Der fremde Gast - Charlotte Link - E-Book

Der fremde Gast E-Book

Charlotte Link

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Beschreibung

Ein furchtbares Verbrechen, ein unerwarteter Gast, eine mörderische Bedrohung ...

Ein alter Freund besucht Rebecca Brandt in ihrem Haus in Südfrankreich – im Gepäck die beiden gestrandeten Studenten Inga und Marius, die ans Meer trampen wollten. Rebecca mag die beiden und überlässt ihnen ihr Boot. Aber während des Segeltörns kommt es zu einem schrecklichen Streit. Marius fällt über Bord und ist verschwunden. Wochen später erscheint sein Bild in der Zeitung. Im Zusammenhang mit einem furchtbaren Verbrechen in Deutschland wird nach ihm gesucht, und zwar als Täter ...

Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 628

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Inhaltsverzeichnis

WidmungPrologSonntag, 18. JuliDienstag, 20. JuliMittwoch, 21. Juli
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Donnerstag, 22. Juli
123
Freitag, 23. Juli
12345678
Montag, 26. Juli
12
Dienstag, 27. Juli
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Mittwoch, 28. Juli
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Donnerstag, 29. Juli
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Freitag, 30. Juli
123456
Montag, 2. AugustFreitag, 6. AugustCopyright

Für Kenzo in Liebe

Prolog

ANONYMER BRIEF AN SABRINA BALDINI

»Der Mai ist gekommen … Wie schön dein Garten doch blüht und grünt, Sabrina! Ich habe dich gestern Abend gesehen, als du noch draußen gesessen hast. Wo war dein Mann? Er ist wenig daheim bei dir, stimmt’s? Weiß er eigentlich, dass du keineswegs die treue Gattin bist, die er in dir sieht? Hast du ihm all die Untiefen deines Lebens gebeichtet? Oder behältst du die entscheidenden Dinge für dich? Es würde mich interessieren, ob du es schaffst, neben ihm alt zu werden und ihm dabei deinen Ehebruch zu verschweigen.

Wie auch immer, du bist viel allein. Es wurde dunkel, und du warst immer noch draußen. Später bist du ins Haus gegangen, aber du hast die Terrassentür offen gelassen. Wie unvorsichtig von dir, Sabrina! Hast du nie gehört, dass das gefährlich sein kann? Die Welt ist voller böser Menschen … voller rachsüchtiger Menschen. Rachsucht ist böse, aber manchmal ist sie nur allzu verständlich, findest du nicht? Jeder bekommt das, was er verdient. Die Welt kann man nur dann ertragen, wenn man an eine ausgleichende Gerechtigkeit glaubt. Manchmal lässt die Gerechtigkeit zu lange auf sich warten, dann muss man ihr auf die Sprünge helfen.

Du verstehst, dass du den Tod verdient hast, Sabrina, nicht wahr? Es hätte dir klar sein müssen seit jenen lang vergangenen Tagen, da du so furchtbar versagt hast. Man nennt das unterlassene Hilfeleistung, was du da getan hast. Oder besser: nicht getan hast. Was war der Grund, Sabrina? Faulheit? Gleichgültigkeit? Du wolltest dich mit niemandem anlegen? Dir nicht die Finger verbrennen? Nicht anecken? Ach, es sind doch immer die gleichen Geschichten! Du warst so engagiert in deinem Einsatz für andere. Aber nur, solange du dir keinen Ärger einhandeln musstest. Viel Gerede, nichts dahinter. Es ist so bequem, wegzuschauen! Und es bringt nichts als Verdruss, wenn man sich einmischt!

Aber man muss bezahlen. Irgendwann. Immer. Sicher hast du gehofft, dieser Kelch geht an dir vorüber, nicht wahr, Sabrina? So viele Jahre … Da verblassen die Erinnerungen, und vielleicht hast du jene Tage längst verdrängt, beschönigt in deinem Gedächtnis, und langsam hast du dir gedacht, dass du noch einmal Glück gehabt hast. Dass du davongekommen bist, ohne die Rechnung bezahlen zu müssen.

Hast du das wirklich geglaubt? Eigentlich scheinst du mir dafür zu intelligent. Und zu erfahren.

Der Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Irgendwann musste er kommen, und ich finde, länger sollte man nun nicht mehr warten. Von meiner Seite aus ist alles klar. Das Urteil über dich ist gefällt, und sehr bald werde ich es vollstrecken. An dir und an Rebecca. Sie trägt genauso viel Schuld wie du, und es wäre nicht in Ordnung, wenn du allein den Kopf hinhalten müsstest.

Ich werde mir Zeit nehmen für jede von euch beiden. Es wird nicht einfach, schnell und ohne großes Aufheben über die Bühne gehen. Ihr werdet leiden. Euer Sterben wird schwer sein. Es wird sich lange genug hinziehen, dass ihr Gelegenheit habt, intensiv über euch und euer Leben nachzudenken.

Bist du schon gespannt auf die Begegnung mit mir, Sabrina? So gespannt, dass du abends nicht mehr lange in deinem schönen Garten sitzen wirst? Dass du darauf achten wirst, die Terrassentür stets geschlossen zu halten? Dass du dich vorsichtig nach rechts und links umschauen wirst, wenn du dein Haus verlässt? Dass du zusammenzuckst, wenn es an der Tür klingelt? Dass du nachts wach im Bett liegst, wenn dein Mann wieder einmal nicht daheim ist, und angstvoll in die Dunkelheit lauschst und dich immer wieder fragst, ob du wirklich alle Türen gut verschlossen hast? Oder wirst du das Licht ständig brennen lassen, weil du die Schwärze um dich herum gar nicht mehr erträgst? Aber du weißt, dass auch dies dich nicht in Sicherheit bringt, nicht wahr? Ich komme genau dann, wenn ich es mir vorgenommen habe. Du wirst dich nicht schützen können.

