Der freimaurerische Diskurs der Moderne - Helmut Reinalter - E-Book

Der freimaurerische Diskurs der Moderne E-Book

Helmut Reinalter

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Beschreibung

Die Freimaurerei versteht sich nicht nur als Traditionsbund, sondern auch als lebendige Wertegemeinschaft. Diese grundsätzliche Einstellung geht davon aus, dass sich Fortschritt als weiter entwickelte Tradition bestimmt und sich daher Ziele und Aufgaben der Freimaurerei ständig in reformerischer Ausrichtung mit den geistigen Strömungen der Zeit beschäftigen sollten. Dabei geht es nicht um einen modischen Erneuerungszwang, sondern vielmehr um die Einsicht, dass sich von Zeit zu Zeit durch Veränderungen der Gesellschaft Reformen für die Weiterentwicklung der Bruderkette als nützlich und sinnvoll erweisen können. In diesem Zusammenhang geht es nicht darum, dem modischen Zeitgeist nachzueifern, sondern den Geist der Zeit herauszufinden, kritisch zu hinterfragen und für die Zukunft weiterzuentwickeln. Das Werk "Der freimaurerische Diskurs der Moderne" befasst sich deshalb mit Reformen und Modernisierungsversuchen der Bruderkette von ihren Anfängen bis in unsere Gegenwart, wobei unter Moderne ein historischer Umbruch oder Wandel der Gesamtgesellschaft gemeint ist. Unter freimaurerischem Diskurs versteht der Autor, die Freimaurerei zeitgemäß zu erneuern, wobei der wissenschaftliche Zugang zur Bruderkette eine unverzichtbare Verständnisgrundlage darstellt. Kritisches Vernunftdenken ist nämlich ein wesentlicher Bestandteil masonischer Ziele und Aufgaben.

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Impressum

© 2022 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6221-8

Buchgestaltung nach Entwurfen von himmel. Studio fur Design und Kommunikation, Scheffau – www.himmel.co.at

Satz und Umschlag: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
Einleitung
Freimaurerei, Modernisierung und Moderne
I. Moderne, Reformbewegungen und gesamtgesellschaftlicher Wandel
II. Moderne und Modernisierung in der neueren Forschung
III. Freimaurerei, Moderne und Modernisierung
IV. Freimaurerische Reformen als Modernisierung
Historische Perspektiven und Beispiele
I. Frühe Neuzeit
1. Die historischen Ursprünge und die Anfänge der Freimaurerei. Legenden – Theorien – Fakten
Die Bauhütten und Bruderschaften
Die französischen Gesellenbruderschaften – „Les Compagnonnages“
Neuplatonismus und Gotik
Akademien und gelehrte Gesellschaften
Die Logen (Lodges) in England
Die ältere Rosenkreuzerbewegung
Die Gründung der ersten Großloge in London
Schluss
2. Die gesellschaftliche und politische Rolle der Freimaurerei und Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert
II. Aufklärung und Französische Revolution
3. Voltaire als Aufklärer und Freimaurer
Die französische Aufklärung
Voltaire – Leben und Werk
Voltaire als Freimaurer
4. Montesquieu als Aufklärer, politischer Denker und Freimaurer
Biographisches
Seine Werke und der Gesamtzusammenhang seines Denkens
Montesquieu als Freimaurer
5. Die Geschichte des Wilhelmsbader Freimaurer-Konvents 1782 in Grundzügen
Vorgeschichte
Verlauf des Kongresses
Ergebnisse
6. Aufgeklärte Sozietäten und Geheimgesellschaften als Orte der Aufklärung – Bedeutung und Forschung
Die Bruderschaft der Rosenkreuzer
Aufklärung und Freimaurerei
Freimaurerei und Kultur
Die Struktur der Spätaufklärung und die gesellschaftliche Rolle aufgeklärter Sozietäten
Der Geheimbund der Illuminaten
Aufgeklärter Absolutismus und Geheimgesellschaften
Das „Freimaurerpatent“ von 1785
Bedeutung und Forschung
Zum Stand der Forschung
7. Maria Carolina von Neapel und die Freimaurerei
8. Das Weltall als Wirkung einer „höchsten“ Ursache. Zur Geschichtsphilosophie und Struktur des Illuminatenordens
9. Ignaz von Born – Aufklärer, Freimaurer und Illuminat
10. Mozart als Freimaurer
11. Johann Georg Forster als Freimaurer und Rosenkreuzer
Die Aufklärung
Aufklärung und Freimaurerei
Johann Georg Forster als Freimaurer und Rosenkreuzer
Forster in Wien
12. Freimaurerei und Demokratie im 18. Jahrhundert
13. Die Französische Revolution und die Freimaurerei
Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewusstseins
Freimaurerei, Revolution und Jakobinismus
Die napoleonische Zeit
14. Freimaurerische Reformprojekte unter Kaiser Leopold II.
15. Die Freimaurerei zwischen Josephinismus und frühfranziszeischer Reaktion
III. 19. Jahrhundert
16. Die ersten politischen Geheimbünde im 19. Jahrhundert: Carbonari, Bund der Geächteten und Bund der Gerechten
Der Geheimbund der Carbonari
Bund der Geächteten
Bund der Gerechten
17. Die Grenzlogen830
Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben
18. Aufklärungsdenken als Modell der Freimaurerei. Das Konzept der „reflexiven“ Aufklärung
19. Vernunft und Vernunftkritik
Zur Aktualität der Aufklärung
Geschichte der Vernunftkritik
Die neue Aufklärung
Neue Formen der Vernunft
Die Urteilskraft der Gefühle
20. Freimaurerei als Königliche Kunst
21. Freimaurerei als Utopie?
22. Menschenrechte aus freimaurerischer Perspektive
23. Die Zukunft der Freimaurerei
Grundlegender Wandel unserer Welt
Die Umwandlung moderner Sozialsysteme in Risikogesellschaften
Verantwortungsethik und Projekt Weltethos
Globalisierung und Demokratie
Europäisches Toleranzmodell?
Das neue Aufklärungsdenken und die Freimaurerei
Die Herausforderungen und zukünftigen Aufgaben der Freimaurerei
24. Die Freimaurerei als Lebenskunst bzw. „Königliche Kunst“ und Michel Foucaults „Ästhetik der Existenz“
Königliche Kunst
Lebenskunst, „gutes Leben“
Was ist Lebenskunst?
Das „gute“ Leben
Ästhetik der Existenz
25. Das brüderliche Gespräch und die freimaurerische Diskursethik
Das brüderliche Gespräch und der Dialog
Diskussion, Streitgespräch und Debatte
Die Diskursethik bei Jürgen Habermas und das brüderliche Gespräch
26. Die „Neuen Pflichten“. Grundsätze, Ziele und Aufgaben der Freimaurerei im 21. Jahrhundert – ein Entwurf
Einleitung
Die Neuen Pflichten
Menschenrechte und Menschenpflichten
Ziele, Werte und Grundsätze der Freimaurerei
Die freimaurerischen Grundsätze im Detail
Die Zukunftsaufgaben
Drucknachweise
Auswahlbibliographie (Helmut Reinalter)
1. Monographien
2. Handbücher, Sammelbände (Herausgeber)
Über den Autor

Helmut Reinalter

Der freimaurerische Diskurs der Moderne

Vorlesungen, Vorträge, Studien und Essays

Reihe: Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei

Hg. von Helmut Reinalter in Zusammenarbeit mit dem Institut für Ideengeschichte

Band 24

Vorwort

Der freimaurerische Diskurs der Moderne befasst sich in mehreren Vorlesungen, Studien und Essays mit Reformen und Modernisierungsversuchen der Freimaurerei seit ihren Anfängen bis heute. Unter Moderne ist ein historischer Umbruch oder tiefgreifender Wandel der Gesamtgesellschaft zu verstehen. Der Begriff „Moderne“ wird aber auch als Epochenbezeichnung verwendet, was bei unterschiedlichen Periodisierungen wissenschaftlich nicht unproblematisch erscheint. Die inhaltlichen Schwerpunkte des vorliegenden Buches umfassen allgemeine Erklärungen und Erläuterungen zur Moderne, Modernisierungs- und Reformprozessen innerhalb der Bruderkette und Versuche, das Verhältnis zwischen ihnen genauer zu bestimmen. Damit kann auch die Wirkungsgeschichte der Freimaurerei am Beispiel der Reformkomplexe und ihre Bedeutung für die innere Entwicklung aufgezeigt werden.

Die vielen Beispiele verdeutlichen, dass sich die Freimaurerei nicht nur als Traditionsbund verstand, sondern als lebendige Wertegemeinschaft. Diese grundsätzliche Einstellung geht davon aus, dass sich Fortschritt als weiterentwickelte Tradition versteht und sich daher Ziele und Aufgaben der Bruderkette ständig in reformerischer Ausrichtung mit den geistigen Strömungen der Zeit beschäftigen müssen. Bei diesen Bemühungen sollte es nicht um einen modischen Erneuerungszwang gehen, sondern vielmehr um die Einsicht, dass von Zeit zu Zeit durch Veränderungen der Gesellschaft sinnvolle Reformen erforderlich erscheinen, die sich für die Weiterentwicklung der Bruderkette als nützlich erweisen können. Dabei ist folgende Leitlinie bestimmend: „Es geht nicht darum, dem modischen Zeitgeist nachzueifern, sondern den Geist der Zeit zu entdecken, kritisch zu hinterfragen und für die Zukunft nutzbar zu machen.“ (Helmut Reinalter)

Die Bezeichnung „freimaurerischer Diskurs der Moderne“ verwendet der Autor in Anlehnung an das Buch von Jürgen Habermas „Der philosophische Diskurs der Moderne“. Unter „freimaurerischem Diskurs“ ist der Versuch zu verstehen, die Freimaurerei zeitgemäß zu erneuern.

Der Autor selbst, überzeugter und deklarierter Freimaurer, hat sich stets um eine substantielle Erneuerung des humanitären Bundes bemüht und dies vor allem in seinen vielen internationalen Publikationen, Vorträgen, Diskussionen und Tagungen. Er dankt für die Zusammenstellung der Beiträge und die redaktionelle Arbeit seinen Projektmitarbeitern und -mitarbeiterinnen am Institut für Ideengeschichte und seinen Assistentinnen Sabine Robic und Hanna Lüfter, die auch die Korrekturen übernommen haben. Besonderer Dank gebührt für zahlreiche Gespräche zum Thema des Buches den verstorbenen Brüdern Axel Giese (Wien), Ernst Gehmacher (Wien) und Alfred Schmidt (Frankfurt/M.).

