Der falsche Gelehrte - Winfried Wolf - E-Book

Der falsche Gelehrte E-Book

Winfried Wolf

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Beschreibung

Der Gymnasiallehrer Rudolf Prager hat sich nach seiner Pensionierung in einen kleinen Ort an der Südküste Kretas zurückgezogen. Hier will er seine Verwandlung zu einem Privatgelehrten für römische Geschichte vorantreiben. Das Studium der Geschichte soll ihn ablenken und gleichzeitig auf eine bestimmte Art und Weise unsichtbar machen, denn er ist nicht der, als den er sich ausgibt. In Freiburg ermittelt währenddessen Hauptkommissar Meier noch immer erfolglos im Fall Prager. Frau Prager war Opfer eines Verbrechens geworden. Rätsel gibt auch der Selbstmord eines ehemaligen Bundeswehrbeamten auf. Lässt sich ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen herstellen? Die Lage spitzt sich zu, als Gerlinde Körner, eine ehemalige Freundin von Pragers Frau, ihren Urlaub auf Kreta antritt. Sie will dort nach Rudolf Prager suchen. Hauptkommissar Meier fürchtet um ihre Sicherheit, denn er hat den Verdacht, dass der kritische Prager nicht der richtige Prager ist. - Das vorliegende Buch ist die Fortsetzung einer Krimi-Reihe deren erster Band den Titel "Der andere Mann" trägt.

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Der falsche Gelehrte

Titel SeiteTitelTitel - 1Kommissar Meier verfolgt eine neue SpurMeier spricht mit Dr. FuchsTitel - 2Fünf Monate vorher: Eine WiederannäherungNachrichten aus MexikoPerfer et obdura oder Halte durch und sei hart.Vier Monate vorher: Gerlindes UrlaubspläneKreta ist eine Reise wertHauptkommissar Meier macht sich GedankenSol lucet omnibus oder Die Sonne scheint für alle.Was ziehe ich an?Hauptkommissar Meier hat es eiligUrlaub mit StilTitel - 3Carpe diem oder Nutze den Tag.Suum cuique oder Jedem das Seine.Titel - 4Titel - 5Omnis amans amens oder Jeder Liebende ist verrückt.Gerlinde fährt übers GebirgeTitel - 6Titel - 7Titel - 8Titel - 9Titel - 10Alea iacta est oder Der Würfel ist gefallen.Stavros und Leonidas bekommen ArbeitDrei Wochen später: Die neue Chefin

Meiner lieben Frau Lu, die mich immer wieder in die Spur zu bringen versuchte.

Titel

Tempora mutantur, et nos mutamur in illis oder Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.

Prager trat auf die Terrasse seiner Ferienwohnung und genoss den Blick auf das Meer. Die Unterkunft befand sich in leicht erhöhter Lage über dem DorfLentas. Der Ortsname, das hatte er in einem Reiseführer gelesen, stammte vom altgriechischen Wort „Lenta“ und bedeutet Löwe. Naja, man braucht etwas Fantasie, um in der Felsformation der vorgelagerten Landzunge einen liegenden Löwen zu erkennen, dachte er. Er hatte sich diesen Ort ausgesucht, weil es hier noch keine größeren Hotels gab. Den Massentourismus fand man eher an der Nordküste Kretas und auch schon an der Südküste in beliebten Orten wieAgia GalinioderMatala. Beide Ortschaften lagen nicht weit entfernt westlich vonLentas.

Bei Durchsicht der Papiere hatte Prager entdeckt, dass er vor drei Jahren bereits zusammen mit seiner Frau Hannah inAgia GaliniUrlaub gemacht hatte. Er fand es äußerst amüsant darüber nachzudenken, dass er den Unterlagen nach schon mit einer Frau auf Kreta war, die er später umbringen musste. Kuriose Welt. Die Pragers waren damals vermutlich auch hier inLentasgewesen. Der Geschichtslehrer Rudolf Prager hatte jedenfalls in seinem leider nicht sehr ausführlichen Reisetagebuch über eine aufregend gefährliche Anfahrt über dasAsteroussia-Gebirgegeschrieben. Eine Straße voller Schlaglöcher und herabgefallener Steine sei das gewesen.