Und im Grunde weißt du das auch.

Ich melde mich bald wieder bei dir, Sabrina. Es ist schön zu wissen, dass du bis dahin Tag und Nacht an mich denken wirst. Und dass du immer elender und grauer aussehen wirst. Es macht mir Freude, das zu beobachten.

Ich bin bei dir!«

Sonntag, 18. Juli

Sie träumte, ein kleiner Junge habe an ihrer Haustür geklingelt. Sie wimmelte ihn ab, so wie sie jeden abwimmelte, der ungebeten vor ihr stand und irgendetwas von ihr haben wollte. Dieses überfallartige Betteln war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen, sie fühlte sich bedrängt und genötigt, wenn plötzlich jemand auf ihrem Grundstück aufkreuzte und die Hand aufhielt. Meist ging es um einen guten Zweck, natürlich, aber wer wusste schon, ob diese Leute immer ehrlich waren? Und auch wenn sie mit irgendwelchen Ausweisen herumfuchtelten, die sie als sammelberechtigt für karitative Vereinigungen auswiesen, so war es doch einfach unmöglich, so schnell zu erkennen, ob es sich nicht um eine mehr oder weniger gut gemachte Fälschung handelte. Vor allem, wenn man siebenundsechzig Jahre alt war und zunehmend Probleme mit den Augen hatte.

Kaum dass sie die Tür geschlossen hatte, klingelte es erneut.

Sie setzte sich ruckartig im Bett auf, verwirrt, weil das Klingeln aus dem Traum sie diesmal tatsächlich aus dem Schlaf gerissen hatte. Das Bild des Jungen hatte sie noch immer vor Augen: ein spitzes, blasses, fast durchsichtiges Gesicht mit riesigen Augen. Er bat nicht um Geld, er bat um Essen.

»Ich habe solchen Hunger«, hatte er gesagt, leise und doch fast anklagend. Sie hatte die Tür zugeworfen, entsetzt, erschrocken, konfrontiert mit einem Aspekt der Welt, den sie nicht sehen wollte. Hatte sich umgedreht und versucht, das Bild loszuwerden, und in dem Moment hatte es geklingelt, und sie dachte: Nun ist er das schon wieder!

Warum war sie jetzt aufgewacht? Hatte es tatsächlich geklingelt? Man baute solche Geräusche gern in seine Träume ein. Aber es hätte dann ja nur ein Wecker sein können, und sie hatten gar keinen. Schließlich arbeiteten sie nicht mehr, und morgens wurden sie beide ohnehin ganz von selbst ziemlich früh wach.

Es war sehr dunkel, aber durch die Ritzen des Rolladens drang ein wenig Licht von den Straßenlaternen herein. Sie konnte ihren schlafenden Mann neben sich sehen. Wie immer lag er völlig bewegungslos, und sein Atem ging so flach und leise, dass man sehr genau hinhören musste, um zu wissen, ob da überhaupt noch Atem war. Sie hatte schon gelesen, dass ältere Paare abends gemeinsam einschliefen, und dann wachte morgens einer von ihnen auf und der andere war tot. Dann hatte sie gedacht, wenn Fred auf diese Art sterben würde, würde es ganz schön lange dauern, bis ihr das auffiel.

Ihr Herz klopfte hart und schnell. Ein Blick zur elektronischen Uhr, deren Zahlen hellgrün leuchteten, sagte ihr, dass es fast zwei Uhr in der Nacht war. Keine gute Zeit, um aufzuwachen. Man war so schutzlos. Sie jedenfalls. Sie hatte schon oft das Gefühl gehabt, sollte ihr jemals etwas Schlimmes zustoßen – sollte sie sterben zum Beispiel –, dann würde das nachts zwischen ein und vier Uhr passieren.

Ein bedrückender Traum, sagte sie sich, nichts weiter. Du kannst ruhig wieder einschlafen.

Sie legte sich in ihr Kissen zurück, und in diesem Moment klingelte es erneut, und sie begriff, dass es kein Traum gewesen war.

Jemand klingelte um zwei Uhr nachts an ihrer Haustür.

Sie setzte sich erneut auf und hörte ihren eigenen hektischen Atem in der beklemmenden Stille, die auf das schrille Klingeln folgte.

Das ist ganz ungefährlich, dachte sie, ich muss ja nicht aufmachen.

Es konnte nichts Gutes bedeuten. Nicht einmal Hausierer klingelten um diese Zeit. Wer um diese Zeit Menschen aus dem Schlaf schreckte, der führte entweder Böses im Schilde oder war in eine Notlage geraten. Und war Letzteres nicht viel wahrscheinlicher? Ein Einbrecher oder Raubmörder würde doch nicht klingeln?