Das vorliegende Buch wurde nicht im Auftrag der Großloge von Österreich geschrieben. Die darin vertretenen Auffassungen über Ziele, Werte und Aufgaben der Bruderkette für die Gegenwart und Zukunft stellen die persönliche Meinung des Autors dar. Die darin entwickelten Gedanken im II. Teil bilden das freimaurerische Grundverständnis des Autors für eine zeitgemäße Freimaurerei. Es wurde in Freimaurerkreisen immer wieder behauptet, dass die Bruderkette nicht rational und wissenschaftlich verstanden werden könne. Der Autor vertritt dagegen die Meinung, dass der wissenschaftliche Zugang zur Freimaurerei eine unverzichtbare Verständnisgrundlage darstellt, die aber durch die Empfindungs- und Gefühlsebene des Bruders überschritten wird. Kritisches Vernunftdenken ist ein wesentlicher Bestandteil der masonischen Ziele und Aufgaben. Dies versteht der Autor auch als „reflexive“ Aufklärung.

Innsbruck, im August 2021

Einleitung

Freimaurerei, Modernisierung und Moderne

Die Moderne als Epoche beginnt eigentlich schon mit der Frühen Neuzeit, mit der säkularen Vernunft und dann mit der europäischen Aufklärung. Jürgen Habermas vertrat die Auffassung, dass das Projekt der Moderne zwar unvollendet sei, aber noch positiv weiterentwickelt werden könne.1 Unter Modernität verstand man allerdings in der Entwicklung der Gesellschaft wechselnde Inhalte, die das Bewusstsein einer Epoche ausmachen und als das „Resultat eines Übergangs vom Alten zum Neuen“ gesehen werden. Das gilt besonders für die Renaissance, die europäische Aufklärung und die Französische Revolution. Im 19. Jahrhundert ändert sich dann diese Einstellung. „Als modern gilt nun, was einer spontan sich erneuernden Aktualität des Zeitgeistes zu objektivem Ausdruck verhilft.“2

I. Moderne, Reformbewegungen und gesamtgesellschaftlicher Wandel

Eng verbunden sind mit der Moderne auch die vielen Reformbewegungen seit der Frühen Neuzeit, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert.3 Für die europäische Geschichte im Zeitraum von 1750 bis 1815 stehen die Politisierung der Aufklärung, die Französische Revolution mit ihren Auswirkungen, die Revolutionskriege, die napoleonische Politik und die Erschütterung des europäischen Staatensystems, das auf dem Wiener Kongress neu geordnet wurde, als prägende Faktoren, Strömungen und Ereignisse im Vordergrund. Die Erziehungs- und Emanzipationsprogramme der Aufklärung verfolgten den Zweck, einen tiefgreifenden Prozess der Befreiung des Menschen aus allen seinen gesellschaftlichen Zwängen einzuleiten. Dieses Ziel sollte durch entsprechende Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft gefördert werden.

Die zunehmende Politisierung der Aufklärung beeinflusste nicht nur die Öffentlichkeit, sondern schuf auch ein politisches und kulturelles Klima, das die Französische Revolution vorzubereiten half. Die Revolution selbst vollzog im eigenen Land den Bruch mit der traditionellen politisch-sozialen Ordnung des Ancien Régimes und verbreitete die revolutionären Errungenschaften über Frankreich hinaus auf dem europäischen Kontinent. Die Revolutionskriege stellten das gesamtgesellschaftliche Gefüge des europäischen Ancien Régimes in Frage. Der Zusammenbruch der deutschen Staatenwelt erfolgte durch Säkularisation, Mediatisierung und Reichsauflösung. Die Niederlage Preußens 1806/07 und die territorialen Veränderungen führten zwangsläufig zu tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Reformen. Die Konfrontation zwischen dem revolutionären Frankreich und den Mächten des Ancien Régimes erzwang eine völlige Umgestaltung der politischen und territorialen Lage, die auf dem Wiener Kongress trotz restaurativer Tendenzen nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.

Die Bedeutung der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lag vor allem im Spannungsverhältnis von Revolution, Reform und Restauration, das nach dem Wiener Kongress im Konflikt zwischen den Verteidigern der alten Ordnung und den neu auftretenden nationalliberalen Bewegungen fortdauerte. Der Übergang vom Ancien Régime zum Wiener Kongress und zum Vormärz markiert die Epoche des säkularen Wandels, der mit der Aufklärung und der westeuropäischen Doppelrevolution im ausgehenden 18. Jahrhundert eingeleitet und mit dem Beginn der Moderne gleichgesetzt wurde. Die industrielle Revolution in England begründete und beschleunigte das technisch-wirtschaftliche Zeitalter und setzte einen unumkehrbaren Prozess des ökonomischen Wachstums, des technologischen Wandels und der sozialen Veränderungen in Bewegung, der das 19. Jahrhundert stark prägte.4

Die Moderne verknüpfte sich zugleich auch mit den Folgen der politisch-sozialen Revolution in Frankreich, insbesondere mit der Beseitigung ererbter Privilegien und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Die Französische Revolution eröffnete 1789 der Schicht des Besitz- und Bildungsbürgertums den Weg an die Macht und begründete 1791 den ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat mit einer Repräsentativverfassung. Sie leitete die langsame Demokratisierung der Gesellschaften nach 1789 ein. In diesem Entwicklungsprozess wurde neben der Revolution auch die Reform zu einem Schlüsselbegriff.5

Der Begriff „Reform“ wurde im 18. Jahrhundert aus dem französischen in den deutschen Sprachgebrauch übernommen, wo von Anfang an mit „Reform“ die Beziehung zum Staat und zu den Institutionen verbunden war. „Reform“ wurde dabei von „Reformation“ deutlich unterschieden. Reformation war die vergangene große Veränderung, während Reform nur für die Gegenwart und Zukunft eingeführt wurde. Seltener finden sich im 18. Jahrhundert Gleichsetzungen mit Revolution, obwohl manchmal für dauerhafte Verbesserungen und rasche Veränderungen beide Begriffe verwendet wurden. Besonders stark entwickelte sich der Reformgedanke im aufgeklärten Absolutismus, der in Österreich mehr die Ausprägung eines Reformabsolutismus annahm und einem geänderten Herrschaftsverständnis entsprang. Noch deutlichere Konturen erhielt der Reformbegriff dann durch die Französische Revolution, da nun dem Begriff „Revolution“ ein Gegenbegriff zur Umschreibung der Veränderung durch Nicht-Revolution entgegengestellt wurde. Theoretisch erörterte den Reformbegriff erstmals August-Ludwig Schlözer als Gegenkonzept zu den gewaltsamen Veränderungen in Frankreich. Reformen schienen ihm notwendig, da sich in jeder Staatsverfassung und Regierungsform im Laufe der Zeit bei statischem Verhalten Missstände ergaben, die durch Reformen beseitigt werden mussten. Am Ende des 18. Jahrhunderts lagen die wichtigsten Elemente des Reformbegriffs bereits vor: Veränderung im Rahmen des bestehenden Systems, Verbesserung durch Abschaffung veralteter und von den Zeitgegebenheiten überholter Formen, Anpassung und neue Bedingungen, Verfassungsgemäßheit, Gewaltlosigkeit, Vorsicht und Behutsamkeit bei erforderlichen Eingriffen, längerer Zeitraum der Realisierung und Initiative durch den Herrscher oder die rechtmäßigen Verfassungsorgane.6

Später wurde der Begriff „Reform“ für gewaltlose Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Politik und Gesellschaft verwendet. Dabei wurde in den staatsrechtlichen Debatten die Erkenntnis hervorgehoben, dass aus dem wachsenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und politischer Statik und den daraus resultierenden Konflikten durch rechtzeitige Anpassung mit Reformen entgegengesteuert werden könne, um eine drohende Revolution zu verhindern.7 Reform wurde dabei als Entwicklung innerhalb einer Kontinuität verstanden, und ihre Kriterien waren Vernünftigkeit, Maß, Bedächtigkeit, Schonung der Tradition und Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen. Die Formel von „Reform“ als sanfte Umbildung und „Revolution“ als rasche Umwälzung bestimmte künftig die weiteren Überlegungen, wobei Reformen auch als Modernisierung gesehen wurden.

Nach der Juli-Revolution 1830 in Frankreich wurde der Begriff „Reform“ stärker zum politischen Programm, das vor allem von der demokratischen Bewegung in Süd- und Südwestdeutschland im Sinne eines revolutionären Reformverständnisses Verwendung fand. Die Revolution sollte hier auf gesetzlichem Weg erreicht werden. Bei diesem Verständnis war Reform nicht Anpassung unter Bewahrung von erhaltenswerter Tradition, sondern Abschaffung und Umwälzung des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems. Nach der Revolution 1848/49 gewann der Begriff „Reform“ als Gegenbegriff zu „Revolution“ noch mehr an Bedeutung. Er büßte zwar an Prägnanz durch zahlreiche Beziehungen zu verschiedenen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens ein, die Grundkategorien aller Reform- und Modernisierungsforderungen blieben aber im Grunde weiterhin gleich, nämlich Veränderung als Verbesserung des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems.8

Schon die Französische Revolution 1789 gab wichtige Impulse, die die Modernisierung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorangetrieben haben. Mit dieser Revolution entstand zweifelsohne eine Mentalität, die durch ein Zeitbewusstsein geprägt war und einen neuen Begriff der politischen Praxis sowie eine neue Legitimationsidee hervorbrachte.9 Dieses historische Bewusstsein trug durchaus moderne Züge. Es brach nämlich mit dem Ancien Régime und entwickelte ein neues Verständnis von politischer Praxis, das in Zeiten von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung stand. Dieses Vertrauen beruhte auf einem aufgeklärten Diskurs, an dem sich jede politische Herrschaft orientieren und legitimieren konnte.