Auf dem Schotterweg, der an der Pension vorbei hinunter ins Dorf führte, sah der Mann, der sich nun auch Prager nannte, Frau Speer mit einer schweren Tasche bepackt, vorbeigehen. Er winkte ihr freundlich zu als sie zu ihm hochblickte. Sie stellte ihre Tasche ab und winkte zurück. Immer wieder schön, oder? Prager hob weihevoll die Hände, so als wollte er sagen, ja, vor uns liegt ein Wunder der Natur, genießen wir es, solange wir können. Frau Speer nahm ihre Tasche wieder auf: Wir sehen uns beimZorbas, Herr Prager!

Wie vertraut das schon klang, Herr Prager, wir sehen uns beimZorbas! Einige Leute im Dorf nannten ihn den deutschen Professor, für andere war er ein Altertumsforscher. Frau Speer sagte nur ‚Herr Prager’. Vor wenigen Monaten hieß er noch Schmidt, Herrmann Schmidt. Er war im Range eines Majors beim Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Freiburg beschäftigt. Seine Aufgaben beschränkten sich vor seiner Pensionierung auf Gütesicherung und -prüfung.

Aber Schmidt hatte Selbstmord begangen. Vermutlich fürchtete er, so später die Erklärung von Kollegen, die Aufdeckung einiger belastender Dinge aus seiner DDR-Vergangenheit. In der Zeitung war zu lesen, dass alte Archive, die die Bundeswehr aus Beständen der NVA übernommen hatte, erneut überprüft werden sollten. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass wirklich alles vernichtet worden war, und nichts mehr an seine Vergangenheit beim Militärischen Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR erinnerte. Als ehemaliger Mitarbeiter der Militärischen Aufklärung wollte Schmidt nicht in seine letzte Lebensphase eintreten, jedenfalls nicht als Mitarbeiter mit besonderen Aufgaben.

Als er zufällig in Freiburg einen Mann sah, der sein Doppelgänger hätte sein können, reifte in ihm ein verwegener Plan: Ein neues Leben beginnen konnte nur heißen, das alte zu beenden. Dieser Schnitt musste radikal und mit äußerster Präzision in der Ausführung vorgenommen werden. Als ehemaliger Agent war ihm ein Wechsel der Identität fast zur täglichen Übung geworden. Jetzt ging es darum, eine Rolle zu übernehmen, die einzig und allein ihm von Nutzen sein sollte. In dem Gymnasiallehrer Rudolf Prager sah er für sich die Verkörperung seines neuen Lebens. Um Prager werden zu können, genügte es nicht, nur so auszusehen wie Prager. Er musste dessen Gewohnheiten, dessen Stil, dessen Auftreten, seinen Gang, seine Gesten, die Bewegung seiner Hände, die Haltung des Kopfes übernehmen. All das, was einen Menschen für andere erst kenntlich macht, musste studiert, eingeübt und verinnerlicht werden. Erst wenn er wie Prager zu denken und zu fühlen gelernt hatte, konnte er wirklich Prager sein.

Ein ehrgeiziges Projekt hatte er sich da vorgenommen und ein gefährliches Spiel war es auch. Er musste sich vor Selbstüberschätzung hüten und eine abwartende Haltung kultivieren, das war ihm nicht immer ganz leicht gefallen. Aber fürs Erste war es wichtig, von allem Abstand zu gewinnen, räumlichen und zeitlichen Abstand. In Freiburg zu bleiben, nein, das wäre nicht gut und letztlich nicht möglich gewesen. Dieser Stadt konnte er sich erst wieder nähern, wenn über den Ereignissen des vergangenen Jahres genügend Gras gewachsen war. Im Juli war Frau Prager ermordet worden. Bis heute hatte die Polizei den Täter nicht fassen können. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit hatte sich wenige Wochen danach ein Beamter der Bundeswehr in seiner Wohnung erhängt. Wen interessierte das schon. Der Mann hatte keine Angehörigen und kaum Freunde.

Prager nahm seine Umhängetasche vom Wandhaken, steckte das graue Notizbuch und ein Buch über Nikos Kazantzakis ein, sah nach, ob Bleistift und Kugelschreiber in der Tasche lagen, streifte sich die bequemen Slipper über und verließ die aus hellem Naturstein gebaute Unterkunft, die sie hier Studio nannten. Bis zum Dorf brauchte er fast zehn Minuten, dafür genoss er hier oben absolute Ruhe, nur manchmal hörte man hinterm Haus vom Hang her das Gebimmel der Schafe.