Sie knipste das Licht an und beugte sich über ihren tief schlafenden Mann. Der konnte überhaupt nichts hören, da er die Ohren mit Ohropax zugestöpselt hatte. Fred war so empfindlich mit Geräuschen, ihn störte schon das Wispern des Windes in den Bäumen vor dem Schlafzimmerfenster. Oder das Knarren einer Holzdiele oder das welke Blatt einer Zimmerpflanze, das sich löste und zu Boden glitt. Er erwachte davon, und das war das Schlimmste für ihn. Aufwachen zu müssen, wenn er eigentlich beschlossen hatte zu schlafen. Es stürzte ihn in namenlose Wut. Seine Laune war für Tage verdorben. Irgendwann hatte er deshalb mit dem Ohropax begonnen. Und seine Frau hatte aufgeatmet.

Sie zögerte daher, ihn zu wecken. Er konnte ihr das so übel nehmen, dass er eine Woche lang kaum noch mit ihr sprechen würde. Jedenfalls dann, wenn er später befand, dass es unnötig gewesen war, ihn aus dem Schlaf zu reißen. Sollte sich herausstellen, dass man ihn doch besser geweckt hätte, und sie tat es nicht, konnte ihr das Gleiche passieren. Sie war jetzt seit dreiundvierzig Jahren mit diesem Mann verheiratet, und ihr Leben mit ihm hatte überwiegend aus Momenten dieser Art bestanden: zerrissen zwischen zwei Möglichkeiten, nervös abwägend, welches der richtige Weg sein mochte, oberstes Anliegen dabei stets, seine Wut nicht herauszufordern. Es war, weiß Gott, kein einfaches Leben mit ihm.

Es klingelte ein drittes Mal, länger anhaltend diesmal, fordernder, drängender. Sie entschied, dass Freds Nachtschlaf einem so ungewöhnlichen Vorkommnis geopfert werden durfte. Sie rüttelte an seiner Schulter.

»Fred«, wisperte sie, obwohl er sie nicht hören konnte, »wach auf! Bitte, wach auf! Es ist jemand an der Haustür!«

Fred wälzte sich unwillig knurrend zur Seite, dann war er urplötzlich mit einem Schlag hellwach und saß nun auch aufrecht im Bett. Er starrte seine Frau an.

»Was, zum Teufel ….«, begann er.

»Es ist jemand an der Tür!«

Er konnte nur ihre Mundbewegungen sehen und zog sich widerwillig seine Stöpsel aus den Ohren. »Was ist los? Wie kommst du dazu, mich zu wecken?«

»Es klingelt an der Tür. Jetzt schon dreimal.«

Er starrte sie immer noch an, als sei sie nicht ganz normal. »Wie? Es klingelt an der Tür? Um diese Zeit?«

»Ich finde das ja auch sehr beunruhigend.« Sie hoffte, es werde wieder klingeln, denn sie konnte erkennen, dass Fred ihr nicht glaubte, aber für den Moment blieb alles ruhig.

»Du hast geträumt. Und wegen eines dämlichen Traumes meinst du mich wecken zu müssen?« Seine Augen blitzten sie böse an. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab.

Ein schlecht gelaunter, mürrischer, alter Mann, dachte sie, und inzwischen auch nicht einmal mehr attraktiv. Vielleicht lebe ich noch zwanzig Jahre. Wenn er nicht vor mir stirbt, dann habe ich am Ende dreiundsechzig Jahre mit ihm gelebt. Dreiundsechzig Jahre!

Der Gedanke stimmte sie mit einem Mal so traurig, dass sie hätte weinen mögen.

»Greta, wenn du noch einmal …«, begann Fred voller Zorn, aber genau in diesem Moment klingelte es erneut an der Tür, noch etwas länger und anhaltender als zuvor.

»Siehst du!« Es klang fast triumphierend. »Es ist jemand an der Tür!«

»Tatsache«, sagte Fred perplex. »Es ist … es ist zwei Uhr in der Nacht!«

»Ich weiß. Aber ein Einbrecher …«

»… würde kaum klingeln. Obwohl es theoretisch seine einzige Chance wäre, bei uns ins Haus zu gelangen!«

Das stimmte. Fred hatte viel Mühe und Zeit darauf verwandt, das Haus in eine Festung zu verwandeln, damals, vier Jahre zuvor, als sie es gekauft hatten und eingezogen waren. Ihren Altersruhesitz, wie er es nannte. Ruhiges Münchener Randgebiet, ein eher wohlhabendes Viertel. Sie hatten zuvor auch in München gelebt, in einer ganz anderen Ecke zwar, aber es hatte sich ebenfalls um eine so genannte bessere Gegend gehandelt. Doch sie waren jünger gewesen. Mit dem Alter hatte sich bei Fred eine ausgeprägte Paranoia entwickelt, was Einbrecher anging, und so waren inzwischen alle Fenster im Erdgeschoss vergittert, die Rollläden im ganzen Haus mit Sicherheitsschlössern versehen, und natürlich gab es eine Alarmanlage auf dem Dach.

»Vielleicht sollten wir das Läuten einfach ignorieren.«

»Jemanden ignorieren, der uns mutwillig aus dem Schlaf reißt?« Fred schwang beide Beine über den Bettrand. Er bewegte sich für sein Alter noch ziemlich elastisch. Aber er wurde sehr mager in der letzten Zeit. Der blauschwarz gestreifte Schlafanzug aus Seide schlabberte wie ein leerer Sack um ihn herum. »Ich werde die Polizei anrufen!«

»Aber das kannst du doch nicht machen! Vielleicht ist es ein Nachbar, der Hilfe braucht! Oder es ist …« Sie sprach nicht weiter.