Die Französische Revolution tritt uns heute nicht mehr als ein revolutionäres Bewusstsein entgegen und hat an utopischer Sprengkraft und Prägnanz verloren, ihre politischen Grundlagen sind aber ungebrochen und weiter aktuell. Sie provozierte eine Dialektik zwischen Liberalismus und Demokratie und einen Diskurs, wie sich Gleichheit und Freiheit, Einheit und Vielfalt sowie das Recht der Mehrheit mit dem Recht der Minderheit vereinbaren lassen. Wie können praktische Vernunft, souveräner Wille, Menschenrechte und Demokratie zusammengeführt werden? Walter Markov hat dazu festgestellt: „Die Französische Revolution ist von keiner der nachgeborenen Generationen als eine in sich abgeschlossene und insofern museumsreife Episode empfunden worden.“10 Daher ist es durchaus sinnvoll, im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und ihren Wirkungen von einem Projekt der Moderne zu sprechen, das bis heute unvollendet geblieben ist und neuerdings durch postmoderne Kritik wieder in Frage gestellt wird. Zweifelsfrei hat die Französische Revolution in Frankreich die Entwicklung zu einer mobilen bürgerlichen Gesellschaft und zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem teils positiv, teils aber auch negativ beeinflusst. Sie hat Prozesse der revolutionären Umgestaltung durch politische Herrschaft und des Rechtssystems befördert und schließlich vollzogen. Vor allem hat sie aber einen Bruch des kulturellen und gesellschaftlichen Bewusstseins herbeigeführt. Für den Prozess des modernen Staatsapparates und staatlicher bürokratischer Strukturen war die Revolution ein beschleunigender Faktor von historisch weiter zurückreichenden Kontinuitäten. Besonders bedeutsam war sie politisch und geopolitisch durch die Herausbildung des modernen Nationalstaates. Mit dem neuen Nationalbewusstsein hat sich eine modernere Form der sozialen Integration für die aus ständisch-korporativen Bindungen freigesetzten Staatsbürger herausgebildet. Die Revolution hat schließlich auch Ideen entwickelt, die den universalistischen Kern des modernen Verfassungsstaates bildeten und den demokratischen Rechtsstaat entscheidend geprägt haben: Demokratie und Menschenrechte. Sie hat auch reformerische, gesellschaftspolitische Zielvorstellungen und Utopien als wichtige Elemente der Modernisierung im 19. Jahrhundert entscheidend mitbeeinflusst.11

Der gesellschaftliche Wandel, der sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen angekündigt hat, erfuhr durch die französische Staatsumwälzung eine erhebliche Beschleunigung. Dabei spielten die Dynamisierung innergesellschaftlicher Kräfte und die revolutionären Impulse sowie die Herrschaft Napoleons eine wichtige Rolle, denn nach der Revolution bildeten sich zwei alternative Modelle einer Zukunftsgesellschaft heraus: die Idee der klassenlosen Gesellschaft und die Konzeption einer immer stärker außengeleiteten neuen bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist die Frage der Utopie mit dem Projekt der Moderne eng verknüpft. Schon in der Frühen Neuzeit, in der Aufklärung, in der Französischen Revolution und im 19. Jahrhundert wurden verschiedene Utopien entwickelt, die eng mit dem Glauben an die Möglichkeit einer rationalen Gesellschaftsgestaltung verbunden waren. Als Darstellungsform der Utopie gewann die Zeitkritik zunehmend an Bedeutung. Nun war durch die Französische Revolution eine Kluft innerhalb des Utopie-Diskurses entstanden, die es vorher in dieser Schärfe nicht gegeben hatte, nämlich den Gegensatz zwischen der herrschafts- und institutionenbezogenen Utopie und ihrer anarchistischen Variante. In den meisten Utopien dieser Zeit wurde das Konstrukt der idealen Gegenwelt aus der Kritik an den bestehenden sozialen und politischen Zuständen entwickelt. Die Zeitkritik war radikal und richtete sich vor allem gegen die feudalen absolutistischen Strukturen des Ancien Régimes.12

II. Moderne und Modernisierung in der neueren Forschung

Das Projekt der Moderne und die Modernisierung sind bis heute von der Forschung noch nicht gründlich wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Das unvollendete Projekt der Moderne ist heute eigentümlich zersplittert. Dies hängt vor allem mit den Ambivalenzen der Aufklärung, der Französischen Revolution und dem tiefen gesamtgesellschaftlichen Wandel im 19. Jahrhundert zusammen, aus dem sich unterschiedliche Entwicklungsstränge ergeben haben. Jürgen Habermas forderte in diesem Zusammenhang nachdrücklich, aus den Verirrungen und Fehlentwicklungen, die das Projekt der Moderne begleitet haben, und aus den Fehlern der „verstiegenen Aufhebungsprogramme“ zu lernen, statt die Moderne prinzipiell in Frage zu stellen. Max Weber hat die kulturelle Moderne im Wesentlichen damit charakterisiert, dass sich die in religiösen und metaphysischen Weltbildern manifestierende substantielle Vernunft in verschiedene Bereiche aufspaltete, die nur mehr formal zueinander in Verbindung standen: Erkenntnis, Gerechtigkeit, Geschmack oder Wahrheit, normative Richtigkeit und Schönheit.13

Das Projekt der Moderne versuchte nach Habermas programmatisch, „die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale … aus ihren esoterischen Hochformen zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen.“14

Die Modernisierung von Staat und Gesellschaft zeigte sich besonders im rationalen Naturrecht und in der politischen Ökonomie, in der Rationalisierung bürgerlicher Lebenswelten und in der philosophischen Reflexion über die Verselbstständigung von Wissenschaft, Moral und Kunst.15 Es erscheint sachlich sicher gerechtfertigt, die Moderne aus der Sicht der Geschichtswissenschaften und der Politischen Philosophie, mit der Säkularisierung, mit den demokratischen Revolutionen des Westens und mit der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts beginnen zu lassen, wenngleich in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie z. B. in den Literaturwissenschaften, Kunst- und Kulturwissenschaften, im Allgemeinen diese Zäsursetzung nicht in jeder Hinsicht zutreffend ist.16 Die europäische Doppelrevolution stellte aber in der Tat einen tiefen Einschnitt in die politische und gesellschaftliche Entwicklung dar. Häufig werden und wurden die Prozesse der Urbanisierung, Industrialisierung, Demokratisierung, Modernisierung und der Entstehung eines empirisch-analytischen Verständnisses von Wissen als entscheidende Faktoren der sich ausbildenden Moderne hervorgehoben. Das zeitlich enge Zusammentreffen von Amerikanischer und Französischer Revolution kann als Beginn der politischen Moderne bezeichnet werden, weil hier vor allem neue und wichtige Grundlagen für das moderne Politikverständnis gelegt wurden.

Die Modernisierung wird von der heutigen Forschung in unterschiedlichen Kontexten und auf verschiedene Weise verwendet, ähnlich die „Moderne“ selbst. In der Geschichtswissenschaft und den Sozialwissenschaften bezieht sich der Begriff der „Moderne und „Modernisierung“ auf einen bestimmten historischen Entwicklungsgang der westlichen Gesellschaft. Modernisierung umfasst einen weiten Komplex von politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Veränderungen, die strukturell allerdings eng miteinander verbunden sind. Dieser erwähnte Komplex hat sich seit dem 18. Jahrhundert – das Wort modern ist älteren Ursprungs – langsam herausgebildet und unsere heutige Welt geformt und geprägt. Bei Modernisierungsprozessen handelt es sich daher um langfristige und epochenübergreifende Entwicklungen, durch die zuerst in Westeuropa und später in der übrigen Welt mit Zeitverschiebungen gesamtgesellschaftliche Transformationen entstanden sind, wobei die Modernisierung nicht nur auf eine spezifische Veränderung verweist, sondern ein ganzes komplexes Geflecht verschiedener Umwandlungsprozesse umfasst.17

Die Vielfalt der Moderne zeigt sich heute besonders in den verschiedenen Arten und Formen der Moderne, weshalb nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass sich die westeuropäische Moderne in allen übrigen Zivilisationen durchsetzen wird. Heute ist die Moderne einem ständigen Wandel unterworfen, und die Kombinationsmöglichkeiten vermehren sich in den verschiedenen Dimensionen der Moderne.18

III. Freimaurerei, Moderne und Modernisierung

Die aktuelle Zeitfrage der strukturkonservativen Freimaurerei betrifft gegenwärtig auch ihr Verhältnis zur Moderne und Modernisierung. Die Bruderkette als humanitäre Vereinigung ist herausgefordert, sich mit ihrem Zustand und ihrer Zukunft kritisch auseinanderzusetzen, ihr Selbstverständnis zu prüfen und ihre Aufgaben für die Zukunft festzulegen, wenn sie nicht als „Echokammer“ gelten und sich als reformunfähig erweisen soll. In ihrer historischen Entwicklung gab es immer wieder Reformschübe und Modernisierungsbestrebungen, die von einzelnen Brüdern angestoßen worden sind.19

Eine einigermaßen seriöse und realistische Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen Wirkung der Freimaurerei und einzelner Freimaurer bezog und bezieht sich in erster Linie auf die Selbstbildung als Personen und die Kongruenz ihres Selbsterziehungsprogramms sowie auf ihre Ziele und die Auseinandersetzung mit den westlichen Denkströmungen der jeweiligen Zeit. Die Freimaurerei hatte mit ihren Ideen direkten oder indirekten Einfluss auf die Aufklärung, die Amerikanische und die Französische Revolution, auf die Säkularisierungsprozesse, auf verschiedene Reform- und Freiheitsbewegungen und auf die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, auf die Herausbildung des liberalen Denkens und der westlichen Demokratien, des modernen Parlamentarismus und des Sozialstaates. Sie war also teilweise ein Motor der gesellschaftlichen Modernisierung. Auch bei der Verbreitung der Menschenrechte und Verstärkung der Friedensbemühungen spielte sie eine wichtige Rolle.20

In den geistigen Bewegungen und philosophischen Strömungen waren die freimaurerischen Ideen der Humanität, Aufklärung, Esoterik und Toleranz in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung schon seit der Frühen Neuzeit wirksam. Die Bruderkette trat allerdings hier nicht als Beweger oder Auslöser in Erscheinung, wohl aber aufgrund ihrer Werte und geistigen Substanz als Ermutiger und Verstärker. Sie stand der Modernisierung und Moderne vor allem dann positiv gegenüber, wenn die politischen, gesellschaftlichen und geistig-kulturellen Verhältnisse nicht im Gegensatz zu ihren humanitär-ethischen Anliegen und Zielen standen.

Zu den wichtigsten Zielen und Aufgaben der Freimaurerei zählt heute vor allem das neue Aufklärungsdenken, das die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts kritisch weiterentwickelt. Die Bruderkette versteht unter „neuer“ Aufklärung eine unabschließbare Aufgabe und ein Denkmodell, das als kritische und reflexive Aufklärung bezeichnet wird.21 Dieses Denkmodell korrespondiert durchaus mit den Reform- und Modernisierungsbestrebungen heute und stellt ein modernes Denkbemühen dar.

