war es mit ihr abgemacht. Er hat vergeblich gewartet. Auch im Zug eine Stunde später war sie nicht.«
»Vielleicht ein Missverständnis? Beim Umsteigen das falsche Gleis erwischt? Oder Verspätung, Zugausfall, Weiche kaputt, spontane Fahrplanänderung. Die Bahn eben. Wenn du da einsteigst, hast du so gut wie verloren. Du weißt nie, wann und wo du ankommst.«
»Vergiss es. Wir haben alles gecheckt. Es gab keine Probleme. Alle Züge waren pünktlich.«
»Und jetzt?«
»Mark versucht schon die ganze Zeit, jemanden zu erreichen, der vielleicht irgendeine Ahnung hat, wo die Frau abgeblieben sein könnte.« Chris deutete mit dem Kopf in Richtung von Mark Kroeger, dem Chef des Festival-Teams, der am anderen Ende des Kreuzgangs mit dem Smartphone am Ohr unruhig hin und her lief. »Die Sartory selbst geht ja nicht an ihr Handy«, fügte er hinzu.
»Und was jetzt? Was habt ihr vor?«
Chris zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir warten noch eine Viertelstunde und hoffen auf ein Wunder in letzter Sekunde. Verdient hätten wir’s. Wir haben immerhin Zehnjähriges. Wenn nicht ... Shit happens.« Er hob bedauernd die Hände und grinste hilflos. »Vielleicht übernimmt Andreas Gruber ja noch mal und macht ein wenig Stimmung. Er hat’s ja als Entertainer auch ganz gut drauf.«
»Hm, ich weiß nicht, ob das die Leute zufriedenstellt«, brummte Diekmann.
»Hast du ’ne bessere Idee?«
»Schenkt ihnen reinen Wein ein. Ist schließlich nicht eure Schuld, wenn die Dame ihren Star-Allüren erliegt und es nicht für nötig hält, pünktlich vor Ort zu sein oder euch wenigstens Bescheid zu geben, sollte ihr tatsächlich unerwartet etwas dazwischengekommen sein.«
»Du denkst, sie hatte überhaupt nicht die Absicht, hier aufzuschlagen, und hat sich einfach ausgeklinkt? Hör auf! Warum sollte sie sich so verhalten? Das wäre Vertragsbruch und höchst unprofessionell dazu. Ihrem Ruf würde das nur schaden. So dumm schätze ich sie nicht ein.«
»Kennst du sie denn? Weißt du, wie sie tickt?«
»Nein. Aber es könnte tausend andere Gründe dafür geben, dass sie nicht hier ist.«
»Ja, mag sein. Allerdings hätte sie sich dann ja wohl gemeldet. Wie auch immer, erklärt eurem Publikum einfach, wie es ist und gut.«
Chris wiegte zweifelnd den Kopf. »Leicht gesagt. Am Ende fällt die Sache sowieso auf uns zurück. Wenn wir den Leuten mitteilen, dass sie wieder nach Hause gehen dürfen, werden sie auf uns sauer sein. Der Grund für die verpasste Lesung interessiert dann keinen mehr. Es wird heißen, wir hätten die Gäste verarscht und ihnen den Abend versaut. Richtig gute Werbung für unser Festival. Hier im Kloster brauchen wir nächstes Jahr bestimmt nicht noch einmal anzuklopfen.«
Diekmann kniff zweifelnd die Augen zusammen. »Also, so düster würde ich das jetzt nicht sehen«, sagte er. »Du kannst den Leuten schon zutrauen, dass sie einigermaßen bei Verstand sind und euer Festival nicht in die Pfanne hauen wegen etwas, an dem ihr keine Schuld tragt.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Tja, ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen. So kann ich heute noch ein paar Zeilen über den Abend verfassen und ins Netz stellen.«
»Holger, tu mir bitte einen Gefallen.« Chris sah ihn flehend an.
»Ja?«
»Halt die Füße still und warte ab. Zumindest bis morgen. Ich möchte erst teamintern klären, was wir an die Öffentlichkeit geben und dann eine Pressemitteilung aufsetzen, die ich an meine Kontakte zur Veröffentlichung schicke. Es wäre nicht gut, wenn jeder für sich rumspekuliert. Du weißt, was dabei rauskommen kann. Ich mache mich heute Nacht noch dran und schreibe was. Morgen früh hast du den Artikel. Meine Fotos kannst du ja mit deinen mischen. Kein Problem. Wäre das okay für dich?«
Diekmann fuhr sich durch die Haare, ließ seine Augen nachdenklich über das Publikum wandern, das die Blicke erwartungsfroh auf das Podest und den Tisch richtete, hinter dem in diesen Sekunden eigentlich Carolin P. Sartory Platz nehmen sollte. Er ließ sich nur ungern sagen, was er in seinem Burgblick veröffentlichte und wie es geschrieben sein musste.