Doch ruhig ging es auch im Dorf zu. Es gab hier noch keine Durchgangsstraße. Jetzt, Mitte Mai, hatten erst wenige Touristen den Weg über die Berge hinunter nach Lentas gefunden. Die Badesaison begann Mitte Juni. Richtig heiß sollte es in den Monaten Juli und August werden, dann war auch der kleine Strand unten bevölkert aber nie überfüllt, wie ihm Frau Speer, die schon seit Jahren hierher kam, vor zwei Tagen erzählte. Wenn Sie baden gehen wollen, sollten Sie den Sandstrand auf der Westseite der Landzunge nehmen, hatte sie, die Ortskundige, geraten. Aber Vorsicht, Herr Prager, dort trägt man keine Badehosen, kicherte sie.

Adam und Xanthoula Grigoraki hatten die schmucken Appartements bauen lassen. Sie betrieben im Ort auch die TaverneZorbas, auf deren Terrasse für Prager heute wie auch schon in den vergangenen Tagen der Frühstückstisch gedeckt war. Eine bequeme Einrichtung, die er des Öfteren auch abends zu nutzen wusste. Das Restaurant gewährte einen schönen Blick auf die Bucht. Die nicht weit entfernte TaverneEl Grecostand demZorbasin nichts nach, dort war die Aussicht auf das Lybische Meer und den Löwenfelsen noch beeindruckender. Die Taverne wurde von drei Brüdern geführt, eine Frau hatte Prager dort noch nicht gesehen. Einer der Brüder war der Koch, der zweite Cheforganisator und der dritte ein Kellner mit Witz und viel Charme. Hier war es noch üblich, dass man vor der Auswahl der Speisen einen Blick in die Kochtöpfe warf. Da sprachlich zwischen Gast und Wirt meist Fragen offen blieben, war eine Besichtigung vor Ort manchmal sehr von Vorteil.

Prager hatte seine Essgewohnheiten den ortsüblichen Verhältnissen angepasst. Meist genügte ein kleines Frühstück bestehend aus ein oder zwei Tassen Kaffee. Das reichhaltige Abendessen vom Vortag ließ am Morgen noch kein großes Hungergefühl aufkommen. Die Hauptmahlzeit des Tages wurde abends eingenommen. Ab 20 Uhr war für ihn ein Tisch imEl Grecoreserviert. Er sagte rechtzeitig bei Stefano, dem Cheforganisator, ab, wenn er sich auf Tour begeben wollte und nicht wusste, ob er rechtzeitig zurück sein konnte.

Jetzt brachte ihm Xantthoulas Tochter Elpida den Kaffee, dazu wie üblich frisches Brot mit Marmelade. Prager legte sein graues Buch neben die Kaffeetasse und überflog die Notizen vom Vortag. Er hatte sich mit der achtzigjährigen Eleni Giannedakis getroffen. Elpidas Bruder Wasili hatte beim Übersetzen geholfen. Prager wollte etwas über die jüngere Geschichte des Orts in Erfahrung bringen. In seinem Studio hing ein altes Foto vonLentas. Auf dem verblichenen Bild war zwischen Felsen nur ein Hausdach zu sehen, sonst nur Zitronen- und Zedratbäume. Jetzt reihte sich am Strand eine Taverne an die andere. Es gab auch einen Supermarkt und eine Bäckerei im Ort. Das Appartement, das Prager bewohnte, war keine drei Jahre alt.

Die alte Eleni konnte sich noch genau erinnern, wie das hier unten im Süden von Kreta begonnen hatte. Es hatte geregnet als käme die Sintflut, sagte Eleni. Alle Gärten mit den mühselig hochgezogenen Tomaten, Gurken und Zucchini waren vom Regen verwüstet worden. Ich fragte meinen Mann, was wir jetzt machen sollen. Er kramte aus seinen Hosentaschen noch eine letzte Münze. Wir gingen in den damals einzigen kleinen Kafenion vonLentaseinen Kaffee trinken. Dort hatte sich eine Gruppe von Griechen aus Heraklion niedergelassen. Sie tranken den ganzen Abend und der Wirt goss immer wieder Schnaps in die Gläser seiner Gäste. Ich dachte mir, wie leicht dieser Wirt doch sein Geld verdient. Als wir wieder zu Hause waren, habe ich zu meinem Mann gesagt: Wir bauen uns auch so ein Kafenion.