Ein wichtiges Problemfeld ist in diesem Zusammenhang die Beschäftigung mit den Folgen des gesamtgesellschaftlichen Wandels und der tiefgreifenden Veränderungen durch Wissenschaft und Technik.22 Eine Hauptaufgabe der Bruderkette für die Zukunft besteht vor allem darin, auf der Grundlage einer fundierten Analyse der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung das Engagement der Brüder zu unterstützen und darüber nachzudenken, ob die Freimaurerei über ihre einzelnen Brüder jenseits von Parteipolitik eine wichtige Funktion dort übernehmen könnte, wo eine Kurskorrektur der gesellschaftlichen Entwicklung notwendig erscheint.

Dies gilt auch für die inneren Reformnotwendigkeiten der Bruderkette.23 Die Freimaurerei sollte sich als ethische Wertegemeinschaft und als humanes Verhaltensmuster den großen Herausforderungen der Zeit stellen und sich ernsthaft fragen, wohin der Weg unserer Gesellschaft und der der Bruderkette in Zukunft gehen wird und was der einzelne Bruder dazu beitragen könnte, und dies entsprechend den Ritualworten: „… wie hier im Tempel durch das Wort, im Leben durch die Tat walten zu lassen.“ Heute nehmen Bedenken und Zweifel über den Fortschritt unserer Gesellschaft allerdings deutlich zu. Ein „postmodernes“ Zeitalter soll die europäische Moderne mit ihrem Verstandesdenken und ihrer Rationalität ablösen, und für nicht wenige Menschen ist das Produkt aus neuzeitlichem Aufklärungsoptimismus, wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Machbarkeitsüberzeugung in eine tiefe Krise geraten. Unübersichtlich und fragwürdig bleibt allerdings nach wie vor die postmoderne Beliebigkeit als Antwort auf diese Zustände. Die Freimaurerei ist bemüht, in diesem Zusammenhang gemäß ihrer Freiheitsvorstellung, ihres kritischen Aufklärungsdenkens, ihres praktischen Humanismus und ihrer Toleranz die Ursachen dieser Krise besser zu verstehen und daraus auch entsprechende Konsequenzen für eine Vermenschlichung der Gesellschaft zu ziehen. Diese Bemühungen sind besonders heute unbedingt erforderlich, zumal die Bruderkette nicht zu einem erstarrten Traditionsverein degenerieren sollte. Mit dieser Werteeinstellung und der damit verbundenen intellektuellen Energie könnte die Bruderkette eine humane Reparatur an der Welt und einen wichtigen Beitrag zur schrittweisen Herausbildung einer universellen menschlichen Gemeinschaft leisten.24

Die komplexe geistige Situation unserer Zeit könnte man am besten mit der Formulierung „die rationale Ordnung und ihre Gegenwelten“ erklären, was auch dem Denken der Freimaurerei entsprechen würde.25 Dabei werden vorrangig Modernisierung und Moderne mit dem Prozess der Rationalisierung, wie bereits erwähnt, identifiziert. Gegen diese Entwicklung stemmen sich gegenläufige Tendenzen. Bei der Bestimmung des Ortes der Freimaurerei in diesem Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Postmoderne haben sich bisher vier Modelle angeboten, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Das entscheidende Kriterium ist dabei die Antwort auf die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen den Bereichen, die als Hauptstrom der Moderne bzw. der Modernisierung gelten, und jenen, die als Gegenströmungen aufgefasst werden können, darstellt.

Auf dieser Grundlage spricht man heute von einem sogenannten „Externalisierungskonzept“, einem „Ausdifferenzierungskonzept“, einem „Kompensationskonzept“ und einem „Korrelationskonzept“.26 Im ersten Konzept handelt es sich bei den Gegenbewegungen zur Moderne um Restbestände einer vormodernen Lebens- und Gesellschaftsordnung, die durch die Modernisierungsprozesse allmählich beseitigt werden, oder um Ansätze zu einer Überwindung der Moderne, die als Postmoderne bezeichnet werden. Mit dem zweitgenannten Konzept wird ein erster Schritt in Richtung einer Anerkennung der Zugehörigkeit von Gegenströmungen zur Moderne vollzogen. Im dritten Konzept wird der Gegensatz zwischen moderner Welt und den exterritorialen Orten einer ästhetischen oder erotischen Weltflucht als Funktionszusammenhang betrachtet. Dabei geht man davon aus, dass es bestimmte Bereiche gibt, die nicht derselben Logik folgen und die in Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Politik wirksam sind. Damit stehen sie der Rationalität und dem Prozess der Moderne zwar entgegen, aber nicht außerhalb der Welt, sondern sie stehen als andersartige Orte innerhalb eines entgegengesetzte Pole umgreifenden Zusammenhangs. Das auffallendste Merkmal des Kompensationskonzepts liegt in der modernitätskritischen Grundhaltung bei gleichzeitig unvermindertem Festhalten an der Überzeugung der Überlegenheit der Moderne als fortschrittlicher Rationalisierungsprozess. Das viertgenannte Konzept der „Korrelation“ befasst sich mit dem Verhältnis zwischen dem erwähnten Rationalisierungsprozess und seinen Gegenströmungen. Dieser Ansatz war und ist für die geistige Arbeit der Freimaurerei besonders fruchtbar, weil es hier nicht mehr um den Gegensatz, sondern um die Entsprechung zwischen den verschiedenen Wertsphären der Moderne geht.

Den Ausgangspunkt bildet hier die Tatsache, dass die aus dem Modernisierungsprozess ausgegrenzten und ihm zum Zweck seines Ausgleichs entgegengesetzten Bereiche auf Dauer unvermeidbar und unübersehbar ihre eigene systemspezifische Modernität entwickeln.27 Im Grundverständnis der Bruderkette bedeutet dieses Konzept die Zusammenführung der verschiedenen Dimensionen und Ebenen des Menschseins: Die rationale kognitive Struktur sowie die Gefühle, Emotionen und Sensibilitäten. In der Moderne hat sich die Reichweite gesellschaftlichen Handelns erheblich ausgedehnt. Folglich stellen sich heute Fragen nach Einheit, Ganzheit und Sinn des Lebens nicht mehr nur traditionell, was den Menschen und der Gesellschaft vorgegeben ist, sondern auch als etwas, das durch die Gesellschaft und den einzelnen Menschen bestimmt und geschaffen werden kann. Dies könnte ein neuer Ansatzpunkt für gesellschaftspolitisch interessierte und aktive Freimaurer sein, der für das 21. Jahrhundert unter Berücksichtigung der Modernisierung und des Reformbewusstseins weitergedacht und konkretisiert werden müsste.28

IV. Freimaurerische Reformen als Modernisierung

Neben politischen und gesellschaftlichen Strukturen spielen im Modernisierungsprozess auch einzelne Persönlichkeiten eine ganz entscheidende Rolle. In der Freimaurerei manifestiert sich dies besonders in den verschiedenen Reformbestrebungen seit der Frühen Neuzeit.29 Die vermehrte Beschäftigung mit der bewegten Geschichte der Freimaurerei führte im 18. und vor allem dann im 19. Jahrhundert zur Erkenntnis, dass notwendige Reformen des Logenlebens in Angriff genommen werden müssen. Heinrich Boos schrieb dazu: „Es gab ja überaus wackere Männer, die, wie z. B. der vortreffliche Hamburger Sieveking glaubten, die Freimaurerei aus ihrer Versumpfung … retten zu können und daß man den Freimaurerbund in eine gemeinnützige Gesellschaft umwandle. Andere, wie der Philosoph K.L. Reinhold, wollten ihn in einen Wahrheits- und Freundschaftsbund umgestalten, beziehungsweise die Freimaurerei von allem Fremdartigen, wie Symbolik, Hieroglyphen, Mysterien, Magie, Mystik etc. reinigen und sie durch zweckmäßige aber den Grundgesetzen nicht widersprechende Verbesserungen zu einem Mittel der Vergegenwärtigung und Belebung des Geistes der Humanität erheben.“30 Boos führte dann weiter aus, dass die Freimaurer die Abgeschmacktheit unbedeutender Zeremonien einsahen und die „große Wahrheit“ verstanden haben. Er erwähnte in diesem Zusammenhang auch einige bedeutende freimaurerische Reformer.

Was nun die Frühe Neuzeit betrifft, wären hier vor allem die Entwicklung zur philosophisch-spekulativen Richtung der Bruderkette, zum Humanismus, die europäische Aufklärung mit ihren unterschiedlichen geistigen Strömungen und ihrer Politisierung, die bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts und die Erneuerungsbestrebungen im 19. Jahrhundert zu nennen. In zahlreichen freimaurerischen Reden aus dem 18. und 19. Jahrhundert zeigte sich, dass Freiheit, Kosmopolitismus, Vaterland, Patriotismus, Ehre, Gesetz und Ordnung die zentralen Schlüsselbegriffe der Freimaurerei waren. Zweifelsohne fand unter dem Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung und besonders der industriellen Revolution ein grundlegender Wandel der Bruderkette statt, der vor allem durch Reformen gekennzeichnet war. An diesen Neuerungen waren auch Brüder zahlreich beteiligt, insbesondere an den preußischen Neuerungen oder auch an den Reformen in den Rheinbundstaaten.31 Karl August von Hardenberg war, um hier nur einige ausgewählte Beispiele zu nennen, preußischer Staatskanzler und Freimaurer. Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein, gleichfalls preußischer Staatsmann, arbeitete mit Hardenberg wesentlich am großen preußischen Reformwerk mit, das als Grundlage der deutschen Freiheit galt. Häufig wurden die Begriffe „Regeneration“ und „Reorganisation“ in dieser Zeit benutzt, womit der Bruch mit der Tradition sichtbar werden sollte. In den Rigaer Denkschriften verwendeten Hardenberg und Karl Altenstein Reform zur Kennzeichnung einzelner gewaltloser Veränderungen bzw. Modernisierungen, wie Reformen der Finanzen, der Erziehung, der Bildungsinstitutionen und die Integration der Juden in den Staat.

Schon zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelte die Freimaurerei in den Logen Ansätze eines demokratischen Potentials, das sich im offenen Bekenntnis zur Demokratie manifestierte und gegen das real bestehende absolutistische System sowie gegen den ständisch aufgebauten Staat gerichtet war.32 Nicht wenige Mitglieder des Bundes waren an der Verbreitung der Ideen der Aufklärung, an Reformen und Freiheitsbewegungen aktiv beteiligt.