»Komm schon«, drängelte Chris, »sonst hast du doch das Material immer gern genommen, das ich dir zugeschickt habe.«
Diekmann seufzte. Dann nickte er. »Okay, weil du es bist. Und du glaubst, alle anderen machen dabei auch mit?«
»Diejenigen, die überhaupt was veröffentlichen, schon.« Chris grinste schief. »Ich habe kaum mal erlebt, dass jemand kreativ geworden ist und was völlig Neues aus meinen Texten gemacht hat. Bis auf eine Ausnahme. Aber den kenne ich gut. Mit dem kann ich reden. So, wie mit dir.«
Diekmann lachte auf. »Schon gut. Musst mir keinen Honig ums Maul schmieren. Ich warte ab und übernehme, was ich von dir kriege. Jedes Wort.«
»Danke, Mann.«
»Keine Ursache.« Diekmann reichte Chris die Hand und verabschiedete sich. Eine merkwürdige Geschichte, überlegte er im Hinausgehen. Obwohl er vor wenigen Minuten noch etwas anderes gesagt hatte, so glaubte er dennoch nicht, dass eine Autorin wie die Sartory einfach so von der Bildfläche verschwand und kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Wenn sie sich mit solch einer Aktion hätte wichtigmachen wollen, dann hätte sie irgendjemandem eine Nachricht hinterlassen, wenigstens einen kleinen Hinweis auf ihren Verbleib gegeben. Eine Autorin, die in kürzester Zeit einen derart kometenhaften Aufstieg hingelegt hatte, würde ihren Ruf nicht sofort wieder aufs Spiel setzen und auf eine Lesung vor ausverkauftem Haus verzichten. Da hatte Chris sicher Recht. Nein, es musste andere Gründe geben. Welche, das konnte er hoffentlich morgen im Bericht des Mordsharz-Pressesprechers lesen.
4. Kapitel
Zum ersten Mal in der 10-jährigen Geschichte des Harzer Krimifestivals Mordsharz war am Donnerstagabend das Zisterzienserkloster und UNESCO Weltkulturerbe in Walkenried Austragungsort für die spannenden Krimilesungen. Auf den Höhepunkt des Abends, den Auftritt der Bestsellerautorin Carolin P. Sartory, warteten die Zuhörer im ausverkauften Kreuzgang jedoch vergebens. Aus bisher ungeklärten Gründen war die Autorin nicht zu ihrer Lesung in Walkenried erschienen. Den Organisatoren des Mordsharz-Festivals war es bis zum Schluss nicht gelungen, Näheres zum Verbleib von Carolin P. Sartory in Erfahrung zu bringen, sodass die Lesung der Autorin kurzfristig ausfallen musste. Die Team-Mitglieder bedauern dies sehr und bedanken sich auf diesem Wege noch einmal herzlich bei Thriller-Autor Andreas Gruber, der sich nach seiner vorausgegangenen Lesung spontan zu einem weiteren Auftritt bereit erklärt hatte.
Gruber gelang es, mit seiner improvisierten Mischung aus persönlichen Anekdoten und kurzen Leseauszügen aus seinen Werken auch diejenigen Besucher zum Bleiben zu bewegen, die ausschließlich wegen Carolin P. Sartory ins Kloster gekommen waren. Der Wiener Autor entpuppte sich während seines ungeplanten Zusatzauftritts als blendend aufgelegter Entertainer, der das Publikum mit seiner schlagfertigen Art in seinen Bann zog und immer wieder zu herzhaften Lachsalven animierte.
Diekmann starrte auf den Bildschirm und gähnte. Er war, kaum dass er die Augen aufgeschlagen hatte, in sein Büro gegangen. Noch mit seinem Schlafanzug bekleidet, hatte er sich vor den PC gesetzt. Gerade las er den Text ein zweites Mal. Dann schaute er sich die Fotos an, die ihm Chris Dolle zusammen mit dem kurzen Bericht in der Nacht per E-Mail übersandt hatte. Es schien, als habe der Abend wider Erwarten einen versöhnlichen Ausklang gefunden. Insgeheim hatte Diekmann darauf gehofft, auch etwas Neues über das Schicksal der verschwundenen Krimi-Autorin zu erfahren. Sollten Chris und seine Mordsharz-Freunde etwas darüber wissen, so hatten sie offensichtlich nicht die Absicht, ihre Erkenntnisse mit dem Rest der Welt zu teilen.