Prager ließ sich noch einen Kaffee einschenken, lehnte sich zurück und sah hinaus aufs graublaue Meer. Alle warten sie jetzt im Frühjahr auf die Fremden, die mit dem Bus, dem Leihwagen oder mit dem Rucksack auf dem Rücken den Berg herunterkommen. Und so, wie sie einst Oliven von der Erde sammelten, um Öl und Geld aus ihnen zu pressen, so sammeln sie heute die Touristen ein.

Er hatte im Internet nach einem Ort auf Kreta gesucht, der etwas abseits lag, gleichwohl aber nicht aus der Welt war. Vielleicht wäreAgii Dekagünstiger gewesen, das lag nicht weit von den archäologischen Ausgrabungen vonGortynentfernt. Aber das Meer hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Er wollte aufs Meer hinausschauen können, wenn er sich schon zum Gelehrten wandeln musste. Hinter dem Horizont lag Lybien. Das klingt fremd und gut, dachte Prager: Ich trinke Kaffee und schaue aufs Lybische Meer. Am Morgen hatte das Wasser über dem Dunst eine silbergraue Farbe angenommen, am Nachmittag wird es wieder tiefblau sein. Reinhard Mey hat recht, wenn er singt:Es hat tausend Farben und tausend Gesichter. Es kommt darauf an, wie das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche reflektiert und gebrochen wird. Und im Meer selbst wird das Licht von Abermillionen Wassermolekülen und Partikeln in alle Richtungen, auch rückwärts, umgeleitet. Solche Gedanken gingen dem falschen Prager durch den Kopf, als er auf der Terrasse der TaverneZorbasseinen morgendlichen Kaffee trank und aufs Meer hinaus sah.

Bei seinen Recherchen war Prager auf einen berühmten Zeugen gestoßen, derLentasschon vor vielen Jahrzehnten erlebt und beschrieben hatte, den Schriftsteller Nikos Kazantzakis, der mit seinem RomanAlexis SorbasWeltruhm erlangte. Prager konnte sich erinnern, dass er dessen Verfilmung mit Anthony Quinn und Lila Kedrova Ende der 60er Jahre gesehen hatte.

In die Einsamkeit am Lybischen Meer zog es Kazantzakis 1924. Das war die Zeit, als er in Begeisterung für die Ideen der kommunistischen Revolution in Russland schwelgte und auch eine neue Gesellschaft in Griechenland und auf Kreta schaffen wollte. Es war aber auch die Zeit, als er begonnen hatte, sein VerseposOdysseezu schreiben. Er bat seine Freundin Eleni nach Kreta zu kommen und mit ihm nachLentaszu reisen. Eleni kam, wie Prager gelesen hatte, zu ihrem Geliebten, beschrieb den Ort später aber als wenig einladend.Ein halbmondförmiger Strand, von zwei Seiten durch steil abstürzende Felsen eingeschlossen. Ein einziges Dach: ein Speicher, mit Krügen und Getreide gefüllt. Ein einziger Bewohner: ein halb tauber und blinder Greis. [...] Weder Tisch noch Bett, keine Wäsche, nichts, was die Illusion von Behaglichkeit hervorrufen könnte. Ameisen, Fliegen und heller Sand, der rauchte wie geschmolzenes Zinn.Kazantzakis arbeitete inLentasintensiv an seinerOdyssee, der Rest des Tages war der Lektüre und dem Baden am Strand gewidmet.

Prager lächelte, ich mache es genauso: Am Morgen widme ich mich dem Studium der römischen Geschichte, den Mittag verbringe ich dösend unter einem schattigen Vordach, am Nachmittag fahre ich zu den Ruinen vonGortynund den Abend beschließe ich beim Wein imEl Greco. Was mir fehlt, ist eine treue Gefährtin, der ich in einer kühlen Grotte, zur Not tut es auch mein Studio, von meiner Verwandlung erzählen kann. Kazantzakis‘ Freundin Eleni hatte notiert:Am Tage lasen wir in einer engen Grotte kauernd, vernünftigerweise Ilias, Goethes Iphigenie auf Tauris, Aischylos und Tschechov.