Fred wusste, wen sie meinte. »Warum sollte er zu uns kommen, wenn etwas ist? Er hat sich seit Ewigkeiten nicht blicken lassen.«

»Trotzdem. Er könnte es sein. Wir sollten …« Sie war im Grunde völlig ratlos und überfordert. »Wir müssen irgendetwas tun!«

»Sag ich ja! Die Polizei rufen!«

»Und wenn es dann aber wirklich nur … er ist?« Warum, dachte sie, habe ich immer diese Angst, in Freds Gegenwart auch nur seinen Namen zu nennen?

Fred war das Hin und Her nun leid.

»Ich werde jetzt einmal nachsehen«, sagte er entschlossen und verließ das Zimmer.

Sie hörte seine Schritte auf der Treppe. Dann vernahm sie seine Stimme unten im Hausflur. »Hallo? Wer ist denn da?«

Später – als sie schon gar nicht mehr die Möglichkeit hatte, sich mit Fred darüber auszutauschen, und als sie bereits begriff, dass es keine zwanzig Jahre mehr sein würden, die sie zu leben hatte, sondern nur noch Stunden oder bestenfalls Tage – fragte sie sich, welche Antwort ihr Mann von der anderen Seite der Tür bekommen hatte, dass er sie so schnell und bereitwillig geöffnet hatte. Sie hörte, dass die verschiedenen Sicherheitsriegel gelöst wurden. Dann vernahm sie einen dumpfen Schlag, den sie sich nicht erklären konnte, der jedoch ihren ganzen Körper in Alarmbereitschaft versetzte. Die feinen Härchen an ihren Unterarmen standen aufrecht. Ihr Herz wollte nicht aufhören zu rasen.

»Fred?«, rief sie angstvoll.

Irgendetwas unten im Haus fiel polternd zu Boden. Dann hörte sie Freds Stimme. »Ruf die Polizei! Ruf sofort die Polizei! Schnell! Beeil dich!«

Es war der falsche Rat. Es gab im ersten Stock des Hauses kein Telefon. Sie hätte es schaffen können, ihre Zimmertür zu erreichen, sie zuzuschlagen und zu verriegeln, und dann hätte sie das Fenster öffnen, sich in die Nacht hinauslehnen und um Hilfe schreien können. Hätte er sie nur angewiesen, dies zu tun … Oder wenn sie von selber darauf gekommen wäre … So aber sprang sie kopflos aus dem Bett, schlüpfte, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, in ihren Morgenmantel und eilte ins Treppenhaus. Gehorsame Ehefrau bis zuletzt. Polizei rufen, hatte er gesagt. Das Telefon befand sich im Wohnzimmer. Fred besaß zwar zudem ein Handy, aber wo das herumlag, das wusste sie erst recht nicht.

Erst auf der Treppe ging ihr auf, dass sie einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte.

Aber da war es bereits zu spät.

Dienstag, 20. Juli

Um halb fünf am Morgen gab es Karen auf, noch etwas Schlaf finden zu wollen, und sie entschied, dass es besser sei, aufzustehen und etwas Sinnvolles zu tun, als sich noch länger im Bett herumzuwälzen und schließlich vollends gerädert zu sein.

Aber was ist schon sinnvoll, dachte sie, was, in meinem Leben, ist schon sinnvoll?

Wolf, ihr Mann, schlief noch, er hatte nichts von der Schlaflosigkeit seiner Frau mitbekommen. Das war auch gut so, denn er hätte entweder mit Spott oder mit Vorhaltungen darauf reagiert, und beides hätte Karen – wieder einmal – in Tränen ausbrechen lassen. Sicherlich hätte er sie darauf hingewiesen, dass sie abends zu früh ins Bett ging, daher zwangsläufig auch am nächsten Morgen zu früh aufwachte und schließlich alle mit dem Lamento über ihr nächtliches Wachliegen verrückt machte.

Vielleicht hatte er Recht. Schließlich klang es logisch, was er sagte. Und es hatte leider immer sehr wenig Sinn, ihn anderen Argumenten und Erklärungen zugänglich machen zu wollen. Für Wolf gab es eine Sicht der Dinge, und das war seine, und damit Schluss. Karen wusste selber, dass sie abends zu früh schlafen ging, aber sie war so erschöpft, so kraftlos, dass ihr einfach die Augen zufielen, ganz gleich, was sie tat. Sie kroch in ihr Bett wie eine Kranke, deren Körper am Ende ist, und fiel geradezu übergangslos in einen narkoseähnlichen Schlaf. Aus dem sie gegen halb vier am Morgen ebenso übergangslos aufschreckte und fortan hellwach war, gepeinigt von angstvollen Gedanken, ihre Zukunft und die ihrer Familie betreffend.

Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt, zog ihre Turnschuhe an und schlich aus dem Schlafzimmer. In einem Buch hatte sie gelesen, dass Bewegung an der frischen Luft bei Depressionen hilfreich sein sollte. Sie wusste nicht genau, ob sie depressiv war, aber manche der in dem Buch beschriebenen Symptome fand sie durchaus bei sich wieder.

Aus den Kinderzimmern klang kein Laut. Offensichtlich war es ihr geglückt, niemanden von der Familie aufzuwecken.

Als sie die Treppe hinunterkam, stand Kenzo, der Boxer, schon unten in der Diele und wedelte heftig mit seinem kurzen Schwanz. Obwohl er im Wohnzimmer geschlafen hatte – zur Zeit war das Sofa sein Lieblingsbett –, war es ihm natürlich nicht entgangen, dass Frauchen aufgestanden war und sich angezogen hatte. Auch interpretierte er ihre Turnschuhe sofort richtig: Das sah ganz nach einem frühmorgendlichen Spaziergang aus. Begeistert vollführte er ein paar Luftsprünge, lief zur Haustür und schaute Karen erwartungsvoll an.