Er begutachtete die in der Mail angehängten Fotos eingehend und suchte sich drei als Ergänzung zu seinen eigenen heraus, die er dem von Chris verfassten Text hinzufügte und kurz darauf in seinem Online-Magazin veröffentlichte. Danach verließ er sein Büro in Richtung Bad, verrichtete seine Morgentoilette, zog sich an und ging nach unten in die Küche, um zu frühstücken. Später würde er sich seinem Tagesgeschäft widmen, die Artikel für den Folgetag zusammenstellen, Fotos sichten, ein paar Rechnungen an Werbekunden schreiben. Gegen Mittag musste er noch den Wochenendeinkauf erledigen, eine Aufgabe, der er sich nur mit Widerwillen widmete. Aber seine Frau Heike entließ ihn nicht aus der Verantwortung. Im Wechsel mit ihr musste er alle vierzehn Tage dafür sorgen, dass der Kühlschrank wieder gut gefüllt war. So war ihre Vereinbarung, und seine Frau kannte kein Pardon, wenn es um die gemeinsamen Hausarbeiten ging.
Als Diekmann gegen 13 Uhr den Edeka-Supermarkt am Ortsrand von Förste verließ, kam ihm Ingo Behrends über den Parkplatz entgegen.
»Was machst du denn um diese Zeit hier?«, rief er seinem Freund zu. »Wo sind deine Verbrecher geblieben? Alles gesetzestreue Bürger geworden?«
Behrends winkte lachend ab. »Schön wär’s. Aber keine Angst. So schnell werde ich nicht arbeitslos.«
Diekmann hatte sein Auto erreicht, öffnete die Kofferraumklappe und verstaute den Einkauf. »Und was hält dich dann von der Arbeit ab?«, fragte er, als Behrends sich neben ihn stellte.
»Ich komme gerade aus der Inspektion. Werde heute nicht mehr gebraucht und habe mir für den Rest des Tages freigenommen.«
»Für den Wochenendeinkauf? Hat dich Katrin auch dazu verdonnert?« Diekmann glaubte, in seinem Freund den Leidensgenossen zu erkennen.
Behrends grinste. »Da hätte ich wohl schlechte Karten. Du hast den Laden ja schon leergeräumt.« Er deutete auf den vollgepackten Kofferraum. »Nee, ich brauche nur ein Stück Kuchen. Katrin und ich wollen nachher zusammen Kaffee trinken. Machen wir viel zu selten. Und heute Abend dann wieder Krimifestival. In Nordhausen.«
Diekmann zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Scheint dir ja tatsächlich zu gefallen.«
»Hm hm, doch. War endlich mal was Sinnvolles in deinem Lostopf.«
»Du wirst mir immer unheimlicher. Ach, übrigens, wie war das gestern denn noch? Die Sartory, diese Star-Autorin, die ist ja wohl bis zum Schluss nicht mehr aufgetaucht, oder?«
»Nein, ist sie nicht. Dafür ist der Gruber noch mal auf die Bühne gegangen und hat die Bude richtig gerockt. Schräger Typ.« Er zögerte kurz. »Jetzt erzähl mir aber nicht, dass du das nicht weißt«, fügte er hinzu.
»Als Chris mir gesagt hat, dass die Sartory nicht gekommen ist und ihre Lesung ins Wasser fällt, bin ich nach Hause gefahren.« Die Mail des Pressesprechers verschwieg Diekmann seinem Freund. »Bist du denn dein Anhängsel wieder losgeworden?«
»Was für ein Anhängsel?« Behrends begriff nicht sofort.