Kazantzakis führte inLentasdas Nacktbaden ein. Heute nichts Ungewöhnliches, erst heute Morgen hatte ihn Frau Speer an diese Möglichkeit der Naturerfahrung erinnert. Für die damalige Zeit wohl ein ungeheurer Vorgang, dachte Prager, eine Rebellion gegen Sitte und Anstand.Ein Mann und eine Frau abends am Strand - existiert Höheres im All?, hatte Kazantzakis geschrieben. Prager zog ein zusammengefaltetes Blatt aus seinem Notizbuch. Er hatte sich noch in Freiburg Auszüge aus Briefen an die „liebe, liebe Genossin“ kopiert. Er hatte sich eine Stelle unterstrichen:Doch wäre es, und ich müsste jetzt plötzlich sterben, so würde vor meine Augen das Meer bei Leda treten, unser Fels, der glühend heiße Kiesel, die flammenden Zitronenbäume, ihr schlanker biegsamer Leib, ihr schmaler und verschlossener Mund. Ach, voll von Wunderbarem ist diese Erde, und unser Herz ist ein nie befriedigtes, furchtbares Mysterium, das die ganze Höllenqual des Lebens in heilige Trunkenheit umwandelt. Erinnern sie sich doch - welch ein Ringen, um Leda in ein Paradies zu verwandeln!Leda,Lentas, man muss nur das Ganze etwas literarisieren, schon ist ein Sinn im Dasein. Und ich sage mir, ich heiße Prager, ich bin ein pensionierter Geschichtslehrer aus Deutschland und gehe hier meinem Hobby, dem Studium der römischen Geschichte auf Kreta nach.

Titel

Sechs Monate vorher: Walter Kübler fährt nach Freiburg

Einen Moment bitte, ich muss erst schauen wo mein Mann ist, sagte Roswitha Kübler und legte den Telefonhörer zur Seite. Sie fand ihren Mann Walter draußen im Gartenhäuschen. Er war gerade dabei, ein Schwinge Holz für den Kaminofen aufzunehmen. Du, Walter, ein Herr Petzold von der Polizei aus Freiburg will dich sprechen. Kenn‘ ich nicht! Walter Kübler kehrte ohne Holz ins Haus zurück und griff zum Telefonhörer. Er hörte eine Weile zu. Roswitha Kübler hörte ihn sagen: Wann - das hätte ich nicht erwartet - ja, wir waren befreundet - er hat uns hier in Endingen öfters besucht - eigentlich hat er sich auf seine Pensionierung gefreut. Er hatte einiges vor - ja, ich könnte morgen vorbeikommen - danke, dass Sie mich angerufen haben.

Frau Kübler warf einen besorgten Blick auf ihren Mann. Was ist denn los? Das hörte sich ja irgendwie nicht gut an. Walter Kübler zog sich einen Stuhl heran und stützte sich am Tisch ab. Er schüttelte den Kopf und sprach mehr zu sich als zu seiner Frau. Ich kann‘s gar nicht fassen, der Herrmann hat sich umgebracht. Frau Kübler setzte sich neben ihren Mann und sah ihm forschend ins Gesicht. Der Herrmann, ist das dein Kollege von der Bundeswehr? Was hat denn der Polizist gesagt? Man hat den Herrmann vor einer Woche tot in seiner Wohnung gefunden, er hat sich aufgehängt. Das gibt‘s doch nicht, du warst doch erst vor kurzem noch mit ihm beim Wandern! Ja, ich versteh‘ das auch nicht. Hättest du dir vorstellen können, dass der sich umbringt? Wir haben uns noch so gut unterhalten. Er wollte eine Reise machen, sich nach einem Häuschen in der Nähe umschauen. Ich fand deinen Freund ausgesprochen unterhaltsam, sagte Frau Kübler. Das passt doch irgendwie nicht, da muss irgendwas passiert sein. Hat dir der Herrmann was erzählt? Walter Kübler schüttelte den Kopf. Ich fahr‘ morgen nach Freiburg, vielleicht wissen wir dann mehr. Du kannst ja mitkommen und in der Stadt bummeln gehen, während ich im Polizeipräsidium bin. Ich mach‘ das jetzt mal mit dem Holz fertig. Roswitha Kübler blieb sitzen und dachte schon daran, ob es in Endingen wohl passende Trauerkarten zu kaufen gäbe.