Ein großes Anliegen war den Brüdern auch die Durchsetzung der Freiheit und Gleichheit der Menschen und die Verbreitung der Menschenrechte. Der Einfluss der Bruderkette auf Politik und Gesellschaft in den USA zeigte sich besonders in der Amerikanischen Revolution und im Bürgerkrieg. Auch im Verhältnis zwischen Freimaurerei und Französischer Revolution trat die Rolle der Freimaurer deutlich hervor, weil sie Einfluss auf das Revolutionsgeschehen genommen haben, insbesondere durch die geistige Vorbereitung der Revolution durch ihr kulturelles, humanitäres und ethisches Engagement. Diese Aktivitäten steigerten sich vor allem dann, wenn die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in einem starken Spannungsverhältnis zu den freimaurerischen, humanitär-ethischen Grundsätzen standen.33

Deutlich erkennbar ist, dass in der Neuzeit in der Bruderkette immer wieder eine Reform- und Modernisierungswelle entstanden ist. Diese bezog sich vor allem auf die Organisation der Großlogen und Logen und auf die Inhalte der rituellen Arbeiten. Bei den Modernisierungsbestrebungen ging es auch um eine Abkehr von masonischen Fehlentwicklungen und Verirrungen. In diesem Zusammenhang stand eine Vertiefung der Lehre und ihres humanitären Inhalts aufgrund wissenschaftlicher Forschungen und philosophischer Interpretationen der Symbolik und Ritualistik im Zentrum. Auch die Großlogenverfassungen sollten mit Ausnahme Englands modernisiert, die maurerische Arbeit und die Themen der Baustücke sowie die brüderlichen Gespräche an die Forderungen der Zeit entsprechend angepasst werden.

Hier sollen nun auswahlweise drei konkrete Beispiele für solche Reformbestrebungen genannt werden. Einer der wichtigsten Neuerer der deutschen Freimaurerei war der Theaterdirektor, Bühnendichter, Schauspieler Friedrich Ludwig Schröder (1744–1816). Er vertrat die Auffassung, dass die Bruderkette dringend Reformen benötige, um das damals herrschende chaotische Durcheinander von Systemen und Spielarten der Freimaurerei zu beseitigen. Er reformierte das Ritual und führte die nach ihm benannte Lehrart ein, die einflussreich war und längere Zeit nachwirkte. Die Lehre sollte nach seiner Meinung möglichst in ihrer ursprünglichen Reinheit wieder freigelegt werden. Wichtig war ihm hier vor allem die „Beseitigung der damals miteinander um die Suprematie, um den Alleinbesitz der Wahrheit erbittert streitenden Hochgradsysteme, in denen sich Ritterspielerei, Okkultismus, alchimistische und kabbalistische Gaukelei breit machten, und die überdies die symbolischen Grade schrankenlos zu beherrschen und zur Bedeutungslosigkeit herunter zu drücken versuchten“.34 Für ihn enthielten die Johannisgrade alle masonische Grundlagen, die Hochgrade waren nur Erweiterungen. Seine Reformvorstellungen verstand er primär allerdings nicht als Modernisierung, sondern mehr als Reinigungswerk.

Ein weiterer bedeutender Reformer der Bruderkette war der Justiz-Kanzleisekretär und Enzyklopädist Friedrich Moßdorf (1757–1843). Er engagierte sich für die Befreiung der Freimaurerei von den Auswüchsen der masonischen Verirrungszeit und bemühte sich, sie auf festen Grund zu bringen. Die Logen sollten vom „alten Mief“ befreit werden. Mit Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832), der gleichfalls als wichtiger Reformer der Bruderkette galt, verband ihn sein Reformwille, die Freimaurerei umzubilden und neu zu gestalten sowie die Grundlagen für eine moderne humanistische Freimaurerei zu schaffen.35 Krause war Philosoph und hinterließ ein umfangreiches Werk über Wissenschaft, Kunst und Sozialformationen. In der Freimaurerei sah er „den Keim seines Menschheitsideals verkörpert“. „Krauses geschichtsphilosophische Konzeptionen entwickelten durch die Reformvorhaben für die Freimaurerbrüderschaft eine eigene Dynamik […]“36 Triebfeder für Krauses Geschichtsphilosophie bildeten seine Neuerungs- und Modernisierungsprojekte zur Reform, Liturgie, Lehre und Institution der Bruderkette. Ihm schwebte ein Menschheitsbund vor, der sehr stark von der Freimaurerei beeinflusst sein sollte. Dieser Bund „kann als die Erfüllung und Vollendung des christlichen Gedankens des Reiches Gottes auf Erden und zugleich der tiefen Ahnungen der Freimaurerbrüderschaft von einem allgemein- und rein- menschlichen Vereine angesehen werden […]“37 Die Freimaurerei war allerdings für Krause noch nicht der erwähnte Menschheitsbund, weil sie bisher nur die ersten zwei Hauptlebensalter zurückgelegt habe, nämlich die Gesellschaft wirklicher Baukünstler und die Zeit nach der Gründung der Großloge in London und die Loslösung von der Werkmaurerei. Was die kommende dritte Phase betrifft, betonte Krause: „Jetzt aber ist es endlich hohe Zeit, daß die Brüderschaft durch eine völlige Wiedergeburt ihre dritte, schönste Periode beginne. Mit einer bloßen Reform wäre nichts getan, eine Wiedergeburt und Neugestaltung des Masonenbundes … allein kann seine Wirksamkeit für Menschlichkeit und Menschheit wesentlich erhöhen. Die Freimaurerei, wie sie jetzt ist, hat in ihrem Gebrauchtum, ihren Gesetzen und Einrichtungen vieles, was ihrem eigenen Grundgesetz, und noch vielmehr was dem Urbegriff der Menschheit widerstreitet.“38 Aus diesem Grund hielt es Krause für notwendig, die Bruderkette über ihre Geschichte zu informieren, um ihre ursprüngliche Lehre zu rekonstruieren und damit eine humanitär denkende Freimaurerei herzustellen. Der ethische Humanitätsgedanke müsste als wichtigster Bestandteil der freimaurerischen Lehre im Zentrum ihrer Arbeit und ihres Handelns stehen. Diese Zielsetzung sei gleichzeitig auch der Zweck des erwähnten Menschheitsbundes und der Erneuerung der Bruderkette. Krause war überzeugter Reformer und trat mit großem Engagement für eine Modernisierung im Sinne seiner humanitären Ideen ein.

Auch heute wird der Wunsch nach Reformen in der Freimaurerei zusehends lauter. Sie sollte sich darum bemühen, ihre Freiheitsvorstellungen, ihr Aufklärungsdenken, ihre esoterisch-hermetische Tradition, ihre praktische Humanität und Toleranz, ihre „Alten Pflichten“ im postmodernen Zeitalter zu überdenken und daraus auch Neuerungen für den Bau am „Tempel der allgemeinen Menschenliebe“ zu ziehen. Zu diesen substantiellen Aufgaben zählt schließlich auch noch die kritische Auseinandersetzung der Brüder mit den geistigen Strömungen der Zeit und mit den Zukunftsproblemen der Gesellschaft.39

Im Jahre 1996 wurde in Deutschland der Verein „Ring europäischer Freimaurer“ (R.E.F.O.R.M.) ins Leben gerufen, der sich zum Ziel setzte, die Freimaurerei zu reformieren. Man hoffte und hofft noch immer auf eine internationale Verständigung der verschiedenen masonischen Systeme. Der Verein diskutiert auch aktuelle Fragen auf dem jährlich stattfindenden Forum, wie z. B. auch die Aufnahme von Frauen in die Bruderkette. Die Intentionen dieser Reformgruppe sind auch gegen die Politik der United Grand Lodge von England gerichtet, weil sich diese als „Gralshüterin“ der reinen Lehre versteht und deren zentrale Position innerhalb der regulären Freimaurerei als demokratisch nicht dazu legitimiert betrachtet wird. Auch das Symbol des „Großen Baumeisters aller Welten“ sollte nach Auffassung des Rings abgeschafft werden, was den „Alten Pflichten“ und den „Basic principles“ widersprechen würde. Von jedem einzelnen Bruder erwartet man sich von Seiten des Ringes auch öffentlich ein Bekenntnis zur Mitgliedschaft des Bundes.40

Was das gesellschaftspolitische Engagement der Freimaurerei heute betrifft, das sich verstärken sollte, muss hier darauf hingewiesen werden, dass Politik, Ökonomie und Technologie in den letzten Jahrzehnten einen Grad an Komplexität und Tempo des Wandels erreicht haben, für die die traditionellen Denk- und Handlungsweisen nicht mehr auszureichen scheinen. Notwendig sind daher weiter entwickelte Denk- und Handlungsmuster. „Wenn Europa endlich die Idee der Menschenwürde als seinen zentralen Wert und seine historisch-kulturelle Vielfalt als seine größte Stärke erkennt, dann kann es sich als eine dezentrale Innovations- und Lernplattform neu erfinden und gleichzeitig globalpolitisch zum Pionier einer partizipatorischen Weltinnenpolitik werden.“41

Das Ganze als Ganzes der Welt (Werner Heisenberg) und als ein Geschehen der Selbstentfaltung zu denken, müsste das geforderte neue Denken bestimmen und auch tragen. Der Blick auf das Ganze könnte die Bedingung der Möglichkeit sein, „zu verstehen, wo wir uns heute menschheitsgeschichtlich befinden, einen vernünftigen und gangbaren Ausweg aus der aktuellen Selbstgefährdungsspirale der modernen Zivilisation zu finden“.42 Auch die Sinnerfahrung kann sich so ergeben, „wenn man den Gesamtzusammenhang im Blick hat und Sinn sich in und aus dessen Selbstentfaltung heraus für die Denkenden erschließt“.43 Dieser auch für die Freimaurerei neue Denkansatz braucht natürlich kategoriale Grundlagen, insbesondere ein Neudenken des Phänomens der Zeit, die Selbstentfaltung der Wirklichkeit im Zeit-Raum der Gegenwart und den Blick auf unser Denken aus der Perspektive der Vernunft. Dabei spielt das „reflexive Aufklärungsdenken“ eine entscheidende Rolle. Um die erwähnte Selbstentfaltung besser zu verstehen, brauchen die Menschen ein grundlegend neues Verständnis von Zeit und Wirklichkeit. Dies müsste auch zu den wichtigsten geistigen Aufgaben der Bruderkette in Zukunft zählen, insbesondere im Hinblick auf deren Hauptziel: der Bau am Tempel der allgemeinen Menschenliebe.