»Die Autorin aus Schwaben. Die mit ihren Altenheim-Ermittlern. Ich habe gesehen, wie sie dir die ganze Zeit hinterherscharwenzelt ist.«
»Oh Gott, ja! Hör bloß auf.« Behrends fasste sich an den Kopf. »Wir waren nach der Veranstaltung noch nebenan beim Japaner. Die Leute vom Mordsharz-Team hatten Tische reserviert und wir als deine Ticket-Gewinner waren eingeladen. Diese Frau hat mir direkt gegenübergesessen und mich von Anfang bis Ende zugetextet. Und alles nur, weil Katrin ihr beim Buchsignieren stecken musste, dass ich bei der Kripo bin. Dabei hätte ich mich so gern mit dem Gruber unterhalten. Der saß neben mir. Aber keine Chance!«
»Auf der Bühne hat die gar nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie so eine Plaudertasche. Da wirkte sie doch eher etwas unbeholfen.«
»Mann, du hast keine Ahnung«, stöhnte Behrends. »Die hat mich so was von gelöchert! Wollte alles über meine Arbeit wissen. Sie hat schon immer mit einem echten Kommissar über seine Mordfälle sprechen wollen, hat sie gesagt.«
»Na, da konntest du ihr ja einiges bieten. Hast du ihr von der Geschichte mit den Menschenknochen im Wolfsmagen erzählt? Als du später oben im Harz angeschossen worden und beinahe krepiert bist? Oder die Sache mit dem Ermordeten in der Lichtensteinhöhle?«
Behrends riss die Augen auf. »Bist du wahnsinnig? Ich habe ihr nur die öde Seite der Polizeiarbeit vorgestellt. Berichte schreiben, Aktenstudium, die ganze langweilige Alltagsroutine. Habe ihr gesagt, die spannenden Kriminalfälle spielten sich sowieso nur in den Köpfen fantasiebegabter Autorinnen ab. Das hat sie dann ein bisschen in ihrer Begeisterung gebremst. Mann, anders wäre ich die nie wieder losgeworden.«
»Und Katrin?«, wunderte sich Diekmann. »Hat sie nicht eingegriffen? Ich meine, so eine junge, hübsche Schriftstellerin, die sich brennend für den erfahrenen Kripo-Mann interessiert? Keine Eifersucht?«
»Eifersucht? Von wegen!« Behrends lachte auf. »Katrin hat sich bestens mit den anderen amüsiert und mich leiden lassen.«
»Du Armer! Ich fühle mit dir«, spottete Diekmann. »Aber noch mal zu der Sartory«, wechselte er abrupt das Thema, »was glaubst du, wieso die nicht aufgetaucht ist. Es wusste ja offensichtlich niemand, wo sie war und was sie daran gehindert hat, zu kommen. Chris hat mir gesagt, dass sie versucht haben, sie telefonisch zu erreichen. Sie ist nicht ans Handy gegangen. Welcher Mensch verhält sich so? Doch nur jemand, der abtauchen will. Aber eine Autorin, die gerade auf einer Erfolgswelle reitet?«
»Was willst du wissen, Holger?« Behrends ahnte die Gedankengänge seines Freundes. Er kannte ihn gut genug. »Denkst du etwa wieder an ein Kapitalverbrechen?«
»Ja, und wenn? Ist das so abwegig, nach allem, was wir wissen?«
»Was, bitte schön, wissen wir denn?«, schnappte Behrends. »Ich jedenfalls weiß nur, dass sie nicht erschienen ist und ihr Publikum sitzenlassen hat. Wenn du noch etwas anderes gehört hast, kannst du es mir gerne sagen.«
»Man wird sich ja wohl ein paar Gedanken machen dürfen«, nörgelte Diekmann beleidigt.
Behrends winkte ab. »Wenn so du anfängst, mein Lieber, dann ist mir schon klar, wo die Reise hingeht.« Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Holger, keine Chance, mich in irgendwelche wüsten Spekulationen zu verstricken. Ich werde jetzt da in den Markt spazieren, Kuchen kaufen und mit Katrin einen gemütlichen Nachmittag verbringen. Und du solltest nicht gleich wieder Detektiv spielen, hörst du? Also dann, man sieht sich.«
Behrends wandte sich zum Gehen.
»Ach, übrigens, Ingo«, rief Diekmann seinem Freund hinterher, der sich schon ein paar Meter entfernt hatte.
Behrends drehte sich noch einmal um. »Ja?«
»Wie war denn das Essen beim Japaner? Du stehst doch garantiert nicht auf Sushi und Stäbchen, oder?«
Behrends setzte ein schiefes Grinsen auf. »Na ja ... wie du siehst, ich hab’s überlebt.«
»Jetzt sag nicht, du hast ...?«
»Ach was! Natürlich nicht! Ich habe irgendwas mit Rindfleisch gegessen. Es hat nicht mehr gezappelt und war auch nicht roh. Die hatten sogar ganz normales Besteck. Aber zu deiner Beruhigung, wenn ich die Wahl habe, bleibe ich doch lieber bei Jägerschnitzel oder Currywurst im Schwarzen Bären.«
5. Kapitel
Andrea war begeisterte Urbexerin. So oft wie möglich ging sie ihrem Hobby nach, verlassene Plätze und Gebäude zu erkunden, von denen es besonders im Harz sehr viele gab. Meist galt ohnehin das Verbot, sie zu betreten, aber solch eine Exkursion barg auch das Risiko, in den oft baufälligen Gemäuern zu verunglücken. Andrea nahm die Gefahren in Kauf. Mit der gleichen Leidenschaft, die sie darauf verwendete, immer neue Lost Places zu entdecken und zu erkunden, fotografierte sie. Im Laufe der letzten Jahre war so aus der Verbindung ihrer beiden Hobbys eine Serie von beeindruckenden Aufnahmen entstanden, die sie einer stetig wachsenden Zahl von Followern auf unterschiedlichen Internetplattformen präsentierte. Sogar in diversen Fachzeitschriften tauchten ihre Fotos auf und im vergangenen Jahr hatte eine Auswahl ihrer besten Bilder über Monate die Wände eines Cafés im Töpferdorf Fredelsloh in Südniedersachsen geziert. Dem morbiden Charme der Fotos, ob in Farbe oder schwarz-weiß, konnte sich kaum jemand entziehen.