»Ich komme ja schon«, wisperte sie ihm zu und griff nach Halsband und Leine, »aber sei schön leise!«

Der Hochsommermorgen war schon recht hell, die Luft noch kühl, aber auf eine angenehme, erfrischende Weise. Der Tag würde sonnig und heiß werden. Tau glitzerte auf dem Gras. Karen atmete tief die reine Luft.

Wie friedlich es ist, dachte sie. Wie still. Alles schläft noch. Es ist, als seien Kenzo und ich die einzigen Lebewesen auf der Welt.

Sie beschloss, zum Wald hinüberzulaufen und dann dort eine große Runde zu drehen. Noch durch ein paar Straßen der Siedlung hindurch, schon wäre sie da. Die Nähe zum Wald war – in Hinblick auf den Hund – einer der Gründe gewesen, weshalb sie und Wolf sich für das Haus in der Münchener Stadtrandsiedlung entschieden hatten.

Seitdem sie in das neue Haus eingezogen waren, ging es Karen schlechter. Sie hatte schon vorher unter allen möglichen Problemen und Sorgen gelitten, wobei sie nie genau hatte definieren können, welcher Art ihre Schwierigkeiten waren. Eine Freundin hatte gemeint, sie sei in ihrer Ehe nicht glücklich, aber das hatte Karen abgestritten. Sehr energisch abgestritten. Sie und Wolf kannten einander seit fünfzehn Jahren, waren seit elf Jahren verheiratet und hatten zwei gesunde, hübsche Kinder. Bis auf die normalen Querelen, die sich zwangsläufig zwischen zwei erwachsenen Menschen, die unter einem Dach leben, ergeben, war zwischen ihnen weitgehend alles in Ordnung. Vielleicht hatten sie ein bisschen wenig voneinander, denn Wolf machte Karriere bei der Bank, für die er seit Abschluss seines Studiums arbeitete, und war selten zu Hause. Karen hatte ihren Beruf als Zahnarzthelferin aufgegeben, als das zweite Kind kam, und es war ihnen beiden als vernünftige Lösung erschienen.

»Ich verdiene genug Geld«, hatte Wolf gesagt, »und du kannst dich dann ganz um die Kinder kümmern und musst dich nicht dauernd so abhetzen.«

Manchmal argwöhnte Karen, dass Wolf nicht die geringste Ahnung hatte, in welchem Ausmaß allein das Betreuen zweier Kinder zum Abhetzen zwang, zumal es natürlich darüber hinaus auch darum ging, das Haus in Ordnung zu halten, den Garten zu pflegen, Kenzo auszuführen, sämtliche Einkäufe zu erledigen, die Wäsche zu waschen und Wolfs Hemden zu bügeln. Und es war – und damit, so meinte sie manchmal in einer Art untergründiger Ahnung zu erkennen, näherte sie sich vielleicht dem Kern ihrer Frustration und Melancholie – ein Leben im Stress, für den ihr kein Mensch auch nur einen Funken Anerkennung zollte. Andererseits ging das kaum einer Hausfrau anders, wenn Karen den Leserbriefen in Frauenzeitschriften Glauben schenken durfte. Warum also krallte sie sich an diesem abgegriffenen Klischee fest, stimmte in das kollektive Jammern ihrer Geschlechtsgenossinnen ein, anstatt das Gute in ihrem Leben zu sehen? Die gesunden Kinder, den liebenswerten Hund, die glatte Karriere ihres Mannes, das schöne Haus?

Ja, denn das schöne, neue Haus hatten sie seit drei Monaten, und bei ihrem Rätselraten um die Ursache ihrer wachsenden Schwermut kam ihr dann und wann der Gedanke, dass sie den Umzug vielleicht nicht verkraftete, die neue Umgebung, die neuen Nachbarn. Eindeutig waren ihre Symptome deutlicher geworden. Die Schlaflosigkeit war quälender geworden, aber auch paradoxerweise ihre Müdigkeit. Die Stunden des Tages dehnten sich in unendliche Leere, und oft war sie nicht in der Lage, die dahintickenden Minuten mit Sinnvollem zu füllen, obwohl es genug zu tun gegeben hätte. Manchmal saß sie mit dem ellenlangen Einkaufszettel in der einen, dem Geldbeutel in der anderen Hand auf dem Sofa, starrte in den blühenden Garten und fand nicht die Kraft, aufzustehen und zum Supermarkt zu gehen.

War sie einsam? War sie inmitten der vierköpfigen Familie so einsam, dass ihr der Lebensmut langsam, aber unaufhörlich aus der Seele rann und irgendwo versickerte, wo sie ihn nie mehr finden würde?