Ein zentraler Gedanke der humanitären Freimaurerei ist neben den schon erwähnten Zielen auch das Selbstbild und die Selbsterkenntnis des einzelnen Bruders. Dabei ist wichtig, jene Unterströmungen des Denkens, Fühlens und Wünschens herauszufinden, die den Menschen steuern, ohne dass wir es wissen und verstehen. Selbstbestimmung hat sehr viel zu tun mit Selbstverstehen. Dazu stellte Peter Bieri fest: „Wer zu einem realistischen Selbstbild gelangen und mit ihm zur Deckung kommen will, muß versuchen, die Logik seines weniger bewussten Lebens zu durchschauen.“44 Dies ist kein abstraktes philosophisches Ideal, sondern eine wichtige Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben. In der Sprache der Freimaurerei bedeutet diese Einsicht symbolisch, an der Vervollkommnung des Menschen zu arbeiten – eine masonische Lebensaufgabe. Allerdings muss der einzelne Mensch wissen, was er will, um handeln zu können, und er muss auch verstehen lernen, was er möchte und tut. Dieses selber Erkennen bildet auch die Form, über sich selbst zu bestimmen. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass Selbsterkenntnis bedeutet, zwischen Schein und Wirklichkeit zu differenzieren und zu entdecken, wer und was der Mensch eigentlich ist. Die Selbsterkenntnis wird so zu einem Ideal eines selbstbestimmten Lebens und stellt eine wichtige Quelle von Freiheit, Glück und gutem Leben dar. Das kulturell-geistige Gewebe, in dem die Freimaurer leben und rituell arbeiten, ist weder einheitlich (es gibt aber einen Minimalkonsens der Werte) noch unveränderlich. Es ändert sich über die Zeit. Sich dagegen zu stemmen, würde die Bruderkette als reformunfähig und als Echolot erscheinen lassen. Ihre zeitgemäße kulturelle Identität ist gleichzeitig ihr Ort in einem solchen Gewebe. Es zählt zweifelsohne zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben der Freimaurerei nach Auffassung des Autors, diesen Ort herauszufinden und genauer zu bestimmen. Für die kulturelle Identität der Bruderkette ist letztlich entscheidend, was die einzelnen Brüder unter Aufklärungsdenken und Vernunft, Bildung, Wissen, Werte, Handeln und Verhalten (Ethik, Humanität, Toleranz und Arbeit am rauhen Stein) verstehen.

Der vorliegende Band „Der freimaurerische Diskurs der Moderne“ möchte auf der Grundlage freimaurerischer Vorlesungen des Verfassers an der Universität Innsbruck, seiner Studien und Essays die Modernisierungs- und Reformversuche der Freimaurerei und deren Verhältnis zur Moderne verdeutlichen und damit einen grundsätzlichen Beitrag zu ihrer Wirkungsgeschichte sowie zu ihren Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven leisten. Die darin enthaltenen substantiellen Werte und Aufgabenstellungen entsprechen der persönlichen Auffassung von Freimaurerei des Autors. Letztlich geht es darin um eine zeitgemäßere moderne Positionierung der Bruderkette in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft.

Historische Perspektiven und Beispiele

I. Frühe Neuzeit

1. Die historischen Ursprünge und die Anfänge der Freimaurerei. Legenden – Theorien – Fakten

Über die Ursprünge und Entstehung der Freimaurerei haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Theorien, Mythen und Legenden entwickelt, die bis in die Antike zurückreichen. Heute stehen in der masonischen Historiographie stärker die westeuropäischen Gilden-, Maurer- und Steinmetzzünfte, Kathedralenbaumeister, Wandergesellen, Tempelritter, Mönchsorden und die frühen Akademien sowie aufgeklärten Sozietäten und Rosenkreuzer im Vordergrund der historischen Überlegungen. In der älteren Forschung wurden auch direkte oder indirekte Verbindungslinien zwischen den Bauhütten und den antiken Mysterienbünden, dem salomonischen Tempelbau und dem späteren Ritterorden hergestellt, um die esoterischen Wurzeln der Freimaurerei aufzuzeigen und zu erklären.

In diesem Zusammenhang sind vor allem der Salomonische Tempel, der Kult der Brahmanen, die Isis- und Osiris-Legende des alten Ägypten, die ägyptische Mythologie, die geheime „Dreiheit“ des alten China, die Eleusinischen Mysterien, der Bund der Pythagoräer, der Mysterienkult der Essener, der Mithras-Kult, die Kabbala, die Gnosis, die Druiden und Barden zu nennen. Problematisch ist zweifelsohne der Versuch, Freimaurerei als eine Fortführung der alten Mysterien zu sehen (Johann August Starck). Inwieweit für die Gründung der Freimaurerei auch der Neuplatonismus bestimmend wurde, ist z. T. noch ungeklärt. Der Neuplatonismus versteht sich als Weiterentwicklung des Platonismus, der Lehre des Philosophen Platon. Dieser geht von der Annahme aus, dass das gesamte Individuelle stufenweise aus einem einzigen letzten Urgrund hervortritt und wieder dahin zurückkehrt. Dieser Urgrund ist das Eine, Ewige, Höchste, Gute und Schöne sowie Nicht-Seiende. Außerhalb dieses Einen existiert sonst nichts mehr. Der „Demiurg“ oder Schöpfer bringt die Weltseele hervor und schafft das ständig wahrnehmbare Universum nach dem Vorbild des „Nous“ und beseelt damit auch die Materie. Nicht bewiesen sind weiters der englische Philosoph Francis Bacon und der Philosoph, Theologe und Pädagoge Jan Comenius als Begründer der Freimaurerei. Die hier erwähnten Mysterienbünde können nur mit Vorbehalt und Einwänden als mögliche esoterische Wurzeln der späteren Freimaurerei angesehen werden. Mit wissenschaftlichen Belegen und Argumenten lassen sich solche Entwicklungslinien und Zusammenhänge kaum festmachen.

Als wesentlich konkretere Vorstufen der modernen „spekulativen“ Freimaurerei findet man in der Literatur öfters die beruflichen Zusammenschlüsse der Handwerker und der Ritterorden, wie z. B. der Malteser- oder der Templerorden, der sich auf das hohe Ansehen der Ordensmitglieder als Bauherren stützt und auf der Hypothese aufgebaut ist, dass der Orden trotz Verurteilung und Verfolgung seine Weiterentwicklung sichern wollte. Der Großmeister Pierre d’Aumont, der zusammen mit zwei Kommandeuren und fünf Rittern nach Schottland floh, soll vom schottischen König Robert I. Bruce freundlich aufgenommen worden sein und Templer um sich gesammelt haben. Diese Gruppe soll weiters die bereits bestehenden Bauhütten als Organisationsträger beeinflusst und instrumentalisiert haben. Eine weitere Legende geht auf Baron Karl von Hund zurück, der ein bedeutender Freimaurer des 18. Jahrhunderts in Deutschland war. Auf der Basis des von ihm gegründeten masonischen Ritus, der „Strikten Observanz“, sollte der Templerorden wiederhergestellt werden. Ein Indiz für den Zusammenhang der Freimaurerei und den Templern könnte die Baukunst in den Logen gewesen sein, worüber mehrere Manuskripte des Bauhandwerks aus England berichten und auf die später noch hingewiesen wird. Eine weitere These geht von der älteren Rosenkreuzer-Bruderschaft als Ursprung der Freimaurerei aus. Charles von Bokor erwähnt, allerdings nicht vollständig, mehrere „pseudowissenschaftliche“ Theorien, die für ihn keinen Aufschluss über die Entstehung der Freimaurerei bieten.45 Erst im 19. Jahrhundert ist die realistische Geschichte durch alte Urkunden, kritische Prüfung der Quellen sowie durch den Vergleich mit den Steinmetz- und Handwerkerordnungen in Verbindung mit der Baukunst geklärt worden.

Als die eigentlichen Vorläufer der modernen Freimaurerei gelten jedoch in der heutigen profanen als auch masonischen Forschung die handwerklichen Bruderschaften, die Bauhütten und Baumeister, auf deren Brauchtum sehr viel maurerisches Gedankengut zurückgeführt werden kann. Sie setzten sich aus Mitgliedern des Steinmetzstandes zusammen, nahmen aber auch Maurer und Decker auf.

Die Bauhütten und Bruderschaften

Während der Reformation wurde den Bauhütten der Vorwurf gemacht, sie würden geheime Zusammenkünfte abhalten und die Gesetze des Staates und der Kirche missachten. So verloren sie – auch aufgrund der Folgen negativer ökonomischer Entwicklungen und Auswirkungen durch den Hundertjährigen Krieg – langsam an Bedeutung und wurden schließlich im Laufe des 17. Jahrhunderts wieder aufgelöst. Unter „Bauhütte“ verstand man allgemein eine „Vereinigung von Werkleuten“ unter der Leitung eines Baumeisters zur Errichtung eines Bauwerkes. Diese Bauhütten reichen in der Geschichte weit zurück. Bedeutend waren in diesem Zusammenhang die Meister von Como. Die Heimat dieser Meister war das Seengebiet um Como, und sie verstanden sich als „Maestri comacini“. Sie waren Künstler, Baumeister und Werkleute dieser Gegend.46 Diese These ist aber wissenschaftlich nicht unproblematisch und z. T. bereits widerlegt worden. Ihr Zusammenschluss in Bruderschaften bildete die Fortsetzung der schon vorher vorhandenen Kollegien und die Vorstufe zu den Dombauhütten. Die Meister von Como strahlten mit ihrem Wirken von Norditalien in ganz Europa aus und schlossen sich in der Bruderschaft im Kult der „Vier Gekrönten“ zusammen. Ab 1050 wirkten sie in Salzburg, Straubing, Augsburg, am Dom zu Königslutter, in Chur, Zürich, Basel, Speyer und Mainz. Einer ihrer Meister, Donatus, baute von 1100 bis 1145 den Dom zu Lund in Schweden. Die Bruderschaften hatten eine eigene Ordnung, stellten sich unter den Schutz der „Vier Gekrönten“ und nahmen nicht nur Künstler, Architekten und Steinmetze als Mitglieder auf, sondern unterschieden bereits zwischen Meistern und Mitbrüdern. „Diese von Wissen, Können und einer hochentwickelten Ethik ihrer Kunst getragenen Meister verdingten sich Fürsten und geistlichen Herren für deren große Bauvorhaben und brachten damit eine ihnen würdige Tradition und ein Gedankengut mit, das schließlich in den Dombauhütten der Gotik in Deutschland, in Frankreich und den Niederlanden und letztlich den Lodges Englands und Schottlands zu einer Geistesentwicklung und deren äußeren Form führten, die ihren Zeitläufen weit voraus waren und schließlich in der Zeit der Aufklärung mit den Wissenschaften und deren Trägern zu geistiger Einheit verschmolzen.“47