Kommissar Petzold bat seinen Besucher Platz zu nehmen. Schön, dass Sie so rasch kommen konnten, Herr Kübler. Wir sind bei der Durchsicht von Herrn Schmidts Papieren auf Ihren Namen gestoßen. Da Herr Schmidt keine Angehörigen zu haben scheint und allein lebte, sind wir gezwungen, uns an ehemalige Kollegen und Freunde zu halten. Wir möchten von Ihnen gerne wissen, wann Sie Herrn Schmidt zum letzten Mal gesehen haben und ob Ihnen da etwas an ihm aufgefallen ist. Kübler wusste, worauf der Kommissar hinaus wollte und antwortete mit einer Gegenfrage: Haben Sie denn Zweifel daran, dass sich mein Freund selbst umgebracht haben könnte. Nein, nein, wehrte Petzold ab, wir gehen von Selbstmord aus, Herr Schmidt hat sich an einem Deckenhaken in seiner Küche erhängt. Es deutet nichts auf Fremdeinwirkung hin, wir wollen nur jeden Zweifel ausschließen. Wie haben Sie denn Ihren Freund bei Ihrem letzten Zusammentreffen erlebt? Herrmann, also Herr Schmidt hat mich im November noch in Endingen besucht. Wir sind durch die Weinberge gelaufen und haben uns über seine bevorstehende Pensionierung unterhalten. Er hat angedeutet, dass er für einige Zeit etwas weiter südlich seine Zelte aufschlagen wolle. Kommissar Petzold nickte. Wir haben in seiner Wohnung entsprechende Reiseprospekte gefunden. Hat er denn Ihnen gegenüber von einem konkreten Ziel gesprochen? Nein, er hatte sich noch nicht festgelegt. Ich hatte ihn gefragt, ob er daran denke wieder zurück in den Osten zu gehen, er kommt ja ursprünglich aus der Berliner Gegend. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, der Herrmann war früher bei einer Unterabteilung der NVA beschäftigt. Die Bundeswehr hat nach der Wende einige Kollegen übernommen und so ist der Herrmann zu uns nach Baden-Württemberg gekommen. Wir waren eine Zeitlang zusammen an einer Dienststelle in Koblenz, von daher kenne ich den Herrmann.

Herr Kübler, da ist eine Sache, bei der Sie uns vielleicht helfen können. Auf dem Küchenboden fanden wir eine aufgeschlagene Zeitung. Ein Artikel darin war mit Bleistift markiert worden. In dem Artikel war die Rede von alten Aktenbeständen, welche die Bundeswehr von der ehemaligen Nationalen Volksarmee übernommen hatte. Ein Großteil der Akten sei kurz vor oder nach der Wiedervereinigung vernichtet worden. Nun will man die verbliebenen Akten, die momentan noch im Bundeswehrarchiv lagern, kritisch unter die Lupe nehmen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob darin belastendes Material über Herrmann Schmidt zu finden ist, aber es ist sicher nicht zu weit hergeholt, wenn ich diesen Zeitungsartikel mit dem Selbstmord in Verbindung bringe. Wie sehen Sie das, Herr Kübler? Ich habe davon gehört. Es kann durchaus sein, dass da noch ein paar Dinge hochkommen, die für den einen oder anderen Kameraden unangenehm sein können, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit dem Tod meines Freundes. Ist denn die Leiche schon freigegeben worden? Ja, die Staatsanwaltschaft sah keine Veranlassung, eine Obduktion durchführen zu lassen. Da sich Schmidt eine Feuerbestattung gewünscht hatte, musste aber eine zweite Leichenschau vorgenommen werden.