Eine Woche nach dem Einzug hatte sie sich aufgerafft und die Nachbarn besucht, in der Hoffnung, hier vielleicht ein paar nette Kontakte herstellen zu können. Die Besuche hatten sie deprimiert: Die alte Dame auf der einen Seite war ziemlich senil und verbittert, sie hatte Karen unwirsch und unfreundlich behandelt, so als sei diese persönlich an irgendeiner Misere in ihrem Leben schuld. Auf der anderen Seite lebte ein ebenfalls schon recht altes Ehepaar. Karen mochte die beiden nicht, zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, in ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen zu treten. Er hörte sich gerne reden und prahlte unablässig mit seinen beruflichen Erfolgen aus der Zeit, da er als höchst gefragter Rechtsanwalt – wollte man ihm Glauben schenken – sensationelle Erfolge hatte feiern können. Seine Frau sprach fast gar nichts, fixierte jedoch Karen ständig aus den Augenwinkeln, und Karen hatte das ungute Gefühl, sie werde gnadenlos über sie herziehen, kaum dass sie das Haus wieder verlassen hätte. Sie saß, ziemlich erschlagen und wie meist auch recht depressiv, auf dem geschmacklosen Brokatsofa, nippte an einem Cognak und versuchte, an den richtigen Stellen bewundernd zu lächeln oder ein staunendes »Oh!« hervorzubringen.

Und wünschte sich inbrünstig in die Sicherheit der eigenen vier Wände zurück.

»Ich finde sie unsympathisch«, hatte sie abends ihrem Mann erklärt, »er ist total von sich überzeugt, und sie kriegt den Mund nicht auf und steckt voller Aggressionen. Ich habe mich richtig unwohl gefühlt.«

Wolf lachte, und wie so oft fand Karen, dass seinem Lachen etwas Überhebliches anhaftete. »Du bist aber wirklich schnell in deinen Analysen, Karen. Ich dachte, du warst eine knappe halbe Stunde dort drüben? Und kannst diese wildfremden Menschen bereits so genau einordnen? Hut ab, kann ich da nur sagen!«

Natürlich verspottete er sie, aber warum verletzte sie dies so sehr? Das war doch früher nicht so gewesen. Was hatte sie so empfindlich werden lassen? Oder war sein Spott schärfer geworden? Oder kam beides zusammen und bedingte einander? Wolf war beißender geworden, und das machte sie sensibler, und ihre Sensibilität wiederum forderte ihn heraus, härter mit ihr umzuspringen. Was vielleicht nicht das war, was ein liebevoller Ehemann tun sollte, aber die menschliche Natur folgte ihren eigenen Gesetzen.

Und die neuen Nachbarn waren es zumindest ganz sicher nicht wert, ihretwegen zu streiten.

Die neuen Nachbarn …

Kenzo hatte eine interessante Spur auf dem Asphalt entdeckt und erhöhte merklich sein Tempo. Karen musste schon beinahe traben, um mit ihm Schritt halten zu können. Sie stellte fest, dass so ein Dauerlauf durch den frühen Morgen tatsächlich viel besser war, als sich im Bett herumzuwälzen, aber leider gelang es ihr trotzdem nicht, alle unliebsamen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Zum Beispiel wollte sie eigentlich keinesfalls über die Nachbarn nachdenken, und nun hatten gerade diese sich wieder eingeschlichen. Weil sie seit Tagen Probleme wegen ihnen hatte, und Probleme haben hieß bei ihr: unentwegt nach Lösungen suchen, keine finden, sich immer elender fühlen, ihrer Umgebung mit ihrem Gejammere auf die Nerven fallen. Jedenfalls hatte Wolf das neulich in einem längeren Vortrag, den er ihr hielt, so beschrieben.

Das Problem mit den Nachbarn bestand darin, dass sie sie seit zwei Tagen nicht mehr erreichte. Und dringend erreichen musste, weil sie sie bitten wollte, sich ein wenig um den Garten und vor allem um die Post zu kümmern, während sie mit Wolf und den Kindern für zwei Wochen in die Türkei fliegen würde. Es waren jetzt noch etwa eineinhalb Wochen bis zum Beginn der Schulferien, eine weitere Woche später sollte es losgehen. Karen hatte bereits organisiert, dass Kenzo bei ihrer Mutter untergebracht würde, und sie fand, es sei wichtig, auch alles andere möglichst frühzeitig festzulegen. Sie hatte am gestrigen und vorgestrigen Tag bei den Nachbarn geklingelt, morgens, mittags und abends, aber nichts hatte sich gerührt. Was ihr seltsam vorkam, war, dass am Sonntag noch gelegentlich die Rollläden vor den Fenstern unten, dann wieder vor einigen Fenstern nach oben gezogen waren und trotzdem niemand zu Hause zu sein schien.

»Ich könnte schwören, sie sind daheim«, sagte sie zu Wolf, »aber ich habe sie nicht mehr im Garten gesehen, und niemand öffnet mir!«

Wolf hatte ein wenig gequält dreingeblickt, wie immer, wenn Karen ihn mit Dingen behelligte, von denen er fand, sie solle sie bitte allein lösen. »Dann werden sie eben verreist sein! Das kommt doch vor!«

»Aber die Rollläden …«

»Vermutlich haben sie so ein automatisches Sicherheitssystem. Das steuert die Rollläden von selber. Damit eben niemand merkt, dass das Haus leer steht.«

»Aber gestern Nacht …« Sie hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag eine eigenartige Beobachtung gemacht. Sie hatte wieder einmal nicht schlafen können und war ins Bad gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Dabei hatte sie aus dem Fenster gesehen und festgestellt, dass nebenan in einigen Räumen Licht brannte. Erleichtert hatte sie gedacht, dass die Nachbarn, wo immer sie gewesen sein mochten, nun offensichtlich zurückgekehrt waren, aber am nächsten Tag hatte sich dasselbe Spiel wiederholt: Niemand reagierte auf ihr Klingeln.