Heute war Andrea wieder auf einer ihrer zahlreichen Expeditionen unterwegs. In den Wäldern am südlichen Harzrand, nahe der Welfenstadt Herzberg, war sie durch Zufall vor ein paar Wochen auf ein verwunschenes Gebäude-Ensemble gestoßen. Ein beträchtliches Stück abseits der Straße und nur über einen mittlerweile vollkommen zugewucherten und kaum noch zu erkennenden Weg zu erreichen, hatten sich Schuppen, Scheunen und ein Wohnhaus auf einer kleinen Lichtung hinter den dichtstehenden Bäumen des Mischwaldes versteckt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, hier, mitten im Wald, einen verlassenen Bauernhof zu vermuten.
Ein schneller Rundgang hatte ihr damals einen ersten Eindruck über die Unmengen an fantastischen Fotomotiven verschafft. Aber sie war allein unterwegs gewesen, nur mit dem Smartphone bewaffnet. Ohne Begleitung, die jeder Urbexer zu seiner eigenen Sicherheit dabeihaben sollte, und ohne ihre beiden Profi-Kameras hätte es keinen Sinn gemacht, die Gebäude und das Gelände darum herum eingehender zu erforschen. Außerdem hatte sie unter Zeitdruck gestanden. Also war sie schweren Herzens wieder gegangen. Sie hatte sich fest vorgenommen, so schnell wie möglich zurückzukommen.
Andrea wurde von Marius begleitet, dem zwanzigjährigen Freund ihrer Tochter. Marius war ein Draufgänger. Die Aussicht auf ein Abenteuer in verfallenen Gemäuern und auf Geheimnisse in alten Grüften und hinter morschen, knarrenden Türen hatten ihm die Einladung zu der Lost-Places-Tour schmackhaft gemacht.
»Und komm mir ja nicht auf die Idee, da drin wie ein Büffel herumzutrampeln oder dir eine deiner Kippen anzuzünden, damit das klar ist«, hatte sie dem jungen Mann noch auf ihrer Fahrt im Auto eindringlich zu verstehen gegeben.
Unter Urbexern gab es ein ungeschriebenes Gesetz, einen Kodex, den es einzuhalten galt, wollte man in der Szene nicht in Verruf geraten. Marius konnte das nicht wissen und normalerweise wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, sich rücksichtsvoll zu verhalten. Lost Places vermittelten jedoch oft den Anschein, niemandem zu gehören. Zudem glaubten manche Zeitgenossen, in den verwahrlosten Bauwerken keine Hemmungen haben zu müssen, herumstehende und herumliegende Gegenstände zu entwenden oder dort den eigenen mitgebrachten Müll zu entsorgen.
Urbexer hingegen respektierten und bewunderten die von Verfall gezeichneten Gebäude. Sie erfreuten sich an der zuweilen mystischen Aura der Ruinen oder erschauderten, wenn sie auf düstere Monumente der Vergangenheit trafen, die kalt und nackt oder von ungebremster Vegetation überwuchert, vor ihnen aufragten. Und immer versuchten sie, die Geschichten und Schicksale hinter diesen verlassenen Bauten zu lesen und auf Fotos und in Videoclips für andere sichtbar zu machen.
Andrea und ihr Begleiter streiften durch das hohe Gras der Zufahrt und erreichten nach einigen Minuten die Hofeinfahrt, die nur noch an den Resten des verrosteten Eisentores zu erkennen war. Von Dornengestrüpp zugewuchert, hing es windschief an einem nicht weniger maroden Pfosten. Am Baum neben dem Tor hatte irgendwann einmal jemand ein Schild angebracht. Es war verwittert, die Aufschrift »Betreten verboten« kaum noch zu lesen.