Habe ich Sie richtig verstanden, Herrmann wollte verbrannt werden? Also, das überrascht mich denn doch. Der Herrmann war noch keine sechzig, über den Tod haben wir nie gesprochen. Petzold blätterte in seinen Unterlagen. Herr Schmidt hat so etwas wie ein Testament hinterlassen. Eine Feuerbestattung ist für den Fall seines Ablebens ausdrücklich vermerkt. Ihnen hat er übrigens auch etwas hinterlassen, schmunzelte Petzold. Ein schwarzes Lederkoppel mit Gürtelschloss und DDR-Emblem, dazu ein goldenes Reservistenabzeichen, auch aus DDR-Zeiten. Kübler musste lachen, er wusste, dass ich Abzeichen sammle. Meiner Frau gefällt das nicht, aber wir beim Militär sind da anders. Kübler überkam nun ein Gefühl der Rührung. Er hatte Schmidt nie zu seinen besten Freunden gezählt, aber jetzt wurde es ihm fast ein wenig schwer ums Herz.

Petzold schloss die vor ihm liegende Mappe und sah seinem Gegenüber ins Gesicht. Sobald die Sachen freigegeben werden, erhalten Sie von uns oder einem Anwalt eine Benachrichtigung. Herr Schmidt wurde übrigens gestern in aller Stille beigesetzt. Ich bitte um Entschuldigung, dass wir Ihnen nicht rechtzeitig Bescheid geben konnten, nochmals herzlichen Dank, dass Sie heute kommen konnten. Petzold und Kübler standen schon an der Tür, als dem Kommissar noch etwas einfiel: Herr Kübler, wussten Sie, dass Ihr Freund Beruhigungsmittel einnahm? Nein, das wusste ich nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Herrmann das nötig hatte. Aber ganz hineinschauen kann man ja in die Menschen nicht.

Nachdem sich Petzold von Kübler verabschiedet hatte, dachte der Kommissar noch eine Weile über das Gespräch mit seinem Besucher nach. Man hätte bei Schmidt vielleicht doch eine Obduktion durchführen sollen, jetzt war es zu spät. Mit einer ausreichenden Mischung aus Schlafmitteln und Barbituraten hätte sich Schmidt auch umbringen können, man hatte im Bad entsprechende Mittel gefunden. Aber warum hätte er sich dann noch aufhängen sollen? War Schmidt in Behandlung gewesen? Diesen Fragen wurde nicht nachgegangen, weil zunächst alles so klar schien. Petzold hatte kein gutes Gefühl aber der Fall war jetzt abgeschlossen.

Kübler traf seine Frau wie verabredet im Altstadt-Café. Ihm gefiel die Einrichtung des Lokals nicht, aber der Vollkorn-Himbeerkuchen und die Schwarzwälderkirschtorte waren eine Empfehlung. Frau Kübler schaute ihren Mann erwartungsvoll an. Wie ist es gelaufen? Du, das ist jetzt etwas blöd, aber kannst du dir vorstellen, noch ein wenig ohne mich auszukommen? Ich möchte gern noch bei diesem Maywald in der ehemaligen Standortverwaltung vorbeischauen. Das Gespräch mit dem Kommissar hat mich ein bisschen verwirrt, ich muss dringend mit dem Maywald reden. Am fragenden Blick seiner Frau erkannte Kübler, dass er noch eine Erklärung nachschicken musste. Maywald heißt der Kollege, mit dem Herrmann zusammengearbeitet hat. Ich muss einfach herausbekommen, warum ich mich ganz offensichtlich in Herrmann getäuscht habe. Hattest du den Eindruck, dass Herrmann an Depressionen litt? Frau Kübler schüttelt den Kopf. Na siehst du, das muss ich klären. Wir sehen uns in zwei Stunden am Parkplatz, einverstanden?