»Dann gehören eben auch an- und ausgehende Lichter zu dem Sicherungssystem«, sagte Wolf genervt, als sie mit ihm darüber sprach. »Lieber Gott, Karen, mach doch nicht so einen Zirkus! Es sind noch über zwei Wochen, bis wir abreisen. Bis dahin tauchen sie schon wieder auf! Außerdem – hat er nicht noch am Samstag mit dir telefoniert?«

Das stimmte. Der Nachbar hatte angerufen und sich beschwert, weil Karen ihren Wagen so ungeschickt vor ihrer Garage geparkt hatte, dass angeblich auch die benachbarte Garage teilweise blockiert war. Karen hatte ihr Auto dann weggefahren und sich hinterher weinend in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, weil sie das Gefühl hatte, unfreundlich und böse behandelt worden zu sein.

»Warum hast du da denn nicht gleich wegen der Ferien gefragt?«, wollte Wolf wissen.

»Weil er so unfreundlich war und ich …«

»Weil er so unfreundlich war! Fällt dir eigentlich auf, dass du das inzwischen über fast alle Menschen sagst, mit denen du in irgendeiner Weise verkehrst? Alle behandeln sie dich unfreundlich! Alle sind sie gemein zu dir! Keiner liebt dich! Warum, beispielsweise, fragst du jetzt nicht einfach die Alte auf unserer anderen Seite, ob sie sich um unsere Post kümmern könnte? Ich kann es dir sagen: Weil sie bei deinem Antrittsbesuch so unfreundlich zu dir war!« Die letzten Worte hatte er auf affektierte Weise betont. »Du läufst herum mit der Miene eines ständig verheulten Opferlammes, Karen, und vielleicht ist es ganz einfach das, was die Menschen herausfordert, schlecht mit dir umzugehen!«

Konnte es sein, dass er Recht hatte?

Sie und Kenzo waren in eine Straße eingebogen, an deren Ende man über ein kurzes Stück Wiese in den Wald gelangen konnte. Kenzo blieb an einem Gartenzaun stehen und schnüffelte interessiert; Gelegenheit für Karen, kurz zu verschnaufen. Obwohl das Laufen ihr gut tat, war sie schon wieder bei ihren quälenden Grübeleien angelangt, die fast alle dazu angetan waren, sie in ihrer eigenen Meinung über sich abzuwerten. War Opfer sein kein Zufall? Forderte man es selber heraus? Verhielt sie sich auf eine Weise, die andere einlud, sie schlecht zu behandeln?

Unterwürfig, ängstlich, abhängig von fremden Meinungen, ohne Selbstbewusstsein.

Wolf würde jetzt sagen: Ändere es, dachte sie. Aber hat er eine Ahnung, wie schwer es ist, sich selber an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen?

Nein, ein Mann wie Wolf konnte sich die Sorgen und Nöte, in denen Karen praktisch ständig schwebte, nicht im Entferntesten vorstellen. Er ging einfach seinen Weg, unbeirrt und gradlinig und ohne sich ständig in Frage zu stellen. Er kannte den Zustand nicht, permanent mit sich selber unzufrieden zu sein. Und es war wohl leider wirklich eine unheilvolle Spirale: Sie kritisierte sich selbst, deswegen taten es auch die Menschen um sie herum, was sie wiederum in ihrer schlechten Ansicht über sich bestärkte. Wo sollte ein solcher Weg enden?

Ganz sicher nicht in einer starken, unabhängigen, selbstsicheren Frau, dachte sie kleinlaut, eher in einer, die immer ängstlicher und neurotischer wird und sich vor allem und jedem fürchtet.

Kenzo konnte bereits den Waldweg vor sich sehen und zerrte heftig an der Leine. Karen ließ ihn los, und er trabte fröhlich davon. Wenige Meter bevor er den kleinen Feldweg erreichte, blieb er jedoch stehen und hob sein Bein am hinteren Reifen eines parkenden Autos.

Oh, verflixt, dachte Karen, hoffentlich hat das keiner gesehen! Meine Güte, hätte er nicht die zehn Meter noch warten können?

Sie sah sich schuldbewusst um, dankbar dafür, dass zu dieser frühen Stunde noch niemand wach war. Kenzo hatte sich natürlich das repräsentativste aller hier abgestellten Autos ausgesucht: einen dunkelblauen, sehr gepflegten BMW. Und zu Karens Entsetzen öffnete sich plötzlich die Fahrertür und ein Mann stieg aus. Ein sehr gediegen aussehender Mann in Anzug und Krawatte. Er wirkte ausgesprochen wütend.

»Was, zum Teufel, fällt denn Ihrem Hund ein?«, blaffte er Karen an.

Sie rief Kenzo sofort zu sich, damit er den Fremden nicht auch noch freudig begrüßen und seinen Anzug dabei ansabbern konnte, und nahm ihn wieder an die Leine. Hätte sie ihn bloß erst am Waldrand losgelassen! Aber wer konnte ahnen, dass er plötzlich ein Auto mit einem Baumstamm verwechseln würde? Und dass dort drinnen auch noch vor Tau und Tag jemand sitzen würde?

Was macht dieser Mann da nur zu dieser Uhrzeit?, dachte sie unglücklich. Aber im Grunde war das unerheblich. Er war jedenfalls richtig sauer auf sie, und sie fing schon wieder an zu zittern, weil jemand – sie konnte Wolfs süffisante Stimme förmlich hören – unfreundlich zu ihr war.