Parallel dazu bildeten sich auch die klösterlichen Bauschulen heraus, die die Baukunst lehrten und damit für die bewegliche, wandernde Bauhütte die notwendigen Grundlagen schufen. Besonderen Einfluss hatten in diesem Zusammenhang die Klöster St. Gallen und Hirsau auf die Entwicklung der klösterlichen Bauschulen, um hier nur zwei konkrete Beispiele zu nennen. Abt Salomon von St. Gallen stellte im 9. Jahrhundert über die Kunst grundsätzlich fest: „Wahre Kultur kann nur durch geweckten Kunstsinn erreicht werden, nur dadurch kann die schwerfällige Volksmasse der Religion veredelt zugeführt und in eine wahre Lebenstätigkeit versetzt werden. Alles Edle kommt von Gott und der damit Begnadete hat die Pflicht übernommen, sein Talent und Genie Gott zu weihen und nicht an profane Gegenstände zu vergeuden, nicht damit die der Seele, der Sittlichkeit und dem Wohlstand gefährliche Eitelkeit zu unterstützen.“48 Viele begabte Baukünstler vom 9. bis zum 11. Jahrhundert erfuhren ihre Ausbildung in St. Gallen. Das Kloster Hirsau im Schwarzwald löste dann im 11. Jahrhundert den Ruf von St. Gallen ab und führte 1077 die Cluniazensische Regel ein. Abt Wilhelm von Hirsau, Pfalzgraf von Scheuern, führte das Kloster und war ein hervorragender Zeichner und Architekt. Die Laienbrüder bildete er selbst in seiner Bauschule aus. In den Statuten der Bauschule klingen bereits freimaurerische Prinzipien deutlich an: „Brüderliche Eintracht am Bau war oberstes Gesetz, weil in der Ausführung eines Baues Eintracht, Zusammenwirken aller Kräfte und sorgfältige Ausführung des übernommenen Auftrages allein das Gelingen des Ganzen bedingen.“49 Im Frühmittelalter gab es kleinere Kirchen, die nach römischer Art oder im gallischen Stil mit Bruchsteinen erbaut wurden, doch überwogen allgemein die Kirchen, die aus Holz gefertigt waren. Daher spielten zu dieser Zeit die Steinmetze noch keine große Rolle. Als die Romanik aufkam, hat sich dann allerdings die Situation geändert, weil die Kapitäle von Steinmetzen gemacht wurden. In Frankreich entstand in der Ile de France neben der Romanik bereits eine neue Architekturform in der Baukunst, wie bei der Errichtung der Basilika von St. Denis 1140, und ebenso in der Normandie sowie in Burgund.

Ab nun waren die Steinmetze besonders gefragt, weil die Steinbildhauerei mit dem neuen Baugedanken und der Gestaltung der Baukunst eine zunehmend große Rolle zu spielen begann. Nach dem Ausscheiden der Steinmetze aus der klösterlichen Gemeinschaft schlossen sich diese zu einer Bruderschaft zusammen, sodass die Zeit der Gotik von den Bauhütten mitgeprägt wurde. Dabei gehörte die Bauhütte am Straßburger Münster zum Vorbild für andere Bauhütten, weil sie „in allen Fragen der Brüderlichkeit, der wissenschaftlichen Durchdringung der künstlerischen Vollkommenheit, der fundamentalen Rechtsauffassung“ für andere Bauhütten beispielhaft war. Auch der Bau des Münsters muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden.50 Die zwei bedeutendsten Baumeister hießen damals Rudolf und Erwin von Steinbach. Der schwäbische Graf von Bollstädt, der in Padua studiert hatte, in den Dominikanerorden eintrat und nachher in den Klöstern zu Köln, Hildesheim, Freiburg, Regensburg und Straßburg lehrte sowie 1260 Bischof von Regensburg wurde, schuf maßgeblich die Grundlagen des neuen Baustils. Erwin von Steinbach war einer seiner Schüler. Er lehrte auch zur Zeit der Gotik in St. Denis in der Ile de France. Im Steinmetzbuch von Straßburg nannte man ihn „Albertus Magnus“ oder „Albertus Argentinus“.51 Albertus führte den Pythagoräischen Lehrsatz und seine mathematische Zahlenphilosophie in den Kirchenbau ein. „Sein Lehrsatz gründete sich auf die Einheit, welche er in das Achtort als den Mysterien-Schlüssel seiner neuerdachten Baulogik legte. Und diese Einheit ist Gott! Und Gott ist Eins, und Eins ist ohne Anfang und Ende – ewig –, was zu allen Zeiten durch den Zirkel oder den gerechten Kreis symbolisch ausgedrückt wurde. Im Zirkel ist die Kraft, die Festigkeit, das beharrliche Streben, stets wieder an den ersten Ausgangspunkt zu gelangen, ausgedrückt; er ist das wirksamste Werkzeug der praktischen Baukunst.“52 System und Grundprinzip für den neuen Stil und die Konstruktion war das „Achtort“, in das er den Zirkel stellte und das sich aus zwei sich kreuzenden Quadraten geometrisch entwickelte. Das „Achtort“ bildete in der Gotik die wichtigste Figur der Architektur. Die Auslegung der Bibel und die Verbindung mit dem Zahlenspiel der Geometrie sowie der künstlerischen Ideen über die Grundriss- und Fassadengestaltung gotischer Dome fanden Eingang in die Ordnung der Bauhütten.

Da es unter den Steinmetzen auch Geistliche gab, wurde ihnen die Anwendung der Bibel bei ihren Arbeiten prinzipiell nicht untersagt. Aus der Kunst wurde sogar eine Geheimlehre, und die Steinmetze mussten sich zur Geheimhaltung in der Ausübung ihrer praktischen Arbeit verpflichten.53 Von der Nützlichkeit der Geheimsprache instruiert wurde vor allem der Geselle nach seiner Lehrzeit. Er musste sich, was an die spätere Freimaurerei und ihre Grade in der Johannismaurerei erinnert, in der Handhabung seiner Werkzeuge (Winkelmaß, Richtscheid, Senklot) und in den Kenntnissen der mathematischen Formeln sowie der Geometrie vertiefen und verbessern. Dabei kam der Baukunst große Bedeutung zu. Der „Gerechte Steinmetzen-Grund“ galt in der Geschichte der Bauhütten stets als ein „Geheimnis“. Dieser Grund bildete sich in der Hütte von Straßburg heraus und war mit dem „Gauzeichen“ und dem „Schlüssel“ dieser Baugemeinschaft eng verbunden. Er ist im „Steinmetzbüchlein“ in Versen beschrieben:

„Was in Stain-Kunst zu sehen ist,

Daß kein Irr- noch Abweg ist.

Sondern Schnur recht, ein Linial

Durchzogen den Cirkel überall

So findst du drei in viere stehn

Und also, durch eins, ins Centrum gehn,

Auch wieder auss dem Centro in drey

Durch die vier in Cirkel ganz frey

Des Steinwerks Kunst und all die Ding

Zu forschen macht das Lehrnen gering

Ein Punkt, der in den Cirkel geht,

Der im Quadrat und Dreyangel steht,

Trefft ihr den Punkt, so habt ihr gar

Und kompt auss Noht, Angst und Gefahr.

Hier mit habt ihr die ganze Kunst,

Versteht ihrs nit, so ists umbsunst

Alles was ihr gelernt habt,

Des klagt euch bald, damit fahrt ab.“

Aus diesen Versen geht hervor, dass hier die feste Absicht bestand, das Geheimnis zu verhüllen, damit es nur für Eingeweihte erkennbar war. „Aus den ‚Ordnungen‘ der ‚Steinmetzen-Brüderschaft‘ […] geht hervor, dass für die Brüder die durch den Hüttenverband der ‚gemeinen‘ Gesell- und Brüderschaft aller Steinmetzen in ‚Teutschenlanden‘ verbunden waren, die Verpflichtung bestand, die Ordnungen und die Bräuche geheim zu halten.“54 In diesem Zusammenhang musste der Lehrling das Gelöbnis ablegen, Zeichen und Griff beim Austritt des Steinmetzenhandwerks geheim zu halten. Auch die Gesellen, Werkleute und Meister mussten ihre spezifischen Gradgeheimnisse für sich behalten. Wir finden diese Geheimzeichen und Symbole auch in der modernen Freimaurerei. Verschwiegenheit gegenüber Außenstehenden und Geheimhaltung der Fachkenntnisse und der Mitgliedschaft waren strenge Pflichten der Steinmetz-Brüder. Die Zeichen waren meist der Geometrie, der Mathematik, dem Handwerk und teilweise auch der Natur sowie der Hl. Schrift entnommen.

Die Hütten wurden meist in der Nähe eines Dombaus aus Stein oder Holz gebaut, meist als längliches Viereck, dessen schmale Seiten nach Osten und Westen ausgerichtet waren. Der Hüttenraum stand für die Arbeit, Erbauung und festliche Anlässe zur Verfügung. Bei den Werkbänken der Steinmetze gab es eine ganz bestimmte Rangordnung. Den Bauhütten gelang es relativ rasch, sich eine angesehene Stellung in der Gesellschaft zu erwerben. So war es sicher kein Zufall, dass angesehene Bauherren mit den Steinmetzen in engeren Kontakt traten und sich auch Mitglieder der „freien“ Künste, Wissenschaftler, Ärzte und Apotheker gerne „einbrüdern“ ließen. In den Bauhütten wurde für diesen Vorgang dieser Begriff verwendet. Die neuen Mitglieder wurden als sogenannte „angenommene“ Brüder bezeichnet.