Maywald war allein in seinem Büro als Kübler ihn aufsuchte. Er stelle sich als ehemaligen Freund von Herrmann Schmidt vor und kam ohne langes Herumreden zur Sache. Ist Ihnen an Herrmann in den letzten Tagen vor seiner Pensionierung etwas Besonderes aufgefallen? Wirkte er irgendwie anders als sonst? Maywald lehnte sich in seinen Schreibtischsessel zurück und sah an die Decke. Der Herrmann war kein sehr mitteilsamer Mensch, sagte er nach einer kleinen Denkpause. Er hat nie viel geredet und Persönliches hat er schon gar nicht rausgelassen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sein einziger Freund waren. Eigentlich wollte ich mit ihm zum Abschluss einen trinken gehen, aber irgendwie kam immer was dazwischen. Naja, als Arbeitskollegen habe ich den Herrmann Schmidt schon geschätzt. Maywald lachte, er hat alles sehr genau genommen, war mir fast ein bisschen zu pingelig, wenn Sie wissen, was ich meine. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, nein, etwas Besonderes konnte ich an seinem Verhalten nicht feststellen. Er wirkte vielleicht etwas hektischer als sonst, aber das hing vermutlich mit seiner bevorstehenden Pensionierung zusammen. Kübler unterbrach: Mein Freund Herrmann hat sich aufgehängt. Haben Sie dafür eine Erklärung, Herr Maywald?

Maywald stand auf und ging ans Fenster, sah hinaus und schwieg, dann wandte er sich wieder seinem Besucher zu. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Kübler lehnte dankend ab und wartete auf die Antwort auf seine Frage. Maywald stützte sich am Fensterbrett ab und sah wieder auf die Straße hinaus, dann drehte er sich abrupt um und deutete auf den Bildkalender an der Wand. Es gehörte zu Herrmanns Aufgaben, am Ende eines jeden Monats aufs nächste Bild umzublättern. Im Juli war ein Bild von Santorin zu sehen, man kennt ja den tollen Blick auf die Caldera. Herrmann sagte nur, das kann ich mir vorstellen, weiße Häuser, blaues Meer. Dass er Wochen später Selbstmord begangen haben soll, will mir nicht in den Kopf. Kübler nickte, er sah es genauso. Kennen Sie jemanden, mit dem Herrmann außer uns noch Umgang pflegte? Hatte er eine Freundin? Nicht, das ich wüsste. Von Frauen hat er nie etwas erzählt, dabei, ich meine, er sah ja nicht schlecht aus. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit unserem Ministerpräsidenten, wirkte aber weniger streng, grinste Maywald. Walter Kübler dachte daran, wie er einmal mit seiner Frau darüber gesprochen hatte. Sie hatten sich gewundert, dass Herrmann nie eine Frau erwähnte und Roswitha hatte gesagt, dass sein Freund ein Mann sei, auf den die Frauen stehen würden. Er wollte wissen, wie sie das denn meine. Naja, hatte Roswitha gesagt, in seinen Augen liegt so etwas Geheimnisvolles und einen Bauch hat er auch noch nicht. Dabei hatte sie so an ihm herunter geschaut: das war nicht schön von ihr.

Kommissar Meier verfolgt eine neue Spur

Missmutig und grußlos hatte er das Präsidium betreten. Erst als ihm Kollegin Stumpf die Tür zum Büro aufhielt, quälte er sich ein brummiges Guten Morgen über die Lippen. Schlecht geschlafen, Chef? Das auch, was mir aber auf dem Magen liegt, sind die unerledigten Fälle. Meier wies auf den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Wir kriegen das Alte nicht weg und das Neue erschlägt uns! Darf ich einen Vorschlag machen, Chef. Ich fang‘ mal an, unser Wandprotokoll zum Fall Prager abzuräumen. Ich denke, bevor wir da wieder einsteigen, müssen erst neue Fakten auf den Tisch. Vielleicht geht es Ihnen ja so wie mir. Wenn ich täglich die Fotos, Karten und Bewegungsabläufe zu einem alten Fall vor Augen habe, kann ich mich auf neue Sachen nicht konzentrieren. Wenn Sie einverstanden sind, packe ich das alles jetzt zwischen zwei Aktendeckel. Machen Sie das, Frau Stumpf. Ach übrigens, wie lange kann ich denn noch auf Ihre Mitarbeit zählen? Mit gespielter Verwunderung sah Helene Stumpf ihren Chef an. Er dachte ganz offensichtlich an ihre bevorstehende Beförderung zur Hauptkommissarin. Und ja, natürlich ergaben sich dann neue berufliche Möglichkeiten. Sie arbeitete zwar gern mit Meier zusammen aber irgendwann war es Zeit, selbst eine Ermittlung zu führen. Im Duo ging das nun mal nicht, es lag in der Natur der Sache, dass sie nach neuen Ufern Ausschau halten musste.