»Es … es tut mir Leid«, stotterte sie. Sie wusste, dass sie wie ein abwechselnd rot und blass werdendes Schulmädchen wirkte und nicht wie eine erwachsene Frau von fünfunddreißig Jahren. »Er … er hat so etwas noch nie gemacht … ich verstehe auch nicht, wie …«

Der Mann funkelte sie drohend an. »Nein, ich verstehe das auch nicht! Wenn man seinen Hund nicht in den Griff kriegen kann, sollte man sich Meerschweinchen halten!«

»Wie gesagt, er hat noch nie …«

»Noch nie! Noch nie! Davon kann ich mir nichts kaufen. Was interessiert mich, was Ihr Hund angeblich noch nie getan hat? Mein Auto jedenfalls hat er auf widerliche Art beschmutzt!«

Karen musste daran denken, dass sie einmal gelesen hatte, Männer würden ihre Autos als einen Teil von sich selbst empfinden, gewissermaßen als Verlängerung ihres wichtigsten Teils, und so gesehen hätte Kenzo die Erektion des Fremden angepinkelt … Kein Wunder, dass der durchdrehte.

»Wenn er irgendetwas beschädigt hat … wir haben eine Haftpflichtversicherung, und ich würde gerne für die Kosten …« Wenn sie nur nicht so stammeln würde! Wenn ihr nur nicht die Tränen schon wieder so locker säßen!

Der Mann trat wütend gegen den misshandelten Reifen, knurrte etwas Unverständliches – es klang ein wenig wie: »Blöde Kuh!« –, stieg wieder in seinen Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Karen fühlte sich von seinen bösen Blicken förmlich durchbohrt, als sie die Straße weiter entlangging, um endlich den Feldweg zu erreichen und hundert Meter weiter im Schutz des Waldes unterzutauchen. Ihre Augen brannten.

Kein Grund zum Heulen, ermahnte sie sich, aber sie wusste, dass sie in wenigen Momenten schluchzen würde wie ein Schlosshund. Ihre Hände zitterten, und sie hatte weiche Knie. Was war nur los mit ihr? Warum heulte sie bei jeder Kleinigkeit? Aber warum passierten ihr auch immer wieder derlei Dinge? Der Nachbar, der sie anraunzte, weil sie ihr Auto ungeschickt geparkt hatte? Der fremde Mann, der sie blöde Kuh nannte, weil ihr Hund sein Auto entweiht hatte? Oder war es ganz anders? Passierten solche Dinge anderen Menschen auch, aber sie wussten sich besser dagegen zu wappnen?

Andere haben ein stärkeres Selbstwertgefühl, dachte sie, während die ersten Tränen über ihre Wangen rollten, und deshalb erschüttert es sie nicht bis ins Mark, wenn sie abfällig behandelt werden. Es perlt an ihnen ab.

Aber sie würde das nie in den Griff bekommen. Nie, es war hoffnungslos.

Sie kauerte sich nieder, schlang beide Arme um Kenzo, drückte ihre Nase in sein etwas stacheliges, dunkelbraunes Fell mit dem vertrauten Geruch und weinte. Vergoss wieder einmal Ströme von Tränen und war nur dankbar für den warmen, festen Körper des Hundes, der ihr ein wenig Trost und Halt gab.

Denn Wolf würde wieder bloß die Augen verdrehen, wenn sie nachher verheult beim Frühstück saß. Die Kinder würden betreten zur Seite schauen.

Als Ehefrau und Mutter war sie zweifellos dabei, sich zur Katastrophe zu entwickeln.

Mittwoch, 21. Juli

1

Inga trottete hinter Marius über die brütend heiße Dorfstraße, und nicht zum ersten Mal, seitdem sie mit ihm zusammen  – und seit zwei Jahren sogar verheiratet – war, fand sie, dass er rücksichtslos mit ihr umging. Und ebenfalls nicht zum ersten Mal drängte sich ihr die Erkenntnis auf, dass sie dennoch bei ihm bleiben würde, weil sie mit irgendeiner Ader ihres vernünftigen, bodenständigen Wesens die chaotische Verrücktheit liebte, die typisch für ihn war und der sie es zu verdanken hatte, dass sie immer wieder in Situationen wie der augenblicklichen landete. Er war eben nicht einfach nur rücksichtslos gegen sie, er war im gleichen Maß rücksichtslos gegen sich selbst, und diese Rücksichtslosigkeit entsprang seiner völligen Unfähigkeit, irgendwelche Dinge zu planen, zu durchdenken, Risiken abzuwägen und unter Umständen von einem tollen Plan Abstand zu nehmen, weil seine Nachteile die Vorteile überwogen.

Und am Ende, dachte sie, schwankend zwischen Wut und Resignation, landet man dann bei fast vierzig Grad im Schatten auf einer staubigen Dorfstraße – ohne Schatten – irgendwo in Südfrankreich und weiß nicht, ob leben oder sterben besser wäre! Es ist so verdammt typisch für diesen Mann!

Sie blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie trug ein ärmelloses T-Shirt, das wie ein nasser Lappen an ihr klebte, und zerknitterte Shorts, die sie sich am liebsten vom Leib gerissen hätte, weil ihr darin zu warm war. Am liebsten wäre sie in ihrer Unterhose weitermarschiert, aber obwohl sie sich dicht am Verenden glaubte, siegte in dieser Frage noch ihr Schamgefühl. Noch! Sie konnte sich durchaus vorstellen, in absehbarer Zeit völlig nackt dazustehen und sich einen Dreck darum zu scheren, was die Leute von ihr dachten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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