Zu den Grundregeln der Konstruktion, wie Geometrie und Zahlensymbolik, kamen in der Geheimsprache noch weitere Zeichen dazu, wie jenes des Hammers, des Winkelmaßes, des Richtscheites, des Senkbleis, der Waage, der Säule, der Leiter und der verschlungenen Schnüre. Bedeutend waren weiters auch die Darstellungen des Regenbogens, des flammenden Sterns, der Sonne, der Weinblätter, der Kornähren und der Rose, um hier nur die bedeutendsten Symbole zu erwähnen. Auch die Bibel wurde zu einem zentralen Sinnbild der Bruderschaft.55 Die meisten dieser Zeichen und Symbole verfolgten einen dreifachen Sinn: die rituelle Symbolik, Ausdruck religiöser Ideen und die Versinnbildlichung fachlicher Begriffe und Regeln. So erhielt auch der Begriff der Kunst eine mehrfache Bedeutung. „Die einzelnen Brüder erkannten sich an ihrem Händedruck, an einer gewissen Haltung oder Bewegung des Körpers oder der Füße, aus welchen ihre Landsmannschaft oder ihre Lehrorte ersichtlich wurden. So bildete die Zugehörigkeit zu einer Bauhütte eine ernste Schule in Verschwiegenheit und Gehorsam, die des echten Steinmetzen erste Pflicht waren und ließ sie vor ihren Feinden auf der Hut sein. Man wusste es wohl, daß die heimlichen Versammlungen, die sich bei Gelegenheit der Meisterwahl, der Beförderung oder der Totenfeier zu förmlichen Andachten gestalteten, den Verdacht der Ketzerei erregten.“56 Die Meister hatten ihre Arbeitsstätten vor allem in Ulm, Passau, Lübeck, Brüssel, Antwerpen, London und York. Besonders in Deutschland und Frankreich gab es zu dieser Zeit Änderungen im Auftragswesen, öftere Wechsel der Auftraggeber, Veränderungen in den Arbeitsbedingungen der Maurer, Änderungen in der maurerischen Organisation und in der Leitung der Bauvorhaben. In England gab es zu dieser Zeit relative Sicherheit bei den Arbeiten der Bauhütten. König Eduard III. nahm nach der großen Pest um 1350 viele Steinmetze aus Deutschland auf. 57

In alten Wörterbüchern ist der normannisch-französische Begriff „masoun“ enthalten. Dieses Wort oder der Begriff „mazon“ taucht bereits im 12. Jahrhundert auf und findet sich dann öfters im 14. Jahrhundert. Die Steinmetz-Verordnungen von York Minster verwenden auch den Begriff „masoun“. Erstmals wurde das Wort „freemason“ im „Letterbook“ der Stadt London vom 9. August 1376, später dann in verschiedenen Dokumenten verwendet. In den ältesten freimaurerischen Logendokumenten, den sogenannten Konstitutions-Manuskripten aus der Zeit um 1400, findet nur der Ausdruck „mason“ Verwendung, nie „freemason“. Im 15. und 16. Jahrhundert erklärte die Stadt Norwich zwölf Männer unter der Bezeichnung „freemason“ zu Vollbürgern, und in den selben Jahrhunderten wurden sie auch als „mason“ oder „freemason“ bezeichnet. Die Londoner Mason-Organisation aller Steinarbeiter nannte sich in ihren Urkunden „Company of Masons“ oder „Company of Freemasons“. In Baurechnungen des 16. Jahrhunderts verstand man unter „freemason“ einen Behauer oder Setzer von Freisteinen (freestone), ein feinkörniger Sand- oder Kalkstein, den man frei bearbeiten konnte.

Die Bezeichnung „Lodge“ findet sich sowohl in England als auch in Schottland in einer dreifachen Bedeutung: „die Werkstätte der bei einem Bauwerk beschäftigten Masons, die Gesamtheit dieser Masons und […] eine territoriale Zunftorganisation der Masons.“58 In England und Schottland war „Lodge“ die Bezeichnung der masonischen Werkstätte, wie sie bei allen größeren Bauten aus Stein errichtet wurde. Erstmals findet in England eine „Loge“ in einer Baurechnung 1278 Erwähnung. 1356 kam es in London zur Gründung einer masonischen Zunft. Sie bildete den ersten Versuch, eine eigene masonische Gewerbeorganisation einzurichten und aufzubauen. Das Wort „mystery“ meinte auch „Gewerbe“ oder „Zunft“ und hat in der Anfangsphase der Freimaurerei mehrfach Anlass zu problematischen Interpretationen geboten.59

Die französischen Gesellenbruderschaften – „Les Compagnonnages“

Eine weitere Wurzel der Freimaurerei bildeten die französischen Gesellenbruderschaften, die eine starke Verbindung zum Brauchtum der Bauhandwerker aufwiesen.60 In der Zeit des Pariser Bürgermeisters Etienne Boileau, Profos des Königs, entstand 1268 ein „Livre des Métiers“, ein Buch der Handwerker, das sich als Sammlung der Sitten und des Brauchtums von 100 Handwerkergilden von Paris verstand. Aus dieser Sammlung geht hervor, dass die Absichten und Ziele der Handwerker als positiv eingestuft wurden. Sie versuchten, gute Leistungen zu bieten und vertraten die Meinung, dass ein Meisterstück als Befähigungsprobe anzusehen sei. Man schuf auch Normen für gute Arbeitsbedingungen und richtete eine Form der Kontrolle ein. Die Lehrlingszeit betrug in der Regel sieben Jahre, und am Ende wurde der Lehrling Compagnon. Dieser verpflichtete sich, einige Jahre zu wandern und unter einem Meister als Geselle tätig zu werden. Durch die Ausführung eines Meisterstücks erwarb er dann einen Rechtsanspruch auf die Privilegien des Meisters.61 1467 kam es durch die Handwerkerschaft zur Organisierung einer „Nationalgarde“ bzw. einer Miliz, wobei die Gewerbe auf insgesamt 61 Banner verteilt wurden.

Mit den Handwerkerschaften in enger Beziehung standen auch die Bruderschaften. Jedes Handwerk wurde einer Bruderschaft zugeordnet. Die Mitglieder fanden sich auch in den Handwerkerschaften, was sie schwer unterscheidbar machte. Die Bruderschaft bildete aber immer eine selbständige Einheit, erhielt oft getrennte Gesetze und organisierte Versammlungen und gesellschaftliche Feste. Ihr Aufgabenbereich umfasste die Unterstützung alter und armer Meister und ihrer Witwen bzw. Waisen. Diese Bruderschaften standen in engerer Verbindung zur Kirche62 und wirkten auch in England und in Deutschland, hatten aber in Frankreich eine größere Bedeutung. Freimaurerische Schriftsteller und Forscher haben sie irrtümlich häufig mit den handwerklichen Organisationen, den Bauhütten in Deutschland und den Companies oder Lodges in England verwechselt, weil die Bedeutung der Namen oft fließend war.63

In Frankreich gab es zahlreiche Bruderschaften, die uns überliefert sind. Die ältesten Statuten befinden sich in den Archiven von Montpellier, wo schon im 12. Jahrhundert eine Vereinigung von Handwerkern existierte, die sich „Clôture Commune“ (gemeinsamer Zusammenschluss) nannte. Sie umfasste als Mitglieder Architekten, Maurer, Maler, Bildhauer, Zimmerleute, Glaser, Silberarbeiter u. a. Die Statuten dieser Gesellschaft gehen auf das Jahr 1284 zurück.64 Ab 1196 bekamen sie von Guillaume VIII., Herr von Montpellier, schriftlich Hilfe und Schutz. Die Namen einiger sehr geschickter Architekten wurden überliefert. In der Literatur gibt es Hinweise auf Statuten einer Steinmetzbruderschaft 1365 aus Montpellier, 1407 einer Bruderschaft des Maurergewerbes in Amiens und einer Bruderschaft 1625 in Reims.65 Die darin enthaltenen Vorschriften beziehen sich hauptsächlich auf soziale und karitative Unterstützungen, auf christliche Begräbnisse und auf die Betreuung besonderer Altäre in den Kirchen. Die Gesellen besaßen schon relativ früh ihre eigenen Bruderschaften, die sogenannte Compagnonnage.

Auffällig war, dass innerhalb der französischen Handwerker die Maurer eine besondere Bedeutung erlangten. „Das lag an den großen Kirchenbauten, die sowohl in der Zeit des romanischen Stiles, aber besonders in der Gotik, eine große Anziehungskraft ausübten. Große Personengruppen, normannische Adelige und Ritter mit Frauen, Priester und Bauern wanderten seit 1145 freiwillig in großer Zahl nach Chartres, um dort und bei anderen Kirchenbauten (wie in Rouen, Amiens) mitzuarbeiten. Als Steinbruch- und Transportarbeiter (waren) sie eine große Hilfe und eine Demonstration ihres religiösen Eifers (und bildeten) eine Manifestation (mit Ähnlichkeiten zu den Pilgern und Kreuzrittern) zur Zeit der Kreuzzüge.“66

Über das Baugewerbe gibt es gleichfalls frühe Aufzeichnungen. Der älteste erhaltene Codex geht auf das Jahr 1268 zurück, in dem sich bereits viele Unterteilungen in zahlreiche Zweige finden. Er fasste unter dem Banner des Hl. Blasius die Maurer, Steinmetze, Gips- und Mörtelarbeiter zusammen. Die Steinmetze finden in diesem Codex keine besondere Hervorhebung, obwohl zwischen Steinmetzen und Maurern streng unterschieden wurde. Vermutlich wurden sie mit den gewöhnlichen Maurern gleichgesetzt.

Der Codex umfasst 24 Artikel, von denen einige von großer Bedeutung waren. Sie werden hier kurz angeführt:

„Von den Maurern, Steinmetzen, Gips- und Mörtelarbeitern.

1. Wer es will, kann Meister in Paris sein, immer vorausgesetzt, daß er sein Handwerk versteht und gemäß den Bräuchen und Sitten der Handwerkerschaft arbeitet und das sind folgende:

2. Keiner darf mehr als einen Lehrling beschäftigen, und wenn er einen Lehrling hat, darf er ihn nicht für weniger als 6 Jahre in Dienst nehmen, für eine längere Dienstzeit darf er ihn aber nehmen und auch auf Bezahlung, wenn er jenen bekommen kann. Und wenn er ihn für weniger als 6 Jahre nimmt, dann wird er zu einer Geldstrafe von 20 Sous verurteilt, die an die Kapelle des Hl. Blasius zu zahlen sind, es seien denn seine eigenen in ehrenhafter Ehe geborenen Söhne.

3. Und der Maurer darf einen 2. Lehrling sich nehmen, sobald der erste 5 Jahre gedient hat, ganz gleich auf welche Zeit er den ersten genommen hat.

4. Und der jetzige König – den Gott ein langes Leben schenke – hat dem maître guillaume de saint patu dem Meisterposten über alle Maurer verliehen, solange es ihm beliebe. Darauf leistete Meister Wilhelm einen Eid, dass der Genannte Handwerkerschaft nach besten Kräften und Getreu leiten werde für arm wie reich, für schwach wie stark, solange, wie es dem König gefällt, daß er besagte Handwerkerschaft leite; und danach leistete er den genannten Eid auch vor dem Bürgermeister von Paris im Chatelet.

5. Die Maurer, Mörtel- und Gipsarbeiter dürfen so viele Gehilfen und Arbeiter in ihre Diensten halten, wie ihnen beliebe, immer vorausgesetzt, daß sie sie in keinem Punkte ihres Handwerks unterweisen.